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Dokumentation IBA-Werkstattgespräch Mut zur Masse – serieller Wohnungsbau als Konzept der Zukunft?

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Dokumentation

IBA-WerkstattgesprächMut zur Masse – serieller Wohnungsbau als Konzept der Zukunft?

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IBA-WerkstattgesprächMut zur Masse – serieller Wohnungsbau als Konzept der Zukunft? Dokumentation der Veranstaltung vom 22. Januar 2013von 17.00 Uhr bis 20.00 Uhrin der Alten Zollgarage, Flughafen Tempelhof

VeranstalterinSenatsverwaltung für Stadtentwicklung und UmweltJoachim GüntherAm Köllnischen Park 310179 Berlinwww.stadtentwicklung.berlin.de

Bearbeitungadrian-prozessnavigation Begleitbüro IBA Berlin 2020Rungestraße 22-2410179 Berlin

Berlin, April 2013

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Mut zur Masse – serieller Wohnungsbau als Konzept der Zukunft?

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Programm

Auch in Berlin wird bezahlbarer Wohnraum knapper und die Kostenmieten im Neubau sind für viele nicht er-schwinglich. Ein Ziel der Internationalen Bauausstellung Berlin 2020 ist es, innovative Strategien im Wohnungs-bau zu erproben. Ein Weg könnte es sein, sich der seriellen Vorfertigung zu bedienen. Können wir mit „Mut zur Masse“ Kosten senken?

Dabei geht es darum, die Frage nach Standards zu diskutieren, die womöglich unsere GeWOHNheiten in Frage stellen: Können wir uns unsere derzeitigen Wohnstandards noch leisten? Welche Freiheiten der individuellen Gestaltung eröffnen sich durch ein Neudenken von Baustandards und Bauweisen? Was können wir vom Platten-bau lernen? Kann die industrielle Vorfertigung auch eine Antwort auf die immer komplexer werdenden Anforde-rungen an Haustechnik und Ressourceneffizienz sein?

In der Veranstaltung sollen diese Fragen diskutiert und nach den Möglichkeiten der „Serie“ als Wettbewerbsdis-ziplin der IBA Berlin 2020 gefragt werden.

Regula LüscherBegrüßung

Peter Christensen, Architekturhistoriker und Kurator (New York)Fragmente und Teile: Das vorgefertigte Haus vom kolonialen Kit-Haus zur Individualisierten Massenfertigung

Dr. Julia Gill, Architektur/Architekturwissenschaft (Berlin)Besser Bauen? Strategien der Standardisierung für neue Standards im Wohnungsbau

Prof. Arno Brandlhuber, brandlhuber+ (Berlin)Das Heterogenitätsmodell – was bedeutet Nutzungsmischung für Baustandards und Kosten?

Podium: Impulse für die IBA Berlin 2020Diskussion mit den drei Referierenden und Senatsbaudirektorin Regula Lüscher

Regula LüscherSchlusswort

Moderation: Matthias Böttger, DAZ/raumtaktik

Alle Beiträge beruhen auf dem Audiomitschnitt der Veranstaltung, wurden redaktionall überarbeitet und teilwei-se gekürzt. Die Coverillustration ist von Thomas Rustemeyer, die Bilder der Veranstaltung hat Christoph Petras gemacht. Alle weiteren Bilder und Grafiken wurden den jeweiligen Präsentationen der Referentinnen und Refe-renten entnommen.

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Begrüßung

Regula Lüscher, Senatsbaudirektorin

Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zur dritten Veranstaltung in unserer Reihe der IBA-Werkstattgespräche. Wir freuen uns ganz besonders, dass so viele Menschen trotz Kälte und Schnee den Weg hierher gefunden haben. Es ist offensicht-lich ein Thema, das viele interessiert.

Im ersten Werkstattgespräch im September ging es um das Thema Dichte, im November um quartiersbezogene Ener-giekonzepte und heute geht es um einen ganz bestimmten Aspekt des Wohnungsbaus. Die Werkstattgespräche stellen jenseits des Leitthemas der IBA Berlin 2020 – „Draußenstadt wird Drinnenstadt“ – ganz konkrete Aspekte, die für die In-ternationale Bauausstellung interessant sind, zur Diskussi-on. Sie sind eine Plattform für eine Debatte, die der Vertie-fung der Themen auf dem Weg zu einer IBA Berlin 2020 dient.

Heute geht es nicht um den Wohnungsbau allgemein, son-dern um einen wichtigen, spezifischen Aspekt, nämlich um die Massenproduktion und die Frage, ob die Standardisie-rung von Planung und Produktion auch Antworten im Hin-blick auf den kostengünstigen Wohnungsbau und die Ge-schwindigkeit von Bau- und Planungsprozessen liefern könnten.

Wie wir alle wissen, ist Wohnungsbau wieder ein großes Thema in Berlin. Der Wohnungsleerstand ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Der Markt ist wieder eng geworden und die Preise steigen. Die Fachabteilungen der Senatsver-waltung für Stadtentwicklung und Umwelt arbeiten am Stadtentwicklungskonzept 2030 und an einem neuen Stadt-entwicklungsplan Wohnen. Wir ringen zudem um die Verän-derung gesetzlicher Rahmenbedingungen, aber auch um freiwillige Vereinbarungen mit Akteuren der Wohnungs-

wirtschaft. Das ist in etwa das Spektrum, das uns im Mo-ment in der Senatsverwaltung beschäftigt.

Warum beschäftigt sich auch die Internationale Bauausstel-lung mit dem Schwerpunkt Wohnen? Im Wohnungsbau ist wieder der Moment für Innovation gekommen. Es gab in Berlin lange Zeit wenig Wohnungsneubau. Wir glauben, dass wir nicht einfach dort weitermachen können, wo wir früher einmal aufgehört haben. Zuallererst müssen wir uns fragen, welche Wohnungen wir eigentlich in Zukunft brau-chen: Welche Grundrisse brauchen wir, welche Wohnungs-größen, welche Standards? Und dann müssen wir uns mit der ebenso wichtigen Frage auseinandersetzen, wie im Neu-bau bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden kann. Geht es überhaupt? Wie geht es? Und wie können wir gleichzeitig unsere hohen Ansprüche an Nachhaltigkeit aufrechterhal-ten? Dafür müssen wir höchstwahrscheinlich anders bauen, vielleicht auch anders wohnen. Dafür müssen weitere Ak-teure als Bauherren und Baufrauen gewonnen werden, ins-besondere solche, denen es nicht primär um die Rendite geht.

Die IBA Berlin 2020 will genau das sein: eine Diskussions-plattform über das Wohnen und den Wohnungsbau der Zu-kunft. Vor allem aber will die IBA ein Labor sein, in dem gute Ideen umgehend ausprobiert werden können und sollen. Das ist eben der große Vorteil des IBA-Labors: Man kann neue Dinge ausprobieren.

Heute diskutieren wir über einen bautechnologischen An-satz, der viele Architektinnen und Architekten in der Ver-gangenheit immer wieder fasziniert und immer wieder neu beschäftigt hat: die Serie, die Standardisierung, die indust-rielle Vorfertigung. Namen wie Auguste Perret oder Le Cor-

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busier sind damit verbunden, aber auch große Bauunter-nehmen haben sich immer wieder mit diesem Thema auseinandergesetzt. Wir alle kennen natürlich den Platten-bau. Wir kennen den Holzrahmenbau nach amerikanischem Vorbild, den Balloon Frame, der insbesondere in Skandina-vien eine sehr große Rolle spielt. Auch in Berlin gibt es neu-ere Beispiele für mehrgeschossigen Wohnungsbau in Holz – zum Beispiel von Kaden und Klingbeil. Das ist mit Blick auf den Brandschutz eine große Herausforderung.

Das Thema der heutigen Veranstaltung hat uns in der Ver-gangenheit beschäftigt, beschäftigt uns in der Gegenwart und wird uns auch in der Zukunft beschäftigen. Immer wur-de mit viel Kreativität und großem Engagement an diesem Thema gearbeitet. Es wurden immer neue Prototypen ent-worfen und erfunden. Sehr viele davon sind nie in Serie ge-gangen, auch das ist interessant, wenn man die Geschichte der leichten und der schweren Vorfabrikation nachverfolgt. In jedem Fall zeigen viele dieser Beispiele, wenn sie auch oft Prototypen geblieben sind, dass dahinter in der Regel ein hohes soziales Engagement und ein hoher sozialer An-

spruch stehen. Es ging immer wieder um die Frage, wie man mit einfachen Mitteln zu bezahlbaren Preisen hohe Qualitä-ten für die breite Bevölkerung erreichen kann. Man täte dem „Massenprodukt“ also Unrecht, wenn man es grund-sätzlich als minderwertig abtun würde. Wir tun das hier heute auf gar keinen Fall.

An dieser Stelle möchte ich Sie noch auf die nächste Veran-staltung am 5. März 2013 hinweisen. Wieder wird es um das Bauen und Wohnen, wieder um die Frage der Bezahlbarkeit gehen. Allerdings stehen dann nicht bautechnologische As-pekte im Vordergrund, sondern die Akteure. Es wird um ge-meinschaftliche Organisations- und Finanzierungsmodelle im nicht primär renditeorientierten Wohnungsbau gehen.

Ich begrüße nun ganz herzlich Peter Christensen aus New York sowie Dr. Julia Gill und Prof. Arno Brandlhuber aus Ber-lin. Ich freue ich mich auf Ihre Referate. Und ich bedanke mich jetzt schon bei Matthias Böttger, der auch diesmal wieder die Veranstaltung moderiert.

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Fragmente und Teile: Das vorgefertigte Haus vom kolo-nialen Kit-Haus zur individualisierten Massenfertigung

Peter Christensen, Architekturhistoriker und Kurator (New York)

Der Beitrag wurde unter dem Titel „Bits and Pieces: The Prefabricated Home from Colonial Kit to Mass Customi-zation“ auf Englisch gehalten.

Ich möchte Ihnen heute einen kleinen Teil der Voruntersu-chungen zur Ausstellung „Home delivery“ vorstellen, die 2008 im Museum of Modern Art stattfand und in der es um Vorfertigung ging. Obwohl die Ausstellung durchaus einen gegenwartsbezogenen Teil hatte, möchte ich mich als His-toriker heute auf die Geschichte der Vorfertigung konzent-rieren, damit sie als Ausgangspunkt für eine zeitgenössi-sche Diskussion dienen kann.

Die Vorfertigung ging in ihrer Geschichte nicht immer mit erschwinglichen Preisen, mit Pragmatismus oder Nachhal-tigkeit einher. Die Erschwinglichkeit war vielmehr Aus-gangspunkt der Idealvorstellung, dass Häuser eines Tages fließbandartig wie ein Ford oder ein Volkswagen hergestellt werden könnten. Bevor man nun aber die Vorfertigung mit dem Traum vom mechanisierten Haus gleichsetzt, ist es wichtig, den Ursprung dieses Traums zu verstehen.

Anhand einer Auswahl von Ausstellungsstücken will ich ver-suchen, die gesamte Skala von der einzelnen Wohnung bis hin zum städtebaulichen Schema darzustellen. Diese Mo-mentaufnahmen sollen zeigen, wie die Erschwinglichkeit und andere Ziele das Phänomen der Vorfertigung hervorge-bracht haben, und wie es im Laufe der Zeit zu einem regel-rechten Versuchslabor für eine ganze Reihe von sozialen, räumlichen, materiellen, politischen und technischen Expe-rimenten wurde.

„Home delivery“ huldigt einer Tradition von Ausstellungs-häusern, in denen die Geschichte der Innovationen der Mo-dernen Architektur fester Bestandteil ist. Sie wird häufig mit dem Museumsgarten des Museum of Modern Art (MoMA) assoziiert, in dem das Museum vor über 55 Jahren Muster-häuser ausstellte, die eine neue Denkenweise über das mo-derne Wohnen im Maßstab 1:1 erfahrbar machen sollten. Marcel Breuer Haus im Museumsgarten

Barry Bergdoll, der leitende Kurator von „Home Delivery“, weist in seiner Einleitung für den Ausstellungskatalog auf einen äußerst wichtigen Punkt hin. Er schreibt: „Dabei wird ein geschichtliches Versehen – oder gar Vorurteil – der Ar-chitekturabteilung wiedergutgemacht, die beinahe syste-matisch das Thema der Vorfertigung, oder genauer gesagt, des industriellen, vorgefertigten Bauens, gemieden hat, ob-wohl die Vorfertigung tatsächlich eine der großen Beschäf-tigungen der meisten Hauptfiguren der Moderne in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und ein wiederkehrendes Thema bei der Innovation, der Erkundung und manches Mal bei spektakulären Fehlschlägen seit Mitte des 20. Jahrhun-derts war.“ In anderen Worten: Das Thema wurde im Ge-schichtsverlauf des 20. Jahrhunderts in der Architektur bei-seitegeschoben. Wir wissen nicht warum, aber wir haben durch unsere Ausstellung versucht, es wieder verstärkt zum Diskussionsgegenstand zu machen. Durch die Ausstellung konnten wir belegen, dass der Trubel um die Vorfertigung im kommerziellen und öffentlichen Interesse in den Nach-kriegsjahren tatsächlich auf beiden Seiten des Atlantiks stattgefunden hat.

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Lustron-House in New York City

Lustron-House

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Ich möchte noch einmal auf das Haus von Marcel Breuer im Museumsgarten zurückkommen. Es wurde von Peter Blake und Philip Johnson, 1948 leitender Kurator in der Architek-turabteilung, beauftragt und ausgestellt und brachte im Sommer 1949 Rekordbesucherzahlen. Die Ausstellung wur-de zu einer der einflussreichsten, die das Museum in den 75 Jahren, in denen es Architektur ausstellt, je gezeigt hat. Dennoch waren sich Peter Blake und Philip Johnson über die ernsthaften Schwierigkeiten im Klaren, die es mit sich bringt, ein Musterhaus im Maßstab 1:1 aus dem Kontext ei-ner Weltausstellung oder eines Werbegrundstücks, wo sol-che Häuser für gewöhnlich ausgestellt werden, in ein Muse-um für bildende Kunst zu holen. Ein vorgefertigtes Haus neben einen Picasso zu stellen, war ein recht polemisches Konzept.

Das Bild von Breuers Zedernholzhaus mit Schmetterlings-dach mag vielleicht das emblematischste Bild der Ausstel-lung sein. Doch nur wenige wissen, dass viele Hinweise dar-auf deuten, dass die Ausstellung dieses vorgefertigten Hauses zum größten Teil auf der Reaktion des Kurators auf ein anderes Haus beruhte, das nur ein Stück weiter die Stra-ße hinunter stand. Diese Geschichte hört man so gut wie nie. Vier Jahre bevor Johnson und Blake die Ausstellung im Garten des MoMA aufbauten, hat Carl Strandlund, ein in Schweden geborener Erfinder, ein in Massen produzierba-res Haus entworfen, das komplett aus Stahl bestand. 1948 wurde das erste Modell, ein sogenanntes „Westchester-zwei-Schlafzimmer-Haus“ vom Unternehmen Lustron in einer früheren Munitionsfabrik in Ohio hergestellt, die sich das Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an-geeignet hatte.

Im Sommer 1948 wurde ein solches Haus im Maßstab 1:1 auf einem Baugrundstück in der 52nd Street, Ecke 6th Ave-nue, in Midtown Manhattan gebaut, das liegt nur einen

Häuserblock vom MoMA entfernt. Philip Johnson kam jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit daran vorbei und empfand es als eine absolute Scheußlichkeit und einen Affront gegen das modernistische Empfindungsvermögen des benachbar-ten MoMA. Und er stand damit nicht alleine. Das Time Ma-gazine befand, dass es sich im Lustron-Haus in etwa genau-so gut wohnen ließe, wie in einem Hotdog-Stand – das ist sehr amerikanisch, ich weiß nicht, ob es sich so einfach übertragen lässt, es ist jedenfalls kein Kompliment.

Diese Hintergrundgeschichte über Geschmacksunterschie-de und ernste Differenzen in der Architekturideologie hat unsere eigene historische Studie sehr angespornt. Daher war es uns auch so wichtig, die Tradition der Freiluftaus-stellung wieder aufzugreifen. „Home delivery“ bot auf Aus-stellungsflächen drinnen und draußen einen Überblick über die historische und die moderne Vorfertigung. Die Ausstel-lung begann im sechsten Stock des MoMA mit dem frühen 19. Jahrhundert, als in der Fabrik hergestellte Gebäude und Gebäudeteile zur schnellen Entwicklung des Landesinneren sowohl von Amerika, als auch von den Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich und – wie ich bei meinen Nachforschungen herausgefunden habe – auch von Deutschland in Afrika herangezogen wurden.

Die Ausstellung endete auf der Westseite des Grundstücks, gleich beim Museumseingang in der 54th Street: Hier wur-den fünf neu gebaute und zum Teil speziell für diesen An-lass in Auftrag gegebene, vorgefertigte Häuser aufgestellt, um an ihnen beispielhaft den aktuellen Forschungsstand zur Vorfabrikation zu zeigen. Diese Häuser wurden durch drei digital hergestellte Wandteile ergänzt, die den Eingang in die Galerie flankieren und verschiedene Ideologien über parametrisches Design und digitale Herstellung darstellen, die sich seit der Ausstellung im Jahr 2008 schon wieder er-staunlich stark verändert haben. Deshalb stellen solche di-gitalen Entwicklungen auch eine Zukunft in Aussicht, in der die traditionell mit der Vorfertigung assoziierten Schlag-

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Balloon Frame

Amerikanisches Haus in Systembauweise von Frank Lloyd Wright

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wörter „billiger“ und „schneller“ von der ungezügelten Kre-ativität des Entwerfers bei individuellen Aufgaben begleitet werden. Die Zeitspanne der Ausstellung reichte also von der industriellen Logik des Maschinenzeitalters über Massen-normung bis hin zum Zeitalter von computergestütztem Design und der individualisierten Massenfertigung.

Die Geschichte war anfangs sehr schwer zu fassen. Zu-nächst einmal war es erforderlich herauszufinden, zu wel-chem architekturgeschichtlichen Zeitpunkt sich die Idee des vorgefertigten Hauses ursprünglich herauskristallisierte. 1830 wurde ein Schulgebäude britischer Siedler in Australi-en von einem Zimmermann namens H. Manning in London entworfen, gefertigt und verfrachtet. Sein transportables Kolonial-Schulhaus wurde sowohl in den britischen als auch

in den australischen Zei-tungen erwähnt und so-mit zu einem der ersten visuell dokumentierten, reproduzierbaren Fertig-häuser der Architekturge-schichte.

In den Vereinigten Staa-ten reichte die Erfindung des einfachen Nagels, um die als „Balloon Frame“ bekannte Bauweise ent-stehen zu lassen, und sich somit vom Bedarf nach hochqualifizierten Ar-beitskräften und kompli-

zierten Verarbeitungsweisen zu befreien, die anfangs als Teil einer langen europäischen Tradition importiert worden waren. Der berühmte amerikanische Erfinder Thomas Edi-son, eher durch seine Pionierarbeit in der Elektrizität be-kannt, fing 1906 an, Entwürfe für ein kaum bekanntes Pa-tent für sogenannte „Single-pour-concrete-houses“ („Ein-Schütt-Betonhäuser“) auszuarbeiten. Ich habe die dazugehörige Patentzeichnung, auf der das Konzept gut zu erkennen ist, im US-Patentbüro gefunden. Es gibt eine Schalung, in die der Beton von oben eingeschüttet wird.

Auch Konrad Wachsman und Walter Gropius fingen 1941 an, an einem Plattensystem zu arbeiten. Diese beiden Pro-jekte von Edison bzw. Gropius und Wachsman versinnbildli-chen den architektonischen Erfindergeist, der die Vereinig-ten Staaten und Europa in der Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem zweiten Weltkrieg erfasst hat-te. Dies sind nur zwei Beispiele der frühen Studien, in denen ausdrücklich eine Reproduktion beabsichtigt war, die aber zu keinem besonders großen Erfolg geführt haben.

Während des zweiten Weltkrieges gab es auch das weitge-hend unbekannte amerikanische Haus in Systembauweise von Frank Lloyd Wright, das zahllose Hausformvarianten mit einer sehr geringen Auswahl von Materialien zuließ. Frank Lloyd Wright, der normalerweise als ein Architekt be-kannt war, der äußerst spezifische, teure und einmalige Häuser baute, arbeitete an vorgefertigten Systemen, die nach Möglickeit nicht vorgefertigt aussehen sollten.

Ausstellung „Home Delivery“

Kolonial-Schulhaus von Manning

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Technische Innovation findet man auch in den Fundamen-ten des Dymaxion-Hauses von Buckminster Fuller, diesem

sehr bezeichnenden „Bucky-Projekt“, sowie auch bei zwei Gebäuden der Weltausstellung „A Century of Progress“ von 1933, dem „Good House-keeping Stran-Steel House“ von H. August O‘Dell und Wirt C. Rowland und dem „Keck Crystal House“ von George Fred Keck. Neben seiner Zu-sammenarbeit mit Wachsman steckte Walter Gropius auch hinter den Entwürfen von einer Reihe von Kupferhäusern für jüdische Emigranten, die Euro-pa verließen, um nach Israel und Palästina überzusiedeln. Der Zweite Weltkrieg und die mit ihm einhergehende massi-ve Nachfrage nach neuen Wohnhäusern verlangten der

Fertighausindustrie mehr ab als je zuvor. Das in der Fabrik gefertigte Haus entwickelte sich von einer idealisierten Übung an Architekturhochschulen hin zu einer Pflicht. Als Millionen von Menschen aus den Stadtzentren von New York, Paris und London flüchteten, verliebten sich diese frü-heren Stadtbewohner in die neue Freiheit, die die relativ kostengünstigen, freistehenden Wohnhäuser versprachen. Der Krieg hatte Industrie und Regierungen mehr als je zuvor zusammengeschweißt und das Potenzial großangelegter Herstellung von regierungsgeförderten Wohnungen rückte in greifbare Nähe. Stahl wurde zum wichtigsten Baumateri-al und es wurde unglaublich viel experimentiert.

Jean Prouvé revolutionierte die in der Fabrik hergestellten Häuser in seinem Büro in Maxéville, Frankreich. Hier ent-standen zahlreiche zukunftsträchtige Entwürfe, wie z.B. das „Maison Tropicale“ und verschiedene andere Häuser glei-chen Systems. Auf dem Foto sehen Sie, wie das „Maison Tropicale“ 1949 im französischen Kongo in Einzelteile zer-legt in einem Flugzeug angeliefert wird.

Die Ereignisse von 1948 und 1949 haben die Geschichte des vorgefertigten Hauses stark geprägt. Das wilde Experimen-tieren der Nachkriegszeit führte zu breiter gefächerten Stu-dien, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägen soll-ten. In vorgefertigten Wohnungstypen wurden neue Materialien weitaus schneller eingesetzt. Zugleich rückten Architektur und Design näher zusammen. Die 1950er Jahre wurden von der bahnbrechenden Erforschung des Plastiks geprägt. In den 1960er und 1970er Jahren folgten dann die Erforschung vorgefertigter und vorgespannter Betonplat-tensysteme und das immer wiederkehrende Interesse am Konzept der Großstrukturen.

Dies sind nur einige der Projekte und Strömungen, die diese sehr experimentelle Phase ausmachten. Im Rahmen unse-rer Ausstellung wurden diese durch eine Reihe von Architek-turmodellen in mehr oder weniger chronologischer Reihen-folge dargestellt.

Unter den vielen Lösungsvorschlägen befindet sich auch das „All plastic House“ von Ionel Schein aus dem Jahr 1956, das den Rundhaustypus des Dymaxion-Hauses von Buck-minster Fuller aufnimmt, wobei Schein ein System entwarf, in dem einzelne Scheiben aus Plastik zusammengesetzt werden. Das britische Architekturkollektiv Archigram präg-te 1964 durch seinen Entwurf für die „Plug-In City“ den Be-griff der Großtragwerke. Die massive Skala der Großstruk-turen inspirierte Metabolisten aus aller Welt – Kisho Kurokawa in Japan, Mosche Safdi aus Kanada und Zvi He-cker aus Israel – zur Komposition individueller Projekte, die die Großstrukturen unterbetonten oder alles in allem aus-löschten, und stattdessen die Einzelelemente mehr als die Infrastruktur betonen.

Dymaxion House

Good Housekeeping Stran-Steel House

Keck Crystal House

Maison Tropicale All Plastic House Plug-In City

Ausstellung „Home Delivery“

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In Großbritannien prägten Architekten wie Richard Rogers und Richard Horden die High-Tech-Bewegungen mit ihren Vorschlägen für erweiterbare Wohnbausysteme, die Konst-ruktionstechnologien aus nicht-architektonischen Berei-chen – wie dem Segelbootsbau oder allgemein dem Sport – auf die Architektur übertrugen. Der amerikanische Architekt

Paul Rudolph kreierte neues Leben im Wohnwagen, indem er ihn als Baustein in verschiedenen Projekten einsetzte, von denen aber nur eines verwirklicht wurde. Diese von uns ausgestellte Sammlung beherbergte einige der letzten handgezeichneten Vorschläge zur Serie und endete mit dem Erwachen der Computer-Modelling-Technologien. Der Einzug von Computersoftware und Entwurfsprogrammen wie AutoCAD, Form-Z, MIR, Revit und all den anderen hat in den letzten Jahren – zusammen mit den großartigen techni-schen Erfindungen für Laserschnitt, -fräsung und 3D-Druck-Geräte – zu einer Vielzahl von Experimenten geführt. Wäh-rend die Formen und Möglichkeiten schier endlos zu sein scheinen, werden einzigartige, reproduzierbare Entwürfe zu einer echten Herausforderung.

Führende Architekten haben von der Vorstellung Abstand genommen, dass ein einziger Hausentwurf oder ein einzi-ges Wohnungsschema den heutigen Wohnbedürfnisse Rechnung tragen kann. Nach einer Tendenz zur Massen-normung, die in sämtlichen Projekten dieser Ausstellung verkörpert wird, geht es zunehmend um eine neue, sich noch in Entwicklung befindende Idee der individualisierten Massenfertigung. Durch diese soll der individuelle Ausdruck mit der Massenproduktion versöhnt werden.

Es gibt also eine Reihe unterschiedlicher Ansätze, die auf der Definition der Vorfertigung als vorproduzierten Bau-satz, der auf der Baustelle zusammengesetzt wird, beru-hen. Die jüngere Architektengeneration hat ihre Aufmerk-samkeit auf das Entwerfen von Gebäudeteilen für individuelle Gebäude gerichtet sowie auf das Erstellen von Computeralgorithmen, die anhannd mehrerer Parameter

eine Form je nach den spezifischen Anforderungen des Ge-bäudes bilden. Dadurch enstehen Wohnungen und Gebäu-de, deren mögliche Variationen endlos sind.

Seit der frühen Versuche von Wes Jones von 1995, in denen er mit ausrangierten Schiffscontainern arbeitete, und einer Reihe von Wandteilen von Kengo Kuma, haben bis heute eine Reihe Projekte, die von einem vorarchitektonischen Al-gorithmus bis zum postarchitektonischen Recycling von Bauelementen reichen, das neuerliche Auftreten der Vorfa-brikation vertreten.

Dies führt mich im letzten Teil meines Vortrags zur Freiluft-ausstellung, in der der neueste Stand der Vorfabrikation experimentell und im Maßstab 1:1 gezeigt wurde. Ich werde an dieser Stelle nicht vertiefend auf diese Projekte eingehen können. Sollten Sie mehr darüber erfahren wollen, dann finden Sie auf der Website, die wir für die Ausstellung ge-macht haben und die noch immer über die Homepage des MoMA zur Verfügung steht, eine Art „Baby-Tagebücher“, in denen der Herstellungsprozess der Häuser dokumentiert ist.

Das „Burst House“ ist von den Architekten Jeremy Edmiston und Douglas Gauthier aus New York, die zu dem Zeitpunkt der Ausstellung noch System Architects hießen. Es ist voll-ständig aus gefrästem Holz. Die Teile sind aus genormten Sperrholzplatten, die dann auf der Baustelle von etwa 30 Studenten zusammengebaut wurden.

Ausstellung „Home Delivery“

Burst House

Das „Cellophane House“ von Kieran Timberlake, ein größe-res Projekt mit vier Stockwerken, nutzt ein Aluminiumver-kleidungssystem und Solarenergie und ist sowohl in städti-schen als auch in Vorstadtgebieten einsetzbar.

Außerdem gibt es ein digital hergestelltes Haus, das von Studenten des Massachusetts Institute of Technology unter der Leitung von Professor Lawrence Sass entwickelt wurde. Vor dem Hintergrund der Wohnungsnot in New Orleans

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nach dem Hurrikan Katrina hat es einen sehr schnellen Aufbau für sehr wenig Geld zum Ziel.

Das „Micro-compact House“ wurde vom britischen Archi-tekten Richard Horden und seinen Studenten in einem Forschungslabor der TU Mün-chen entwickelt.

Und schließlich das System-3-Haus vom österreichischen Architekten Oskar Leo Kaufmann, das auf einem erweiter-baren System beruht, das sowohl in horizontale als auch in vertikale Richtung wachsen kann.

Nach wie vor hoffen wir, dass sowohl diese Modellgebäude als auch der geschichtliche Überblick der Ausstellung Anre-gungen zum Thema der Vorfabrikation gibt, und dass die nächste Generation von vorgefertigten Häusern ein Formu-niversum voller Vielfalt, Erfindergeist und Einfallsreichtum ist. Heute sind die Möglichkeiten der individualisierten Mas-senfertigung von Berlin bis Peking in aller Munde. Die Vor-fertigung hat das Potenzial, in den kommenden Jahren gro-ße Fortschritte zu machen und kreative Intelligenz zu entfesseln, um mögliche Antworten auf die erschreckenden Herausforderungen zu geben, vor denen Städte und Orte weltweit stehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Matthias Böttger, Moderator: Vielen Dank, Peter Christen-sen. Gibt es direkte Verständnisfragen?

Redebeitrag Publikum: Ich bewundere Ihre intensive For-schungsarbeit, aber warum haben Sie zum Beispiel osteuro-päische oder sozialistisch-kommunistische Entwicklungen nicht mit einbezogen? Denn, sofern ich das sehe, sind diese im Bereich der Massenfabrikation Vorreiter.

Peter Christensen: Was ich hier heute gezeigt habe war aus Zeitgründen nur eine limitierte Auswahl. Und in der Tat können Sie hier viele Systeme sehen, die der Plattenbauwei-se in Deutschland und den entsprechenden Varianten in Russland und Osteuropa ähneln. Wir haben diese auch er-wähnt. Die Ausstellungsorganisation hat versucht im Zu-sammenhang mit einem Museum für Bildende Kunst auch die Rolle der jeweiligen Architekten zu beleuchten. Die Sys-teme, von denen Sie sprechen, wurden aber häufig nicht von Architekten entworfen, sondern von einer Baufirma oder von Leuten, die anonym geblieben sind. Wir wollten einige von ihnen darstellen, aufgrund fehlender Urheber-rechte war dies jedoch nicht immer möglich.

Cellophane House digital herstelltes Haus

Micro Compact Home

System3 House

Ausstellung „Home Delivery“

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Besser Bauen? Strategien der Standardisierung für neue Standards im Wohnungsbau

Dr. Julia Gill, Architektur / Architekturwissenschaft (Berlin)

Der Vortrag basiert auf der Studie „Serieller Wohnungs-bau – Standardisierung der Vielfalt“, die durch Dr. Julia Gill, Dr. Andrea Benze und Dr. Saskia Hebert im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Um-welt durchgeführt wurde und als Online-Publikation bereitsteht.

Ich bedanke mich bei den Veranstaltern für die Einladung und freue mich, Ihnen heute die Ergebnisse einer Studie zu präsentieren, die wir im letzten Jahr für die Senatsverwal-tung für Stadtentwicklung und Umwelt durchgeführt ha-ben. Wir haben Wohnungsneubauten untersucht, die in ver-schiedener Hinsicht Standardisierungsaspekte aufweisen, sowie die neuen Wohnstandards, die diese Strategien ver-sprechen. Dabei bezeichnet der Standard ein gewünschtes Qualitätsniveau und die Standardisierung eine Methode, diesen Standard zeit- und kostensparend zu erreichen und zu verbreiten.

Mein Vortrag wird sich wie folgt gliedern: Ich werde zu-nächst auf den Kontext der Fragestellung unserer Studie eingehen und dann die einzelnen Strategien anhand von Fallbeispielen illustrieren um schließlich einen Ausblick auf eine mögliche Übertragbarkeit im Rahmen der IBA Berlin 2020 zu geben.

Zum Kontext: Berlin wächst. Die Einwohnerzahl der Haupt-stadt soll sich Studien zufolge bis 2030 von derzeit 3,52 auf 3,75 Millionen vergrößern. Das bringt den Bedarf an zusätz-lichen Wohnungen mit sich, die SPD möchte allein die An-zahl der Wohnungen der landeseigenen Wohnungsbauge-sellschaften bis 2020 um 70.000 Wohnungen erhöhen. Der Neubau von Wohnungen ist jedoch teuer, nicht nur in Bezug auf das Bauen selbst, sondern gerade auch mit Blick auf die Anforderung des energieeffizienten Bauens nach den gülti-gen Vorschriften. Diese lassen die Baukosten und mit ihnen die Kostenmieten auf Preise ansteigen, die zwar internatio-nal immer noch belächelt werden, gemessen an Berliner Durchschnittseinkommen jedoch häufig zu hoch sind. Man spricht von einer neuen Wohnungsnot und meint damit vor allem den Mangel an bezahlbarem Wohnraum.

Wie also können wir kostengünstige und zugleich attraktive Wohnungen schnell und in großer Zahl realisieren? Vor die-ser Fragestellung erhält der Serienbau heute neue Aktuali-tät. Hierin nämlich sollten sich von Beginn an schnelle und preiswerte Fertigungen mit hohen technischen, hygieni-schen und auch gestalterischen Standards verbinden, um qualitätsvollen Wohnraum und auch Komfort jedermann zugänglich zu machen. Le Corbusier formulierte es folgen-dermaßen: „Einen Standard entwickeln heißt, einen als zweckgerecht erkannten Typ auf ein Höchstmaß an Leis-tung und ein Mindestmaß an aufzuwendenden Mitteln zu bringen“. Eine durch Ausleseprozesse entstandene Stan-dardlösung ist für ihn eine wirtschaftliche und auch soziale Notwendigkeit.

Das klingt heute wie damals einleuchtend und man fragt sich, warum sich serielle Bauweisen nicht von selbst etab-liert haben. In der Tat spielte Standardisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle im Siedlungsbau. Vielleicht schon mit Blick auf das industrialisierte Bauen war es zunächst primär ein typologisches Programm, in dem unabhängig von der Bauweise vor allem Standardwoh-nungen in großer Zahl erstellt werden sollten.

In den 1960er-Jahren entstanden in großem Maßstab und unter Einsatz von Typung und Normung in Verbindung mit industrieller Vorfertigung zahlreiche Großwohnsiedlungen in West und Ost. Mit der aufkommenden Kritik an diesen Siedlungen – und nicht zuletzt auch aufgrund baukonstruk-tiver Probleme – kam der Serienbau spätestens ab den 1980er-Jahren in Verruf und mit zunehmender Individuali-sierung unserer Gesellschaft auch aus der Mode.

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Mut zur Masse – serieller Wohnungsbau als Konzept der Zukunft?

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Die Frage, ob Standardisierung und Vorfertigung heute wie-der geeignet sind, unsere Wohnbedürfnisse zu erfüllen, lässt sich nicht pauschal beantworten. Sicher ist, dass der Serienbau dank neuer Technologien heute nicht mehr zwin-gend die Typung und Normung von Wohnungen voraus-setzt. Es gibt sehr interessante Beispiele, in denen Stan-dardwohnungen so gestaltet sind beziehungsweise Standardbauteile so eingesetzt werden, dass vielfältige Nutzungs- und Aneignungsspielräume entstehen.

Bevor ich Ihnen eine Auswahl der von uns untersuchten Bei-spielen vorstelle, gestatten Sie mir noch ein paar kurze Er-läuterungen. Um nämlich die verschiedenen Strategien der Standardisierung miteinander ins Verhältnis zu setzen, muss man ihre jeweiligen Zielsetzungen betrachten. Denn es geht heutzutage nicht mehr primär um Zeit- und Kosten-reduktion, sondern manchmal stehen auch ganz andere Dinge im Vordergrund, zum Beispiel energetische Standards oder der sparsame Umgang mit Ressourcen. Daher sind den Beispielen Piktogramme zugeordnet. Sie stehen für Vorfer-tigung, Zeiteffizienz, Kosteneffizienz, Energieeffizienz und Flexibilität beziehungsweise Aneignungsspielräume. Sie ha-ben farbliche Abstufungen, d.h. je heller Piktogramme sind, desto wichtig ist der dargestellte Aspekt in dem Projekt.

Meistens beziehen sich die Aspekte der Standardisierung nicht auf den gesamten Bau, sondern mit Blick auf die An-passungsfähigkeit der jeweiligen Systeme an Ort und Nut-zer oftmals nur auf bestimmte Bauteile oder auch Baupha-sen, zum Beispiel auf Fassadensysteme, Tragstrukturen, einzelne Raummodule oder Ähnliches. Nach diesen Kriteri-en habe ich vier Familien gebildet: komplett vorgefertigte Module und Wände, vorgefertigte Bauteile, Standardwoh-nungen und Standardteile, sowie Standardrohbau und indi-vidueller Ausbau.

Ich beginne mit Projekten mit einem sehr hohen Grad an Vorfertigung – das heißt mit komplett vorgefertigten Modu-len und Wänden – und knüpfe damit an die „Home Delivery“-

Ausstellung meines Vorredners an. Bei den Projekten han-delt es sich nicht mehr um Prototypen, sondern um kommerziell erfolgreiche Modelle. Das dänische Büro ONV architects hat ein solches System entwickelt und in mehre-ren Beispielen bereits realisieren können. Es handelt sich um komplett vorgefertigte Module, die so groß sind, dass sie gerade noch auf einen LKW passen. Jeweils zwei bis drei solcher Module ergeben zusammen eine Wohnung. Diese Wohnungen werden so gestapelt und aneinandergereiht, dass sich Reihenhaussiedlungen ergeben. Fassaden und Grundrisse können variieren.

Das zweite Projekt ist ein Mehrfamilien-Fertighaus, das von den Architekten Fusi & Ammann in Kooperation mit der Fir-ma Schwörer-Haus, einem kommerziellen Eigenheimanbie-ter, entwickelt wird. Es wird derzeit im Rahmen der IBA Hamburg-Wilhelmsburg realisiert. Im Eigenheim-Fertig-hausbau bewährte Methoden werden hier auf ein inner-städtisches Mehrfamilienhaus übertragen. Man arbeitet mit großen vorgefertigten Wandelementen, die bereits Fenster und Türen, Installationen, Wand- und Fußbodenbe-läge etc. enthalten. Vereinzelt kommen auch dreidimensio-nale Raummodule zum Einsatz.

Der sehr hohe Grad an Vorfertigung ermöglicht Vorteile bei der Herstellung, vor allem durch die wetterunabhängige Fertigung. Außerdem können auch durch die sehr schnelle Montage mittelbar Kosten gespart werden. Die Grenzen der Vorfertigung liegen naturgemäß im Transport. Für Anpas-sungen an Ort und Nutzer ermöglichen heute CAD- und CNC-Technik vielfältige Möglichkeiten, da durch diese Ferti-gung nicht mehr zwingend hohe Stückzahlen für die serielle Produktion erforderlich sind. Außerdem lassen sich ur-sprünglich für die grüne Wiese konzipierte Konzepte bei-

Wohnsiedlung Amagerfaelledvej, KopenhagenONV architects, © ONV architects

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spielsweise auf die Innenstadt mit ihren unregelmäßigen Grundstückszuschnitten übertragen. Das zweite Fallbeispiel ist ein Schritt in diese Richtung. Interessant ist auch, dass die Hausanbieter hier einen Markt sehen, denn bei beiden Projekten handelt es sich um kommerziell erfolgreiche An-sätze. Jedoch könnte im Hinblick auf die Architektur selbst im Rahmen einer IBA schon etwas mehr Experiment gewagt oder auch gefordert werden.

In der zweiten Kategorie „Vorgefertigte Bauteile“ geht es nicht primär um die schnelle Montage, sondern um das Er-reichen von Ausführungsstandards, die nur durch Fabrik-fertigung möglich sind. Der erste Ansatz wurde in verschie-denen Projekten durch das Büro Basicarella in Genf erprobt. Es handelt sich dabei im Prinzip um einen Plattenbau, der jedoch eine sehr große Varianz der Fertigteile und eine hohe Ausführungsqualität aufweist. Die Vorfertigung geht nicht soweit wie bei den zuvor beschriebenen Beispielen. In die-sem Fall gibt es vorgefertigte Paneele, Fenster und Innen-ausbauten werden jedoch erst auf der Baustelle fertigge-stellt. Die Paneele selbst wurden in langjähriger Forschungsarbeit mit dem Polytechnikum in Lausanne ent-wickelt. Sie sind aus speziellen Betonarten und Dämmmate-rialien und wurden dahingehend verschlankt, dass im ver-gangenen Jahr ein Prototyp mit einer Wandstärke von 32 Zentimetern – das ist für Beton sehr wenig – fertiggestellt wurde. Diese Bauweise ist nicht günstig, über den Zugewinn an Wohnfläche sollen sich die Herstellungskosten jedoch wieder amortisieren. Wenn das Projekt gelingt, soll es auf den Geschosswohnungsbau übertragen werden.

Als zweites Beispiel dieser Kategorie zeige ich ein Wohn- und Geschäftshaus in Zürich, das durch das Schweizer Büro pool-Architekten gebaut wurde. Ziel war es hier, den Ge-samtenergieaufwand für das Gebäude zu minimieren, nicht nur in der späteren Nutzung, sondern auch bereits in der Errichtung. Dafür kam ein sehr einfaches Bausystem mit dem Namen „Top Wall“ zum Einsatz. Es wurde ebenfalls in der Schweiz entwickelt und ist bereits mehrfach erprobt. Bei den vorgefertigten Elementen handelt es sich um zimmer-hohe Holzbohlen mit einem Querschnitt von 10 auf 20 Zen-timetern, die vertikal zu einer Massivholzwand aneinander-gereiht werden. Diese werden nachträglich innen und außen verkleidet, sodass von den Holzbohlen später nichts mehr zu sehen ist. Durch die geringe Größe sind die Bohlen – ähn-lich wie der Ziegelstein – sehr flexibel, was eine einfache

Case Study #1, HamburgFusi & Ammann Architekten mit SchwörerHaus, © SchwörerHaus KG

Prototyp auf dem Werksgelände Prelco, GenfBassi Carella Architectes, © Bassi Carella Architectes

Wohn- und Geschäftshaus Badener Str., Zürich

pool Architekten© Giuseppe Micciché; pool Architekten

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und schnelle Montage auf der Baustelle ermöglicht. Außer-dem erlaubt das System eine Unabhängigkeit von der Bau-industrie, da keine besonderen Maschinen gebraucht wer-den und auch kleine Unternehmen mit der Fertigung beauftragt werden können. Das Holz stammt aus der un-mittelbaren Umgebung, maximal 20 Kilometer vom verar-beitenden Betrieb, so war hier die Auflage. Die Dimension der Holzbohlen ist so bemessen, dass immer zwei Bohlen aus einem üblichen Baumstamm von Nutzholz gewonnen werden können. Hinter dem System steht die Idee, durch kleine Kreisläufe den Energieaufwand zu minimieren.

In diesen Projekten geht es vor allem um energetische Stan-dards und um die Entwicklung möglichst anpassungsfähi-ger Systeme. Alle Gebäude, die wir in dieser Kategorie un-tersucht haben, wurden als Unikate für ihren jeweiligen städtebaulichen Kontext konzipiert. Der Fertigungs- und Montageaufwand reduziert sich gegenüber konventionel-len Bauweisen nur bedingt, macht aber die spezifischen Ausführungsqualitäten erst möglich. Finanzielle Vorteile ergeben sich also nicht mittelbar aus der Produktion, wohl aber in Bezug auf die Gesamtbilanz.

Auf diese Reihe von Beispielen mit technisch-konstruktivem Schwerpunkt folgen nun zwei Projekte, in denen sich die Standardisierung eher auf die Planung sowie auf den Ein-satz von Industriematerialien bezieht. Beide Projekte der Kategorie „Standardwohnungen und Standardteile“ sind auch in Bezug auf die Diskussion über neue Wohnstandards interessant.

Ich zeige Ihnen zuerst ein Wohngebäude des holländischen Büros Atelier Kempe Thill, das in Den Haag steht. Hier wur-den innerhalb der strengen Auflagen des niederländischen sozialen Wohnungsbaus gestaltete, hochwertige Wohnun-gen errichtet. Nach Aussage der Architekten war das nur durch die Anwendung streng fordistischer Prinzipien in Pla-nung und Produktion möglich. In dem gesamten Gebäude mit 88 Wohnungen gibt es gerade einmal zwei unterschied-liche Wohnungstypen. Durch die Verwendung großer Bau-teile mussten nur wenige Anschlusspunkte detailliert wer-den. Dadurch konnte mehr Aufwand in die Entwicklung der einzelnen Ausführungsdetails gelegt werden, die in enger Zusammenarbeit mit der Bauindustrie entwickelt wurden. So wurde ein eigener Standard festgelegt. Das gilt im Übri-gen nicht nur für die Fassade, sondern auch für die Raum-qualitäten der Wohnungen. Durch die hohe Stückzahl konn-te dennoch preiswert produziert werden.

Um die Verwendung preiswerter, standardisierter Bauteile – dieses Mal von der Stange – geht es auch bei dem folgen-den Fallbeispiel des Büros Lacaton & Vassal in Trignac, das liegt in der Bretagne. Es ist auch ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus. Die großformatigen Metallelemente der oberen Geschosse konnte man günstig im Gewächshausbau einkaufen. Die Maße für das einfache Stahlbetonskelett der Sockelgeschosse richtet sich nach diesen Gewächshausbau-elementen. Die Raumbegrenzungen bestehen zumindest zum Teil aus einfachen Polyurethandoppelstegplatten oder aus Wellblech- und textilen Elementen. Dadurch entstehen unterschiedliche Klimazonen im Gebäude. Durch die sehr niedrigen Herstellungskosten konnte ein Plus an Wohnflä-che erzeugt werden, das der individuellen Aneignung durch die Benutzer zur Verfügung steht. Wenngleich oder gerade

Housing Block 10, Den HaagAtelier Kempe Thill, © Ulrich Schwarz

Trignac, Saint NazaireLacaton Vassal Architectes, © Lacaton Vassal Architectes

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weil dieses Gebäude nicht hiesigen Wärmeschutzbestim-mungen entspricht, bietet es interessante Anknüpfungs-punkte in Bezug auf die Diskussion energetischer Fragen. Anstatt alle Bereiche einer Wohnung gleichermaßen zu dämmen, wie es die derzeit gültige EnEV vorsieht, wäre es – ausgehend von der Idee einer gerechteren Pro-Kopf-Ener-gieverteilung – einer Überlegung wert, lediglich Teilbereiche einer Wohnung zu dämmen und zu heizen, während andere durchlässiger und einfacher ausgeführt sein könnten. Das würde bedeuten, dass ich mir zugunsten einer größeren Wohnfläche in manchen Räumen auch mal einen Pullover anziehe, anstatt das gesamte Gebäude in Wärmedämmung einzupacken.

In diesen Projekten spielen sowohl Vorfertigung als auch Zeit- und Kosteneffizienz eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu den eher auf Varianz ausgelegten Ansätzen zuvor haben wir es hier tatsächlich mit Standardwohnungen zu tun, die jedoch über jeweils besondere Qualitäten verfügen. Das Plus an Gestaltung oder an Platz wird durch die durch Stan-dardisierung erreichten Einsparungen ermöglicht. Beide Fallbeispiele wurden in Varianten bereits mehrfach erfolg-reich realisiert.

Damit komme ich jetzt zur letzten Kategorie „Standardroh-bau und individueller Ausbau“, die ebenfalls in Bezug auf die Diskussion neuer Wohnstandards interessant ist. Ich stelle zwei Projekte vor, die Standardisierung lediglich auf eine bestimmte Bauphase beziehen, und zwar auf den Roh-bau. Die Idee ist in beiden Fällen, dass man der Nutzerin oder dem Nutzer innerhalb des Hauses ein „Grundstück“

zur Verfügung stellt, das dann individuell ausgebaut wer-den kann. Im Projekt Tila der finnischen Architektin Pia Ilo-nen in Helsinki besteht dieses „Grundstück“ aus einem zweigeschossigen Rohraum mit eingebautem, vorgefertig-tem Badezimmer. Es gab die Wahl zwischen einem Bade-zimmer mit und ohne Sauna. Die weitere Gestaltung, d.h. die Größe und Form der Galeriegeschosse und die Lage der Treppe, waren dann durch die Nutzerinnen und Nutzer selbst herzustellen.

Grundbau und Siedler, HamburgBeL Architekten , © BeL Architekten; subsolar*

Tila, HelsinkiTalli Oy (Pia Illonen), © Stefan Bremer; Kuvio

Wahrscheinlich bekannter ist ein ähnlich angelegtes Pro-jekt, das derzeit im Rahmen der IBA Hamburg in Wilhelms-burg realisiert wird. Es ist das Projekt „Grundbau und Sied-ler“ des Kölnischen Büros BeL-Architekten. Hier liegt das zur Verfügung gestellte „Grundstück“ auf einer Etage. Der Selbstausbau schließt in diesem Fall auch die Außenwände und den Einbau von Küchen und Bädern mit ein. Durch die Kombination eines standardisierten Rohbaus mit individu-ellem Nutzerausbau entstehen Wohnungen mit hohem An-eignungs- und Identifikationspotenzial. Durch Eigenleis-tung können die Kosten an individuelle Budgets angepasst werden. Deswegen sind die Modelle vor allem für Baugrup-pen oder ähnliche Gemeinschaften attraktiv. Sie ermögli-chen Wohneigentumsbildung auch für Menschen mit weni-ger Kapitalreserven. Sie knüpfen zudem an die in Berlin etablierte Selbstbaukultur an und damit auch an Strategien der IBA 1984 Alt.

Damit komme ich jetzt zur IBA Berlin 2020 und einem kur-zen Ausblick. Die dargestellten Projekte belegen, dass Stan-dardisierung in Planung und Produktion vielfältiges Poten-zial für zeit- und kostensparendes, zugleich individuelles, qualitätvolles und energetisches Bauen bergen. Damit stellt

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der serielle Wohnungsbau einen relevanten Beitrag zur Ent-wicklung nachhaltiger Wohnkonzepte für heutige und künftige Standards dar und ist damit ein interessantes Ex-perimentierfeld für die IBA. Potenzial und Kombinations-möglichkeiten der verschiedenen Ansätze in Bezug auf die Themenstellung unserer IBA – vielfältige Stadt, Wohnen als Motor, Stadt selber bauen – können wir vielleicht im An-schluss diskutieren. Dass Serienbau alleine noch nicht für Qualität steht, versteht sich von selbst. Es scheint im Ge-genteil der Fall zu sein, dass gerade der Einsatz von Fertig-bauweisen und -teilen in besonderem Maße intelligente Konzepte und planerische Phantasie und Präzision erfor-dert. Standardisierung im Wohnungsbau erübrigt also nicht den Architekten und ist auch deshalb für eine Bauausstel-lung geeignet.

Dass Berlin hier nicht nur international wegweisende Kon-zepte im Wohnungsbau aufzeigen, sondern auch langfristig

davon profitieren kann, zeigt der Erfolg der vorausgegange-nen Berliner Bauausstellungen, der Interbau 1957 und der IBA 84/87. Damit bedanke ich mich und freue mich auf Ihre Fragen.

Redebeitrag Publikum: Sind Sie in Ihren Untersuchungen auch auf unterschiedliche Materialien eingegangen, erzie-len z.B. Holz oder Beton, Massivbau- oder Leichtbauweise unterschiedliche Ergebnisse? Und kann man Ihre Studie ir-gendwo einsehen?

Julia Gill: Die Studien werden demnächst durch die Senats-verwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt auf den In-ternetseiten der IBA Berlin 2020 veröffentlicht. Die unter-schiedlichen Materialien hatte ich teilweise in den

Kurzbeschreibungen genannt. Wir haben darauf geachtet, bei der Studie ungefähr gleichermaßen Bauweisen mit Be-ton, Holz und hybride Bauweisen zu berücksichtigen. Sie machen jeweils ungefähr ein Drittel der Studie aus. Eine Vergleichbarkeit untereinander ist natürlich schwierig, da müsste man genau wissen, auf welchen Punkt hin man sie vergleichen will.

Redebeitrag Publikum: Vielen Dank für den Vortrag. Durch die Standardisierung im Wohnungsbau wird zwar das Bau-en billiger, aber nicht unbedingt das Wohnen, das ja neben dem Bau noch von anderen Dingen abhängig ist. Das er-scheint mir jedoch wichtig, wenn man dieses Thema im Kontext Berlin diskutiert.

Julia Gill: Das ist richtig, der Bau selber ist nur ein Aspekt einer viel größeren Gemengelage. Dennoch ist das Bauen ein wichtiger Aspekt, bei dem man schon ein bisschen Geld

sparen kann. Aber man muss z.B. auch sehen, welche dieser Modelle für welche Eigentümer-strukturen interessant sind. Vielleicht kann man nicht pri-mär rendite-orientierte Akteure wie, z.B. Genossenschaften, leichter für solche Konzepte ge-winnen.

Redebeitrag Publikum: Wie bringt man die Modelle – die Sie sehr schön und umfassen auf-bereitet haben – an den Kunden? Wie kann man auf städtischer Ebene Organisationsmuster entwickeln, die dazu beitragen, dass solche Projekte auch wirk-

lich umgesetzt werden? Wie kann man verhindern, dass die Ideen „kleingemahlen“ werden und doch wieder in einfa-chem und billigem Standardisieren enden?

Julia Gill: Das ist ein wichtiger Punkt, auf den man hinarbei-ten muss. Im März wird es im Rahmen dieser Veranstal-tungsreihe um Organisations- und Finanzierungsmodelle gehen. Vielleicht müssen wir diese Aspekte eher dort disku-tieren und bei den entsprechenden potenziellen Bauträgern und Bauherren Werbung für diese Konzepte machen.

Redebeitrag Publikum: Ich habe mich neun Jahre lang mit Plattenbauweise oder Großtafelbauweise, wie die richtige Bezeichnung ist, beschäftigt. Wir haben viel Optimismus entwickelt aber auch Fehler gemacht. Inwieweit müsste in

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Ihre wissenschaftliche Arbeit die Frage nach den Lehren bis-heriger Projekte einfließen? Diese Erkenntnisse, die man – angefangen vom Bauhaus bis heute – gewonnen hat, sind teils sehr ernüchternd. Es gibt viele Vorteile der Standardi-sierung, wie z.B. die Zeitersparnis. Aber es bedarf auch einer sehr langen Vorbereitungszeit, die fünf- bis achtfache ge-genüber einer konventionellen Planung, weil bis zum letz-ten I-Tüpfelchen und bis zur letzten Schaube alles durch-dacht sein muss, damit es funktioniert. Ihr Vortrag zeichnet ein optimistisches Bild, gerade auch mit Blick auf Architek-tur und Formenreichtum, den man bei einer so großen Standardisierung gar nicht erwartet.

Julia Gill: Ja, das ist natürlich richtig aber auch abhängig vom Projekt. Manche der Projekte, die ich vorgestellt habe, haben tatsächlich einen sehr großen Planungsaufwand im Vorfeld. Und es gibt andere, wie z.B. das Beispiel mit den Gewächshauselementen, die eine andere Herangehenswei-se und in der Folge einen geringeren Planungsaufwand ha-ben. Aber es ist natürlich richtig, dass man hier abwägen und auch klären muss, welche Konzepte tatsächlich für eine Serie geeignet sind und welche vielleicht ein Stück weit Liebhaberei sind und nur in einem ganz spezifischen Kon-text Sinn machen.

Matthias Böttger, Moderator: Vielen Dank.

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Das Heterogenitätsmodell - was bedeutet Nut-zungsmischung für Baustandards und Kosten?

Prof. Arno Brandlhuber, brandlhuber+ (Berlin)

In den kommenden 15 Minuten werde ich mich auf den ers-ten Teil des heutigen Titels „Mut zur Masse“ zu konzentrie-ren. Es soll weniger um das Serielle als vielmehr um „die Masse“ gehen und um die Frage, in welches Narrativ man dieses Thema überhaupt einbettet.

In Berlin werden neue Wohnungen gebraucht, das Land Ber-lin hat sich zunächst den Bau von 30.000 Wohnungen vor-genommen, nun sollen es sogar 70.000 werden. Es gibt die Erkenntnis, dass wir mehr Wohnungen brauchen, die zu-gleich günstig erstellt werden sollen. Ich denke, uns allen ist klar, dass damit die größte Bauaufgabe im Wohnungsbau liegt und nicht beim Berliner Flughafen oder beim Stadt-schloss. Es ist relativ nahe liegend, in dieser Ausgangssitua-tion auf den seriellen Wohnungsbau zurückzugreifen. Doch im Vortrag von Frau Gill haben wir anhand der Piktogram-me gesehen, dass es nur eine Kategorie gab, in der das günstige Bauen im Vordergrund stand, bei zwei Kategorien spielte es eine mäßige Rolle. Also: In welches Narrativ, in welche Erzählung betten wir das Ganze ein? Niklas Maak hat einen wunderbaren Artikel mit der Überschrift „Stadt der Untoten“ geschrieben, in dem er sich mit der „Zombifi-zierung“ Berlins auseinandersetzt. Er meint damit aber nicht etwa die Plattenbausiedlungen der 60er- und 70er-Jahre in West oder Ost, sondern den Wohnungsbau der letz-ten Jahre in Berlin, der ausschließlich im hochpreisigen Seg-ment stattfand. Das ist sicherlich nicht derjenige Wohnungsbau, von dem wir heute sprechen.

Die IBA 84/87, die mit den beiden Teilen IBA-Alt und IBA-Neu sehr erfolgreich war, hatte ein größeres Narrativ. Klei-hues hat sich für die kritische Rekonstruktion stark ge-macht, die Sie in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren maßgeblich als formalisiertes Produkt kennengelernt ha-ben. Das Ergebnis sieht man auf diesem Foto, so eine Art steinplattenverklebter, gedämmter Bau, ein italienisch-

französisches Amalgam, das hochpreisig zur Verfügung ge-stellt wird.

Mit der kritischen Rekonstruktion hatte sich Kleihues einst gegen ein Beschreibungsmodell von Ungers durchgesetzt: „Die Stadt in der Stadt: Berlin: ein grünes Archipel“. Vor dem damaligen Hintergrund der Schrumpfung hat man gesagt, das all das, was nicht funktioniert, weggeräumt wird und man sich auf diejenigen Bereiche konzentriert, die gut funk-tionieren. Diese werden nachverdichtet, so dass sich homo-gene Inseln bilden, die der persönlichen Lebensstilindividu-alisierung, die sich seit der 70er-Jahren herausgebildet hat, Rechnung tragen. Dann gibt es vielleicht eine Insel für die Freaks, eine für die Charlottenburger und so weiter. Um jene Inseln ausfindig zu machen, fragt diese Erzählung nach den Formalkriterien, die hinter den Stadträumen liegen.

Wir haben den Versuch unternommen, das Grüne Archipel neu zu formulieren, dieses Narrativ neu aufzubauen. Und siehe da, es kommen ganz andere Situationen zum Tragen, die unter Berücksichtigung der Nutzer aus einer ganz ande-ren Herstellungslogik heraus entstehen. Wir haben sie in dem Prozess zunächst „zukünftige Monumente“ genannt. Da finden sich so schöne Beispiel wie das Kottbusser Tor,

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das Pallasseum in der Pallasstraße, der Teufelsberg, aber besprechen können: Warum z.B. dürfen die Vietnamesen auch die sogenannte „Thaiwiese“ im Preußenpark in Wil- nicht in den naheliegenden und leer stehenden Wohnbau-mersdorf. Hier werden leckere Thai-Gerichte angeboten ten wohnen? Sie dürfen nicht, weil durch eine Wohnnutzung und dadurch wird ein ganz eigener Ort gebildet. wiederum das Gewerbe verunmöglicht wird. Dennoch wür-

de ich auf jeden Fall für diese Form von Mischung, für diese heterogene Gesamterzählung plädieren.

Wir kennen das Problem mit diesen heterogenen Erzählun-gen in Berlin zu Genüge. Eine dieser Situationen ist das Kul-turforum, das dem vorhergehenden Senatsbaudirektor ein Dorn im Auge war, weil hier private Parzellen großflächig zusammengefasst wurden. Aber es ist eine extrem interes-sante Situation. Wir finden hier einerseits Bebauungen aus

Neuinterpretation des Grünen Archipelsdem 18. Jahrhundert, an der Ecke ein Denkmal von 1930, Auch interessant ist das Dong Xuan Center in Lichtenberg. dazwischen eine Westplatte bzw. seriellen Wohnungsbau. Das ist hervorragend, hier finden sie den kürzesten und Ich glaube, dass diese Art von heterogenen Situationen die schnellsten Weg, um eine Art Vietnam-Urlaub zu genießen. eigentliche räumliche Nutzungsqualität von Berlin ausma-Das Center besteht aus großen Hallen, in denen nur vietna- chen. mesische Ware verkauft wird. Im Hintergrund sehen sie die

Plattenbauten Lichtenbergs und wunderbare Türme, die wir gerne weiterentwickeln würden. Es ist also eine sehr hetero-gene Gemengelage und wir glauben, dass in einem hetero-genen Beschreibungsmodell, das sich nicht auf das Homo-gene und das „Nur-Schöne“ bezieht, die eigentliche Narration für eine zukünftige IBA liegen könnte.

Kulturforum

Auf dem nächsten Bild sehen Sie den geometrischen Mittel-punkt von Berlin in der Alexandrinenstraße. Um diese Grün-fläche herum befindet sich eine Siedlung aus den 1950er-/ 1960er-Jahren, deren Standard entsprechend ihrer Entste-hungszeit extrem niedrig ist. Und doch liegt sie in der Mitte Berlins. Und vielleicht geht es genau darum, dass wir nicht nur über höhere Standards sprechen, die wir „draußen“ re-

Dong Xuan Center, Lichtenberg alisieren können, sondern auch darum, dass diese Stan-In Nachbarschaft zum Dong Xuan Center gibt es das Gelän-de der ehemaligen Fahrbereitschaft des Ostens. Axel Hau-brok, der heute auch hier ist, hat dieses Gelände kürzlich erworben, obwohl er weiß, dass es ein Stück weit draußen ist und die Umgebung extrem heterogen und niedrigpreisig bespielt wird. Er hat sich entschieden, seinen durchaus schön hergerichteten Ausstellungsraum am Straußberger Platz aufzugeben und dorthin umzuziehen und sich mit die-sem ganz anderen Feld auseinanderzusetzen.

Wenn wir an dieser Stelle über Mischung sprechen, kom-men wir auch zu Fragen, die wir heute nicht weiterführend Alexandrinenstraße

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dards und die Zugänglichkeit zu günstigem Wohn- oder Nutzraum überall besteht.

Ich glaube, dass es keinen Sinn macht, Fragen nach Stan-dards nur in Bezug auf das Wohnen zu stellen, wenn unge-fähr ein Viertel von Ihnen auch von zu Hause aus arbeitet. Wohnen und arbeiten – muss man das doppelt bezahlen oder kann man das auch zusammenlegen? Diese Frage müssen wir bearbeiten.

Ich möchte ihnen ein paar Projekte von uns zeigen, die auf den ein oder anderen Aspekt des heutigen Themas einge-hen.

Sie sehen hier ein frühes Beispiel aus Köln. In dem Projekt stecken, wenn man so will, serielle Bausteine, auch wenn die Herstellung in dem Fall nicht seriell ist. Das heißt, das Raumangebot ist erst einmal nutzungsneutral: Kann man darin nur wohnen oder nur arbeiten oder wohnen und ar-

Ausrichtung in alle vier Himmelsrichtungen

90-Grad-Winkel zueinander stehen. Diese Lösung scheint relativ einfach zu sein und sie ist es auch. Alle Einheiten ha-ben im Prinzip – teils gespiegelt – das gleiche Angebot. Des-wegen sind sie auch günstig herstellbar. Die Problematik dabei ist, dass dies nur eine begrenzte Größe zulässt, denn wenn die Einheiten länger als 16 oder 17 Meter sind, wird es im Inneren zu dunkel. Außerdem ist dieses Modell so nicht direkt auf großflächige Entwicklungen übertragbar, weil es

Wohnen und Arbeiten in einem Gebäude immer punktförmige Situationen erschafft. Wenn man je-beiten? Das ist ein wichtiger Punkt, um nicht immer eine doch den oberen und den unteren Teil der Einheit gegenei-Determinierung und damit auch eine Unmöglichkeit zur nander dreht, dann können wir dieses Modell sehr wohl Veränderung oder Anpassung von Räumen zu produzieren. reihen, wie sie in die-

sem Modell sehen. Da-Wenn man das Zusammenspiel zwischen Wohnen und Ar- durch wird das Modell beiten weiterdenkt, geht es um typlogischen Fragen: Was ortsunabhängig und ist braucht Wohnen und was braucht Arbeiten? Für das Woh- als typologisches Pro-nen würden Sie eher eine Ost-West-Belichtung – also die dukt einsetzbar. Die Er-Morgen- und die Abendsonne – vorsehen, für das Arbeiten schließung liegt dann eher den hohen Sonnenstand im Süden oder Norden nut- außerhalb des Gebäu-zen, um Blendung zu vermeiden. Wie können wir das zu- des, was sehr viele Vor-sammendenken und verschränken, damit Einheiten entste- teile in Bezug auf die hen, die alle vier Himmelsrichtungen mitbringen? In einem Kosten, aber auch auf Projekt, das im Zuge der IBA Hamburg entstanden ist, ha- den Wärmeverbrauch ben wir Maisonette-Einheiten entworfen, in denen die ein- hat, da man die Er-zelnen Geschosse unterschiedlich ausgerichtet sind. Jede schließung nicht mit-Einheit besteht aus zwei länglichen Teilen, die in einem Erschließung außerhalb des Gebäudes heizen muss und eine

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höhere Nutzfläche erreicht. Außerdem haben sie immer eine Außenadressierung, das heißt, sie müssen nicht über die Fußmatte ihres Nachbarn steigen, wenn sie vorhaben, im Gebäude ihr selbstständiges Kleinunternehmen zu star-ten.

Unser Projekt in der Brunnenstraße wird den meisten be-kannt sein, daher möchte ich nicht noch einmal im Detail darauf eingehen. Aber hier wird gewohnt und in verschiede-nen Formen auch gearbeitet. Es ist ein sehr roher Bau. Aber niedrig standardisiertes Bauen muss nicht mit der Diskredi-

tierung einhergehen, die man üblicherweise damit verbin-det. Natürlich beinhaltet der Bau extrem günstige Produkte, wie z.B. Polycarbonatplatten, die auch ihre Nachteile haben. Denn sie dämmen die Wärme zwar gut, sind schaltechnisch gesehen aber eine Katastrophe. Für ein Atelier oder für eine Galerie oder ein Büro muss das aber kein Nachteil sein.

Das heißt, das Zur-Verfügung-Stellen von gleichen Stan-dards in allen Flächen bringt relativ hohe Baukosten mit sich. Für einen externen Investor – in diesem Fall waren wir ja nicht nur Architekten, sondern auch Bauherr und Inves-tor – hätten wir das Projekt so nicht bauen können, weil wird nicht allen Anforderungen Rechnung getragen haben. Aber man kann nicht unter einem bestimmten Kostenni-veau bauen, wenn man nicht gewisse Standards zur Dispo-sition stellt. Über unser Projekt wurde in der Architektur-zeitschrift AD berichtet und das zeigt, dass ein Bau, der nur 1.000 Euro pro Quadratmeter gekostet hat, sich dennoch mit einem gewissen Lifestyle verbinden lässt und nicht dis-kreditiert wird.

Ein radikaleres Beispiel, das auf dem Lacaton-Vassal-Ge-wächshaus-Prinzip beruht, ist der Hegemonietempel von Christian von Borries und Vera Tollmann in Berlin. Das ist ganz klar Lifestyle. Dabei ist dieser Bau mit 600 Euro pro Quadratmeter noch viel günstiger als unser Projekt in der Brunnenstraße. Hier gilt tatsächlich, was Frau Gill zuvor ge-

sagt hat, nämlich dass man in bestimmten Bereichen im Winter seinen Pullover dringend braucht. Aber in den meis-ten Bereichen lebt es sich wunderbar. Und der Zugewinn an Fläche ist enorm. Die Bauherren haben sich 100 Quadrat-meter für 60.000 Euro geleistet. Das ist eine recht über-schaubare Angelegenheit und man muss sich selbst nicht sein ganzes Leben lang konditionieren, um diesen einmal aufgenommenen Kredit abzubezahlen. Ich glaube, diese Qualität wird völlig unterbewertet. Dieses Narrativ, dass preiswertes Wohnen nicht nur für den sozial Schwächeren von Bedeutung ist, gilt es zu bedenken.

Ein anderes Beispiel, das ich ihnen zeigen möchte, haben wir letzte Woche erst entdeckt. Ein japanischer Plattenbau aus den 1960er-Jahren, der innen neu hergerichtet wurde. Ich zeige Ihnen die Bilder deswegen, weil seitens der Nutzer ein Riesen-Run auf diesen Bau entstanden ist. Er war inner-halb weniger Wochen komplett vermietet. Im Inneren bleibt er zum Teil sehr roh, wie sie an den Betonwänden sehen können. Der Boden wurde herausgerissen und einfach ver-siegelt, die Küchen und abgehängten Decken sind zum Teil geblieben, zum Teil rausgenommen worden. Das Gebäude, das in eine neue Formsprache gebracht wurde, hat zunächst kulturell anders vorgebildete Nutzerinnen und Nutzer ange-zogen, als jene, die zuvor dort gewohnt haben. Jetzt stellt sich aber heraus, dass sich die Warteliste auf eine neue Wohnung in dem Gebäude auch um ehemalige Bewohnerin-nen und Bewohner erweitert hat, die den Bau zuvor hass-ten. Das heißt, dass es ganz maßgeblich ist, welches Narra-tiv, welche Vorstellungsorientierung man mit den Standards verbindet, über die man spricht.

Ähnlich sieht die Wohnung eines Filmemachers in Berlin aus, der sich entschieden hat, aus der Auguststraße in Mitte in einen Plattenbaut in Lichtenberg umzuziehen. Der hat auch einfach die Wandbeläge abgerissen – drei Tage Arbeit mit zwei Helfern. Daraus ist eine hervorragende Wohnung geworden. Wenn man aus der Wohnung schaut, merkt man plötzlich, dass die einzige Situation in Berlin, in der man wirklich ein Pariser Feeling hat – damit meine ich den Blick auf die anderen, nachts beleuchteten Plattenbauten, die dann wie Adventskalender aussehen – in Berlin-Lichtenberg ist und nicht am Schloss.

Ich möchte noch einmal auf den energetischen Standard eingehen, den Lacaton & Vassal in ihren Gewächshäusern nur in Teilräumen erfüllen können. Die Problematik liegt darin, dass unser System diejenigen, die eine bestimmte Veränderung ihres Nutzerverhaltens mitbringen würden, nicht bedient. Wenn wir von dem von der Dämmstoffindus-trie gesteuerten energetischen Emissionsmodell weggehen

Brunnenstraße, Berlin

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würden hin zum persönlichen energetischen Footprint, dann würde das bedeuten, dass jeder gleich viel Energie beim Wohnen verbrauchen darf. Entweder wir wohnen auf 40 Quadratmetern, haben günstige Erstellungskosten und haben unseren Footprint auch ohne Dämmung erreicht. Oder wir leisten uns 500 Quadratmeter, müssen dann aber zu allen Maßnahmen der Wärmerückgewinnung greifen, um diesen Standard wieder einzufahren.

Es ist relativ unsinnig, dass wir diejenigen privilegieren, die auf großen Flächen leben, da sie genauso hohe Standards erfüllen müs-sen wie die, die sich nur eine kleine Fläche leisten. Wenn wir uns nach einer Gesamt-energiebilanz richten würden – das heißt, dass die in die Produktion gesteckte Energie mitbilanzert würde – wären die Altbauten ge-genüber einem Neubau besser gestellt, weil sie die Energie, die in der Bausubstanz steckt, nicht noch einmal aufwenden müssen. In ei-nem solchen System müssten Altbauten nicht den gleichen Standard erfüllen wie Neubauten. In die-sem komplexen Thema steckt sehr viel, das nicht in den Händen von Architekten liegt, sondern in denen der Politik.

Mit der IBA haben wir eine Vermittlerin in die Politik. Denn eine IBA ist auch dafür da, mit bestimmten Themen Erfah-rungen zu sammeln und diese an das politische System zu-rück zu adressieren. Dies könnte auch zur Folge haben, dass wir anders mit Standards umgehen.

Ich habe heute über so etwas wie Nutzungsneutralität ge-sprochen und darüber, warum es Sinn macht, am gleichen Ort wohnen und arbeiten zu können. Wir haben festgestellt, dass Standards auch dann ziemlich lifestylig sein können, wenn sie niedrig sind, und dass es Sinn macht, bei der Ener-giefrage umzudenken, weshalb wir uns auch der Außener-schließung bedienen. All das kann man jedoch nicht ohne die Frage der Zugänglichkeit diskutieren. Es macht wenig Sinn, wenn etwas günstig ist, aber das Tor ist für die meis-ten Menschen versperrt. Das ist dann wieder die Gated Community derer, die sich diesen Raum leisten können. Wir brauchen ein anderes Beschreibungsmodell. Dazu ist es wichtig, dass wir die Stadtreparatur bzw. diese Verstörung, die auch die Moderne mit sich gebracht hat, und die Tatsa-che, dass Stadtgesellschaften heterogen sind, in ein positiv konnotiertes Modell einbetten. Will sagen: Es ist toll, dass es so heterogen ist! Es ist toll, dass es gemischt ist! Die be-rühmte Berliner Mischung ist ja auch ein Teil nicht nur der letzten beiden IBAs, sondern tatsächlich auch ein Modell, das hier längst erprobt und ganz tief verwurzelt ist.

Dieses Heterogenitätsmodell braucht natürlich aufseiten derer, die uns verwalten und politisch vertreten, eine be-stimmte Haltung. Es macht wenig Sinn, wenn wir jetzt dar-über nachdenken, ob wir den Schrebergärtnerinnen und Schrebergärtnern ihre Flächen wegnehmen, um auf ihnen günstigen Wohnungsbau zu realisieren. Wir müssten für uns ein Modell entwickeln, damit die Stadt tatsächlich über-all und für alle zugänglich ist und an jeder Stelle der Stadt eine Mischung entsteht. Das ist sogar in Mitte relativ ein-

fach herstellbar. Auf diesem Plan sind alle Grundstücke orange eingezeichnet, die im Besitz der Stadt Berlin sind, genauer in Besitz der Wohnungsbaugenossenschaft Mitte. 100% stadteigene Grundstücke, 17.000 Wohnungen. Wir haben uns erlaubt, der Karte einen Stempel hinzuzufügen, auf dem „Heterogenitätsmodell - Plan zur Wiederherstel-lung der Berliner Mischung“ steht. Wenn es tatsächlich ein Commitment zur heterogenen Situation gibt, dann kann die Verwaltung diejenigen, die hier für die Vergaben zuständig sind, anweisen, für diese Heterogenität zu sorgen. Sie sollen dafür sorgen, dass nicht diejenigen, die es sich nicht leisten können, an den Stadtrand verdrängt werden, sondern dass unter städtischer Einflussnahme überall eine Mischung her-gestellt wird. Nur, wenn wir auch in der Mitte und in jenen Räumen, die tendenziell unzugänglicher werden, entspre-chend handeln, können wir darüber nachdenken, mit hö-herwertigen oder kulturell anderen Nutzungen in Räume wie Lichtenberg rund um das Dong Xuan Center hineinzu-gehen. Die Stadt muss als ganzes Narrativ, als heterogenes Ganzes in jeder Hinsicht verstanden werden. Und dann müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit wir selbst diese Mischung ertragen. Können wir im gleichen Haus wie der Punk mit seiner lauten Musik leben? Vielleicht nicht. Im Nachbarhaus? Vielleicht auch das nicht. Letztendlich geht es um die Frage der Körnung, und die liegt nicht in Stadt-räumen, sondern in viel kleineren Einheiten.

Vielen Dank!

Heterogenitätsmodell

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PodiumImpulse für die IBA Berlin 2020

�� Matthias Böttger, DAZ/raumtaktik�� Prof. Arno Brandlhuber, brandlhuber+�� Peter Christensen, Architekturhistoriker und Kurator�� Dr. Julia Gill, Architektur / Architekturwissenschaft �� Regula Lüscher, Senatsbaudirektorin

Matthias Böttger, Moderator: Arno Brandlhuber hat in sei-nen Vortrag noch einmal erklärt, warum wir uns überhaupt mit dem Thema „Mut zur Masse“ beschäftigen. Die Ausein-andersetzung mit der typischen Berliner Mischung und die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Stadt funktioniert, sind meines Erachtens in diesem Zusammenhang wesent-lich. Deshalb würde ich gerne den Bogen zum Anfang der heutigen Diskussion spannen, zu dem Vortrag von Peter Christensen. Du hast in Deinem Vortrag erwähnt, dass ur-sprünglich die Ziele der meisten in der Ausstellung „Home Delivery“ gezeigten Häuser nicht unbedingt politischer, ökonomischer, ökologischer oder sozialer Natur waren. Mit Blick auf den Vortrag von Arno Brandlhuber würde ich ger-ne wissen, ob es in Eurer Ausstellung auch Beispiele seriel-len Wohnungsbaus gab, die genau diese Mischung zum Ziel hatten?

Peter Christensen: Ja, das ist eine gute Frage. Die Ziele der Vorfabrikation haben sich im Laufe der Zeit geändert. Heu-te geht es um die Deckung einer größeren Bandbreite von programmatischen Bedürfnissen. Die Vorfertigung kann sehr unterschiedliche Räume hervorbringen. Ich glaube aber, dass die individualisierte Massenproduktion einen Be-reich darstellt, in dem Mischung hergestellt werden kann – oder auch nicht. Bisher ist die Mischung weitestgehend ge-scheitert. Viele vorgefertigte Projekte werden heute als Riesenfehler angesehen, die große Mehrheit davon auf-grund sozialer Aspekte. Es kann aber sein, dass sich dies durch die neuen Forderungen nach Heterogenität und durch Individualisierung ändert. Mit anderen Worten: Es hat sich zwar etwas geändert, aber es hat sich ganz langsam im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt.

Matthias Böttger, Moderator: Was wird der nächste Schritt sein?

Peter Christensen: Das fab-lab.

Matthias Böttger, Moderator: Hier geht es um die individu-alisierte Massenherstellung durch digitale Vorfertigung. Glaubst du, dass wir damit Mischung erreichen können? Oder handelt es sich um ein Werkzeug zur weiteren Segre-gation, da es sich nur wenige werden leisten können?

Peter Christensen: Die Mischung besteht darin, das Soziale mit einzubeziehen. Vielleicht sollte ich das mit einer Anek-dote erklären. Eines der größten Probleme, die wir im Muse-um mit diesen fünf Häusern hatten, hing mit der Etikettie-rung zusammen. Ich wollte deren Preise veröffentlichen. Das Haus für New Orleans kostete, glaube ich, um die 25.000 US-Dollar, das sind etwa achtzehn- oder neunzehn-tausend Euro. Das Systemhaus, also das „Burst-House“, könnte ungefähr eine halbe Million Dollar gekostet haben, und war eigentlich weniger vorgefertigt. Der Preis war letzt-endlich eine ziemlich wichtige Angelegenheit. Trotzdem passte er nicht in das Konzept eines Museums für bildende Kunst. Man würde ja auch nie ein Preisschild an ein Gemäl-de hängen. Warum sollte man es also bei unseren Expona-ten machen? Ich fand es trotzdem wichtig, für mich war es ein wichtiger Gesichtspunkt.

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Matthias Böttger, Moderator: Hast du Dich am Ende durch-gesetzt?

Peter Christensen: Nein, die Preise wurden weggelassen. Ich merke das aber bei jeder Präsentation an, damit die Leute wenigstens wissen, dass wir darüber nachgedacht haben. Trotzdem glaube ich, dass die Vorfertigung nicht mehr not-wendigerweise für die Bedürftigsten sein muss. Meiner Mei-nung nach wird sie heute als eine Vorlage für eine Bandbrei-te an architektonischen Experimenten verstanden, die von einfachen Sozialwohnungen bis hin zu sehr komplexen, neuartigen und einzigartigen Konzepten für wohlhabende-re Kunden reichen. Zwar glaube ich nicht, dass dies zwangs-läufig eine Mischung zustande bringen wird, aber doch eine breitere Auswahl an Kunden.

Matthias Böttger, Moderator: Vielen Dank. Julia Gill, wenn wir über die Gebäude der Gründerzeit, die wir in Berlin im-mer noch als die beliebtesten bezeichnen können, nachden-ken, sprechen wir nie von serieller Produktion, obwohl in den Gründerzeitvierteln ja auch gewissermaßen in Serie produziert wurde, da in kürzester Zeit ganze Straßenzüge mit sehr ähnlichen Grundrissen gebaut wurden. Könnte man diese im Sinne des von dir skizzierten und angewende-ten Untersuchungsansatzes auch analysieren, und was könnten wir von ihnen lernen?

Julia Gill: Ja, die Gründerzeitwohnungen sind im weitesten Sinne auch Standardwohnungen, da sie sich vom Grundriss her zumindest sehr ähnlich sind. Und auch hier gibt es na-türlich industriell gefertigte Standardbauteile, wie z.B. die Türen, Fenster und Stuckelemente, die auch in der Fabrik gefertigt wurden. Man könnte sie als Beispiele für eine rela-tiv hohe Nutzungsneutralität heranziehen, wobei sie am Ende auch nicht immer so flexibel sind, wie oft behauptet wird.

Matthias Böttger, Moderator: Im Prinzip ist es auch eine Romantisierung der Gründerzeit, da die Gebäude letztend-lich dadurch flexibilisiert wurden, dass sie ganz anders ge-

nutzt werden, als sie ursprünglich geplant waren. Wenn du der Gründerzeit die Piktogramme vergeben würdest, an-hand derer du auch die anderen Beispiele kategorisiert hast, wie würde das aussehen?

Julia Gill: Da kann man sicherlich einige der Piktogramme anwenden. Der Punkt „Vorfertigung“ trifft zum Teil zu. Für die damaligen Verhältnisse trifft sicherlich auch der Punkt „Zeiteffizienz“ zu. Mit der heutigen Belegung der Gebäude gibt es auch eine Varianz beziehungsweise Aneignungs-spielräume, wobei die Gebäude damals anders geplant und viel dichter belegt waren.

Matthias Böttger, Moderator: In deiner Bewertung der Pro-jekte haben Standards bzw. die Abweichungen von und fle-xible Reaktion auf Standards nicht so eine starke Rolle ge-spielt. Aber wäre dies nicht ein starkes Kriterium für die Bewertung der seriellen Produktion in den unterschiedli-chen Kategorien?

Julia Gill: Das ist ein komplexeres Thema und lässt sich nicht so gut in Piktogrammen darstellen. Wir sind in der Studie jedoch in der textlichen Besprechung der Projekte darauf eingegangen.

Matthias Böttger, Moderator: Arno Brandelhuber, wenn man über Standards redet, ist es nicht auch ein bisschen gefährlich, wenn man nicht allen Menschen die gleichen Standards zuspricht? Du hast die Diskussion um Standards ja im Prinzip umgedreht mit der Forderung, die Wahl einer kleineren Wohnung sollte in der Diskussion um energeti-sche Sanierungen belohnt werden.

Arno Brandlhuber: Es ist einfach so, dass nicht jeder Haus-halt Zugang zu gleichen Standards hat, allein aufgrund der finanziellen Ausstattung. Wenn jemand aber zusätzlich nicht den gleichen Zugang zu den Stadträumen hat, dann wird es prekär. Insofern würde ich als Hauptprämisse nen-nen, dass alle Stadträume, egal ob Mitte oder Hellersdorf, gleichermaßen zugänglich sind, während sich Wohnungs-größen und auch Standards sehr wohl unterscheiden dür-

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fen. Zumal ein Weniger auch eine andere Form von Luxus produziert werden. Neue Bauelemente zu erfinden und zu ermöglichen kann. Wenn ich nicht jeden Monat so und so entwickeln, kostet Geld. Diese Grundinvestition lohnt sich viel für meine Miete oder Kreditrückzahlung aufwenden vor allem dann, wenn später in Massen produziert werden muss, dann kann ich mir schönere Schuhe kaufen. Das wird kann. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass es nicht die eine auch in dem Projektbeispiel von Christian von Borries und Lösung für alles und alle gibt. Sie ist auch immer abhängig Vera Tollmann deutlich, die sich bewusst entschieden ha- von den Akteuren, von individuellen Finanzierungs- und Or-ben, im Winter den Pullover anziehen zu müssen und im ganisationsmodellen, von angestrebten Standards und da-Sommer auch einmal zu schwitzen, die im Gegenzug aber mit eben auch vom Ort.durch die geringen Kosten auch einen anderen Freiraum er-halten. Ich denke, das würde sich auch auf andere Wohnsi- Und hier komme ich nochmal auf die Frage der Heterogeni-tuationen übertragen lassen. tät der Stadt zurück, auf das eigentliche Thema der IBA Ber-

lin 2020: Draußenstadt wird Drinnenstadt. Es gibt unter-Matthias Böttger, Moderator: Frau Lüscher, könnte man schiedliche individuelle Vorstellungen von Lebensqualität das politisch verantworten, Menschen in einer gewissen und Lagequalität. Es gibt auch an sogenannten „Unorten“ Weise eine solche Intelligenz der Nutzung zuzumuten? Qualitäten, die man lieben kann. Sie müssen in Wert gesetzt

werden. Es gelingt uns nur, die Städte weiterzuentwickeln, Regula Lüscher: Es kann in Bezug auf individuelle Standards wenn es nicht nur das eine Bild von Lagequalität gibt, näm-durchaus Unterschiede geben. Natürlich hat das aber auch lich das Bild der gründerzeitlichen Stadt in Mitte oder in etwas mit der Lage im Stadtraum zu tun. Nicht alle haben Prenzlauer Berg. Wir müssen erkennen, dass es eine Mehr-den Zugang zu Gleichem. Wenn jemand in einem Stadtteil fachlesbarkeit von Stadt gibt. Wir brauchen eine breitere leben will, der aufgrund seiner Zentralität höhere Grund- Diskussion darüber, was Stadt ist und welche Urbanitätsbe-stückspreise und Mieten hat, kann er sich vielleicht nur 40 griffe es jenseits der tradierten Bilder gibt. und nicht 70 Quadratmeter leisten. Wenn es ihm wichtiger ist, mehr Raum zur Verfügung zu haben, muss er das viel-leicht in einem anderen Stadtteil realisieren. Wichtig ist, dass man die Wahlmöglichkeit hat, dass man mit Blick auf das individuell zur Verfügung stehende Budget wählen kann, ob man an der einen Stelle mit der einen Qualität oder an dem anderen Ort mit einer anderen Qualität woh-

Arno Brandlhuber: Das gilt für eine bestimmte Mittelschicht, die sich entscheiden kann und will. Wenn wir aber die Rän-der betrachten, gibt es auf der einen Seite Menschen, die sich nicht entscheiden können und von den inneren Lagen Richtung Stadtrand ziehen müssen und dort nicht einmal mehr Zugang zu irgendeiner Form von Arbeit, Produktivität etc. haben, weil das in diesen Lagen nicht zur Verfügung

nen und leben möchte. Es ist richtig, über die Flexibilisie- gestellt wird, insbesondere dann nicht, wenn sich dort rung und Individualisierung von Standards zu diskutieren zwangsläufig homogenisierte sozial schwache Milieus her-bzw. darüber, dass eine Wohnung nicht überall gleicherma- ausbilden. Auf der anderen Seite haben wir Milieus, die sich ßen geheizt werden muss. Es ist aber auch eine Frage des überhaupt nicht entscheiden müssen, weil sie sich den Zu-Standards, wo ich wohne, welchen städtebaulichen Kontext gang in Mitte hochpreisig und in großen Flächen erkaufen ich mir aussuche. Wichtig ist, dass man individuell entschei- können. Das führt zu dem doppelten Dilemma, dass wir in den kann. der zentralsten Lage die größten Wohnungen haben und in

den dezentralsten Lagen die kleinsten. Wenn sich das stär-Insofern führt uns das Beispiel von Frau Tollmann und ker homogenisiert, ist das ein Problem. Und da würde ich Herrn von Borries auch wieder zurück zum Thema: Natür- mit einer Leseart ansetzen, die eine sozialkulturell hetero-lich ist es günstiger, mit Normteilen zu arbeiten, die in Serie gene Stadt beschreibt, in der wir es auch ertragen müssen,

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neben jemandem zu wohnen, der viel weniger oder viel mehr hat als wir. Und das muss als Qualität auch in den gesellschaftlichen Raum hinein kommunizieren werden, vielleicht auch im Rahmen einer IBA.

Regula Lüscher: Ich stimme Ihnen zu. Aber gerade diese He-terogenitätskarte von Mitte, die sie vorgestellt haben, war ja interessant. Es ist doch bemerkenswert, wie groß der Be-stand der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte dort ist. Es gibt in Europa nicht viele Städte, die so etwas haben. Ber-lin hat eben diese Brüche, auch in der Geschichte, auch in

der Wohnungsbauproduktion. Und das ist eine riesige Chance. Was ich vorhin sagen wollte: Wir müssen uns mit der Realität auseinandersetzen, dass in solchen Lagen die Grundstückspreise höher sind als anderswo und im Moment auch weiter steigen. Eine Schlussfolgerung könnte sein, dass man bewusst steuert, gerade hier den Flächenver-brauch in den Blick nimmt und kleinteiligere Angebote for-ciert.

Matthias Böttger, Moderator: Julia, du hast deine Disserta-tion zum Thema „Individualisierung als Standard. Über das Unbehagen an der Fertighausarchitektur“ geschrieben. Hier ging es um Fertighäuser im Einfamilienhaussektor. Braucht es eine Art Therapiesitzung, weil die Ablehnung der Fertig-häuser ein psychosozialer Effekt ist? Kann man Fertighäu-ser „resozialisieren“?

Julia Gill: In meiner Dissertation geht es um die Frage, war-um Fertighäuser so aussehen, wie sie aussehen, dass sie nämlich nicht als Fertighäuser erscheinen dürfen, weil man als jemand, der ein Haus baut, ein bestimmtes Repräsenta-tionsbedürfnis hat. Wobei das Verstecken der seriellen Bau-weise auch langsam nachlässt. Ich finde, das Beispiel aus Japan zeigt sehr gut, dass diese Gebäude attraktiver werden und man sich besser mit ihnen identifizieren kann, wenn man anders an sie herangeht.

Matthias Böttger, Moderator: Peter, du kommst aus New York, und wahrscheinlich kannst du über die Probleme, die wir hier in Berlin haben, nur lachen, denn was in Berlin pas-siert, ist im Vergleich zu dem, was in Manhattan passiert, wohl eher harmlos. Gab es während der Ausstellung im MoMa eine Diskussion über das Thema Mischung?

Peter Christensen: Wie du schon sagtest, diese Probleme sind sehr ortsspezifisch. Ich würde sagen, dass die Mischung hier in Berlin nicht so stark ausgeprägt ist wie in New York. Nach fünf Jahren – und mit etwas Abstand zur Ausstellung – würde ich kritisieren, dass unser Blick auf das Thema Vor-fabrikation zu wenig urban war. Wir hatten eine hervorra-gende Gelegenheit mitten in Manhattan, wo wir eine un-glaubliche Dichte vorfinden und wo ganz unterschiedliche Menschen leben. Und dann haben wir fünf freistehende Wohnhäuser gebaut, von denen die meisten eher in vor-städtischen, außerstädtischen oder gar ländlichen Berei-chen gebaut werden würden. Auf gewisse Weise haben wir dabei die geschichtliche Perspektive verfolgt, die sich mit dem vorgefertigten Haus – und nicht mit der Wohnung – als Motiv der Geschichte der Vorfertigung und der Architektur beschäftigte. Das Haus ist ein platonisches, fast heiliges Versuchsgebiet für Konzepte. Wie der Stuhl im Design ist das Haus eine Art Prototyp für die Probleme, die der Archi-tekt lösen muss. Offenbar änderte sich das irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten. Die

Ausstellung hat dieser städtischen Verschiebung, die etwa um 1948 stattfand, nicht ausreichend Rechnung getragen. Heute würde ich einige dieser Aspekte der Mischung, der Konfrontation und der Dichte stärker einbeziehen. Es gibt aber auch die Besonderheit eines Ortes, die bei der Glei-chung mit einbezogen werden sollte. New York ist genauso speziell wie Los Angeles, Berlin oder Peking. Ich bin der Mei-nung, dass eine tiefgehende Untersuchung der Besonder-heiten von z.B. Berlin-Mitte oder Kreuzberg zu vielen pro-duktiven Diskussionen führen kann.

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Matthias Böttger, Moderator: Gut, aber ich glaube, wir sind Matthias Böttger, Moderator: Könntest du der IBA als Au-uns darüber einig, dass die Segregation in New York auch ßenstehender einen Rat mit auf den Weg geben? ein Problem darstellt, oder?

Peter Christensen: Eigentlich bin ich in diesem Thema eher Peter Christensen: Stimmt. der Historiker und nicht so sehr der Psychotherapeut (lacht).

Ich glaube, auch wenn es vielleicht etwas klischeehaft Matthias Böttger, Moderator: Es gibt in Manhatten zwar klingt, dass uns die Geschichte tatsächlich etwas lehrt. Wa-eine Mischung, aber auch hier steigen die Preise und die rum wird beispielsweise Pruitt-Igoe, dieser katastrophale Leute müssen in andere Stadtteile ziehen. Könnte eine Form Wohnungsbaukomplex in St. Louis, von vielen als das Ende des Massenwohnungsbaus dieser Gefahr eventuell vorbeu- der Moderne bezeichnet und die Siedlungen des Neuen gen oder sie gar vermeiden? Frankfurt als Heldentat? Wie konnte das passieren? Letzt-

endlich sind sie nämlich gar nicht so verschieden. Es gibt Peter Christensen: In New York gibt es tatsächlich Segrega- zwar ein paar Unterschiede im Entwurf, aber auf der Mak-tion. Bei Deiner Äußerung über die Mischung in New York ro-Ebene sind sie sich verhältnismäßig ähnlich. Was ist das dachte ich zunächst an die Mischung auf der Straße und in Besondere, das der Entwerfer, der Bewohner oder wer auch den U-Bahnen – und nicht an die in Wohnhäusern oder immer beigetragen hat, dass aus dem einen ein spektakulä-Apartmentgebäuden –, denn dort sehe ich, dass diese Mi- rer Misserfolg und aus dem anderen ein spektakulärer Er-schung weitestgehend stattfindet. Ich glaube aber, dass die folg werden konnte? Mein Rat wäre also, die Geschichte Stadt bei der Mischung im Wohnungsbau noch immer ver- nicht zu vergessen.sagt. Ich weiß nicht, wie das in Europa ist, aber in den meis-ten amerikanischen Städte werden mittlerweile Apartment- Matthias Böttger, Moderator: An dieser Stelle würde ich gebäude gebaut, bei denen beispielsweise 20 Prozent der gerne ins Publikum fragen, ob es Fragen oder Diskussions-Bewohner ein gewisses Gehaltsniveau unterschreiten, 50 beiträge gibt.Prozent über ein Gehalt zwischen X und Y verfügen, und 30 Prozent darüber liegen. Das ist ganz typisch für diese sehr Redebeitrag Publikum: Mich würde interessieren, für wen

der serielle Wohnungsbau kostengünstig sein soll: für einen Investor, der damit seine Marge erhöht? Wer soll und wird am Ende davon profitieren?

Julia Gill: Gerade im Rahmen einer IBA sollte es von Interes-se sein, sicherzustellen, dass Kostenvorteile an die Nutze-rinnen und Nutzer weitergereicht werden. Da reicht es nicht aus, kostengünstig zu bauen. Da müssen entsprechende Eigentums- und Finanzierungsmodelle und auch die Grund-stückspolitik ineinandergreifen, das ist gar keine Frage.

Redebeitrag Publikum: In dieser Veranstaltung geht es ja beliebten Standorte und das bringt eine gewisse Vorausset- um die Frage, ob serieller Wohnungsbau uns dabei helfen zung für eine soziale Mischung mit. Es handelt sich aller- kann, die hohe Zahl an kostengünstigen Wohnungen zu re-dings um ein recht neues Phänomen, das, soweit ich weiß, alisieren, die wir in Berlin in den kommenden Jahrzehnten erst in den späten 1990er oder den frühen 2000er Jahren brauchen werden. Ich denke, dass die Verknüpfung von kos-eingeführt wurde. Wir fangen also gerade erst an, die tat- tengünstigem Wohnungsbau und dem ökologischen Foot-sächlichen Auswirkungen dieser Regelungen erkennen zu print, von dem Herr Brandlhuber sprach, sehr wichtig ist. können. Ich habe ein Jahr in Berlin gelebt, und soweit ich Wir sollten das Kriterium „energetische Kosten“ mindestens das gesehen habe, bleiben die Leute hier manchmal recht gleich hoch bewerten mit der Schaffung von günstigem lange in ihren Wohnungen. Es dauert allgemein sehr lange, Wohnraum. Gibt es international Projektbeispiele, in denen bis sich Veränderungen bemerkbar machen. Deshalb ist, im diese beiden Themen sinnvoll miteinander verknüpft wur-Gegensatz zum Altbau, der Neubau eher Gegenstand sol- den?cher Experimente. Deshalb finde ich ihn auch ziemlich inte-ressant. Julia Gill: Ja, vor allem dieses Schweizer Beispiel mit den ver-

tikalen Holzbohlen. Das ist ein Projekt, das auf der Grundla-

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ge eines Footprint-Modells entwickelt wurde, und zwar der Was eignet sich dafür, es in großen Massen zu produzieren 2000-Watt-Gesellschaft, einem Modell der ETH Zürich. Al- und einzusetzen? Das ist eine Frage, die uns im Rahmen der lerdings war dieses Beispiel im Vergleich nicht besonders IBA beschäftigen muss. Wir wollen hier prototypische Lö-günstig, wobei das auch an den Schweizer Preisen liegt. sungen entwickeln, gemeinsam mit denjenigen, die den Grundsätzlich gibt es Ansätze und auch in unserer Studie Wohnraum produzieren, finanzieren oder subventionieren. gibt es mehrere Beispiele, die hier interessante Antworten Wir werden nicht darum herum kommen, auch in Masse zu geben. produzieren. Es ist eine Antwort, aber natürlich nicht die

einzige Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen. Regula Lüscher: Natürlich treibt uns die Hoffnung, dass Vor- Die heutige Veranstaltung zeigt, dass die Serie, die Vorfab-fabrikation und die Serie ein möglicher Weg sind, die Pro- rikation und die Diskussion um Standards kein Thema der duktion von Wohnungen kostengünstiger zu machen. Aber Vergangenheit ist, sondern uns weiterhin beschäftigen und wir brauchen neue Prototypen und Frau Gill hat gezeigt, inspirieren wird. dass die industrielle Produktion prinzipiell das Potenzial hat, auch im Bereich der Nachhaltigkeit mehr zu leisten als konventionelle Verfahren. Hier kann die IBA einen Experi-mentierraum bieten.

In Berlin haben die Produktionskosten, hat die Errichtung der Hardware, im Verhältnis zu den Grundstückskosten nach wie vor einen sehr großen prozentualen Anteil an der Gesamtpreisgestaltung. Das ist in Städten mit extrem ho-hen Grundstückspreisen anders. Es lohnt sich also, über Produktionsweisen nachzudenken.

Arno Brandlhuber: Die Serie ist ja im Prinzip ein Werkzeug in Die Beispiele haben das sehr breite Spektrum des heutigen einem Werkzeugkasten. Und es stellt sich die Frage: Was Themas aufgezeigt. Es geht um Standardisierung im Sinne wollen wir mit dem Werkzeugkasten? Was ist das überge-von Wiederholung des Gleichen, Standards im Sinne von ordnete Modell, die Erzählung oder das Narrativ, das im Raumgrößen und Ausstattungsmerkmalen, die ich mir leis- besten Fall auch im Rahmen einer IBA sowohl zur Nutzersei-ten will oder kann, bis hin zur Frage, wie man durch Repro- te als auch zur politische Seite hin kommuniziert wird? Um duzieren und durch kluge Systeme das Bauen rationalisie- welche Erzählung geht es ganz speziell hier in Berlin und ren und vergünstigen kann. Die Entscheidung, an welcher nicht in New York oder in Beijing? Wollen wir eher homoge-Stellschraube man dreht, hat selbstverständlich sehr viel ne ausdifferenzierte Lagen oder heterogene Situationen? mit den Eigentumsverhältnissen zu tun. Eine Wohnungs- Und dann kommen wir zurück zu dem Werkzeugkasten. baugesellschaft muss sich die Frage höchstwahrscheinlich Diese Haltungsfrage, die wir im Rahmen einer IBA formulie-anders stellen als eine Baugruppe. ren können, ist neben dem Entwickeln dieser Werkzeuge

ganz maßgeblich. Das bedeutet auch, dass man günstige Interessant ist, dass man bei der Frage nach Standards im- Lagen, die bisher nicht im Fokus standen – wie zum Beispiel mer wieder an den Punkt kommt, an dem eine Individuali- Lichtenberg, von dem wir hier alle sehr begeistert sind –, sierung eingefordert wird. Die Serie zielt genau auf das Ge- durchaus mit einem kulturell höherwertigen Anspruch be-genteil. Die Serie macht nur Sinn, wenn ein hochwertiges setzen und für neue Nutzergruppen erschließen kann. Das Element produziert wird, das zunächst vielleicht teuer ist, passt aber nur dann in eine Gesamterzählung Berlins – auch durch die Wiederholung aber günstiger wird. Und es geht historisch gesehen –, wenn wir auf der anderen Seite in La-um die Entwicklung von klugen Baustoffen, wie in dem Bei- gen wie Mitte mit dem gleichen Narrativ gegensteuern wol-spiel mit den Holzelementen, die unter dem Aspekt der len. Dazu braucht es eine bestimmte Haltung, die uns selbst Nachhaltigkeit und der Verminderung der grauen Energie als Nutzer, die Macher der IBA und auch unsere politischen interessant sind. Ein weiterer Aspekt ist die Entwicklung von Repräsentanten betrifft. Techniken, die einfach anzuwenden sind und auch im Selbstbau funktionieren. Dadurch wird Eigentumsbildung Redebeitrag Publikum: Meine Frage bezieht sich auf die in natürlich kostengünstiger, aber auch aufwändig. Nicht alle den vergangenen Jahren wachsende Zahl sehr wohlhaben-Menschen wollen sich mit der Produktion von Wohnraum der Menschen, die nach Berlin ziehen und von denen wir beschäftigen. lange Zeit sehr wenige hatten. Nun formiert sich ein Wider-

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stand, der immer vehementer wird. Letzte Woche haben Je öfter hier im Raum jemand Lichtenberg sagt, desto teurer zwölf maskierte Männer in dem Büro eines Charlottenbur- wird da der Wohnraum, wahrscheinlich jedes Mal so unge-ger Edelmaklers Gülletonnen ausgekippt. Wie können wir fähr um einen Cent pro Quadratmeter pro Jahr. Wir müssen intelligentere Antworten als Gülletonnen finden? Wie kön- in Berlin diese Diskussion um die Lage führen und wir müs-nen wir es jetzt auch in der Wohnungsfrage schaffen, diese sen auch aushalten, dass eine Lage sich ändert. Wer in den neue Energie, die in die Stadt kommt, positiv umzulenken 90er-Jahren nach Prenzlauer Berg gezogen ist, weiß das. und vielleicht in das Narrativ der Heterogenität einzubau- Wichtig ist, dass man gewährleisten muss, dass diese Pro-en? zesse nicht irgendwann über einen hinwegrollen und man

keine Wahl mehr hat. Aber ich glaube, man muss in seinen Regula Lüscher: Zunächst: Wir brauchen mehr gegenseitige Vorstellungen schon ein bisschen flexibler werden und viel-Akzeptanz und müssen verstehen, dass sowohl „Superrei- leicht dann auch umziehen, wenn es irgendwo zu teuer oder che“ als auch Hartz-IV-Empfänger zur Stadt gehören. Das zu doof geworden ist oder es zu viele Bio-Läden gibt. Aufeinanderprallen von Extremen, von Andersartigem – und dabei geht es bei Weitem nicht nur um die Frage des Ein- Redebeitrag Publikum: Wenn wir zwei Hauptziele haben – kommens – ist der Inbegriff des Städtischen. Es ist das, was die Schaffung von günstigem und dennoch attraktivem viele Städter lieben und warum sie in der Stadt sind. Men- Wohnraum und das Erhalten von Wohnraum – dann müss-schen, die mit diesem Aufeinanderprallen nicht so gut um- ten wir doch die technischen Fragen des Bauens enger mit gehen können, fühlen sich normalerweise in Städten auch sozialen und ökonomischen Fragen zusammenführen: Wer nicht besonders wohl und gehören vielleicht auch nicht in schafft Wohnraum für wen? Wer profitiert davon, kurzfris-die Stadt. tig und längerfristig? Vielleicht wird es im nächsten Werk-

stattgespräch im März noch mehr darum gehen. Aber ich meine, das sind die Schlüsselfragen. Ob wir nun seriell oder nicht seriell bauen, ist nicht die wichtigste Frage. Wenn Menschen für sich selbst bauen, ist das etwas anderes, als wenn wir günstig bauen und zehn Jahre später die Woh-nung spekulativ verkauft wird, denn dann ist es sowieso hin mit der Bezahlbarkeit.

Matthias Böttger, Moderator: Beim nächsten Werkstattge-spräch am 5.3. werden wir über alternative Finanzierungs-

Was kann Wohnungspolitik tun? Wohnungspolitik kann da- modelle und auch genossenschaftliche Modelle diskutieren für sorgen, dass auch in teuren Lagen eine Wohnungspro- und genau diese Fragen in den Mittelpunkt stellen. duktion für Gruppen mit geringerem Einkommen stattfin-det. Und sie kann dazu beitragen, dass in Lagen, die bislang Arno Brandlhuber: Ich würde dazu gerne ergänzen, dass für unattraktiv gehalten werden, interessante Angebote für man nun versucht, die städtischen Wohnungsbaugesell-junge Familien, für Kreative, für Studierende, für Menschen schaften, die sich in den letzten zehn Jahren auf den Be-mit höherem Einkommen, für ältere Menschen entstehen. stand und nicht den Neubau konzentriert haben, wieder in Dabei geht es nicht nur um den Wohnraum selbst, sondern die Pflicht zu nehmen. Dann muss man sie aber auch mit auch um Infrastrukturen, den öffentlichen Raum, die Frei- den Werkzeugen ausstatten, um überhaupt in der Lage zu flächen. Das sind wohnungspolitische Möglichkeiten, Hete- sein, günstigen Wohnraum zu stellen. Es geht bei der Frage rogenität und Mischung zu fördern. Das Nebeneinander von nicht nur um den privaten Eigentumswohnungsbau, son-Unterschiedlichem ist die Voraussetzung für das Städtische. dern wir müssen die großen Wohnungsbaugesellschaften in

dieser Hinsicht in die Pflicht nehmen und qualifizieren.Redebeitrag Publikum (Saskia Hebert): Ich finde grundsätz-lich die Forderung nach Heterogenität in der Stadt sehr Matthias Böttger, Moderator: Kann man den Wohnungs-wichtig. Und ich glaube, wir würden auch alle nicht in dieser baugesellschaften mit dem Katalog helfen, den ihr gemacht Stadt leben, wenn sie nicht unterschiedliche Qualitäten an habt?unterschiedlichen Orten hätte. Trotzdem geht es mir bei der Diskussion, in der ja auch immer wieder das Stichwort Lich- Julia Gill: Ja, ich denke schon, dass sich die unterschiedli-tenberg fällt, doch ein bisschen auf die Nerven, dass nicht chen Beispiele und Kategorien für unterschiedliche Bauher-reflektiert wird, dass man ja selber ein Teil des Problems ist. renformen und -formate eignen. Aber es stimmt natürlich,

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dass das eigentlich erst die zweite Frage ist. Dennoch könn- und anders mit dem Thema Mischung bzw. Vielfalt umge-ten vor allem diese letzten vier Beispiele – von Kempe Thill, gangen wird. Lacaton-Vassal, Pia Illonen und BeL – auch für Genossen-schaften und Baugruppen sehr interessant sein, während Natürlich konnten wir heute noch keine Antworten präsen-die Beispiele, die stärker auf eine High-tech-Vorfabrikation tieren. Es ging darum, die Potenziale der Serie und der Vor-zielen, eher für konventionellere Bauträger attraktiv sind. fabrikation zu diskutieren, insbesondere unter dem Blick-

winkel von Kostenreduzierung, aber auch mit Blick auf Matthias Böttger, Moderator: Peter, in das Jahr 2020 ver- Wohnqualitäten und Fragen der Nachhaltigkeit. Selbstver-setzt: Würdest du gerne von Frau Lüscher zu den neuen Pro- ständlich müssen wir uns bewusst sein, dass eine Reduzie-jekten der IBA geführt werden und würdest du Leute aus rung der Baukosten noch keine Ersparnis für die Nutzerin-New York mitbringen, um von Berlin zu lernen? nen und Nutzer bedeuten muss, wenn diese nämlich vom

Investor abgeschöpft und nicht weitergegeben wird. Im Peter Christensen: Absolut. Keine Frage! nächsten Werkstattgespräch werden wir uns deshalb mit

nicht primär renditeorientierten Organisations- und Finan-Matthias Böttger, Moderator: Vielen Dank! Frau Lüscher, zierungsmodellen beschäftigen und der Frage nachgehen: Sie haben das Wort für ein Abschlussstatement. Wer baut für wen? Wie organisieren wir das Bauen von

Wohnraum? Regula Lüscher: Das Thema „Draußenstadt wird Drinnen-stadt“ ist das Hauptthema dieser IBA. Sie wird sich sehr in- Diesmal geht es um ein bautechnologisches Thema. Noch tensiv mit Urbanität, mit städtischer Heterogenität und Mi- immer sind die Erstellungskosten von Neubauwohnungen schung beschäftigen. Das Wohnen, die aktuelle so hoch, dass zum Beispiel die Wohnungsbaugesellschaften Wohnungsfrage, ist Motor der IBA. In kurzer Zeit muss viel ohne Förderung ihre Zielgruppen nicht erreichen können. Wohnraum produziert werden, auch von den Wohnungs- Deshalb ist es wichtig, auch über Baustoffe, über Vorfabri-baugesellschaften. Was ist hier die Rolle der IBA? Die IBA kation, über Standards und Standardisierung zu diskutieren löst nicht das Mengenproblem. Die IBA forscht, indem sie und neue Lösungen zu entwickeln und zu erproben. Dafür baut und Dinge ausprobiert. Sie kann neue Standards set- ist die IBA ein hervorragendes Instrument. zen, zum Beispiel damit Wohnraum anders produziert wird