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40 1/19 5lcuc 3tirdjcr Mt\i% FEUILLETON Donnerstag, 30. August 1973 Mittagausgabc Nr. 401 ]9 Tantra Das Helmhaus Zürich eröffnet am Samstag, 1. September, in Anwesenheit des indischen Bot- schafters in Hern, Arian Stngh, eine bis 7. Oktober dauernde Ausstellung taufrischer Kunst, welche von der Zürcher Kunstgesellschaft und dem Museum Rietberg gemeinsam geplant und realisiert wurde. Den Grundstock der Ausstellung bildet die berühmte Sammlung von Ajlt Mookerjee, Delhi, welcher als einer der ersten tantrischc Werke gesammelt und Wesent- liches zu ihrer Kenntnis beigetragen hat. Zum besseren Verständnis der Ausstellung werden Musikabende, Vorträge und Führungen veranstaltet. Am 4. September tritt die Sängerin Lakshmi Shankar im Museum Rietberg auf, und am 3. Oktober wird im Kunsthaus Zürich Pandit Rain Narayan klassische indische Musik auf dem nordindischen Streichinstrument Sarangi spielen. Am S. September spricht im Museum Rictherg Prof. Ulrich Schneider (Uni- versität Freiburg i. Hr.) über Tantrismus und Shakiismus. Die Göttin Durgä Mahishamardlnl ist am gleichen Ort Thema eines Vortrages von Prof. Heinrich von Sttetencron (Universität Heidelberg). Die hier folgenden Erläuterungen hat ein Kenner der Materie, Eberhard Fischer, Direktor des Rietberg-Museums, geschrieben. Tantra, Tantrismus, tantrische Kunst sind Be- griffe, die seit dein Erscheinen der beiden Bild- bände von Ajit Mookerjee vor etwa fünf Jahren in aller Munde sind ohne daß man meist mehr als eine vage Vorstellung damit verknüpft: Man weiß, daß es sich um etwas Esoterisches, um ge- heimnisvoll Magisches aus indischen Tempeln und Jogaschulcn handelt. Vielleicht ist es deshalb gut, wenn zu Beginn de r großen Tantra- Ausstellung im Helmhaus Zürich noch ein paar klärende Worte zu diesem Phänomen gesagt werden. Tantra ist ein Sanskritbegriff, de r ursprüng- lich soviel wie «das sich Hindurchziehende», das «immer wieder Geltung Erhaltende» und damit «das System» bedeutet, wobei das Wort Tan in den modernen indischen Sprachen noch heute Fachwort für «die Kette eines Gewebes» ist. Tantra sind somit eine bestimmte Gruppe von heiligen Schriften, die ein Lehrsystem bilden. Im Gegensatz zu den viel älteren heiligen Büchern de r Hindus, den Veda, sind die Tantra im frühen indischen Mittelalter nach 700 n.Chr. bis ins IcS. Jahrhundert verfaßt und werden nicht von allen Hindus gleich als göttliche Aussagen auf- gefaßt. Die Tantra-Schriftcn sind in Sanskrit anonym abgefaßt und geben die Lehre in einem Zwiegespräch zwischen einem Gott und seiner Göttin wieder. Ihr Inhalt ist hauptsächlich eine Anweisung zum richtigen puja, zur Kulthand- lung, wobei auch Hymnen und mantra, heilige Sprüche, Laute und Verse mitgeteilt werden. durch die man mit der Gottheit Kontakt auf- nehmen kann. Ferner geben diese Werke Aus- kunft über kosmologische Ideen, über die rechte Lebensführung, über Tempelbau, Astrologie und Mantik. Tantrismus ist die Lehre, die sich auf die heiligen Tantra-Schriften bezieht. Da es nun auch außerhalb des Hinduismus, im Buddhismus nämlich, sehr früh und vielleicht sogar vor dem hinduistischen Tantrismus eine solche Lehre gibt, wie wir sie im folgenden kurz charakterisieren, wäre es wohl angebracht, in Indien eher von tantrischen Strömungen oder Traditionen zu sprechen als von «dem Tantris- mus». Die Götter, die in den Tantra-Schriften sprechen, sind in der Mehrzahl Shiva und seine Gattin Devi (auch Durga oder Kali, die Dunkle, genannt) oder aber Vishnu, so daß wir heutzu- tage tantrischc Elemente in allen jetzt in Indien existierenden Sekten vorfinden. Ja ohne Ueber- treibung kann man sagen, daß de r moderne Hinduismus erst durch die tantrischen Bewegun- gen der vergangenen Jahrhunderte zu dem ge- worden ist, was heute in Indien gelebt wird. Im Tantrismus hat im Gegensatz zum Opfer im alten Hinduismus das Ritual die größte Bedeutung, denn der Tantriker ist überzeugt, «daß das gesamte Universum mit allen seinen Erscheinungen ein Ganzes ist, bei dem auch das Kleinste zum Beispiel der einzelne Mensch auf das Größte seine Wirkung aus- üben kann, weil alles mit dem ewigen Welten- grunde und dadurch mit allem verbunden ist» Yantra, mystisches Diagramm für die Göttin Kali, die vor allem zerstörende Kräfte besitzt. Das geometrische Meditationsblatt in Rot, Rosa und Blau mit goldenen Linien zeigt die großartige Verschmelzung vegetativer For- men wie Lotosblüte mit geometrischen Symbolen. Gouache auf Papier, 18. Jahrhundert, Rajasthan, Indien (Privatbesitz Ajit Mookerjee, Delhi). (Jan Gonda). Dies bedeutet für den Tantriker, daß mikrokosmische Vorgänge ihre Entsprechun- gen im Makrokosmos haben, was zur Folge hat, daß Ait Einzelne durch Steigerung seines Wohl- befindens zu dem des Weltganzen beitragen be- ziehungsweise dieses günstig beeinflussen kann. Dies Wohlbefinden zu organisieren, planmäßig zu steigern lehren die verschiedenen exklusiven tantrischen Kultgruppen, wobei der guru oder Lehrer die verschiedenen Grad e des Wissens, die zum Erreichen geistiger Vervollkommnung füh- ren, vermittelt, in geheimen Zeremonien wird de r Initiierte gelehrt, die welterschaffende, welterhal- tende und auch weltzerstörende Gottheit im eigenen Leib zu erfahren und dann aus ihm auf ein yantra, ein Kultbild, projiziert zu verehren. Im Ritual, das aus vielen Einzelabläufen, wie Hand- waschung, Mundspülung, Bodenreinigung, Atem- Dlagramm der Kraftzentren im Körper beim Meditieren, die die Kiindalini-Schlange zu durchbrechen und zu öff- nen hat, bevor der Geist kraftvoll geöffnet Ist, Gouache au) Papier, 18. Jahrhundert, Kangra (Himalaja-Gebiet), Indien (Privatbesitz Ajit Mookerjee, Delhi). rcgclur.g usw., besteht, darf der Gläubige aber nie mechanisch handeln sowenig wie seine Jogaübungen «Gymnastik» werden dürfen , sondern sein Wesen muß der Gottheit zugewandt bleiben. Einer de r Höhepunkte des Rituals bleibt die «Auflösung de r Elemente des eigenen Körpers», bis frei gewordener Raum in das Bewußtsein ein- dringt und die Gottheit einen Platz findet. Der Gläubige wird für die Provokation des göttlichen Bildes in seiner inneren Schau ein äußeres Abbild benötigen. Während die meisten Hindus hierzu ein Götterbild in kanonischen Formen (vor allem mit den de r Gottheit zugeordneten Insignien, Handhaltungen und anderen ikonographischen Eigenheiten) bevorzugen, wird de r Tantriker dies göttliche Bild so sicher in sich eingepflanzt wissen, daß ihm ein geometrisches yantra, ein mystisches Diagramm, genügt. Für ihn besteht zwischen dem figürlichen Kultbild und dem linearen geometrischen Zeichen inhaltlich kein Unterschied. Das göttliche Bild, das er in de r Meditation schaut, wird in beiden Fällen das gleiche sein, so für den Vishnuitcn die be- glückende Form des schönen dunkelblauen Gottes mit Lotosblume, Muschelhorn, Keule und Messerring. Der Gläubige soll das ganze Bild beim puja-Ritual erst mit allen seinen Sinnen erfahren, dann von den Einzelheiten zu einer ge- schlossenen Gesamtvision gelangen und schließ- lich den «punkthaft gesammelten Geist abziehen und ins Leere richten». Tantrische Kunstwerke sind somit zunächst Objekte, die in dem Ritual direkt eine Rolle spielen, also Kultbilder, yantra, Gegenstände für die Verehrung, wie Oellampen, Wassergefäße, Rosenkränze usw. Dann sind es Zeichen, Bilder und Diagramme, die den Gläubigen belehren über die Weltzusammcnhänge, die Entstehung des Kosmos, die ihm die großen Themen von Energieentfaltung, Zeugung und Zerstörung ver- deutlichen. Es sind Bilder, die dem Gläubigen weiterhelfen, seine eigenen Kräfte zu mobili- sieren, von einem animalischen Dasein über heroisches Verhalten zu einem abgeklärt-vollkom- menen Zustand zu gelangen. Vielleicht die interessantesten Bildwerke zei- gen, was im Körper an feinen geistigen Strömun- gen beim rechten Meditieren vor sich geht. Es heißt, daß in uns allen Kundalini, eine Schlange, ruht, die bei Steigerung unserer Kräfte im Rückenmark aufsteigt und unsere verschiedenen Kraftzentren durchbricht, sie wie Lotosknospen zum Blühen bringt und zum Schluß im Bewußt- sein strahlende Helle verbreitet. Diese Erfah- rungen haben sich künstlerisch in psychischen Diagrammen mit Symbolen niedergeschlagen, die uns vielleicht fremd sind, aber eine spirituelle Dichte und Schönheit besitzen, daß auch der Laie fasziniert ist und schaut. £6 '££, Internationale Musikfestwochen Luzern 1973 Finlandia-Quarlell und Geza Anda ilf. Den einzigen Quartettabend der diesjähri- gen Luzerner Musikfestwochen gab das Fhüandta- Quartett (Kunsthaus, 27. August) ein noch jun- ges Ensemble (es wurde 1969 gegründet), das sieh aber bereits weit über seine engere Heimat hinaus einen guten Namen geschaffen hat. Den vier jun- gen finnischen Musikern (Olavi Paelli und Jussi Pesonen, Violinen; Esa Kamu, Viola; Heikki Rau- tasalo, Violoncello) wurde de r Anfang freilich durch ein Stipendium des Finnischen Kulturfonds erleichtert, das es ihnen erlaubte, sich während eines ganzen Jahres in einer Art Klausur ein grö- ßeres Repertoire anzueignen. Hernach wurde das Quartett sehr rasch bekannt; seine Schallplatten- aufnahme von Sibclius' Quartett «Voccs intimac», weitherum als erstaunliche Leistung eines jungen Ensembles empfunden, förderte wohl solchen Durchbruch. Das Luzerner Konzert hat. in der Tat, verblüffende Fähigkeiten des Quartetts offen- bart: eine Sicherheit des Zusammenspiels, die nie und nirgends in de r leisesten Gefahr stand, eine Homogenität des Klanges, die in der vollkomme- nen Gleichgestimmtheit de r musikalischen Natu- relle ihre Parallele fand. Man wird weiter stili- stische Feinhörigkeit und eine bedeutende gestal- terische Lebendigkeit anzumerken haben. Freilich: für Mozart (es stand das F-dur-Quartett KV 590, Mozarts letztes, auf dem Programm) fehlt den vier jungen Musikern noch etwas die tiefere Ein- sicht: Den letzten Satn Allcgro überschrieben, spielten sie rasend schnell und höchst virtuos, ein Presto, zu schnell war auch der zweite Satz (der, siehe Köchelverzeichnis, nur in der Artaria-l£rst- ausgabe mit Allegretlo, wie im Luzerner Pro- grammheft zitiert, überschrieben ist, im Autograph aber die Bezeichnung Andante trägt was der Eigenart des Satzes auch mehr entspricht). Wie überhaupt die ganze Interpretation etwas das Zei- chen des Unverbindlichen, Distanzierten trug und mozartisehe Musizierlaune, wie sie gerade in die- sem Werk so liebenswürdig-gcläutert hervortritt, nicht so recht darzustellen vermochte. Besser traf das Quartett die grundsätzlich screnc, gelegentlich etwas ungebärdige Grundstimmung von Beet- hovens B-dur-Quartctt op. 18 Nr. 6." Den schwei- zerischen Beitrag zum Programm bildete Paul Müllers Quartett Nr. 2 op. 64 (1960 im Auftrage de r Tonhalle-Gesellschaft komponiert) in sei- ner wirkungsvollen Anlage auf das ausdrucksvolle, liedhafte, in schöner Weise kantable Schlußadagio hin von den jungen finnischen Musikern sehr schön erfaßt. Als ein Werk von bemerkenswerter Gedankenfülle, streng in der Form (etwa in der einleitenden Passacaglia), doch insgesamt auch spielerischen Elementen Raum gewährend, erlebte man des finnischen Komponisten Joonas Kok- konen Quartett Nr. 2 (1964 66) zumal in so konzentrierter, ausdrucksstarker, klanglich fein ab- gestufter Deutung. ab. Der vom Publikum rund um den Flügel belagerte Klavierabend von Geza Anda (2S. August im Kunsthaus) führte in einer cindrücklichen Kon- zeption von drei verschiedenen Seiten he r auf Schumanns «Carnaval» als Schlußstück hin, bevor er in Zugaben farbenfroh versprühte. Geistig und stilistisch vom Schumannschen Sammelpunkt des Abends am weitesten entfernt stand Bachs Partita in c-moll BWV 826 am Anfang, in ihrer Rei- hungsform mit einem Einlcitungssatz bei Schu- mann ist es das «Preambule» den «Scenes mignonnes sur quatre notes» (wie de r Untertitel des «Carnaval» lautet) formal verwandt. Nach de r Bach-Partita leitete die b-moll-Sonate Chopins auf die Chopin-Ehrung, Ravcls «Valscs nobles et sen- timentales» auf die «Valse noble» innerhalb von «Carnaval» zu. Als vereinheitlichende Kraft wurde auch das Pianistentum Andas wirksam, das sich als das eines sehr bedeutenden, oft etwas eigenwilli- gen, aber immer in höchstem Maße interessieren- den Künstlers bestätigte. Mit der Erwähnung von Eigenwilligkeiten mag man bei Bach beginnen: In der einleitenden Sin- fonia, die stilistisch, vor allem im hier zur Diskus- sion stehenden Grave, der Klavierübertragung eines vollen Orchestersatzes entspricht, negiert Anda vom vierten Takt an die komplementären Rhythmen der rechten und linken Hand, indem er ein Verhältnis, das sich in einer Partita nie ergibt die rechte Hand zur forte-Kantilene und die linke Hand zur pp-Begleitung «erklärt». Damit verläßt er zwar nicht den Stilbeieich Bachs (der Mittelsatz des «Italienischen Konzerts» etwa setzt die rechte Hand für eine Kantilene ein), wohl aber das vorliegende Satzbild. In der gleichen Sinfonia mochte man anderseits vom lein artiku- lierten Andante, von der Selbstverständlichkeit, mit der sich der fugierende Teil loslöste und durchgehalten wurde, beeindruckt sein. Hier und in den stilisierten Tanzsätzen pflegte Anda Zwi- schengrade vom Legato zum Non legato in über- zeugenden Dosierungen; im Rondeau stakkatiert er nur das virtuell einstimmige Thema und bindet artikulatorisch die Zwischenteile. Das vehement und presto angegriffene Capriccio fand im Haupt- tcil und die Intervalle ingeniös umkehrenden zwei- ten Teil sein fugiertes Thema leidenschaftlich exponiert; Andas Neigung, Bässe eher plötzlich demonstrativ hervorzuheben, wurde hier allerdings in den Dezimenreihen der Klarheit gefährlich. Insgesamt traf man auf das Bach-Spiel eines gro- ßen Pianisten, das durch sehr verschiedene Grade de r Einstimmung auf Bachs Nolcnlcxt geht. Noch mehr für den großen Raum (und das große, durch starke Kontraste zu beeindruckende Publikum) spielte Anda Chopins Sonate, mit einer stupenden technischen Bereitschaft, vor allem im Prcsto-Finale, das in agogischen und dynamischen Wellenbewegungen Eigenwilligkeil verletzt hier weniger die Substanz der Musik aus seiner Ein- stimmigkeit in eine fesselnde harmonische Ent- wicklung gehoben wurde. Gemeißelt in seinen Motto-Akkorden, in den Akzenten des Doppio mo- vimento aufgestachelt, in der Durchführung un- geheuer aufgeladen und zwingend zum ff f dts Endes geführt, stand der Kopfsatz in seinen Kralt- clementen überzeugender da als in der Verbindung zum Gesangsthema, das aus diesem Satz gleichsam voll entrückt wurde. Achnliche schlagartige Kon- traste traf man im Scherzo zwischen dem an Energie kaum ,mehr zu überbietenden Hauptteil und dem langsameren Mittelteil, in dem Anda kurz vor dem Ende die Musik fast zum Stehen bringt. Im Trauermarsch baut der Pianist die ersten vier- zehn Takte, in vollem und bewußtem Wider- spruch zu Chopins Dynamik, in ein durchlaufen- des Crescendo ein und trotzdem konnte man de r Wiedergabe hier und später Eindrücklichkeit nicht absprechen. Vielleicht ist Andas höchste Qualität, die ihm eigene Kombination von Intelli- genz und Kraft, sein eigener Gegner, wenn es um das «Chopineske» in Chopin geht: die Bereiche von stiller Ahnung, Nostalgie, Melancholie und romantischer Erlösungssehnsucht bleiben bei ihm in Reichweite, aber sie treten nicht eigentlich ins Spiel ein. Sie umlauern wie stumme Geister den Flügel und warten darauf, sein Chopin-Spiel be- seelen zu können. Zu Ravel und Schumanns «Carnaval» besitzt Anda einen umfassenderen Zugang. Die Artistik von Ravcls «Valses» wurde durch ihn hinreißend ausgebeutet, bis hin zum Epilog, de r Bruchstücke aller Melodien so persönlich und diskret verbindet. Line Meisterleistung war Andas Darstellung von Schumanns in seine tiefste und zugleich über- mütigste Phantasie reichenden Charakterbildern. Eigenwilligkeitcn wie Andas Wiederholungsge- wohnheiten die in der «Valsc noble» zur Um- kehrung der Vorschriften zu führen schienen und Betonungen, die als Uebcrprononcierungen verstanden werden konnten, fielen da kaum mehr ins Gewicht. Zwischen «Rcplique» und «Papil- lons» läßt de r Pianist auch die hier als «Sphinxs» überschriebenen Tonbuchstaben erklingen, die bio- graphische mit musikalischen Gegebenheiten gleichsam unter- und überirdisch verbinden: ein klingender Ausdruck des ungemeinen pianistischen und künstlerischen Wissens, das Anda an diesen Höhepunkt Schumannscher Klavierkunst heran- trägt. «Die sieben Simeonsbrüder und die sibirische Katze» E. H. Der schöne Titel gehört zu einem de r zwölf russischen Märchen, die aus der acht Bände umfassenden, berühmten Sammlung des 1871 ver- storbenen Historikers, Archivars und Schriftstel- lers Alexander Nikolajewitsch Afanasjew von Tliomas P. Whitney ausgewählt und herausge- geben wurden. Die deutsche Uebersetzung de r vorliegenden, sehr schön ausgestatteten Ausgabe für Kinder und Erwachsene hat Majka Gross be- sorgt.* Im Nachwort erhält der Leser einige inter- essante Einblicke in die russische Märchenwelt und, vor allem, in Afanasjews Biographie, dieses Leben eines Gelehrten im Zarenreich, das er- schreckend gegenwärtig anmutet: Er verliert sei- nen Lehrstuhl als Professor an der Moskauer Universität, weil er Vorwürfe des allmächtigen Erziehungsministers nicht akzeptiert, sondern sich gegen sie zu wehren wagt. Nach zwei Jahren ohne Anstellung erhält er mit Hilfe von Freunden eine Stellung im Archiv des Moskauer Außen- ministeriums. Während dieser Zeit beginnt er, unter dem Einfluß de r Brüder Grimm, seine Sammlung russischer Volksmärchen. 1859 gerät er wegen einer kleinen Sammlung russischer Sagen in Konflikt mit der russisch-orthodoxen Kirche, als dessen Folge bis 1914 keine neuen Bände dieser Sagen erscheinen dürfen. 1862 wird er wegen des Besuches eines vom Regime als ge- fährlich betrachteten politischen Emigranten seines Postens enthoben: Er stirbt 1871 an Tuber- kulose, im Alter von erst fünfundvierzig Jahren. Doch nun zurück in die von ihm erschlossene Welt. Man fühlt sich mit einem Male auf die 1 Verlag Sauerländer, Aarau 1973. Ofenbank eines russischen Bauernhauses versetzt, wo der Großvater im Dunkeln seine gruselig- wonnigen Geschichten erzählt. Von den Simeons- brüdern mit der sibirischen Katze, denen der König aus Dank alle Freiheiten gewährt, so daß sie keinen Rubel Steuern zahlen und keinen Zehnten abliefern müssen; von der fürchterlichen Hexe Baba Jaga, die sich in einem eisernen Mör- ser fortbewegt, den sie mit der Keule antreibt, und die die Spuren hinter sich mit einem Besen wieder wegwischt; von Falken, Adlern und Raben, die sich in schöne Prinzen, von Tauben und Fröschen, die sich in allerliebste Prinzessin- nen verwandeln; von Koschtschej dem Unsterb- lichen; vom braven Soldat Fedot. der nach Weiß- nicht-wohin gehen und dem König das Ich-wciß- nicht-was mitbringen muß. Der ewige dritte Sohn der Märchen taucht öfters unter den Zügen von Iwan dem Narren auf, der, ähnlich wie das tapfere Schneiderlein, die Hand der schönen Königstochter gewinnt. In anderen Märchen sind es sein Mutterwitz und Zauber denn ohne Zauber ereignet sich ja nichts in diesem Wunsch- und Traumbereich , die ihm diesen Lohn einbringen; aber immer er- langt der Einfältige, de r Verachtete, der ärmste Muschik die höchsten Ehren. Das Aschenbrödel- Motiv wird in der Geschichte der schönen Wassi- iissa lebendig; reizvoll ist es, Entsprechungen und Unterschiede zu bekanntem Märchengut in dieser zwischen Verzauberung und Bodenständigkeit schwebenden Welt zu entdecken. Die 14 Zeich- nungen von Dieter Lange illustrieren gerade dies aufs eindrucksvollste. Neue Zürcher Zeitung vom 30.08.1973

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40 1/195lcuc 3tirdjcr Mt\i% FEUILLETON Donnerstag, 30. August 1973 Mittagausgabc Nr. 401 ]9

TantraDas Helmhaus Zürich eröffnet am Samstag, 1. September, in Anwesenheit des indischen Bot-schafters in Hern, Arian Stngh, eine bis 7. Oktober dauernde Ausstellung taufrischer Kunst,welche von der Zürcher Kunstgesellschaft und dem Museum Rietberg gemeinsam geplant

und realisiert wurde. Den Grundstock der Ausstellung bildet die berühmte Sammlung vonAjlt Mookerjee, Delhi, welcher als einer der ersten tantrischc Werke gesammelt und Wesent-liches zu ihrer Kenntnis beigetragen hat. Zum besseren Verständnis der Ausstellung werdenMusikabende, Vorträge und Führungen veranstaltet. Am 4. September tritt die Sängerin

Lakshmi Shankar im Museum Rietberg auf, und am 3. Oktober wird im Kunsthaus ZürichPandit Rain Narayan klassische indische Musik auf dem nordindischen StreichinstrumentSarangi spielen. Am S. September spricht im Museum Rictherg Prof. Ulrich Schneider (Uni-

versität Freiburg i. Hr.) über Tantrismus und Shakiismus. Die Göttin Durgä Mahishamardlnlist am gleichen Ort Thema eines Vortrages von Prof. Heinrich von Sttetencron (UniversitätHeidelberg). Die hier folgenden Erläuterungen hat ein Kenner der Materie, Eberhard Fischer,

Direktor des Rietberg-Museums, geschrieben.

Tantra, Tantrismus, tantrische Kunst sind Be-griffe, die seit dein Erscheinen der beiden Bild-bände von Ajit Mookerjee vor etwa fünf Jahrenin aller Munde sind ohne daß man meist mehrals eine vage Vorstellung damit verknüpft: Manweiß, daß es sich um etwas Esoterisches, um ge-heimnisvoll Magisches aus indischen Tempelnund Jogaschulcn handelt. Vielleicht ist es deshalbgut, wenn zu Beginn d er großen Tantra-Ausstellung im Helmhaus Zürich noch ein paarklärende Worte zu diesem Phänomen gesagt

werden.

Tantra ist ein Sanskritbegriff, d er ursprüng-lich soviel wie «das sich Hindurchziehende», das«immer wieder Geltung Erhaltende» und damit«das System» bedeutet, wobei das Wort Tan inden modernen indischen Sprachen noch heuteFachwort für «die Kette eines Gewebes» ist.Tantra sind somit eine bestimmte Gruppe vonheiligen Schriften, die ein Lehrsystem bilden. ImGegensatz zu den viel älteren heiligen Büchernd er Hindus, den Veda, sind die Tantra im frühenindischen Mittelalter nach 700 n.Chr. bis insIcS. Jahrhundert verfaßt und werden nicht vonallen Hindus gleich als göttliche Aussagen auf-gefaßt. Die Tantra-Schriftcn sind in Sanskritanonym abgefaßt und geben die Lehre in einemZwiegespräch zwischen einem Gott und seinerGöttin wieder. Ihr Inhalt ist hauptsächlich eineAnweisung zum richtigen puja, zur Kulthand-lung, wobei auch Hymnen und mantra, heiligeSprüche, Laute und Verse mitgeteilt werden.durch die man mit der Gottheit Kontakt auf-nehmen kann. Ferner geben diese Werke Aus-kunft über kosmologische Ideen, über die rechteLebensführung, über Tempelbau, Astrologie undMantik.

Tantrismus ist die Lehre, die sich auf dieheiligen Tantra-Schriften bezieht. Da es nunauch außerhalb des Hinduismus, im Buddhismusnämlich, sehr früh und vielleicht sogar vordem hinduistischen Tantrismus eine solcheLehre gibt, wie wir sie im folgenden kurzcharakterisieren, wäre es wohl angebracht, inIndien eher von tantrischen Strömungen oderTraditionen zu sprechen als von «dem Tantris-mus». Die Götter, die in den Tantra-Schriftensprechen, sind in der Mehrzahl Shiva und seineGattin Devi (auch Durga oder Kali, die Dunkle,genannt) oder aber Vishnu, so daß wir heutzu-tage tantrischc Elemente in allen jetzt in Indienexistierenden Sekten vorfinden. Ja ohne Ueber-treibung kann man sagen, daß d er moderneHinduismus erst durch die tantrischen Bewegun-gen der vergangenen Jahrhunderte zu dem ge-worden ist, was heute in Indien gelebt wird.

Im Tantrismus hat im Gegensatz zumOpfer im alten Hinduismus das Ritual diegrößte Bedeutung, denn der Tantriker istüberzeugt, «daß das gesamte Universum mit allenseinen Erscheinungen ein Ganzes ist, bei demauch das Kleinste zum Beispiel der einzelneMensch auf das Größte seine Wirkung aus-üben kann, weil alles mit dem ewigen Welten-grunde und dadurch mit allem verbunden ist»

Yantra, mystisches Diagramm für die Göttin Kali, die vorallem zerstörende Kräfte besitzt. Das geometrische

Meditationsblatt in Rot, Rosa und Blau mit goldenen

Linien zeigt die großartige Verschmelzung vegetativer For-men wie Lotosblüte mit geometrischen Symbolen. Gouacheauf Papier, 18. Jahrhundert, Rajasthan, Indien (Privatbesitz

Ajit Mookerjee, Delhi).

(Jan Gonda). Dies bedeutet für den Tantriker,daß mikrokosmische Vorgänge ihre Entsprechun-gen im Makrokosmos haben, was zur Folge hat,daß Ait Einzelne durch Steigerung seines Wohl-befindens zu dem des Weltganzen beitragen be-ziehungsweise dieses günstig beeinflussen kann.

Dies Wohlbefinden zu organisieren, planmäßigzu steigern lehren die verschiedenen exklusiventantrischen Kultgruppen, wobei der guru oderLehrer die verschiedenen G r a de des Wissens, diezum Erreichen geistiger Vervollkommnung füh-ren, vermittelt, in geheimen Zeremonien wird d erInitiierte gelehrt, die welterschaffende, welterhal-tende und auch weltzerstörende Gottheit im

eigenen Leib zu erfahren und dann aus ihm aufein yantra, ein Kultbild, projiziert zu verehren. ImRitual, das aus vielen Einzelabläufen, wie Hand-waschung, Mundspülung, Bodenreinigung, Atem-

Dlagramm der Kraftzentren im Körper beim Meditieren,die die Kiindalini-Schlange zu durchbrechen und zu öff-nen hat, bevor der Geist kraftvoll geöffnet Ist, Gouacheau) Papier, 18. Jahrhundert, Kangra (Himalaja-Gebiet),

Indien (Privatbesitz Ajit Mookerjee, Delhi).

rcgclur.g usw., besteht, darf der Gläubige aber niemechanisch handeln sowenig wie seineJogaübungen «Gymnastik» werden dürfen ,sondern sein Wesen muß der Gottheit zugewandtbleiben.

Einer d er Höhepunkte des Rituals bleibt die«Auflösung d er Elemente des eigenen Körpers»,bis frei gewordener Raum in das Bewußtsein ein-dringt und die Gottheit einen Platz findet. DerGläubige wird für die Provokation des göttlichenBildes in seiner inneren Schau ein äußeres Abbildbenötigen. Während die meisten Hindus hierzuein Götterbild in kanonischen Formen (vor allemmit den d er Gottheit zugeordneten Insignien,Handhaltungen und anderen ikonographischenEigenheiten) bevorzugen, wird d er Tantriker diesgöttliche Bild so sicher in sich eingepflanztwissen, daß ihm ein geometrisches yantra, einmystisches Diagramm, genügt. Für ihn bestehtzwischen dem figürlichen Kultbild und demlinearen geometrischen Zeichen inhaltlich keinUnterschied. Das göttliche Bild, das er in d erMeditation schaut, wird in beiden Fällen dasgleiche sein, so für den Vishnuitcn die be-glückende Form des schönen dunkelblauenGottes mit Lotosblume, Muschelhorn, Keule undMesserring. Der Gläubige soll das ganze Bildbeim puja-Ritual erst mit allen seinen Sinnenerfahren, dann von den Einzelheiten zu einer ge-schlossenen Gesamtvision gelangen und schließ-lich den «punkthaft gesammelten Geist abziehenund ins Leere richten».

Tantrische Kunstwerke sind somit zunächstObjekte, die in dem Ritual direkt eine Rollespielen, also Kultbilder, yantra, Gegenständefür die Verehrung, wie Oellampen, Wassergefäße,

Rosenkränze usw. Dann sind es Zeichen, Bilderund Diagramme, die den Gläubigen belehren überdie Weltzusammcnhänge, die Entstehung desKosmos, die ihm die großen Themen vonEnergieentfaltung, Zeugung und Zerstörung ver-deutlichen. Es sind Bilder, die dem Gläubigenweiterhelfen, seine eigenen Kräfte zu mobili-sieren, von einem animalischen Dasein überheroisches Verhalten zu einem abgeklärt-vollkom-menen Zustand zu gelangen.

Vielleicht die interessantesten Bildwerke zei-gen, was im Körper an feinen geistigen Strömun-gen beim rechten Meditieren vor sich geht. Esheißt, daß in uns allen Kundalini, eine Schlange,ruht, die bei Steigerung unserer Kräfte imRückenmark aufsteigt und unsere verschiedenenKraftzentren durchbricht, sie wie Lotosknospenzum Blühen bringt und zum Schluß im Bewußt-sein strahlende Helle verbreitet. Diese Erfah-rungen haben sich künstlerisch in psychischenDiagrammen mit Symbolen niedergeschlagen, dieuns vielleicht fremd sind, aber eine spirituelleDichte und Schönheit besitzen, daß auch derLaie fasziniert ist und schaut. £6 '££,

Internationale Musikfestwochen Luzern 1973

Finlandia-Quarlell und Geza Andailf. Den einzigen Quartettabend der diesjähri-

gen Luzerner Musikfestwochen gab das Fhüandta-Quartett (Kunsthaus, 27. August) ein noch jun-ges Ensemble (es wurde 1969 gegründet), das siehaber bereits weit über seine engere Heimat hinauseinen guten Namen geschaffen hat. Den vier jun-gen finnischen Musikern (Olavi Paelli und JussiPesonen, Violinen; Esa Kamu, Viola; Heikki Rau-tasalo, Violoncello) wurde d er Anfang freilichdurch ein Stipendium des Finnischen Kulturfondserleichtert, das es ihnen erlaubte, sich währendeines ganzen Jahres in einer Art Klausur ein grö-ßeres Repertoire anzueignen. Hernach wurde dasQuartett sehr rasch bekannt; seine Schallplatten-aufnahme von Sibclius' Quartett «Voccs intimac»,weitherum als erstaunliche Leistung eines jungenEnsembles empfunden, förderte wohl solchenDurchbruch. Das Luzerner Konzert hat. in derTat, verblüffende Fähigkeiten des Quartetts offen-bart: eine Sicherheit des Zusammenspiels, die nieund nirgends in d er leisesten Gefahr stand, eineHomogenität des Klanges, die in der vollkomme-nen Gleichgestimmtheit d er musikalischen Natu-relle ihre Parallele fand. Man wird weiter stili-stische Feinhörigkeit und eine bedeutende gestal-terische Lebendigkeit anzumerken haben. Freilich:für Mozart (es stand das F-dur-Quartett KV 590,Mozarts letztes, auf dem Programm) fehlt denvier jungen Musikern noch etwas die tiefere Ein-sicht: Den letzten Satn Allcgro überschrieben,spielten sie rasend schnell und höchst virtuos, einPresto, zu schnell war auch der zweite Satz (der,siehe Köchelverzeichnis, nur in der Artaria-l£rst-ausgabe mit Allegretlo, wie im Luzerner Pro-grammheft zitiert, überschrieben ist, im Autographaber die Bezeichnung Andante trägt was derEigenart des Satzes auch mehr entspricht). Wieüberhaupt die ganze Interpretation etwas das Zei-chen des Unverbindlichen, Distanzierten trug undmozartisehe Musizierlaune, wie sie gerade in die-sem Werk so liebenswürdig-gcläutert hervortritt,nicht so recht darzustellen vermochte. Besser trafdas Quartett die grundsätzlich screnc, gelegentlichetwas ungebärdige Grundstimmung von Beet-hovens B-dur-Quartctt op. 18 Nr. 6." Den schwei-zerischen Beitrag zum Programm bildete PaulMüllers Quartett Nr. 2 op. 64 (1960 im Auftraged er Tonhalle-Gesellschaft komponiert) in sei-ner wirkungsvollen Anlage auf das ausdrucksvolle,liedhafte, in schöner Weise kantable Schlußadagiohin von den jungen finnischen Musikern sehrschön erfaßt. Als ein Werk von bemerkenswerterGedankenfülle, streng in der Form (etwa in dereinleitenden Passacaglia), doch insgesamt auchspielerischen Elementen Raum gewährend, erlebteman des finnischen Komponisten Joonas Kok-konen Quartett Nr. 2 (1964 66) zumal in sokonzentrierter, ausdrucksstarker, klanglich fein ab-gestufter Deutung.

ab. Der vom Publikum rund um den Flügelbelagerte Klavierabend von Geza Anda (2S. Augustim Kunsthaus) führte in einer cindrücklichen Kon-zeption von drei verschiedenen Seiten h er aufSchumanns «Carnaval» als Schlußstück hin, bevorer in Zugaben farbenfroh versprühte. Geistig undstilistisch vom Schumannschen Sammelpunkt desAbends am weitesten entfernt stand Bachs Partitain c-moll BWV 826 am Anfang, in ihrer Rei-hungsform mit einem Einlcitungssatz bei Schu-mann ist es das «Preambule» den «Scenesmignonnes sur quatre notes» (wie d er Untertiteldes «Carnaval» lautet) formal verwandt. Nach d erBach-Partita leitete die b-moll-Sonate Chopins aufdie Chopin-Ehrung, Ravcls «Valscs nobles et sen-timentales» auf die «Valse noble» innerhalb von«Carnaval» zu. Als vereinheitlichende Kraft wurdeauch das Pianistentum Andas wirksam, das sich alsdas eines sehr bedeutenden, oft etwas eigenwilli-gen, aber immer in höchstem Maße interessieren-den Künstlers bestätigte.

Mit der Erwähnung von Eigenwilligkeiten magman bei Bach beginnen: In der einleitenden Sin-fonia, die stilistisch, vor allem im hier zur Diskus-sion stehenden Grave, der Klavierübertragung

eines vollen Orchestersatzes entspricht, negiertAnda vom vierten Takt an die komplementärenRhythmen der rechten und linken Hand, indemer ein Verhältnis, das sich in einer Partita nieergibt die rechte Hand zur forte-Kantileneund die linke Hand zur pp-Begleitung «erklärt».Damit verläßt er zwar nicht den Stilbeieich Bachs(der Mittelsatz des «Italienischen Konzerts» etwasetzt die rechte Hand für eine Kantilene ein), wohlaber das vorliegende Satzbild. In der gleichenSinfonia mochte man anderseits vom lein artiku-lierten Andante, von der Selbstverständlichkeit,mit der sich der fugierende Teil loslöste unddurchgehalten wurde, beeindruckt sein. Hier undin den stilisierten Tanzsätzen pflegte Anda Zwi-schengrade vom Legato zum Non legato in über-zeugenden Dosierungen; im Rondeau stakkatierter nur das virtuell einstimmige Thema und bindetartikulatorisch die Zwischenteile. Das vehementund presto angegriffene Capriccio fand im Haupt-tcil und die Intervalle ingeniös umkehrenden zwei-ten Teil sein fugiertes Thema leidenschaftlichexponiert; Andas Neigung, Bässe eher plötzlichdemonstrativ hervorzuheben, wurde hier allerdingsin den Dezimenreihen der Klarheit gefährlich.Insgesamt traf man auf das Bach-Spiel eines gro-ßen Pianisten, das durch sehr verschiedene Graded er Einstimmung auf Bachs Nolcnlcxt geht.

Noch mehr für den großen Raum (und dasgroße, durch starke Kontraste zu beeindruckendePublikum) spielte Anda Chopins Sonate, mit einerstupenden technischen Bereitschaft, vor allem imPrcsto-Finale, das in agogischen und dynamischenWellenbewegungen Eigenwilligkeil verletzt hierweniger die Substanz der Musik aus seiner Ein-stimmigkeit in eine fesselnde harmonische Ent-wicklung gehoben wurde. Gemeißelt in seinenMotto-Akkorden, in den Akzenten des Doppio mo-vimento aufgestachelt, in der Durchführung un-geheuer aufgeladen und zwingend zum ff f dtsEndes geführt, stand der Kopfsatz in seinen Kralt-clementen überzeugender da als in der Verbindungzum Gesangsthema, das aus diesem Satz gleichsamvoll entrückt wurde. Achnliche schlagartige Kon-traste traf man im Scherzo zwischen dem anEnergie kaum ,mehr zu überbietenden Hauptteilund dem langsameren Mittelteil, in dem Anda kurzvor dem Ende die Musik fast zum Stehen bringt.Im Trauermarsch baut der Pianist die ersten vier-zehn Takte, in vollem und bewußtem Wider-spruch zu Chopins Dynamik, in ein durchlaufen-des Crescendo ein und trotzdem konnte mand er Wiedergabe hier und später Eindrücklichkeitnicht absprechen. Vielleicht ist Andas höchsteQualität, die ihm eigene Kombination von Intelli-genz und Kraft, sein eigener Gegner, wenn es umdas «Chopineske» in Chopin geht: die Bereichevon stiller Ahnung, Nostalgie, Melancholie undromantischer Erlösungssehnsucht bleiben bei ihmin Reichweite, aber sie treten nicht eigentlich insSpiel ein. Sie umlauern wie stumme Geister denFlügel und warten darauf, sein Chopin-Spiel be-seelen zu können.

Zu Ravel und Schumanns «Carnaval» besitztAnda einen umfassenderen Zugang. Die Artistikvon Ravcls «Valses» wurde durch ihn hinreißendausgebeutet, bis hin zum Epilog, d er Bruchstückealler Melodien so persönlich und diskret verbindet.Line Meisterleistung war Andas Darstellung vonSchumanns in seine tiefste und zugleich über-mütigste Phantasie reichenden Charakterbildern.Eigenwilligkeitcn wie Andas Wiederholungsge-wohnheiten die in der «Valsc noble» zur Um-kehrung der Vorschriften zu führen schienenund Betonungen, die als Uebcrprononcierungenverstanden werden konnten, fielen da kaum mehrins Gewicht. Zwischen «Rcplique» und «Papil-lons» läßt d er Pianist auch die hier als «Sphinxs»überschriebenen Tonbuchstaben erklingen, die bio-graphische mit musikalischen Gegebenheitengleichsam unter- und überirdisch verbinden: einklingender Ausdruck des ungemeinen pianistischenund künstlerischen Wissens, das Anda an diesenHöhepunkt Schumannscher Klavierkunst heran-trägt.

«Die sieben Simeonsbrüder und die sibirische Katze»E. H. Der schöne Titel gehört zu einem d er

zwölf russischen Märchen, die aus der acht Bändeumfassenden, berühmten Sammlung des 1871 ver-storbenen Historikers, Archivars und Schriftstel-lers Alexander Nikolajewitsch Afanasjew vonTliomas P. Whitney ausgewählt und herausge-geben wurden. Die deutsche Uebersetzung d ervorliegenden, sehr schön ausgestatteten Ausgabefür Kinder und Erwachsene hat Majka Gross be-sorgt.*

Im Nachwort erhält der Leser einige inter-essante Einblicke in die russische Märchenweltund, vor allem, in Afanasjews Biographie, diesesLeben eines Gelehrten im Zarenreich, das er-schreckend gegenwärtig anmutet: Er verliert sei-nen Lehrstuhl als Professor an der MoskauerUniversität, weil er Vorwürfe des allmächtigenErziehungsministers nicht akzeptiert, sondern sichgegen sie zu wehren wagt. Nach zwei Jahrenohne Anstellung erhält er mit Hilfe von Freundeneine Stellung im Archiv des Moskauer Außen-ministeriums. Während dieser Zeit beginnt er,unter dem Einfluß d er Brüder Grimm, seineSammlung russischer Volksmärchen. 1859 geräter wegen einer kleinen Sammlung russischerSagen in Konflikt mit der russisch-orthodoxenKirche, als dessen Folge bis 1914 keine neuenBände dieser Sagen erscheinen dürfen. 1862 wirder wegen des Besuches eines vom Regime als ge-fährlich betrachteten politischen Emigrantenseines Postens enthoben: Er stirbt 1871 an Tuber-kulose, im Alter von erst fünfundvierzig Jahren.

Doch nun zurück in die von ihm erschlosseneWelt. Man fühlt sich mit einem Male auf die

1 Verlag Sauerländer, Aarau 1973.

Ofenbank eines russischen Bauernhauses versetzt,wo der Großvater im Dunkeln seine gruselig-wonnigen Geschichten erzählt. Von den Simeons-brüdern mit der sibirischen Katze, denen derKönig aus Dank alle Freiheiten gewährt, so daßsie keinen Rubel Steuern zahlen und keinenZehnten abliefern müssen; von der fürchterlichenHexe Baba Jaga, die sich in einem eisernen Mör-ser fortbewegt, den sie mit der Keule antreibt,und die die Spuren hinter sich mit einem Besenwieder wegwischt; von Falken, Adlern undRaben, die sich in schöne Prinzen, von Taubenund Fröschen, die sich in allerliebste Prinzessin-nen verwandeln; von Koschtschej dem Unsterb-lichen; vom braven Soldat Fedot. der nach Weiß-nicht-wohin gehen und dem König das Ich-wciß-nicht-was mitbringen muß.

Der ewige dritte Sohn der Märchen tauchtöfters unter den Zügen von Iwan dem Narrenauf, der, ähnlich wie das tapfere Schneiderlein,die Hand der schönen Königstochter gewinnt. Inanderen Märchen sind es sein Mutterwitz undZauber denn ohne Zauber ereignet sich janichts in diesem Wunsch- und Traumbereich ,die ihm diesen Lohn einbringen; aber immer er-langt der Einfältige, d er Verachtete, der ärmsteMuschik die höchsten Ehren. Das Aschenbrödel-Motiv wird in der Geschichte der schönen Wassi-iissa lebendig; reizvoll ist es, Entsprechungen undUnterschiede zu bekanntem Märchengut in dieserzwischen Verzauberung und Bodenständigkeitschwebenden Welt zu entdecken. Die 14 Zeich-nungen von Dieter Lange illustrieren gerade diesaufs eindrucksvollste.

Neue Zürcher Zeitung vom 30.08.1973