ifo Schnelldienst 02/2018 · ZUR DISKUSSION GESTELLT Fusion in der Stahl-branche: Struktur- krise...

42
ZUR DISKUSSION GESTELLT Fusion in der Stahl- branche: Struktur- krise und Verdrän- gungswettbewerb auf dem Stahlmarkt? Roland Döhrn, Christian Obst, André Küster Simic und Malte Knigge, Hans Jürgen Kerkhoff 2 2018 25. Januar 2018 71. Jahrgang ZUR DISKUSSION GESTELLT Nachtrag: Klimaziel 2020 verfehlt: Zeit für eine Neuaus- richtung der Klimapolitik? Andreas Löschel und Oliver Kaltenegger FORSCHUNGSERGEBNISSE Die ökonomischen Kosten des Bitcoin-Mining Marcel Thum Landespolitiker: Erhöhung der Diäten Björn Kauder, Manuela Krause und Niklas Potrafke DATEN UND PROGNOSEN Veranstaltungen der Messe Frankfurt Horst Penzkofer Länderübergreifender Auf- schwung der europäischen Bauwirtschaft Ludwig Dorffmeister IM BLICKPUNKT Sonderauswertung der ifo Konjunkturumfragen: Architekturbüros Christoph Zeiner

Transcript of ifo Schnelldienst 02/2018 · ZUR DISKUSSION GESTELLT Fusion in der Stahl-branche: Struktur- krise...

ZUR DISKUSSION GESTELLT

Fusion in der Stahl-branche: Struktur- krise und Verdrän-gungswettbewerb auf dem Stahlmarkt?Roland Döhrn, Christian Obst, André Küster Simic und Malte Knigge, Hans Jürgen Kerkhoff

22018

25. Januar 201871. Jahrgang

ZUR DISKUSSION GESTELLT

Nachtrag: Klimaziel 2020 verfehlt: Zeit für eine Neuaus-richtung der Klimapolitik?Andreas Löschel und Oliver Kaltenegger

FORSCHUNGSERGEBNISSE

Die ökonomischen Kosten des Bitcoin-MiningMarcel Thum

Landespolitiker: Erhöhung der DiätenBjörn Kauder, Manuela Krause und Niklas Potrafke

DATEN UND PROGNOSEN

Veranstaltungen der Messe FrankfurtHorst Penzkofer

Länderübergreifender Auf-schwung der europäischen BauwirtschaftLudwig Dorffmeister

IM BLICKPUNKT

Sonderauswertung der ifo Konjunkturumfragen: ArchitekturbürosChristoph Zeiner

ifo SchnelldienstISSN 0018-974 X (Druckversion)ISSN 2199-4455 (elektronische Version)

Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: [email protected]: Dr. Marga Jennewein.Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, Annette Marquardt, Prof. Dr. Chang Woon Nam.Vertrieb: ifo Institut.Erscheinungsweise: zweimal monatlich.Bezugspreis jährlich:Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,–Studenten EUR 48,–Preis des Einzelheftes: EUR 10,–jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Kochan & Partner GmbH.Satz: ifo Institut.Druck: Majer & Finckh, Stockdorf.Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

im Internet:http://www.cesifo-group.de

ZUR DISKUSSION GESTELLT

Fusion in der Stahlbranche: Strukturkrise und Verdrängungswettbewerb auf dem Stahlmarkt? 3

Europas Stahlindustrie leidet unter chinesischer Billigkonkurrenz, fallenden Preisen und hohen Kosten für Ener-gie und Rohstoffe. Zudem machen hohe Überkapazitäten den Produzenten zu schaffen. Wie kann sich die euro-päische Stahlindustrie gegen die Konkurrenz vor allem aus Asien behaupten? Nach Ansicht von Roland Döhrn, RWI Essen, sind Kapazitätsanpassungen in der europäischen Stahlindustrie unausweichlich, aber schwierig zu errei-chen. So behinderten ökonomische wie politische Gründe den Marktaustritt von Unternehmen in Europa und weltweit. Dies führe dazu, dass Überkapazitäten nur sehr zögerlich abgebaut werden. Die Diskussion auf China zu reduzieren, greife zu kurz. So lange in Europa große Kapazitäten ungenutzt seien, bleibe für die Produzenten der Anreiz, durch niedrige Preise Marktanteile zu Lasten anderer Anbieter zu gewinnen. Handelsbeschränkende Maßnahmen verminderten letztlich den Druck zu Kapazitätsanpassungen. Christian Obst, Baader Bank, sieht die internationale Stahlindustrie seit Jahrzehnten in einer strukturellen Krise. Der Grund dafür seien anhaltende Überkapazitäten, die weltweit nach wie vor auf einem historisch hohen Stand seien. Die Staaten könnten die Reduzierung von staatlich kontrollierten Kapazitäten veranlassen bzw. den Abbau privater Kapazitäten unter-stützen. Allerdings stehen dem der Versuch des Erhalts möglichst vieler Arbeitsplätze sowie die primäre Sicht auf die eigene Region im Weg, so dass diese Prozesse sehr lange dauern. André Küster Simic, HSBA und Q&A Banner Küster Unternehmensberatung und Malte Knigge, Q&A Banner Küster Unternehmensberatung, sehen die Über-kapazitäten regional differenziert: So belasten vor allem massive Überkapazitäten den chinesischen Stahlmarkt. Diese Kapazitätsprobleme würden aktuell auch in die deutsche und europäische Stahlindustrie importiert und könnten durch Fusionen nicht gelöst werden. Auch Hans Jürgen Kerkhoff, Wirtschaftsvereinigung Stahl, sieht den Weltstahlmarkt durch Überkapazitäten in einer Größenordnung von mehreren hundert Millionen Tonnen belas-tet, rund 60% davon allein in China, das einen erheblichen Nachholbedarf zur Konsolidierung seiner Stahlin-dustrie habe. Die Lösung der globalen Strukturkrise brauche internationale Kooperation und eine konsequente Anwendung von Handelsschutzinstrumenten. So seien Antidumping- oder Antisubventionsmaßnahmen als Kor-rektiv für die Europäische Union unverzichtbar. Die Schutzmaßnahmen müssten im Einklang mit den Regeln der WTO ausgerichtet sein, dafür aber konsequent und effektiv angewendet werden.

Nachtrag: Klimaziel 2020 verfehlt: Zeit für eine Neuausrichtung der Klimapolitik? 14

Neue Berechnungen des Bundesumweltministeriums zeigen, dass Deutschland wahrscheinlich die angestrebten Klimaziele für das Jahr 2020 deutlich verfehlen wird. Wie sollte die Klimapolitik neugestaltet werden, und welche Anreizsysteme sind für eine effektive und ökonomisch sinnvolle Klimapolitik notwendig? Ergänzend zu den Bei-trägen im ifo Schnelldienst 1/2018 legen Andreas Löschel und Oliver Kaltenegger, Universität Münster, dar, dass die Entwicklungen der letzten Jahre die Schwächen des gegenwärtigen klimapolitischen Instrumentenmixes deutlich aufgezeigt haben. Die deutsche Klimapolitik liefere nicht, es bedürfe vielmehr einer zügigen und entschlossenen Neuausrichtung der Klimapolitik. Ein ökonomisch sinnvoller Ansatz zur Erreichung der Ziele des Energiekonzepts bestehe in einer möglichst umfassenden und einheitlichen CO2-Bepreisung als Leitinstrument und komplementä-ren Instrumenten zur Adressierung zusätzlicher Marktunvollkommenheiten. Die Einführung des Leitinstruments sollte sich an folgenden Ausgestaltungsprinzipien orientieren: langfristige Orientierung, Aufkommensneutralität, Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit, internationale Koordination und soziale Gerechtigkeit.

FORSCHUNGSERGEBNISSE

Die ökonomischen Kosten des Bitcoin-Mining 18Marcel Thum

Bitcoins werden in der Öffentlichkeit momentan vor allem unter den Aspekten des »staatsfernen« Geldes und der Gefahren einer spekulativen Blase diskutiert. In der Euphorie über die neue Form digitaler Währung wird häufig übersehen, dass Bitcoins und andere Kryptowährungen im Gegensatz zum traditionellen Geld erhebliche

2/2018SCHNELLDIENST

reale Kosten bei der Erzeugung verursachen. Allein die Erzeugung von Bitcoins dürfte seit 2010 mehr als 5 Mrd. US-Dollar gekostet haben.

Haben sich Landespolitiker ihre Diäten aus wahltaktischen Gründen lieber nach als vor den Wahlen erhöht? 21Björn Kauder, Manuela Krause und Niklas Potrafke

In dem Wissen, dass viele Bürger Diätenerhöhungen kritisch sehen, liegt es nahe, dass Abgeordnete ihre Diä-ten besser direkt nach Wahlen erhöhen als unmittelbar vor den Wahlen. In einer neuen Studie des ifo Instituts wurde anhand von Daten für 15 deutsche Bundesländer im Zeitraum 1980–2014 untersucht, ob es einen solchen Wahlzyklus bei Diätenerhöhungen deutscher Landtagsabgeordneter gab. Die Ergebnisse deuten nicht auf einen Wahlzyklus hin. Zu vermuten ist, dass die Wähler Politiker aller Parteien und nicht nur die Regierungsparteien für Diätenerhöhungen verantwortlich machen.

DATEN UND PROGNOSEN

Veranstaltungen der Messe Frankfurt lösen 3,6 Milliarden Euro Umsatz jährlich aus 25Horst Penzkofer

Im Auftrag der Messe Frankfurt GmbH hat das ifo Institut im Jahr 2017 die durch die Ausgaben von Ausstellern und Besuchern auf inländischen Messen, Kongressen und sonstigen Veranstaltungen ausgelösten wirtschaftlichen Wirkungen ermittelt. Auf Basis empirischer Erhebungen ausgewählter Veranstaltungen wurden mittels eines Schätzmodells die Gesamtausgaben und darauf aufbauend die Kaufkraft-, Beschäftigungs- und Steuereffekte eines durchschnittlichen Veranstaltungsjahres für Frankfurt, Hessen und Deutschland berechnet. Demnach geben Aussteller und Besucher weltweit in einem durchschnittlichen Messejahr 2,83 Mrd. Euro für Veranstaltungen bei der Messe Frankfurt aus. Von den Gesamtausgaben der Messebesucher haben die Ausgaben in der Hotellerie und Gastronomie mit rund 38% das zweitstärkste Gewicht. Nur die Kosten der An- und Abreise im Fernverkehr schla-gen mit 41% etwas mehr zu Buche. Von den Gesamtausgaben der ausstellenden Unternehmen entfallen rund 27% auf den Standbau; rund 17% der Ausgaben stehen im Zusammenhang mit den Personalkosten für die Durch-führung von Messebeteiligungen. Knapp ein Viertel der Ausgaben der Aussteller geht an den Messeveranstalter. Fast 13% der Ausgaben entfallen auf die An- und Abreise des Personals der ausstellenden Unternehmen. Die Ausgaben für die Übernachtung und Verpflegung summieren sich auf annähernd 14%. Deutschlandweit werden 33 260 Arbeitsplätze durch die Ausgaben der Besucher und Aussteller der Veranstaltungen der Messe Frankfurt gesichert, davon allein rund 18 500 in Frankfurt. Für alle Gebietskörperschaften der Bundesrepublik ergeben sich für ein durchschnittliches Veranstaltungsjahr Steuereinnahmen in Höhe von 657 Mio. Euro. Auf Frankfurt entfällt hiervon ein Betrag von 32 Mio. Euro, auf das übrige Hessen 176 Mio. Euro. Über die Hälfte der Steuereinnahmen geht mit 330 Mio. Euro an den Bund.

Länderübergreifender Aufschwung der europäischen Bauwirtschaft 30Ausgewählte Ergebnisse der EUROCONSTRUCT-Winterkonferenz 2017Ludwig Dorffmeister

Nach den aktuellen Analysen der Experten aus den 19 Mitgliedsländern des EUROCONSTRUCT-Netzwerks dürfte im vergangenen Jahr das Bauvolumen im ECONSTRUCT-Gebiet um 3,5% zugenommen haben. Die stärksten Impulse kamen dabei erneut vom Wohnungsbau. Die Entwicklungen im Jahr 2017 sind aus zwei Gründen bemer-kenswert. So wurden die Baumaßnahmen in Europa zuletzt 2006 kräftiger ausgeweitet. Zudem nahm die Bautä-tigkeit erstmals in allen 19 Mitgliedsländern zu.

IM BLICKPUNKT

Sonderauswertung der ifo Konjunkturumfragen für das vierte Quartal 2017: 37ArchitekturbürosChristoph Zeiner

Das Geschäftsklima bei den an der ifo Konjunkturumfrage beteiligten Architekturbüros verbesserte sich im vier-ten Quartal bedeutend. Dies verdankt sich einem deutlichen Anstieg beider Teilindikatoren. Die aktuelle Umsatz-entwicklung gewann im vierten Quartal deutlich an Dynamik, und auch die diesbezüglichen Erwartungen waren stärker von Optimismus geprägt. Die Beurteilung des Auftragsbestands erreichte im Oktober eine neue Best-marke seit Beginn der Umfrage im Jahr 2005.

3

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

* Prof. Dr. Roland Döhrn ist Leiter des Kompetenzbereichs »Wachs-tum, Konjunktur, Öffentliche Finanzen« am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Essen.

Roland Döhrn*Kapazitätsanpassungen in der europäischen Stahlindustrie: Unausweichlich, aber schwierig zu erreichenWill man die derzeitige Situation in der Stahlindus-trie verstehen, muss man sich drei Charakteristika der Branche vor Augen halten:

– Erstens ist das Stahlgeschäft in unternehmerischer Hinsicht insofern wenig lukrativ, weil es eher mar-genschwach ist.1 Auf der Beschaffungsseite wer-den die Preise für Eisenerz im Wesentlichen durch ein Oligopol weniger großer Anbieter bestimmt, und auf der Absatzseite verfügen große Verwender wie die Automobilindustrie über eine nicht uner-hebliche Marktmacht. Hinzu kommt, dass die Mög-lichkeiten begrenzt sind, neue Anwendungsfelder für Stahl zu erschließen.

– Zweitens ist Stahl ein Produkt, das im Zuge des Entwicklungsprozesses von Volkswirtschaften zwar zunächst ein Treiber des Fortschritts ist, mit der Folge, dass der Stahlverbrauch nicht nur abso-lut, sondern auch relativ zur Wirtschaftsleistung steigt. Mit weiter zunehmendem Einkommensni-veau wird Stahl aber in geringerem Maße nachge-fragt, z.B. weil die gesamtwirtschaftliche Bedeu-tung des wenig stahlintensiven Dienstleistungs-sektors wächst. Der Stahlverbrauch pro Kopf geht daher jenseits eines bestimmten, von Land zu Land durchaus unterschiedlichen Einkommensniveaus wieder zurück (vgl. Döhrn und Krätschell 2014).

1 Nach Berechnungen der OECD (2017) lag der EBITDA der Stahl-unternehmen im Zeitraum 2015/16 weltweit bei 8% in Relation zum Umsatz, in der Gesamtwirtschaft bei 13%.

Fusion in der Stahlbranche: Strukturkrise und Verdrängungs­wettbewerb auf dem Stahlmarkt?

Europas Stahlindustrie leidet unter chinesischer Billigkonkurrenz, fallenden Preisen und hohen Kosten für Energie und Rohstoffe. Zudem machen hohe Überkapazitäten den Produ­zenten zu schaffen. Wie kann sich die europäische Stahlindustrie gegen die Konkurrenz vor allem aus Asien behaupten?

– Drittens ist Erzeugung von Stahl sehr kapitalin-tensiv, es liegen also hohe sunk costs vor, was zu hohen Markteintritts-, aber auch (derzeit eher relevant) Marktaustrittsbarrieren führt. Hinzu kommt, dass die Erzeugung, insbesondere bei Produktion auf der Hochofenroute, in großen Betriebseinheiten erfolgt, die zudem häufig in altindustriellen und damit heute als struktur-schwach geltenden Regionen angesiedelt sind. So kommen zu wirtschaftlichen auch politische Marktaustrittsbarrieren.

Diese drei Faktoren erklären viele der derzeitigen Ent-wicklungen und Probleme der Stahlindustrie.

STRUKTURELLE FAKTOREN BEHINDERN MARKTANPASSUNGEN

Die Margenschwäche, die sich aus der »Sandwich-situation« zwischen marktmächtigen Rohstoff­lieferanten und Stahlverwendern ergibt, hat in Ver-bindung mit der im Laufe des Entwicklungspro- zesses rückläufigen Stahlintensität der Wirtschaft dazu geführt, dass es in der Stahlindustrie von jeher viele Fusionen und Übernahmen gab. Arcelor Mittal, der derzeit größte Stahlkonzern der Welt, ist so ent-standen, und Tata Steel, deren Fusion mit Thyssen-Krupp derzeit die Schlagzeilen bestimmt, ebenso. Auch die Stahlsparte von ThyssenKrupp ist das Ergebnis mehrerer Zusammenschlüsse. So war im Jahr 1991 die Hoesch AG durch den Krupp-Konzern übernommen worden, der wiederum 1999 durch den Zusammenschluss mit Thyssen in ThyssenKrupp auf-gegangen ist. Solche Zusammenschlüsse ermög-lichen die Realisation von Größenvorteilen, wobei Rationalisierungen zunächst vorwiegend in den Bereichen der Beschaffung, der ersten Bearbeitung von Stahl und der Vermarktung erfolgen. Zudem stär-ken solche Zusammenschlüsse die Marktmacht der Stahlproduzenten.

Roland Döhrn

© R

WI/

Sven

Lor

enz

4

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Im Kern der Wertschöpfungskette, also bei der Rohstahlerzeugung, lassen sich zwar auch erhebliche Größenvorteile realisieren. Man müsste nur ein Stahl-werk eines neuen Verbundes stilllegen und die anderen höher auslasten, um eine spürbare Kostendegression zu erzielen. Diese Rationalisierungsgewinne lassen sich im Falle von Fusionen ungleich schwieriger realisieren als beispielsweise die in Beschaffung und Vertrieb. Hier macht sich nämlich der dritte oben angesprochene Faktor bemerkbar. Er sorgt dafür, dass jede geplante Stilllegung einer großen Betriebsstätte nahezu unwei-gerlich auf erheblichen Widerstand stoßen wird, nicht nur bei den betroffenen Arbeitnehmern, sondern auch in der Politik, zumal sich diese oft im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen in den Stahlunterneh-men engagiert hat. So hat der britische Staat, um die Bilanz der britischen Sparte von Tata zu entlasten, in erheblichem Umfang Pensionsverpflichtungen über-nommen und damit der Fusion mit der Stahlsparte von ThyssenKrupp überhaupt erst den Weg geebnet. Daher ist es beispielsweise wenig wahrscheinlich, dass das Tata-Stahlwerk im walisischen Port Talbot in absehba-rer Zeit geschlossen wird, obwohl es als das am wenigs-ten effiziente im neuen Unternehmensverbund gilt. Zwar zeigt die Erfahrung, dass Werkschließungen auf längere Sicht nicht zu verhindern sind. So verschwand der Stahlstandort Dortmund nach der Übernahme von Hoesch letztlich von der Landkarte, und das Stahlwerk in Rheinhausen wurde sechs Jahre nach den heftigen und öffentlichkeitswirksamen Protesten im Winter 1987/88 doch geschlossen. Solche Schließungen sind aber schwierig umzusetzen.

So führt dieser dritte Faktor in Verbindung mit dem zweiten auch dazu, dass in der Stahlindustrie Überkapazitäten nur sehr zögerlich abgebaut werden können. Derzeit sind nach Berechnungen des inter-nationalen Stahlverbandes Worldsteel die Kapazi-täten global nur zu gut 70% ausgelastet, wozu zwar China einen wesentlichen Beitrag leistet, was aber kein rein chinesisches Problem darstellt. Auch in der EU waren nach Berechnungen der OECD die Kapazität im Jahr 2016 nur zu 70% ausgelastet (vgl. OECD 2017, S. 8), und in den USA sieht es nicht anders aus. In vie-len asiatischen Schwellenländern sind die Kapazitä-ten gar noch deutlich schwächer ausgelastet. An die-ser Kapazitätsproblematik ändern auch Bekenntnisse der politischen Führung der großen Volkswirtschaften wenig. Diese haben sich in der Schlusserklärung des G-20-Gipfels in Hamburg zu einem Kapazitätsabbau bekannt. Zuhause angekommen, findet jeder Politiker Gründe, weshalb man das Kapazitätsproblem im eige-nen Land nicht angehen sollte.

Unterausgelastete Kapazitäten sind bei hohen sunk costs aber für die Stahlunternehmen einen Anreiz, ihr Produkt zumindest kurzfristig zu einem Preis zu verkaufen, der unter den gesamten Stückkos-ten liegt, weil man erhofft, so die eigenen Kapazitä-ten besser auszulasten. Damit verstärken die Überka-pazitäten das Problem der Margenschwäche, und es

besteht die Gefahr, dass die Branche in einen Teufels-kreis gerät.

Diese Überlegungen zeigen, dass viele der augen-blicklichen Probleme aus den spezifischen Markt- und Produktionsbedingungen resultieren, wobei die Begründungsmuster sich heute nicht von denen der Stahlkrise in den 1970er und 1980er Jahren unter-scheiden (vgl. Wienert 1984; Gieseck 1995). Man kann mit Blick auf die Marktaustrittsbarrieren von einem Marktversagen sprechen, da diese verhindern, dass nicht mehr wettbewerbsfähige Unternehmen aus dem Markt ausscheiden. Die Wirtschaftspolitik in Europa hatte in der Vergangenheit, noch in der Ägide des EGKS-Vertrags, auf dieses Problem mit einem Struk-turkrisenkartell reagiert. Dieses scheiterte aber daran, dass nationale Entscheidungsträger zugesagte Kapazi-tätsstilllegungen nicht durchführten (vgl. Gieseck 1995, S. 75). Zum Marktversagen kam also Politikversagen. Insofern bleibt auch dieses Mal abzuwarten, ob und wie Beschlüsse diverser »Stahlgipfel« umgesetzt wer-den.2 Eine Parallelität zu damals ist auch, dass man den Markt gegen »unfaire« Wettbewerber aus dem Ausland abschirmt, was den Druck, Kapazitäten abzubauen, weiter vermindert.

IST CHINA DER HAUPTSCHULDIGE?

Als Hauptschuldiger für die augenblicklichen Prob-leme der Stahlindustrie wird in Europa stets China genannt, das mit seinem »Billigstahl« die Märkte über-flutet. Richtig ist, dass China inzwischen der wichtigste Spieler auf dem internationalen Stahlmarkt ist, worin sich die augenblickliche Situation von der während der Stahlkrise in den 1970er und 1980er Jahren unterschei-det. Der Industrialisierungsprozess in China verlief sehr stahlintensiv, so dass mittlerweile rund die Hälfte des weltweit erzeugten Stahls dort gekocht wird. Dadurch beeinflusst China nicht nur die Lage am Stahlmarkt, sondern auch die auf den Beschaffungsmärkten z.B. für Eisenerz, Kokoskohle oder Schrott erheblich.

Auch China kann sich den ökonomischen Gesetz-mäßigkeiten nicht entziehen, wonach mit steigendem Einkommensniveau der spezifische Stahlverbrauch zunächst verlangsamt steigt und dann gar sinkt. Der sichtbare Stahlverbrauch je Kopf ist dort von einem Höchstwert von 531 kg im Jahr 2013 auf 485 kg im Jahr 2016 zurückgegangen, wobei abzuwarten bleibt, ob dies eine kurzfristige Schwankung ist oder eine Trend-wende andeutet. Die politisch verordnete Abkehr von der Strategie des durch Investitionen und Exporte getriebenen Wachstums spricht für letzteres. Auch die politökonomische Gesetzmäßigkeit, wonach es schwer fällt, in der Stahlindustrie aufgrund der großen Bedeu-tung vieler Stahlwerke als lokale Arbeitgeber Kapazitä-ten stillzulegen, scheint in China zu gelten.3

2 Ein Beispiel für die Schwierigkeit, Kapazitäten stillzulegen, ist die Rettung des Ilva-Stahlwerks durch den italienischen Staat (vgl. Döhrn 2017, S. 44).3 Obwohl in China die Eingriffsmöglichkeiten des Staates größer sind als in westlichen Marktwirtschaften und aufgrund des nach wie

5

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Der oben beschriebenen Logik folgend, versuch-ten auch die chinesischen Stahlproduzenten, die Aus-lastung ihrer Kapazitäten durch eine Steigerung ihrer Exporte zu verbessern. Die Folge war, dass die Ausfuh-ren von Halbzeug und Enderzeugnisse der Stahlindus-trie zwischen 2010 und 2016 mengenmäßig um rund 150% zunahm.4

In welchem Maße hat aber der chinesische Stahl zu den Problemen am europäischen Stahlmarkt beige-tragen? Diese Frage lässt sich aufgrund der überragen-den Bedeutung Chinas für den globalen Stahlmarkt nur schwer beantworten. Auf begrenzte direkte Wirkungen deutete hin, dass zum einen weniger als 10% der chine-sischen Exporte in die EU gegangen sein dürften. Zum anderen betrug die Relation der EU-Importe aus China zum sichtbaren Stahlverbrauch in der EU 2015, also im Jahr mit den bisher höchsten Einfuhren, weniger als 5%. Der direkte Einfluss auf den europäischen Stahl-markt ist also keineswegs so hoch, wie es die öffentli-che Diskussion bisweilen suggeriert.

Schwieriger abzuschätzen sind indirekte Effekte. Diese entstehen zum einen dann, wenn Lieferungen aus China solche aus der EU auf Drittmärkten verdrän-gen. Dass die Stahlexporte der EU seit 2014 ungeachtet der Belebung der globalen Konjunktur rückläufig sind, könnte auf solche Verdrängungseffekte hindeuten. Zum anderen können die chinesischen Exporte sich dadurch indirekt auf dem europäischen Stahlmarkt auswirken, weil sie einen Druck auf die Preise ausüben. Gegen große Effekte von dieser Seite spricht allerdings, dass sich nach Berechnungen der OECD (2016, S. 24) die Marge zwischen den Preisen für Rohstoffe der Stahl­industrie und Stahlpreisen im Verlauf von 2014 und 2015, also in einem Zeitraum, in dem die chinesischen Exporte besonders kräftig zugenommen haben, deut-lich verbessert hat.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Ent-wicklung der EU-Importe von Stahl aus Drittländern seit dem Greifen handelbeschränkender Maßnahmen. Relevant sind die Lieferungen aus China insbesondere für das Segment der Flachprodukte.5 Hier gingen die Einfuhren aus China bereits 2016 um 5% zurück, und in den ersten neun Monaten von 2017 lagen sie um 33% unter dem Vorjahreswert. Insgesamt sind die Dritt-landseinfuhren von Flachprodukten in beiden Jahren im Gegensatz dazu um rund 10% gestiegen. Dies ist ein Indiz dafür, dass die rückläufigen chinesischen Liefe-rungen möglicherweise weniger die europäische Pro-

vor vergleichsweise hohen Wirtschaftswachstum eher Ersatzarbeits-plätze für die von Kapazitätsstillegungen betroffenen Arbeitnehmern entstehen, ist es der Wirtschaftspolitik nicht gelungen, das Entstehen der Überkapazitäten zu vermeiden, obwohl frühzeitig Versuche ergrif-fen wurden, den Kapazitätsaufbau zu kontrollieren (vgl. Zhang 2016) 4 Gegenüber 2009 ergibt sich sogar fast eine Verfünffachung, allerdings war die weltweite Nachfrage nach Stahl in diesem Jahr aufgrund der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise außerordentlich gering.5 Etwa 70% der Einfuhren aus China entfielen 2016 auf Flachpro-dukte aus Stahl und legiertem Stahl. Weitere 18% entfielen auf Edelstahl, was ein ungewöhnlich hoher Wert ist; insgesamt beträgt der Edelstahlanteil an den EU-Drittlandseinfuhren lediglich 4%. Ein erheblicher Teil der handelsbeschränkenden Maßnahmen bezieht sich auf das Edelstahlsegment.

duktion als vielmehr die Einfuhren aus anderen Dritt-ländern stärkten. Insbesondere die Türkei, ein Land mit ebenfalls deutlich unterausgelasteten Kapazitä-ten, und Indien dürften zu den Gewinnern gehören. Die Türkei konnte ihren Marktanteil an den Drittlandsein-fuhren von Flachprodukten von knapp 5% im Jahr 2015 auf mehr als 12% in den ersten drei Quartalen von 2017 steigern, Indien sogar von 6% auf 18%.

FOLGERUNGEN

Wie gezeigt, haben die derzeitigen Probleme der euro-päischen Stahlindustrie ihre Wurzeln in den Charak-teristika des Stahlmarktes an sich. Ökonomische wie politische Gründe behindern den Marktaustritt von Unternehmen, in Europa wie anderswo. Dies führt dazu, dass Überkapazitäten nur sehr zögerlich abge-baut werden, was letztlich zu einem permanenten Druck auf die Margen führt. Die Diskussion auf China zu reduzieren, greift zu kurz. Die Auslastung der Kapa-zitäten in der Rohstahlerzeugung liegt weltweit nur bei gut 70%, und in der EU ist der Wert ähnlich niedrig.

Die europäischen Stahlpreise werden letztlich in Europa gemacht. Und so lange hier große Kapazitäten ungenutzt sind, bleibt für die Produzenten der Anreiz, durch niedrige Preise Marktanteile zu Lasten anderer Anbieter zu gewinnen. Handelsbeschränkende Maß-nahmen vermindern letztlich den Druck zu Kapazi-tätsanpassungen. Diese sind mit Härten verbunden, zumal sie nicht in allen EU-Ländern gleichermaßen dringlich sind. Und wenn sie realisiert werden, wir-ken sie regional sehr konzentriert. Die sich deutlich bessernde Konjunktur in Europa bietet aber günstige Rahmenbedingungen, das Problem jetzt anzugehen, da sie die Chancen für neue Arbeitsplätze verbessert. Zu hoffen, dass der Aufschwung in Europa eine Stärke entfalten könnte, dass die Auslastung der Stahlindus-trie sich wieder dem Normalbereich nähert, wäre hin-gegen angesichts des mit steigendem Einkommen sin-kenden spezifischen Stahlverbrauchs illusorisch.

LITERATUR

Döhrn, R. (2017), »Die Lage am Stahlmarkt: Nachfrage nach Stahl belebt sich«, RWI-Konjunkturberichte 68(2), 35–44.

Döhrn, R. und K. Krätschell (2014), »Long-term Trends in Steel Consump-tion«, Mineral Economics 27(1), 43–49.

Gieseck. A. (1995), Krisenmanagement in der Stahlindustrie, Schriftenreihe des RWI, N.F. Heft 58, Duncker & Humblot, Berlin.

OECD (2016), Steel Market Developments. Q4 2016. Paris, OECD.

OECD (2017), Steel Market Developments. Q2 2017. Paris, OECD.

Wienert, H. (1984), »Nachfrageschwäche und Staatsintervention – Zur Entwicklung der Stahlkrise seit 1975«. in: RWI (Hrsg.), Stahlkrise – Ist der Staat gefordert, Schriftenreihe des RWI, N.F. Heft 45, Duncker & Humblot, Berlin, 5–14.

Zhang, F. (2017), »Restructuring of the Chinese Steel Industry. Retrospects and Prospects«, Asian Steel Watch 2 (Okt. 2016), 78–87.

6

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Christian Obst

* Christian Obst ist Analyst für Stahl, Metall und Industrials bei der Baader Bank.

Christian Obst*Strukturkrisen in der Stahl­industrie: Versuch einer Einordnung eines andauernden PhänomensDie internationale Stahlindustrie befindet sich seit Jahrzehnten in einer strukturellen Krise. Der Grund sind anhaltende Überkapazitäten. Darüber kann weder die Euphorie der Jahre 2003 bis 2008 noch die aktuell positive Entwicklung hinwegtäuschen. Der-zeit kommen einige positive Faktoren zusammen. Die Nachfrage ist solide, und die Preise steigen. Die Unter-nehmen haben seit 2009 ihre Kosten massiv reduziert und sind mit der Umsetzung weiterer Effizienzpro-gramme beschäftigt. Die Politik hat mittels Zöllen und anderen Handelsbeschränkungen regionale Preissi-los geschaffen. Und es gibt internationale Gespräche, um die Überkapazitäten zu reduzieren.

ÜBERKAPAZITÄTEN SIND WELTWEIT NACH WIE VOR AUF EINEM HISTORISCH HOHEN STAND

Sie werden derzeit auf über 600 Mio. Tonnen geschätzt. Davon liegen laut OECD ungefähr 450 Mio. Tonnen in China. Dies ist und bleibt ein fortdauerndes Damok-lesschwert für den Sektor. Dies gilt trotz der Anstren-gungen der chinesischen Regierung, seine Kapazitäten basierend auf den Zahlen aus dem Jahr 2016 bis 2020 um bis zu 150 Mio. Tonnen zu reduzieren.

Was sind die Fakten? Die weltweit produzierte Stahlmenge, gemessen von Worldsteel, erreichte in den ersten elf Monaten von 2017 mit 1,54 Mrd. Ton-nen einen neuen Rekordwert. Die Produktionsmenge im November lag um 3,7% über der des Vorjahres. Die Kapazitätsauslastung lag bei 70,7%. Dieser Wert impli-ziert eine freie Kapazität von fast 30%. Dies kann man nur als veritable strukturelle Krise bezeichnen. Und dieses Problem wird noch Jahre, wenn nicht Jahr-zehnte, andauern.

ANHALTENDE STRUKTURKRISE: EIN BLICK IN DIE VERGANGENHEIT GIBT HINWEISE AUF DIE PROBLEMATIK DER BRANCHE

Die weltweite Stahlbranche befindet sich mindestens seit den 1970er Jahren in einer solchen Strukturkrise. Der Grund dafür ist das anscheinend sehr tiefliegende Bedürfnis eines jeden sich entwickelnden Staates, eine eigene Stahlversorgung aufzubauen. Stahl ist das men-genmäßig wichtigste Vorprodukt für die Industrie und Infrastruktur aufstrebender Nationen. Zudem sorgt die Stahlindustrie für Beschäftigung, ein politisch immens wichtiger Faktor.

In Europa war die Montanindustrie nach dem Zwei-ten Weltkrieg einer der wichtigsten Arbeitgeber und essenziell für den Wiederaufbau. Nicht umsonst war die Europäische Gemeinschaft für Stahl und Kohle (EGKS) der Nukleus der heutigen Europäischen Union. Kapa-zitäten wurden erweitert, solange die Wachstumspro-gnose intakt war. In Zeiten des Wideraufbaus mach-ten die Unternehmen gute Gewinne. Löhne, Gehälter und Pensionszusagen stiegen jedes Jahr. Die andau-ernde Expansion funktionierte bis Anfang der 1970er Jahre. Dann schwächte sich die Dynamik der Nach-frage ab und mündete in Wachstumsraten nahe am Bruttoinlandsprodukt.

Eine strukturelle Problematik wurde sichtbar. Wachstumsprognosen können von heute auf morgen revidiert werde. Produktionskapazitäten lassen sich nicht so leicht anpassen. Hochöfen werden für einen Betrieb von mehr als 30 Jahren gebaut. Die Folge war eine zu hohe Kapazität für eine sich normalisierende Nachfrage. In den Jahren zwischen 1970 und 2000 kamen in der europäischen Stahlindustrie auf ein gutes zwei bis drei schlechte Jahre. Auch wenn Regie-rungen, meist mit aller Macht, Beschäftigung erhal-ten wollten, die Branche musste sich anpassen. Der Prozess verlief langsam und schmerzhaft. Immer wie-der haben staatliche Hilfen den Niedergang einzelner Werke nicht strukturanpassend begleitet, sondern überflüssige Kapazitäten erhalten.

CHINA MACHTE DIE GLEICHEN FEHLER

Am 11. Dezember 2001 wurde die Volksrepublik China ein offizielles Mitglied in der Welthandelsorganisation (WTO). Dieser Schritt beschleunigte die starke Wachs-tumsdynamik in dem Land nochmals. Die chinesische Regierung hatte denn auch das Ziel einer autarken Pro-duktion von Stahl, Aluminium und Kupfer und anderer Basismaterialien. Sie plante sicher nicht, mit Überka-pazitäten den internationalen Stahlmarkt zu fluten. Zumal Eisenerz in großen Mengen eingeführt werden musste und Energie knapp war. Aber eine stark stei-gende Zahl von Arbeitern sollte an dem neuen wach-senden Wohlstand teilhaben. Daher wurden Kapazitä-ten aufgebaut. Und wieder zeigte sich, dass es unmög-lich ist, den Kapazitätsaufbau in einer Industrie, die für mehr als 30 Jahre investiert, so zu planen, dass eine Verlangsamung der Nachfrage auch nur annäh-rend zeitnah in Produktionsanpassungen abgebildet werden kann. Die Aggregate sind errichtet, Investiti-onen geplant, Menschen eingestellt. Als die einheimi-sche Nachfrage nicht mehr den Planungen entsprach, die Beschäftigung aber weiter gesichert werden sollte, suchten sich große Menge Stahls neue Märkte. Das glei-che Problem wie vor einigen Jahrzehnten in Europa nur in einer weit größeren Dimension. Jetzt steht China für ungefähr die Hälfte der weltweiten Stahlproduktion und die Hälfte des Verbrauches.

Die chinesische Regierung ist sich der aktuellen Problematik wohl bewusst. Und die Umweltbelastung

7

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

durch veraltete Anlagen stellt ein zusätzliches Problem dar. Da die notwendigen Kapazitätsanpassungen aber nicht nur die Stahlindustrie, sondern viele Grundstoff­industrien betreffen, steht die Politik vor der großen Herausforderung, diesen Prozess ohne zu große soziale Verwerfungen zu organisieren. Dieser Prozess, der in Europa fast 30 Jahre gedauert hat, wird in China wahr-scheinlich nicht in fünf Jahren ablaufen, auch wenn die Regierung manche Schritte schneller umsetzen kann. So ist die Ankündigung, bis zu 150 Mio. Tonnen aus dem Markt zu nehmen, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber es kann nur ein erster Schritt sein.

INDIEN WIRD ES NICHT VIEL ANDERS MACHEN

Auch die indische Regierung kommt nicht auf die Idee, den prognostizierten Stahlbedarf mittels der schon aktuell bestehenden weltweiten Kapazitäten zu decken. Viel zu groß ist die Unsicherheit bezüglich einer ausreichenden langfristigen Versorgung. Stahl ist ein Gut, das primär in einem Umkreis von einigen hun-dert Kilometern um den Produktionsort verkauft und verarbeitet wird. Die Angst vor einer zu großen Abhän-gigkeit von unberechenbaren Zulieferern in diesem ele-mentaren Sektor mag ein anderer Punkt sein. Derzei-tige Planungen sehen vor, die aktuelle Kapazität von ungefähr 125 Mio. Tonnen über 150 Mio. Tonnen 2020 auf 300 Mio. Tonnen im Jahr 2030 zu erhöhen. Die regu-latorischen und bürokratischen Rahmenbedingungen mögen anders sein als in Europa oder China, das Prin-zip bleibt dasselbe.

INTERNATIONALE PREISBILDUNG

Stahl ist zwar ein Produkt, das primär regional verkauft wird, Preise bilden sich jedoch international. Stahlpro-duzenten haben keinen oder nur einen sehr geringen Einfluss auf die Entwicklung von Stahlpreisen. Der Preis ist ergibt sich primär aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Allerdings gewannen in den vergange-nen Jahren wieder regulatorische Eingriffe, die diesen Preismechanismus mittels Zöllen und Tarifen einheg-ten, zunehmende Bedeutung. Wenn man von diesen staatlichen Regulierungen absieht, kann ein Unter-nehmen nur mittels einer attraktiven Nischenpoli-tik, wie zum Beispiel voestalpine, eine Zusatzrendite erwirtschaften.

WIE HOCH IST DIE MACHT EINZELNER PRODUZENTEN?

Verdrängungswettbewerb bezeichnet die Tendenz marktbeherrschender Unternehmen und von Oligopo-len, schwächere Konkurrenten vom Markt zu verdrän-gen. Die Strategie eines marktbeherrschenden Unter-nehmens in einem Verdrängungswettbewerb kann darin bestehen, durch eine Preispolitik unter Kosten (Dumping) den Marktzutritt anderer Wettbewerber zu verhindern oder die Teilnahme am Wettbewerb zu

erschweren. Aber gibt es überhaupt eine marktbeherr-schende Stellung auf dem internationalen Stahlmarkt? 2016 wurden laut Worldsteel 1,63 Mrd. Tonnen Stahl produziert. Dies entspricht einer Verdoppelung seit dem Jahr 2000. Diese dynamische Entwicklung hat ihre Ursachen fast ausschließlich in China. Der chinesische Anteil an der weltweiten Produktion stieg in dieser Zeit von knapp 15% auf fast 50%. Der weltgrößte Herstel-ler, ArcelorMittal, trägt dazu knapp 100 Mio. Tonnen bei. Die beiden folgenden Unternehmen produzierten 64 Millionen und 46 Mio. Tonnen. Definiert man den Stahlmarkt als Weltmarkt, ist selbst ArcelorMittal mit einem Marktanteil von knapp 6% meilenweit von einer marktbeherrschen Stellung entfernt. Natürlich hat ArcelorMittal in bestimmten Regionen bei bestimmten Produkten eine gute bis sehr gute Marktposition. Dies veranlasst dann auch die EU­Wettbewerbsbehörde, die Übernahme von Ilva genauer zu prüfen. Sie hat eine tiefergehende Prüfung der Übernahme des größten in­ tegrierten Stahlwerkes in Italien durch ein Konsortium unter der Führung von ArcelorMittal veranlasst. Unter anderem wurde angemahnt, dass die europäischen stahlnutzenden Industrien Zugang zu Stahl zu wett-bewerbsfähigen Preisen haben, um selbst im interna-tionalen Wettbewerb bestehen zu können. Dies zeigt, dass es zwar eine internationale Preisbildung gibt, die meisten wichtigen Entscheidungen aber mit einer regi-onalen Brille getroffen werden.

GIBT ES WEGE AUS DER STRUKTURKRISE?

Staaten könnten die Reduzierung von staatlich kontrol-lierten Kapazitäten veranlassen beziehungsweise den Abbau privater Kapazitäten unterstützen. Beides wird immer wieder versucht. Allerdings stehen dem der ver-ständliche Versuch des Erhalts möglichst vieler Arbeits-plätze sowie die primäre Sicht auf die eigene Region häufig im Weg. Rein privatwirtschaftliche Übernah-men könnten schneller umgesetzt werden. Aber auch die privaten Unternehmen können politischen Rege-lungen wie die Fusionskontrollen und den Einfluss von Gewerkschaften nicht ignorieren. Dies führt dazu, dass auch diese Prozesse sehr lange dauern.

In Europa wurde seit den 1970er Jahren ein Groß-teil der Industrie privatisiert, Unternehmen schlossen sich zusammen und Kapazitäten wurden geschlos-sen. Der spektakulärste Konsolidierungsschritt war 2002 der Zusammenschluss der spanischen Aceralia, der französischen Usinor und Arbed aus Luxemburg zu Arcelor. Die europäische Industrie war auf einem guten Weg, ihre Kapazitäten an die Nachfrage anzupassen. Und weitere Schritte waren in Planung. 2002 hatte das Arcelor Management den Plan einer Konzentration auf für sechs logistisch optimale Standorte in Küstennähe ausgearbeitet. Der vermeintlich lang anhaltendende Nachfragesog aus China und die Übernahme durch Mit-tal verhinderten eine entsprechende Umsetzung.

2001 trat dann China der WTO bei, und die schon hohe Wachstumsdynamik in dem Land erfuhr einen

8

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

weiteren Schub. Die erst skeptischen Unternehmens-lenker freuten sich zwischen 2003 und 2008 über eine Zeit stark steigender Gewinne, die sie so seit 30 Jahren nicht mehr erlebt hatten. Und sie erlagen schließlich, zumindest teilweise, den steigenden Wachstumspro-gnosen. Die resultierten nicht nur darin, dass bereits geplante Strukturanpassungen verschoben wurden (Arcelor), sondern auch in dem Aufbau neuer Werke (ThyssenKrupp). Sie wollten sich ihren Teil an dem ver-meintlich Jahrzehnte währenden Wachstum sichern. Das Resultat waren hohe Verluste, als sich die Wachs-tumserwartungen nicht erfüllten.

Über zehn Jahre später hat die Ankündigung der Übernahme der italienischen Ilva durch ein Konsor-tium unter Führung von ArcelorMittal sowie die ange-kündigte Fusion von Thyssenkrupp Steel Europe und Tata Steel Europe neue Bewegung in den europäischen Stahlmarkt gebracht. Sowohl Ilva als auch Tata sind immer mal wieder mit einer aggressiven Preispolitik aufgefallen. Zuletzt waren die Preise in Italien unge-wöhnlich stabil.

China plant bis 2025 60% der Kapazitäten unter dem Dach von zehn Herstellern zu konzentrieren und ist in einem schmerzhaften Prozess, seine Kapazitäten zu reduzieren und zu modernisieren. Dennoch hat die Produktion 2017 wieder ein Rekordniveau erreicht.

DER EUROPÄISCHE STAHLMARKT IST WIEDER IN BEWEGUNG

Die europäischen Kartellbehörden müssen sich mit die-sen zwei Zusammenschlüssen auf dem europäischen Stahlmarkt beschäftigen. Die Transaktionen vollzie-hen sich in einer Zeit, in der die Rahmenbedingungen für die Stahlindustrie gut sind. Man könnte auf die Idee kommen, dass alles gut ist, wie es ist. Die Erwartung für das Wirtschaftswachstum in Nordamerika, Asien und Europa ist eine Verstetigung, nach einem erfolg-reichen Jahr 2017. Stahlpreise in allen Regionen haben mehrjährige Höchststände erreicht. Neben den guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben Import-zölle und einige Kapazitätsanpassungen die positive Lage unterstützt. Dennoch erscheint es angesichts der skizzierten Historie und den Konsolidierungsschritten in anderen Regionen sinnvoll, dass sich die europäi-sche Stahlindustrie weiter konsolidiert. Auch wenn die Umsetzung lange dauert. Auch wenn ihre Preismacht begrenzt bleibt, sind größere Einheiten eher in der Lage, anstehende Investitionen zu finanzieren. Dies gilt für Technologien, die weniger Energie brauchen, weni-ger CO2 emittieren und verbesserte Stahlqualitäten ermöglichen. Ob die EU­Behörden dieser Sicht folgen oder eher eine engere Europa zentrierte Sichtweise, muss sich noch zeigen.

Im September 2016 verkündete Thyssenkrupp die Unterzeichnung einer Grundsatzvereinbarung mit Tata zur geplanten Fusion von Thyssenkrupp Steel Europe mit Tata Steel Europe. Heinrich Hiesin-ger hat 2011 den Posten des CEO bei Thyssenkrupp

eingenommen. Schnell hat er deutlich gemacht, in welche Richtung er den Konzern entwickeln möchte. Ziel ist ein Unternehmen, das sich auf Investitionsgü-ter konzentriert. Seitdem wurde darüber spekuliert, welche Lösung Thyssenkrupp für Steel Europe vorle-gen würde. Anfang 2018 soll jetzt der Vertrag zur Bil-dung eines Joint Ventures unterzeichnet werden. Die notwendigen Genehmigungen werden im Verlauf des Jahres erwartet. In der Veröffentlichung von Thyssen-krupp vom 20. September heißt es: »Ein Joint Venture mit Tata ist die einzige Option, die die strukturellen Überkapazitäten in der europäischen Stahlindustrie adressiert.« Der mühsame Umbau des Konzerns befin-det sich jetzt im siebten Jahr. Um die Zustimmung der Gewerkschaften zu dem Joint Venture zu bekommen, wurden Zusicherungen gemacht, die in das Jahr 2026 reichen. Es sind dann 15 Jahre vergangen seit die Ent-scheidung fiel, sich auf Industriegüter zu konzentrie-ren. Auch dies zeigt wie langwierig strukturelle Verän-derungen in dieser Industrie sind.

ArcelorMittal möchte Ilva übernehmen. Ilva ist der größte integrierte Stahlproduzent in Italien. Arce-lorMittal, der weltweite und europäische Marktführer, verfügt derzeit über keine Produktionsstätte in dem zweigrößten europäischen Stahlverbrauchsmarkt. Unter anderem aufgrund der kommerziellen, qualita-tiven und umwelttechnischen Probleme von Ilva muss Italien über 60% seines Stahls importieren. Arcelor-Mittal ist der führende Stahlproduzent in Europa und wird seine Marktstellung mit der Übernahme weiter ausbauen.

9

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

André Küster Simic

Malte Knigge

* Prof. Dr. André Küster Simic ist Professor für Allgemeine Betriebs-wirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Unternehmensrechnung an der HSBA Hamburg School of Business Administration. Darüber hinaus ist er Geschäftsführer und Gesellschafter der Q&A Unterneh-mensberatungs GmbH sowie der Q&A Banner Küster Unternehmens-beratung GmbH.** Malte Knigge ist Mitarbeiter der Q&A Banner Küster Unterneh-mensberatung GmbH.

André Küster Simic* und Malte Knigge**Der Stahlmarkt: Eine diffe­renzierte Sichtweise auf Überkapazitäten – Konsoli­dierung durch Unterneh­menszusammenschlüsse als Zukunftschance?STRUKTURKRISE: ENTWICKLUNG STAHL-ANGEBOT UND -NACHFRAGE – DIFFERENZIERTE BETRACHTUNG VON ÜBERKAPAZITÄTEN

Die Kapazität der globalen Stahlerzeugung hat sich seit den frühen 2000er Jahren stark erhöht. Vorausge-schickt sei, dass es unterschiedliche Angaben zu Kapa-zitäten je nach verwendeter Quelle gibt und somit die Aussagen zur absoluten Überkapazität und Auslas-tung mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind. Zu Beginn des Jahrtausends standen nominale Kapa-zitäten zur jährlichen Produktion von rund 1 050 Mio. t Rohstahl zur Verfügung (vgl. OECD 2017, S. 8). Diese haben sich bis zum Jahr 2016 auf rund 2 390 Mio. t mehr als verdoppelt. Die Kapazitätserweiterungen haben nahezu ausschließlich in den punktuell rasant wachsenden Volkswirtschaften der Nicht-OECD-Län-der stattgefunden.

Die weltweiten Kapazitäten zur Stahlproduktion waren 2016 mit etwa 70% ausgelastet. Somit sind welt-weit technisch höhere Kapazitäten und somit ein höhe-res potenzielles Angebot als Nachfrage zu beobachten. Allerdings verteilen sich diese Überkapazitäten absolut und prozentual regional sehr unterschiedlich. Die Aus-lastung in China belief sich 2016 auf knapp 70% und die Überkapazitäten auf etwa 360 Mio. t. Die in China zu beobachtenden Überkapazitäten machen damit abso-lut gesehen überschlägig 47% des weltweiten Ange-botsüberhangs aus.

Der technische Kapazitätsüberhang in Deutsch-land lag im Jahr 2016 bei rd. 7 Mio. t bzw. ca. 14%. Die relative Auslastung der deutschen Stahlindustrie liegt aktuell mit rund 84% etwa auf Höhe des Durchschnitts-wertes der Nachkrisenjahre und ist damit im internatio-nalen Vergleich relativ hoch. In Europa (EU 28 und Tür-kei) standen 2016 Kapazitäten von rd. 270 Mio. t einer Rohstahlproduktion von 195 Mio. t gegenüber, was Überkapazitäten von rd. 75 Mio. t sowie einer Auslas-tung von 72% entspricht.

Überschüssige Kapazitäten scheinen aus dieser Perspektive also eher ein weltweites, insbesondere chinesisches, als ein deutsches Problem zu sein. Bei

der Interpretation der globalen Kapazitätsüberhänge ist jedoch zu beachten, dass diese zwei verschiedene Ursachen haben können: Strukturelle Überkapazitäten oder Nachfrageschwäche. Ursächlich für eine mögli-che Nachfrageschwäche im europäischen Wirtschafts-raum könnte bspw. eine restriktive Fiskalpolitik sein (vgl. bspw. HBS 2012 oder Lindner 2014). Außerhalb Deutschlands sind in Europa weiterhin noch veraltete, nicht nachhaltige Kapazitäten vorhanden. Staatliche Interventionen können jedoch deren Marktaustritt potenziell verzögern (vgl. UBS 2014)

Zu Beginn des Jahres 2016 wurde in China die poli-tische Entscheidung getroffen, die jährliche Produk-tionsleistung der Stahlindustrie um 100 bis 150 Mio. Tonnen zu senken. Bisher ist ein positiver Effekt dieser angekündigten Kapazitätsreduktionen jedoch ausge- blieben. Auch beim Ende November 2017 in Berlin statt-gefundenen internationalen »Stahlgipfel«, bei dem es maßgeblich um den koordinierten Abbau von Über-kapazitäten ging, wurden keine verbindlichen Ver-einbarungen diesbezüglich getroffen. In Anbetracht des allein in China bestehenden Angebotsüberschus-ses könnte eine dortige Reduzierung der Kapazitäten im angekündigten Umfang ohnehin nur einen ersten Schritt hin zu einem ausgeglichenen Markt sein (vgl. Bloomberg 2016). Hinzu kommt auch, dass den geplan-ten Kapazitätsreduktionen zukünftig wohl eine vermin-derte oder nur geringfügig wachsende Binnennach-frage in China gegenübersteht. Der Nettoeffekt aus Kapazitätsreduktionen und niedrigerem inländischen Absatz ist im Hinblick auf zukünftige Exportvolumina deshalb vermutlich gering.

ZWISCHENFAZIT: ÜBERKAPAZITÄTEN JA, ABER REGIONAL DIFFERENZIERT

Technische Angebotsüberhänge im Bereich Rohstahl sind auf globaler Ebene zu verzeichnen, insbesondere gilt dies für China aufgrund des massiven Kapazitäts-aufbaus in der Vergangenheit. Aktuell liegen die chine-sischen technischen Überkapazitäten mindestens auf dem Niveau der kombinierten gesamteuropäischen Stahlnachfragen. Da den sich anbahnenden Kapazi-tätsreduktionen in China mutmaßlich eine zukünftig niedrigere Binnennachfrage gegenübersteht, ist auch weiterhin von hohen chinesischen Exporten auszuge-hen. In Europa ist ein differenziertes Bild zu beobach-ten. Das Auslastungsniveau liegt in Deutschland bei 85% bis knapp unter 90% (kein Angebotsüberhang), in Europa jedoch unter 80%.

Für die EU 28 ist die technische Kapazität aktuell größer als die Nachfrage. Allein aus dieser Beobach-tung ist jedoch nicht zwingend ableitbar, dass einsei-tig Überkapazitäten vorliegen und somit ein Konso-lidierungsdruck auf der Angebotsseite besteht. Eine strukturelle Nachfrageschwäche gepaart mit teilweise nicht nachhaltigen innereuropäischen Kapazitäten sind ebenso als Erklärungsansätze neben vorhandener Überkapazitäten in der EU heranzuziehen. Diese volks-

10

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

wirtschaftlichen Erklärungsansätze könnten aller-dings nur Hilfestellung für staatliche Wirtschaftspoli-tik geben und helfen den Firmenlenkern in der aktu-ellen Entscheidungsfindung nicht weiter. Ob Fusionen ein probates Managementmittel sind, wird später zu beleuchten sein.

VERDRÄNGUNGSWETTBEWERB IN DER STAHLBRANCHE

In der Stahlindustrie gibt es in der Tat Phasen intensi-ven Wettbewerbs über Preise. Insbesondere in qualita-tiv nicht so entwickelten Stahlgüten erscheint eine Dif-ferenzierung über das Produkt oder den Service nicht oder nur schwierig möglich. Das begünstigt den inten-siven Preiswettbewerb. Hinzu kommt die stärkere Kon-zentration auf Anbieterseite, die auch einen »ruinösen« Preis- und Verdrängungswettbewerb befördern kann.

WETTBEWERBSNEUTRALE UND STABILE RAHMENBEDINGUNGEN

Ein weiterer Punkt soll aber im Verdrängungswettbe-werb beleuchtet werden. Wettbewerbsneutrale und stabile Rahmenbedingungen sind für notwendige Investitionen und den Erhalt von Beschäftigung in der Stahlindustrie erforderlich. Dies gilt insbesondere, da die deutsche/europäische Stahlindustrie über Importe im starken internationalen Wettbewerb steht. Auch wenn Systeme zur Beförderung der Nachhaltigkeit öko-nomisch und ökologisch nachvollziehbar sind, dürfen diese nicht die Wettbewerbsneutralität und Berechen-barkeit der Rahmenbedingungen für die ansässigen Unternehmen im globalen Vergleich gefährden.

Die Ausgestaltung des EU-Emissionshandelssys-tems muss hier hinterfragt werden, ebenso wie Stah-limporte in die Europäische Union, die möglicherweise zu Dumpingpreisen verkauft werden. Ein Verdrän-gungswettbewerb muss auf Basis wettbewerbsneutra-ler Rahmenbedingungen geführt werden.

KONSOLIDIERUNGSSTRATEGIE IN FORM VON FUSIONEN ALS ZUKUNFTSCHANCE?

In der öffentlichen Debatte hinsichtlich der Zukunfts­chancen der deutschen (und europäischen) Stahlin-dustrie nimmt der Konsolidierungsgedanke im Sinne von Unternehmenszusammenschlüssen eine zuneh-mende Rolle ein (vgl. z.B. Handelsblatt 2016). Zuletzt machte der Thyssenkrupp-Konzern mit der Ankündi-gung Schlagzeilen, sein europäisches Stahlgeschäft mit den Flachstahlaktivitäten von Tata Steel Europe fusionieren zu wollen. Als Beweggründe für eine hori-zontale Konsolidierung im Stahlmarkt werden u.a. Synergiepotenziale bspw. durch Fixkostenreduktion sowie Möglichkeiten zur Kapazitätsreduktion genannt, um somit in einem wettbewerblichen Umfeld die Nase vorn zu haben. Grundsätzlich können im Rahmen von Fusionen Synergien identifiziert und gehoben werden,

so dass dieses Argument nicht einfach von der Hand zu weisen ist.

Es sollten unseres Erachtens jedoch auch Argu-mente, die möglicherweise einer Konsolidierung als strategischer Handlungsoption für die Stahlindus-trie entgegenstehen könnten, bedacht und gewürdigt werden:

– Konsolidierung zur Kapazitätsreduktion ist zu über-denken: Die aktuelle Situation im weltweiten Stahl-markt stellt sich wie folgt dar: In Deutschland herrscht ein prinzipiell vergleichsweise hohes Aus-lastungsniveau, wenn sich auch ein differenziertes Bild nach Unternehmen und Verarbeitungsstufen zeigt. Im Gegensatz hierzu belasten massive Über-kapazitäten den chinesischen Stahlmarkt, die absolut gesehen größer sind als die gesamte Stahl-produktion in Europa. Diese Kapazitätsprobleme werden aktuell auch in die deutsche und europä-ische Stahlindustrie importiert. Diese Herausfor-derung dürfte durch Fusionen nicht gelöst werden.

– Konsolidierungen zur Hebung von Synergiepoten-zialen sind sorgfältig zu analysieren: Viele Fusio-nen scheinen zu scheitern. So gehen viele Quellen davon aus, dass der überwiegende Anteil der Unter-nehmenszusammenschlüsse (einige Quellen gehen von bis zu 70% aus) scheitern (vgl. Bauch 2004; McKinsey 2010). Grund hierfür sind im Wesentlichen überschätzte rechnerische Synergien und unter-schätzte Integrationsprobleme, beispielweise auf-grund von kollidierenden Unternehmenskulturen (vgl. Roland Berger 2015, S. 4). Rechnerische Syn-ergien müssen somit hinterfragt werden und kön-nen möglicherweise bei nicht sorgfältiger Analyse und Umsetzung eine wacklige Entscheidungsbasis für die strategische Ausrichtung eines Unterneh-mens sein.

ALTERNATIVEN ZUR KONSOLIDIERUNGSSTRATEGIE

Ein Preiswettbewerb kann zu ruinösem Unterbietungs-verhalten in einer Industrie führen. Aus Sicht der euro-päischen Stahlindustrie kommt hier erschwerend hinzu, dass die kostenseitigen Wettbewerbsbedingun-gen im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich sind. Hier sind Staat, Europäische Union und Unterneh-men gleichermaßen gefordert.

Staatliche Institutionen sollten ordnungspolitisch wettbewerbsneutrale Rahmenbedingungen im Blick haben. Die Unternehmen sollten Fusionen sorgfältig abwägen und ergänzend oder alternativ über weitere Konzepte nachdenken.

Zur Vermeidung von preisgetriebenen Wettbe-werbssituationen erscheint eine innovationsbasierte Differenzierungsstrategie als eine zweckmäßige Hand-lungsalternative. Produktionsseitig sind die Rahmen-bedingungen für eine solche Strategie durch hochmo-derne Produktionsanlagen am Standort Deutschland wohl gegeben. Weiterhin dürften Vorteile bei der Inte-

11

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

gration mit Kunden im Hinblick auf Logistik, aber auch Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung beste-hen. Hier gibt es etablierte Wertschöpfungsketten in Europa und Deutschland, die es zu pflegen und auszu-bauen gilt.

GESELLSCHAFTLICHE WAHRNEHMUNG DES »WERKSTOFFS STAHL«

Für die Entwicklung der Stahlbranche sei noch ein wei-terer wichtiger Punkt beleuchtet. Der Werkstoff Stahl steht bislang nicht im Zentrum der gesellschaftlichen Wahrnehmung und hat allenfalls den Status eines Mau-erblümchens. Gleichsam prägen die Bilder des »Stahl-kochers« und der »schmutzigen Schwerindus trie« den öffentlichen Eindruck der Stahlproduktion. Im Kontrast hierzu steht das hochwertige und technolo-gisch anspruchsvolle Ergebnis der Stahlproduktion in Deutschland. Aus diesem Grund ist aus Sicht der Stahl-industrie, eine Wahrnehmungsinitiative anzustoßen (bzw. die laufenden Maßnahmen sind zu forcieren), die die folgenden Punkte hervorhebt:

– Stahl als unverzichtbarer Werkstoff des täglichen Lebens: Die Produkte der Stahlindustrie werden auch in Zukunft in allen Bereichen des alltäglichen Lebens gebraucht.

– Stahl als Basis für Beschäftigung und Wohlstand in Deutschland: Stahl steht am Beginn der Wertschöp-fung bedeutender Industrien in Deutschland, wie beispielsweise des Fahrzeug- und Maschinen-baus. Die Stahlproduktion ist somit elementarer Bestandteil industrieller Wertschöpfungsketten.

– Stahl als nachhaltiger Werkstoff: Stahl ist, in der in Deutschland produzierten Form, ein hochgradig nachhaltiger Werkstoff.

LITERATUR

Bauch, C. (2004), Planung und Steuerung der Post Merger-Integration, Gabler, Wiesbaden.

Bloomberg (2016), »China‘s Steelmakers Rise After Premier Li Vows Capacity Cuts«, verfügbar unter: http://www.bloomberg.com/news/articles/2016-01-25/china-s-steelmakers-rise-after-premier-li-vows-capa-city-cuts, aufgerufen am 11. Januar 2018.

Handelsblatt (2016), »Stahlbranche in der Krise: Konsolidierung kommt – nur wann?«, verfügbar unter: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/stahlbranche-in-der-krise-konsolidie-rung-kommt-nur-wann/13391332.html, aufgerufen am 11. Januar 2018.

HBS – Hans-Böckler-Stiftung (2012), »Europas Sparpolitik: Teufelskreis statt Befreiungsschlag«, Böckler Impuls (6), verfügbar unter: https://www.boeckler.de/39304_39316.htm.

Lindner, F. (2014), Privater Investitionsstau in Deutschland?, IKM Report 96, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Düsseldorf, verfüg-bar unter: https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_96_2014.pdf.

McKinsey & Co. (2010), »Perspectives on merger integration«, verfügbar unter: http://www.mckinsey.com/client_service/organization/latest_thin-king/~/media/1002A11EEA4045899124B917EAC7404C.ashx, aufgerufen am 11. Januar 2018.

OECD Directorate for Science, Technology and Innovation, Steel Com-mittee (Hrsg.), Capacity Developments in the World Steel Industry »DSTI/SC(2017)2/FINAL«, OECD, Paris, verfügbar unter: http://www.oecd.org/industry/ind/CapacityDevelopmentsWorldSteelIndustry_FINAL.pdf, auf-gerufen am 11. Januar 2018.

Roland Berger (2015), »Post-Merger Integration«, verfügbar unter: https://www.rolandberger.com/de/Publications/pub_post_merger_integration.html, aufgerufen am 11. Januar 2018.

UBS (2014), European Steel Market Update, in: Global Research Series.

World Steel Association (Hrsg.), Steel Statistical Yearbook 2017, Brüssel, verfügbar unter: https://www.worldsteel.org/en/dam/jcr:3e275c73-6f11-4e7f-a5d8-23d9bc5c508f/Steel+Statistical+Yearbook+2017.pdf, aufgerufen am 11. Januar 2018.

12

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Hans Jürgen Kerkhoff

* Hans Jürgen Kerkhoff ist Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl.

Hans Jürgen Kerkhoff* Die EU­Stahlindustrie – Vorreiter der KonsolidierungDIE GLOBALE STAHLINDUSTRIE STEHT VOR GROSSEN HERAUSFORDERUNGEN

Die strukturellen Verwerfungen auf den globalen Stahl-märkten bilden den Hintergrund aktueller Veränderun-gen in der europäischen Unternehmenslandschaft. Der Weltstahlmarkt ist durch Überkapazitäten in einer Grö-ßenordnung von mehreren hundert Millionen Tonnen belastet, rund 60% davon allein in China. Unfaire Han-delspraktiken wie Dumping breiten sich zunehmend auf den internationalen Stahlmärkten aus. Zudem wird der internationale Wettbewerb beim Stahl durch eine Vielzahl von tarifären und nichttarifären Handels-hemmnissen verzerrt. Mit dem handelspolitischen Kurswechsel der neuen US-Administration droht sich dieser Trend weiter zu verfestigen.

Die Ursachen für die globale Kapazitätsproblema-tik liegen insbesondere auf der Angebotsseite. Zwar hat sich in den letzten Jahren auch das Wachstum des weltweiten Stahlbedarfs abgeschwächt, nachdem der chinesische Stahlmarkt inzwischen seinen Sättigungs-punkt überschritten hat. Eine wesentlich größere Rolle für das Entstehen und Beharren der aktuellen Ungleichgewichte spielen jedoch staatliche Subventi-onen und Unterstützungsmaßnahmen in den verschie-denen Ländern, die marktwirtschaftliche Anpassungs-prozesse im globalen Stahlmarkt zu einem erheblichen Teil außer Kraft gesetzt haben. Insbesondere in den Schwellenländern und zuvorderst in China wurden in den vergangenen 20 Jahren mit staatlicher Unterstüt-zung Stahlkapazitäten ausgebaut, die weit über den heimischen Bedarf hinausgehen. Zudem werden in vie-len Ländern unrentable und nicht konkurrenzfähige Kapazitäten am Leben gehalten. Der mit persistenten Überkapazitäten am globalen Stahlmarkt verbundene erhöhte internationale Wettbewerbsdruck gefähr-det auch die wettbewerbsstarken Stahlstandorte und setzt sie unter Anpassungsdruck.

DAS THEMA ÜBERKAPAZITÄTEN IST FÜR DIE EU STAHLINDUSTRIE NICHT NEU

Es hat in der Geschichte der Stahlindustrie immer Pha-sen gegeben, in denen Überkapazitäten entstanden und durch staatliche Subventionen am Leben gehalten wurden. Gerade die Erfahrungen der EU-Stahlindustrie können Hinweise darauf geben, wie diesem Problem entgegengetreten werden kann und welche Fehler zu vermeiden sind. Trotz eines grundsätzlichen Subventi-onsverbots flossen zwischen 1975 und 1995 nach heu-tigen Preisen rund 100 Mrd. Euro an nationalen Beihil-fen an europäische Stahlunternehmen. Gegenmaßnah-

men als Folge struktureller Nachfrageverschiebungen nach den Ölkrisen wurden erst mit erheblichen zeitli-chen Verzögerungen ergriffen. Insgesamt dauerte es nahezu 20 Jahre, bis die Überkapazitäten in Europa beseitigt wurden. Eine umfassende Neuordnung der europäischen Stahllandschaft setzte erst Mitte der 1990er Jahre ein, nachdem Unternehmen privatisiert und ein effektives Beihilfeverbot eingeführt worden war.

Die europäische Stahlindustrie hat ihre Lehren aus den Stahlkrisen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre gezogen. Dazu zählt, dass marktwirtschaftliche Anpas-sungsprozessen gegenüber staatlich gelenkter Re-strukturierung mehr Vertrauen entgegenzubringen ist. In einer Marktwirtschaft ist Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen ein ständiger Prozess, der von den Unternehmen jeweils individuell und im Wettbe-werb vorgenommen wird. Staatlich gelenkte Prozesse tendieren hingegen dazu, dass sich temporäre Kapazi-tätsüberhänge zu persistenten Überkapazitäten entwi-ckeln und Anpassungskosten dadurch erhöht werden.

Auch aufgrund der Schlussfolgerungen aus den Stahlkrisen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre wurde in der EU wesentlich frühzeitiger auf die Nach-frageverwerfungen im Gefolge der großen Rezession von 2009 reagiert als in anderen Regionen. In Summe sank in der EU die Rohstahlkapazität zwischen 2010 und 2016 um rund 17 Mio. Tonnen, während sie etwa in China im gleichen Zeitraum um rund 360 Mio. Tonnen zulegte. Insgesamt kann die EU heute mit Recht als ein Vorreiter der Konsolidierung im Stahlbereich bezeich-net werden. Privatisierung und ein besonders strenges Beihilferegime für die Branche waren und sind die ent-scheidenden Erfolgsfaktoren.

CHINA HAT ERHEBLICHEN NACHHOLBEDARF ZUR KONSOLIDIERUNG SEINER STAHLINDUSTRIE

Die chinesische Stahlindustrie ist durch massiven Staatseinfluss und erhebliche Marktverzerrungen gekennzeichnet. Zwar hat die Regierung inzwischen erste Schritte in Richtung eines Abbaus der gewalti-gen Überkapazitäten begonnen. Allerdings liegen die Überhänge im Reich der Mitte immer noch bei knapp 300 Mio. Tonnen Rohstahl. Die chinesische Kapazi-tätsproblematik ist damit noch weit von einer Lösung entfernt.

Zudem steht der Konsolidierungsprozess in der chinesischen Stahlindustrie erst am Anfang. Die bishe-rigen Bemühungen der Regierungsbehörden um eine staatlich gelenkte Konsolidierung, die die Gründung mehrerer Großkonzerne durch Fusionen und Übernah-men sowie die Schließung maroder unrentabler Firmen vorsieht, scheiterte bislang oftmals auch an den star-ken politischen Widerständen der einzelnen Provinz-regierungen. Die stark expandierende Wirtschaft Chinas und die damit verbundene deutlich gestiegene Stahlnachfrage haben in der Vergangenheit zu einer anhaltenden Errichtung neuer Kapazitäten geführt. Da

13

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

die Expansion überwiegend von kleinen und mittleren Gesellschaften sowie durch die Gründung neuer Stahl-gesellschaften realisiert wurde, ist der Marktanteil der zehn führenden chinesischen Stahlproduzenten in den vergangenen Jahren gesunken. Dieser lag trotz einer weiteren im Dezember 2016 erfolgten Fusion von Baoshan und Wuhan zum größten Stahlkonzern Baowu Steel Group, im Jahr 2016 nur bei rund 36% der Lan-deserzeugung und damit sogar um 5 Prozentpunkte unter dem Wert von 2000. Vom Ziel, bis 2025 mindes-tens 60% der inländischen Rohstahlerzeugung auf zehn große Stahlkonzerne zu konzentrieren, ist die chinesi-sche Stahlindustrie noch weit entfernt.

In der chinesischen Industrie- und Außenhandels-politik ist weiterhin kein grundsätzlicher Kurswechsel zu erkennen. So ist das Wirtschaftssystem nach wie vor inkompatibel mit denen anderer wichtiger Wirtschafts-regionen. Zudem hat das Land seine teilweise unfairen Handelspraktiken nicht aufgegeben und betreibt wei-ter eine selektive Industriepolitik, die den internati-onalen Wettbewerb verzerrt. Dies zeigen die nachfol-genden Aspekte: Die Zahl der weltweit gegen China in Kraft befindlichen Handelsschutzmaßnahmen sind ein Beleg dafür, dass das Land unfair auf den Märkten agiert und sich mit unerlaubten Mitteln (Dumping, Sub-ventionen) Marktanteile verschafft. Allein zwei Drittel der weltweit bestehenden Maßnahmen richten sich dabei gegen China. Die Marktverzerrungen bei Rohstof-fen und Stahl sind besonders ausgeprägt. Bei der Aus-wertung der Handels- und Investitionshindernisse in der EU belegt China einen der vorderen Ränge.

LÖSUNG DER GLOBALEN STRUKTURKRISE BRAUCHT INTERNATIONALE KOOPERATION UND EINE KONSEQUENTE ANWENDUNG VON HANDELSSCHUTZINSTRUMENTEN

Waren frühere Stahlkrisen lokal bzw. auf einzelne Regionen beschränkt, sind sie heute globaler Natur und brauchen daher auch einen globalen Ansatz, der an den Ursachen der Strukturkrise, d.h. an markt-verzerrenden staatlichen Unterstützungsmaßnah-men, ansetzt. Mit dem 2016 im Rahmen der G-20-Tref-fen aus etwa 30 Staaten gebildeten »Global Forum

on Steel Excess Capacity«‚ ein Gremium, das explizit zum Ziel hat, durch einen verbesserten Informations- austausch zwischen den Politikern und die Einigung auf gemeinsame Kernprinzipien marktwirtschaftli-cher Anpassungsprozesse im Stahlbereich zu stärken und damit Überkapazitäten abzubauen. Ende Novem-ber des vergangenen Jahres haben die beteiligten Län-der – am letzten Tag der deutschen G-20-Präsident-schaft – einen Bericht veröffentlicht und damit erst-mals ein gemeinsames Verständnis zur Bewältigung der globalen Stahlstrukturkrise entwickelt. Zu den bedeutenden Kernaussagen dieses Berichts gehört das klare Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen Anpas-sungsprozessen, einem umfassenden Subventions- abbau, der auch solche Stützungsmaßnahmen umfasst, die im Rahmen der WTO-Regeln nicht adres-siert werden können, sowie die Einigung auf einen Monitoringprozess, im Rahmen dessen überwacht werden kann, inwieweit die Handlungsempfehlun-gen des Forums von den Mitgliedsländern umgesetzt werden.

Solche politischen Prozesse können jedoch nur auf lange Sicht ihre Wirkung entfalten. Zudem bleibt abzuwarten, ob die Absichtserklärungen der Länder, wie sie im Rahmen des Globalen Stahlforums zuletzt geäußert wurden, eine Bindungswirkung entfalten können. Unklar ist vor allem, inwieweit China sich von den vereinbarten Kernprinzipien leiten lassen wird und beginnt, die vielfältigen Stützungsprogramme für die heimische Industrie abzubauen. Solange jedoch der Wettbewerb auf den internationalen Märkten verzerrt ist, sind Handelsschutzinstrumente wie Antidumping- oder Antisubventionsmaßnahmen als Korrektiv für die Europäische Union unverzichtbar. Die Schutzmaß-nahmen müssen im Einklang mit den Regeln der WTO ausgerichtet sein, dafür aber konsequent und effek-tiv angewendet werden. Ohne eine solche handels-politische Absicherung können sich marktwirtschaft-liche Anpassungsprozesse auf einem globalen Markt nicht wie gewünscht entfalten. Für die EU wären sie insbesondere mit der Gefahr verbunden, dass eigene Anstrengungen zu Veränderungen durch eine anschlie-ßende Zunahme unfairer Einfuhren rasch aufgezehrt würden.

14

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Andreas Löschel

Oliver Kaltenegger

Andreas Löschel* und Oliver Kaltenegger**Klimapolitik jetzt neu ausrichten – mit einer allgemeinen CO2-Bepreisung als Leitinstrument

DER SOLL-IST-VERGLEICH BEIM KLIMASCHUTZ MAHNT ZUR NEUAUSRICHTUNG

In der deutschen Klimapolitik fallen Anspruch und Wirklichkeit zunehmend auseinander. Das Klimaziel einer 40%-igen Reduktion der Treibhausgasemissio-nen bis 2020 gegenüber 1990 wird voraussichtlich ver-fehlt (vgl. Löschel et al. 2016; 2017). Trotz zusätzlicher Anstrengungen, etwa im Rahmen des Nationalen Ak- tionsprogramms Klimaschutz 2020 oder des Natio-nalen Aktionsplans Energieeffizienz, stagnieren die Emissionen seit 2009 (– 27,8% 2016 gegenüber 1990). Bis 2030 soll die Reduktion sogar 55% oder mehr betragen. In der nächsten Dekade ist also fast die Wegstrecke der letzten drei Jahrzehnte zurückzule-gen – jedoch ohne erneuten Wiedervereinigungsef-fekt bei der Emissionsminderung. Will Deutschland Vorreiter im internationalen Klimaschutz bleiben, so sollte dieser Kraftakt gelingen. Im Pariser Abkommen

Nachtrag: Klimaziel 2020 verfehlt: Zeit für eine Neuausrichtung der Klimapolitik?

Neue Berechnungen des Bundesumweltministeriums zeigen, dass Deutschland wahrschein-lich die angestrebten Klimaziele für das Jahr 2020 deutlich verfehlen wird. Wie sollte die Klimapolitik neugestaltet werden, und welche Anreizsysteme sind für eine effektive und ökonomisch sinnvolle Klimapolitik notwendig? Ergänzend zu den Beiträgen im ifo Schnell-dienst 1/2018 legen Andreas Löschel und Oliver Kaltenegger, Universität Münster, dar, dass ihrer Ansicht nach die Entwicklungen der letzten Jahre die Schwächen des gegenwärtigen klimapolitischen Instrumentenmixes deutlich aufgezeigt haben, so dass die deutsche Kli-mapolitik eine zügige und entschlossene Neuausrichtung benötigt.

verpflichtete sich die EU zu einer Reduktion um min-destens 40% bis 2030 gegenüber 1990. Bis 2050 sind sogar deutsche und europaweite Reduktionen von jeweils 80–95% geplant.

Die Entwicklungen der letzten Jahre haben die Schwächen des gegenwärtigen klimapolitischen Instrumentenmixes deutlich aufgezeigt. Die deut-sche Klimapolitik liefert nicht – ein einfaches Mehr reicht also nicht aus. Vielmehr bedarf es einer zügi-gen und entschlossenen Neuausrichtung der Kli-mapolitik. Ein ökonomisch sinnvoller Ansatz zur Erreichung der Ziele des Energiekonzepts besteht in einer möglichst umfassenden und einheitlichen CO2-Bepreisung als Leitinstrument und komplemen-tären Instrumenten zur Adressierung zusätzlicher Marktunvollkommenheiten.

DIE EINFÜHRUNG EINER ALLGEMEINEN CO2-BEPREISUNG ALS LEITINSTRUMENT IST DIE ÖKONOMISCH SINNVOLLE ANTWORT

Deutschland macht viel für den Klimaschutz. Es gibt eine Vielzahl von Maßnahmen, vielleicht zu viele: Neben dem europäischen Emissionshandelssystem (EU ETS), dem zentralen Klimaschutzinstrument in Europa, gehören dazu auch alle Instrumente zur För-derung von Erneuerbaren und zur Steigerung von Energieeffizienz sowie Energiesteuern, da sie Emissi-onen implizit bepreisen. In der Gesamtschau ist dieses Anreizsystem komplex, zu kleinteilig und nicht inte- griert ausgestaltet – mit zahlreichen Ausnahmere-geln bei Unternehmen, Energieträgern und Zeiträu-men. Damit einher geht eine nur schwache Orientie-rung an der ursächlichen Größe des Klimawandels, den Treibhausgasemissionen.

* Prof. Dr. Andreas Löschel ist Inhaber des Lehrstuhls für Mikroöko-nomik, insbesondere Energie- und Ressourcenökonomik, an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.** Oliver Kaltenegger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Andreas Löschel.Die Autoren danken Dr. Linus Mattauch von der Oxford University für wertvolle Kommentare.

15

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Eine allgemeine CO2-Bepreisung überwindet die oben genannten Schwächen: Sie setzt an den für den Klimawandel ursächlichen Emissionen an. Zudem ist sie kongruent mit der ökonomischen The-orie, die einen einheitlichen CO2-Preis in Form einer CO2-Steuer oder alternativ ein Emissionshandelssys-tem vorschlägt, um Emissionen zu möglichst gerin-gen Kosten zu reduzieren. Im Ergebnis kommt es zu einem Rückgang der Nachfrage nach fossilen Energie-trägern – und auch einem schrittweise marktlichen Ausstieg aus der Kohleverstromung – und die Nutzung von Erneuerbaren bzw. Energieeffizienzsteigerungen werden angereizt. Damit stellt die allgemeine CO2-Be-preisung einen stabilen und langfristig verlässlichen Rahmen für die Transformation des gesamten Ener-giesystems dar.

Aus Gründen der Kosteneffizienz sollten mög-lichst alle Emittenten und Technologien unter die einheitliche CO2-Bepreisung fallen. Sofern politisch machbar ist also die globale oder zumindest euro-päische Ebene der richtige Ansatzpunkt. Zur Er- reichung der kurz- bis mittelfristigen nationalen Ziele erscheinen aber zusätzliche, rein nationale Preis-anreize, z.B. in Form einer Ausrichtung der Ener-giesteuer auf die CO2-Emissionen oder als Mindest-preis für EU-ETS-Zertifikate, unumgänglich. Deut-sche Minderemissionen dürfen dann aber nicht durch die Verwendung frei gewordener EU-ETS-Zertifi-kate im Ausland konterkariert werden. Dies könnte etwa durch Stilllegung von Zertifikaten sichergestellt werden.

Andere Instrumente der Klimapolitik können gleichzeitig auf den Prüfstand gestellt und ggf. ab-gebaut werden, sofern sie nicht durch zusätzliches Marktversagen, wie etwa Wissens-Spillovers bei der Entwicklung innovativer Technologien, Finan-zierungsrestriktionen, Pfadabhängigkeiten, asym-metrische Informationen oder begrenzte Rationa-lität, gerechtfertigt werden können. Von besonde-rer Bedeutung ist hierbei die Prüfung der Förderung durch EEG- und KWK-Umlage sowie die Ausgestal-tung der Energie- und Strom-steuer. Die verbleibenden Klima- instrumente sind also ledig-lich komplementär zum Leit-instrument der CO2-Bepreisung. Allgemein sind mindestens so viele Instrumente nötig, wie wirt-schaftspolitische Ziele erreicht werden sollen. Mehrere Ziele mit einem Instrument oder mit meh-reren Instrumenten ein einzelnes Ziel zu verfolgen, ist nicht zu emp-fehlen (Tinbergen-Regel).

Da eine einheitliche Beprei-sung existierende Preisunter-schiede an den Sektorgrenzen nivelliert, ist das Instrument auch aus Sicht der Sektorkopplung zu

begrüßen. Während der Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung bereits ca. 30% beträgt, hinkt der Ausbau im Wärme- und Verkehrssektor hinter-her. Optionen, mit denen insbesondere Windkraft und Photovoltaik in die anderen Sektoren integriert wer-den können, werden perspektivisch von immer größe-rer Bedeutung für die Erreichung der Klimaziele. Das aktuelle Anreizsystem ist aber mit der in Zukunft wich-tigen Idee der Sektorkopplung nicht vereinbar. Insbe-sondere die hohen Umlagen und Abgaben auf Strom wirken dagegen. Die skizzierte Umgestaltung geht die-ses Zukunftsthema an.

MIT GEEIGNETEM MONITORING KANN EIN EINHEITLICHES CO2-PREISSIGNAL IN DER PRAXIS NACHGEHALTEN WERDEN

Um die Forderung eines über alle Sektoren einheitli-chen CO2-Preises nachhalten zu können, müssen expli-zite und implizite Preissignale aller Anreizsysteme erfasst werden. Explizite CO2-Preise sind direkt beob-achtbar: Das ist bei CO2-Steuersätzen und ETS-Zertifi-katpreisen der Fall. Dagegen bedürfen implizite CO2-Preise einer Umrechnung in »Euro/t CO2«: Dies gilt für alle anderen emissionsreduzierenden Instrumente (Förderung erneuerbarer Energien, Standards, Ener-giesteuern etc.). Gemeinsam bestimmen sie den tota-len CO2-Preis.

Einige Beispiele zur Verdeutlichung (vgl. Abb. 1 und Abb. 2): Im EU ETS regulierte deutsche Stromer-zeuger zahlen den expliziten Zertifikatepreis (zurzeit etwa 5,35 Euro/t CO2) und sind regelmäßig von der Energiesteuer befreit (§§ 53 ff. EnergieStG). Neben die-sem Betrag (sofern er vollständig weitergegeben wird) zahlen Stromverbraucher (Haushalte) noch die Strom-steuer sowie die EEG- und KWK-Umlage (2,05 ct/kWh nach § 3 StromStG sowie 6,354 und 0,445 ct/kWh). Nach Umrechnung mittels Emissionsfaktor der Strom-erzeugung (527 g CO2/kWh) errechnet sich ein tota-ler CO2-Preis von 173,26 Euro/t CO2. Die Berechnung impliziter CO2-Preise des EnergieStG folgt einer ähn-

0 50 100 150 200 250 300

Diesel

Benzin

Heizöl

Erdgas

Verbrauch

Erzeugung

EU-ETS-Zertifikate Stromsteuer EEG-Umlage KWK-Umlage Energiesteuer

Totale CO2-Preise in Deutschland 2016

Quelle: Berechnung der Autoren, basierend auf Agora Energiewende (2017). © ifo Institut

€/t CO2

Strom

Wärme

Verkehr

(Haushalte)

Abb. 1

16

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

lichen Logik. Für einen internationalen Vergleich kann auf die Effective Carbon Rates der OECD (2016) zurück-gegriffen werden, die u.a. für alle EU-Länder vorliegen und die Gesamtbelastung aus marktbasierten Instru-menten quantifizieren (CO2-Steuern, CO2-Zertifikate, Energiesteuern).

Die Abbildungen offenbaren eine erhebliche Heterogenität zwischen Sektoren, ja sogar innerhalb von einzelnen Sektoren (vgl. Stromerzeugung vs. -ver-brauch), und Ländern. Der Kosteneffizienz (die einheit-liche Preise voraussetzt) und der Sektorkopplung (die auf günstigen Strom aus erneuerbaren Quellen setzt) ist dies abträglich. Niedrige CO2-Preise emissionsin-tensiver Energieträger (z.B. Heizöl) sind aus Klima-sicht besonders kritisch. Eine CO2-Bepreisung dürfte insbesondere in der Stromerzeugung (Stichwort: Min-derung der Kohleverstromung) und im Wärmesektor auch kurz- und mittelfristig eine starke Lenkungswir-kung entfalten.

Die Berechnungen sind allerdings nicht voll-ständig: i) Bedeutsame implizite Klimainstrumente werden vernachlässigt: Paltsev et al. (2016) er- rechnen beispielsweise Mehrkosten in Milliarden-höhe durch EU-Pkw-Emissionsstandards. ii) Fer-ner bleiben indirekte CO2-Kosten unbeachtet, die von einer Wertschöpfungsstufe zur nächsten wei- tergegeben werden. iii) Unberücksichtigt bleibt auch die Tatsache, dass viele Instrumente nicht nur aus Klimaschutzgründen, sondern auch zur Reduktion von lokalen Luftschadstoffen, zum Ausbau erneu-erbarer Energien etc. eingeführt werden. Im Prin-zip sind aber nur die »klimaschutzbezogenen Preis-bestandteile« der Instrumente aufzuaddieren. Dies erklärt zum Teil, warum einige Preise deutlich über dem »richtigen« CO2-Preisniveau liegen (vgl. nächs-ter Abschnitt). iv) Außerdem lassen die (buchhalte-rischen) CO2-Preise allein keine Aussagen über öko-nomische Belastungs- und Wohlfahrtswirkungen zu. Für ein gutes Monitoring sind all diese Lücken noch zu schließen.

DOCH WIE HOCH MÜSSTE DER »RICHTIGE« CO2-PREIS SEIN?

Entsprechend der ökonomischen Theorie erfolgt die optimale Kor-rektur einer Externalität bei einem Preis in Höhe der margina-len Schäden, d.h. der Kosten einer zusätzlich emittierten Tonne CO2. Diese »sozialen Kosten« umfas-sen alle Konsequenzen des Kli-mawandels (u.a. Naturkatastro-phen und Gesundheitseffekte). Schätzungen dafür schwanken allerdings aufgrund von Annah-men beträchtlich (zwischen 10 bis 1 000 US-Dollar/t CO2; vgl. Hep-burn 2017). Gängige Werte lie-gen gegenwärtig zwischen ca.

20–70 Euro/t CO2 (vgl. IAWG 2015). Mit fortschreiten-dem Klimawandel werden zukünftige Schäden jedoch größer und der CO2-Preis steigt. Diese Werte sind letzt-lich mit den im vorigen Abschnitt berechneten Werten zu vergleichen. Alternativ können »zielkonsistente« CO2-Preise geschätzt werden, mit denen die Bundes-regierung ihre Ziele erreichen würde. Eine Vorstel-lung vermag der Projektionsbericht 2017 der Bundes-regierung geben: Mit einem CO2-Preissignal von ca. 35 Euro/t CO2 im Emissionshandel und entsprechend niedrigen Stromexporten wären selbst die kurzfristi-gen Klimaziele fast zu erreichen.

Höhere CO2-Preise werden das Energiesystem nachhaltig verändern: Beispielsweise kann ab einem Preis von etwa 29 Euro/t CO2 ein Gaskraftwerk (unter-stellter Wirkungsgrad von 50% bzw. Brennstoffpreis von 25 Euro/MWh) zu niedrigeren Grenzkosten Strom erzeugen als ein CO2-intensiveres Kohlekraftwerk (40% und 8 Euro/MWh). Im Wärmemarkt ergäben sich bei einem Preis von 100 Euro/t CO2 für ein Einfamilien-haus mit Öl-Standardheizkessel CO2-Kosten von z.B. 990 Euro/a. Klimafreundlichere Heizungssysteme könnten einen CO2-Kostenvorteil von über 50% rea-lisieren und Neuinvestitionen anreizen. Relativ un- elastisch agieren hingegen Verbraucher im Verkehrs-sektor. Erst substanziell höhere CO2-Preise dürften hier eine spürbare Lenkungswirkung entfalten. Dies ist aus Sicht der Kosteneffizienz durchaus sinnvoll. In kurzer Frist sollte daher der Fokus im Verkehrssektor auf anderen Maßnahmen liegen, etwa auf dem Auf-bau der Infrastruktur für alternative Antriebe oder die Unterstützung technologischer Entwicklung. Sinn-voll wäre auch ein strecken- und zeitbezogenes Road Pricing.

Mit Blick auf den Staatshaushalt würde cete-ris paribus eine Steuer von z.B. 30 Euro/t CO2 auf die Emissionen der wichtigsten Energieträger der Ener-giesteuer (ca. 700 Megatonnen CO2) zu Einnahmen von ca. 21 Mrd. Euro führen. In der Realität wären sie wegen entsprechender Anpassungsreaktionen sicher-

0 50 100 150 200 250 300

NiederlandeSchweden

DeutschlandItalien

GroßbritannienSpanien

Frankreich

GroßbritannienItalien

NiederlandeDeutschland

SchwedenFrankreich

Spanien

Effective Carbon Rates in wichtigen EU-Ländern 2012

Quelle: OECD (2016). © ifo Institut

€/t CO2

Straßenverkehr

Übrige Sektoren

Abb. 2

17

ZUR DISKUSSION GESTELLT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

lich geringer. Nach der Theorie optimaler Besteuerung werden daher Steuersätze so differenziert, dass Aus-weichreaktionen und Wohlfahrtsverluste möglichst gering ausfallen (vgl. Ramsey-Regel). Dies muss abge-wogen werden mit dem Grundsatz kosteneffizienter Klimapolitik, die wie beschrieben einheitliche CO2-Preise fordert.

DIE EINFÜHRUNG DES LEITINSTRUMENTS SOLLTE SICH AN FOLGENDEN AUSGESTALTUNGS-PRINZIPIEN ORIENTIEREN

Aus den vorangegangenen Überlegungen lassen sich fünf Ausgestaltungsprinzipien ableiten, die bei der kon-kreten Implementierung einer CO2-Bepreisung Berück-sichtigung finden sollten:

– Langfristige Orientierung: Den Marktteilnehmern sollte ein verlässlicher langfristiger Rahmen für die Energiewende gegeben werden. Sinnvoll erscheint dabei ein gleitender Ansatz, bei dem der CO2-Preis in vorher festgelegten Schritten aufwächst.

– Aufkommensneutralität: Die zusätzlichen finan-ziellen Mittel sollten genutzt werden, um Instru-mente abzubauen, die nicht durch Marktfriktio-nen jenseits des Klimaproblems gerechtfertigt wer-den können. Sowohl teure Fördersysteme als auch Steuergegenstände sind einer Prüfung zu unterzie-hen (allein EEG- und KWK-Umlage sowie Energie- und Stromsteuer haben ein Gesamtvolumen von über 70 Mrd. Euro). Im Ergebnis können – aufkom-mensneutral – Industrie und Haushalte durch die höhere Treffsicherheit sogar entlastet werden.

– Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit: Zur Siche-rung der Wettbewerbsfähigkeit gibt es derzeit zahl-reiche Ausnahmeregelungen für die Industrie. Eine Sonderbehandlung für einen kleinen Kern beson-ders betroffener Unternehmen ist auch im Rahmen des neuen Leitinstruments möglich und sinnvoll, sollte aber sehr maßvoll geschehen. Der Abbau an Komplexität im Instrumentenmix schafft gleichzei-tig klarere Preissignale, die Innovationen fördern können.

– Internationale Koordination: Die Gefahr negativer Wettbewerbswirkungen ist zudem umso geringer, je mehr Länder eine CO2-Bepreisung erörtern bzw. implementieren. Gerade eine Partnerschaft mit Frankreich, wo seit 2015 jährlich die Steuern auf fossile Energieträger außerhalb des EU ETS erhöht werden, hätte nicht nur politische Symbolkraft, sondern auch ökonomische Vorteile.

– Soziale Gerechtigkeit: Ohne eine sozial gerechte Ausgestaltung wird die neue Ausrichtung der Kli-mapolitik keine Akzeptanz in der Bevölkerung fin-den. Forschungsergebnisse belegen, dass dies sehr wohl möglich ist. So können bei einer CO2-Steuer gleichzeitig etwa die Einkommensteuern gesenkt oder Pauschalbeträge ausgeschüttet werden. Zudem kann die Effizienz gesteigert werden, falls das Einkommensteuersystem suboptimal ausge-staltet war (vgl. Klenert et al. 2017; Klenert und Mattauch 2016).

LITERATUR

Agora Energiewende (2017), Neue Preismodelle für Energie. Grundlagen einer Reform der Entgelte, Steuern, Abgaben und Umlagen auf Strom und fossile Energieträger, Agora Energiewende, Berlin.

Hepburn, C. (2017), »Making Carbon Pricing a Priority«, Nature Climate Change 7, 389–390.

IAWG – Interagency Working Group on Social Cost of Carbon (2015), Res-ponse to Comments: Social Cost of Carbon for Regulatory Impact Analysis Under Executive Order 12866, US Government, Washington, DC.

Klenert, D. und L. Mattauch (2016), »How to Make a Carbon Tax Reform Progressive: The Role of Subsistence Consumption«, Economics Letters 138, 100–103.

Klenert, D., L. Mattauch, E. Combet, O. Edenhofer, C. Hepburn, R. Rafaty und N. Stern (2017), »Making Carbon Pricing Work«, MPRA Paper No. 80943.

Löschel, A., G. Erdmann, F. Staiß und H. Ziesing (Expertenkommission zum Monitoring-Prozess »Energie der Zukunft«) (2017), Kurzkommentar zu Stand und wichtigen Handlungsfeldern der Energiewende, Berlin, Müns-ter, Stuttgart.

Löschel, A., G. Erdmann, F. Staiß und H. Ziesing (Expertenkommission zum Monitoring-Prozess »Energie der Zukunft«) (2016), Stellungnahme zum fünften Monitoring-Bericht der Bundesregierung für das Berichtsjahr 2015, Berlin, Münster, Stuttgart.

OECD (2016), Effective Carbon Rates. Pricing CO2 through Taxes and Emissi-ons Trading Systems, OECD, Paris.

Paltsev, S., Y.H. Henry Chen, V. Karplus, P. Kishimoto, J. Reilly, A. Löschel, K. von Graevenitz und S. Koesler (2016), »Reducing CO2 from Cars in the European Union«, Transportation, 1–23.

18

FORSCHUNGSERGEBNISSE

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Noch vor zwei oder drei Jahren waren Bitcoins im Wesentlichen nur ein Thema für Computernerds. Aktu-ell sind Bitcoins und andere Kryptowährungen in aller Munde. Bitcoins werden als Zahlungsmittel wie auch als Anlageobjekte ernsthaft in den Massenmedien dis-kutiert. Auch die ökonomische Fachliteratur hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr mit Kryptowährun-gen befasst. Unter anderem wurde untersucht, ob es sich bei Bitcoins überhaupt um Geld im üblichen Sinne handelt (vgl. Yermack 2013) und ob Kryptowährungen einer staatlichen Regulierung bedürfen.1 Angesichts des exponentiellen Kurswachstums (und rapiden Kursverfalls) wird auch die Gefahr der Blasenbildung vermehrt diskutiert. Der Aspekt der gesellschaftlichen Kosten der Kryptowährungen ist dabei bislang kaum beleuchtet worden. Häufig wird noch immer das idyl-lische Bild einer dezentralen, von vielen »Freiwilligen« erstellten Währung gezeichnet. Leider ist es aber kom-plett irreführend. Während das von den Zentralban-ken hergestellte Bargeld nur relativ wenige Ressourcen verschlingt – einen Geldschein zu drucken, kostet eben fast nichts –, hat das Erzeugen der Bitcoins trotz seiner jungen Historie bis heute bereits rund 5 Mrd. US-Dol-lar gekostet.

Um die gesellschaftlichen Kosten der Bitcoiner­zeugung zu verstehen, ist eine kurze, zugegebener-maßen sehr schematische Darstellung der Funktions-weise des Bitcoin-Mining vonnöten.2 Dabei geht es im Folgenden nicht um den Handel von Bitcoins, sei es zu Transaktionszwecken oder aus Anlagegründen. Denn die gesellschaftlichen Kosten der Kryptowährung ent-

2 Für weiterführende Darstellungen, bei denen es z.B. auch um Fragen der Kryptosicherheit und des Betrugs geht, vgl. Velde (2013) oder Kroll et al. (2013).

Marcel Thum*

Die ökonomischen Kosten des Bitcoin-Mining

Bitcoins werden in der Öffentlichkeit momentan vor allem unter den Aspekten des »staats-fernen« Geldes und der Gefahr einer spekulativen Blase diskutiert. In der Euphorie über die neue Form digitaler Währung wird häufig übersehen, dass Bitcoins und andere Kryptowäh-rungen im Gegensatz zum traditionellen Geld erhebliche reale Kosten bei der Erzeugung ver-ursachen. Allein die Erzeugung von Bitcoins dürfte seit 2010 mehr als 5 Mrd. US Dollar gekos-tet haben.

stehen beim Mining, also bei der Entstehung neuer Bitcoins. Wie kommen neue Bitcoins in die Welt? Bit- coins sind letztendlich eine lange Zeichenkette bzw. eine Textdatei. Jede Überweisung eines Bitcoins von einer Person an eine andere Person wird in dieser Text-datei (»Blockchain«) unveränderlich festgeschrieben. Um diese Textdatei gegen Manipulationen zu sichern, wird ein Prüfwert (»Hash«) erzeugt. Diesen Prüfwert zu ermitteln, ist rechentechnisch aufwendig. Tausende, inzwischen meist hochspezialisierte Computerfarmen weltweit konkurrieren darum, als erste den nächsten gültigen Prüfwert zu erzeugen. Das Bitcoinsystem ist dabei so angelegt, dass der Schwierigkeitsgrad für die Ermittlung des Prüfwertes steigt, je mehr Rechenkapa-zität weltweit auf die Ermittlung des Prüfwertes ver-wandt wird. Im Mittel wird die Blockchain sechs Mal pro Stunde verlängert, so dass sechs Prüfwerte pro Stunde erzeugt werden müssen.3

Welchen Anreiz haben die Miner – also alle, die versuchen einen solchen Prüfwert zu finden –, Arbeitszeit, Energie und Kapital in Form leistungsstar-ker Rechnerfarmen in diesen Suchprozess zu inves-tieren? Der erste Miner, dem es gelingt, einen neuen Prüfwert zu erzeugen und damit der Blockchain einen neuen Block hinzuzufügen, erhält eine Entlohnung in Form von Bitcoins. Alle anderen Miner, die zeitgleich ebenfalls auf der Suche nach dem neuen Prüfwert waren, gehen leer aus. Diese Entlohnung sinkt im Zeit-verlauf. Für die ersten 210 000 Blöcke betrug die Ent-lohnung jeweils 50 Bitcoins pro Block, für die nächs-ten 210 000 Blocks war die Entlohnung 25 Bitcoins usw., d.h. nach 210 000 Blöcken halbiert sich jeweils die Entlohnung.

3 Hierfür muss aus der neuen Blockchain ein Hashwert gebildet werden, der unter einem festgelegten Grenzwert liegen muss. Der Grenzwert wird immer so angepasst, dass bei gegebener Zahl von Rechenkapazität aller Miner (also alle, die versuchen, einen solchen Hashwert zu finden), im Durchschnitt pro Stunde sechs neue Blocks erfolgreich hinzugefügt werden können.

* Prof. Dr. Marcel Thum ist Leiter der ifo Niederlassung Dresden und Inhaber des Lehrstuhls für Finanzwissenschaft an der Technischen Universität Dresden.1 Siehe hierzu, aber auch zur Frage der Geldeigenschaften von Bitcoins diverse Beiträge im ifo Schnelldienst 22/2017 (Thiele et al. 2017).

19

FORSCHUNGSERGEBNISSE

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Die gesellschaftlichen Kosten des weltweiten Mining lassen sich unter Zuhilfenahme ökonomischer Theorie ermitteln. Der Wettbewerbsprozess unter den Minern ähnelt einem Rent-Seeking-Wettbewerb, wie ihn Tullock (1967) in die Literatur eingeführt hat.4 Beim Rent Seeking müssen alle Teilnehmer am Wett-bewerb echte Ressourcen aufwenden, um eine Chance auf den Gewinn eines Preises zu haben. (Im üblichen Marktwettbewerb werden dagegen langfristig nur die-jenigen Hersteller Ressourcen aufwenden, die ihre Produkte auch am Markt absetzen können; die weni-ger erfolgreichen Unternehmen scheiden dagegen aus und wenden auch keine Ressourcen mehr auf.) Letzt-endlich ist Rent Seeking verschwenderisch, weil die Aufwendungen der Verlierer im Wettbewerb umsonst waren.

Das Tullock’sche Modell des Rent Seeking zeigt nun, dass die gesamten Aufwendungen mit der Zahl der Teilnehmer am Wettbewerb steigen und dass – bei freiem Markteintritt – der Aufwand aller Teilnehmer dem zu gewinnenden Preis entspricht. Der Preis, um den die Miner konkurrieren, ist der aktuelle Wert der Bitcoins, die für den ersten erfolgreich gebildeten Prüf-4 Für einen Überblick zu Rent-Seeking-Wettbewerben (vgl. Nitzan 1994).

wert ausgezahlt werden. Das Tullock-Modell impliziert, dass man die Kosten des Bitcoin-Mining über den Wert der neu geschaffenen Bitcoins ermitteln kann. Egal wie sich der Wert der Bitcoins entwickelt, entsprechen die Kosten des Mining zu jedem Zeitpunkt dem Wert der neu geschaffenen Bitcoins. Jeder einzelne Miner kann zwar versuchen, seine Kosten zu senken, z.B. indem er seine Rechnerfarm in Regionen mit niedrigem Ener-giepreis wie z.B. in Island ansiedelt. Am Gesamtergeb-nis ändert das aber nichts, weil die gesunkenen Ener-giekosten gesamtwirtschaftlich von den erhöhten Rechenaktivitäten und neuen Konkurrenten aufgefres-sen werden. (Eine Skizze des formalen Modells findet sich in der Box.)

Um die Gesamtkosten des Bitcoin-Mining zu errechnen, ermitteln wir für jeden Tag den Wert der neugeschöpften Bitcoins. Dieser Wert ergibt sich aus dem aktuellen Bitcoinpreis multipliziert mit der Zahl der neu geschaffenen Bitcoins. Abbildung 1 zeigt die Preisentwicklung der Bitcoins seit August 2010 in lau-fenden US-Dollar. Das Bitcoinsystem wurde zwar schon im Januar 2009 ins Leben gerufen, konsistente Preisda-ten liegen aber erst später vor. (Angesichts des anfäng-lich geringen Preises dürfte der Fehler durch die fehlen-den Preisdaten gering sein.) Für Tage ohne Preisnota-

Die Entlohnung eines zum Zeitpunkt t erfolgreichen Miners beträgt in Bitcoins R(t). Diese Entlohnung hat zum Zeitpunkt t einen Marktwert von p(t) . R(t), wobei p den aktuellen Bitcoinpreis in Dollar angibt. Die Intensität des Minings lässt sich durch die durchgeführten Rechenoperationen ausdrücken, mit denen die Miner ver-suchen, einen passenden Prüfwert zu ermitteln. Sei mi die Zahl der Rechenoperationen, die Miner i in einer Periode durchführt. Dann lässt sich die Wahrscheinlichkeit für den Miningerfolg von Miner i schreiben als

���� ���� ∙ ����

���� � ∑ �����

��� � ���� � ∑ �����

∙ � ∙ � � � ∙ �� � �

�������

� ∑ �������� � ∑ ����� �� ∙ � ∙ � � � � �

��� � ��)

��∗ �� � ��� ∙ � ∙ ��

���∗ �� ∙ ��� � �

(���∗ � �)

�∗ � �� ∙ ��

. Damit ergibt sich der erwartete Gewinn eines Miners als

���� ���� ∙ ����

���� � ∑ �����

��� � ���� � ∑ �����

∙ � ∙ � � � ∙ �� � �

�������

� ∑ �������� � ∑ ����� �� ∙ � ∙ � � � � �

��� � ��)

��∗ �� � ��� ∙ � ∙ ��

���∗ �� ∙ ��� � �

(���∗ � �)

�∗ � �� ∙ ��

,

wobei c die variablen Kosten je Rechenoperation (z.B. Energiekosten) und C die Fixkosten des Mining sind.

Gewinnmaximierung des Miners i bei gegebenem Verhalten der übrigen Miner verlangt

���� ���� ∙ ����

���� � ∑ �����

��� � ���� � ∑ �����

∙ � ∙ � � � ∙ �� � �

�������

� ∑ �������� � ∑ ����� �� ∙ � ∙ � � � � �

��� � ��)

��∗ �� � ��� ∙ � ∙ ��

���∗ �� ∙ ��� � �

(���∗ � �)

�∗ � �� ∙ ��

.

Befinden sich insgesamt n Miner im Markt, ergibt sich bei Symmetrie (mi = mj) als gleichgewichtige Aktivität jedes einzelnen Miners:

���� ���� ∙ ����

���� � ∑ �����

��� � ���� � ∑ �����

∙ � ∙ � � � ∙ �� � �

�������

� ∑ �������� � ∑ ����� �� ∙ � ∙ � � � � �

��� � ��)

��∗ �� � ��� ∙ � ∙ ��

���∗ �� ∙ ��� � �

(���∗ � �)

�∗ � �� ∙ ��

.

Damit lässt sich der gleichgewichtige Gewinn eines repräsentativen Miners mit

���� ���� ∙ ����

���� � ∑ �����

��� � ���� � ∑ �����

∙ � ∙ � � � ∙ �� � �

�������

� ∑ �������� � ∑ ����� �� ∙ � ∙ � � � � �

��� � ��)

��∗ �� � ��� ∙ � ∙ ��

���∗ �� ∙ ��� � �

(���∗ � �)

�∗ � �� ∙ ��

,

schreiben. Da der Markzutritt frei ist, sollten so lange Unternehmen in den Markt eintreten, bis die Gewinne wegkonkurriert sind

���� ���� ∙ ����

���� � ∑ �����

��� � ���� � ∑ �����

∙ � ∙ � � � ∙ �� � �

�������

� ∑ �������� � ∑ ����� �� ∙ � ∙ � � � � �

��� � ��)

��∗ �� � ��� ∙ � ∙ ��

���∗ �� ∙ ��� � �

(���∗ � �)

�∗ � �� ∙ ��

. Die Zahl der Miner beträgt damit

���� ���� ∙ ����

���� � ∑ �����

��� � ���� � ∑ �����

∙ � ∙ � � � ∙ �� � �

�������

� ∑ �������� � ∑ ����� �� ∙ � ∙ � � � � �

��� � ��)

��∗ �� � ��� ∙ � ∙ ��

���∗ �� ∙ ��� � �

(���∗ � �)

�∗ � �� ∙ ��

;

Die Zahl der Miner steigt im Wert der Entlohnung und sinkt mit den Fixkosten. Der entscheidende Punkt ist: Da jeder Miner im Erwartungswert Nullgewinn erzielt, entsprechen die Kosten des Mining zu jedem Zeitpunkt dem Wert der neu geschaffenen Bitcoins, egal wie sich der Wert der Bitcoins entwickelt.

20

FORSCHUNGSERGEBNISSE

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

tion ab August 2010 wurde immer der letzte verfügbare Preis konstant gehalten.

Wie die Abbildung zeigt, verharrte der Bitcoinkurs lange Zeit auf beinahe konstant niedrigem Niveau. Erst Mitte 2016 setzte der rapide Kursanstieg ein.

Wie bereits erwähnt bekamen die Miner für jeden der ersten 210 000 geschaffenen Blöcke jeweils 50 Bit-coins als Entlohnung. Am 28. November 2012 sank die Entlohnung auf 25 Bitcoins. Seit dem 10. Juli 2016 wer-den nur noch 12,5 Bitcoins als Entlohnung bezahlt. Durch die Kombination aus Entlohnung und tagesak-

tuellem Bitcoinkurs lassen sich für jeden Tag bis zum 31. Dezember 2017 die Werte der neu geschöpften Bit-coins und damit die Kosten der Bitcoingenerierung ermitteln.5 Diese Werte werden dann auf den 1. Januar 2018 aufdiskontiert und aufsummiert.

Tabelle 1 zeigt den Barwert dieser Kosten für alter-native Diskontierungssätze. Bei einem Zins von 4% ent-spricht der Gegenwartswert aller Kosten für die Schaf-fung von Bitcoins 5,3 Mrd. US-Dollar. Zwar erzielen einzelne Miner einen Gewinn, weil sie erfolgreich Has-hes erzeugen konnten und der Wert der erhaltenen Bit-coins die eigenen Kosten übersteigt. Aber dafür hatten andere Miner kein Glück, tragen aber die Kosten, weil 5 Außer der hier diskutierten Honorierung für erfolgreiche Prüfwer-te gibt es auch eine Entlohnung in Form von Transaktionsgebühren, die hier aber für die Kalkulation der Kosten des Bitcoin-Mining igno-riert werden.

sie erfolglos Rechenkapazität ins-talliert und dafür Strom, Arbeits-kraft, Rohstoffe etc. verbraucht haben. Allein der Energiever-brauch, der nur einen Teil der Kos-ten ausmacht, beträgt 259 KWh pro Bitcointransaktion – genug um einen US-Haushalt mehr als eine Woche lang mit Strom zu ver-sorgen (vgl. https://digiconomist.net/bitcoin-sustainabilit y-re -port-12-2017).

Wie die Tabelle auch zeigt, spielt die Höhe des Diskontie-rungssatzes für den Barwert der Kosten keine allzu große Rolle. Der Ressourcenverbrauch liegt in allen Szenarien im einstelli-

gen Milliardenbereich. Neben den jüngst umfang-reich diskutierten Problemen wie den Angriffen auf Bitcoinspeicher und der Gefahr der Blasenbildung leidet das Bitcoinsystem auch unter einer massiven Ressourcenverschwendung.

LITERATUR

Kroll, J.A., I.C. Davey und E.W. Felten (2013), »The Economics of Bitcoin Mining or, Bitcoin in the Presence of Adversaries«, The Twelfth Workshop on the Economics of Information Security (WEIS 2013), Washington, DC, 11.–12. Juni 2013.

Nitzan, S. (1994), »Modelling Rent-Seeking Contests«, Public Choice 10, 41–60.

Thiele, C.-L., M. Diehl, Th. Mayer, D. Elsner, G. Pecksen, V. Brühl und J. Michaelis (2017), »Kryptowährung Bitcoin: Währungswettbewerb oder Spekulationsobjekt: Welche Konsequenzen sind für das aktuelle Geldsys-tem zu erwarten?«, ifo Schnelldienst 70(22), 2017, 3–20.

Tullock, G. (1967), »The Welfare Costs of Tariffs, Monopolies, and Theft«, Western Economic Journal 5, 224–232.

Velde, F.R. (2013), »Bitcoin: A Primer«, Chicago Fed Letter No.317, Dezember.

Yermack, D. (2013), »Is Bitcoin a Real Currency? An Economic Appraisal«, NBER Working Paper 19747, Cambridge, MA.

0

5 000

10 000

15 000

20 000

01.0

7.20

10

01.1

1.20

10

01.0

3.20

11

01.0

7.20

11

01.1

1.20

11

01.0

3.20

12

01.0

7.20

12

01.1

1.20

12

01.0

3.20

13

01.0

7.20

13

01.1

1.20

13

01.0

3.20

14

01.0

7.20

14

01.1

1.20

14

01.0

3.20

15

01.0

7.20

15

01.1

1.20

15

01.0

3.20

16

01.0

7.20

16

01.1

1.20

16

01.0

3.20

17

01.0

7.20

17

01.1

1.20

17

Quelle: https://blockchain.info. © ifo Institut

BitcoinkursIn US-Dollar

Abb. 1

Tab. 1 Barwertkosten des Bitcoin-Mining in Mrd. US-Dollar

Diskontierungssatz 2 % 4 % 6 % Barwertkosten 5,123 5,267 5,417 Quelle: Berechnungen des ifo Instituts.

Tab. 1

21

FORSCHUNGSERGEBNISSE

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Die Theorien zu politischen Konjunkturzyklen beschrei-ben, dass Politiker, die wiedergewählt werden wollen, sich vor Wahlen opportunistisch verhalten (vgl. Nord-haus 1975; Rogoff 1990; Rogoff und Sibert 1988). Unter opportunistischem Verhalten wird beispielsweise das Verteilen von Wahlgeschenken vor den Wahlen ver-standen. Dazu gehören Rentenerhöhungen, eine bes-sere öffentliche Gesundheitsversorgung oder Steuer­erleichterungen. In vielen empirischen Studien ist dieses opportunistische Verhalten von Politikern untersucht und nachgewiesen worden (für Übersichts-artikel vgl. z.B. De Haan und Klomp 2013; Dubois 2016).

Auf ihre Wiederwahl bedachte Politiker werden ihre Wähler vor Wahlen jedoch nicht nur mit Wahlge-schenken beglücken wollen, sondern ebenso auch darauf achten, ihre Wähler nicht unmittelbar vor Wah-len zu verärgern. Auf Unverständnis bei der Bevölke-rung stoßen oft die Politikergehälter. Insbesondere Boulevardmedien suggerieren gerne, dass Politiker sich üppige Bezüge leisten. Am 12. Dezember 2017 gab es beispielsweise »Empörung über den Diä-ten-Hammer«.1 Die Abgeordneten des neu konstitu-ierten Deutschen Bundestages hatten eine Erhöhung ihrer Diäten beschlossen. Auf den ersten Blick legt die-ser Beschluss nahe, dass die Abgeordneten des Deut-schen Bundestages die Diätenerhöhung ausgerechnet auf einen Zeitpunkt direkt nach der Bundestagswahl gelegt haben. Da Diätenerhöhungen einige Bürger empören, scheint ein Zeitpunkt direkt nach der Wahl aus wahltaktischen Gründen deutlich geschickter als vor der Wahl zu sein.

Die beschlossene Diätenerhöhung der Bundes-tagsabgeordneten war allerdings weder groß noch 1 Vgl. http://www.bild.de/geld/mein-geld/mdb/diaeten-erhoe-hung­54162006.bild.html.

Björn Kauder, Manuela Krause und Niklas Potrafke

Haben sich Landespolitiker ihre Diäten aus wahltaktischen Gründen lieber nach als vor den Wahlen erhöht?

Diätenerhöhungen erregen oftmals die Gemüter vieler Bürger. Politiker verdienen doch nun wirklich schon genug, heißt es. In dem Wissen, dass viele Bürger Diätenerhöhungen kritisch sehen, liegt es nahe, dass Abgeordnete ihre Diäten besser direkt nach Wahlen erhöhen als unmittelbar vor den Wahlen. In einer neuen Studie wurde anhand von Daten für 15 deutsche Bundesländer im Zeitraum 1980–2014 untersucht, ob es einen solchen Wahlzyklus bei Diäte-nerhöhungen deutscher Landtagsabgeordneter gab (Kauder et al. 2018). Die Ergebnisse deu-ten nicht auf einen Wahlzyklus hin. Zu vermuten ist, dass die Wähler Politiker aller Parteien und nicht nur die Regierungsparteien für Diätenerhöhungen verantwortlich machen.

außergewöhnlich; vielmehr hatten die Abgeordneten entschieden, dass ihre Diäten wie in der Vergangen-heit auch in der gerade begonnenen Legislaturperiode mit der allgemeinen Lohnentwicklung steigen sollen. Diese sogenannte Indexierung der Diäten ist im Bund seit einigen Jahren üblich. Seit dem »Diäten­Urteil« des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1975 bestimmen die Abgeordneten des Deutschen Bundes-tages und der deutschen Landtage ihre Diäten selbst. In den deutschen Bundesländern wurde eine Koppe-lung (Indexierung) der Diäten an die allgemeine Lohn­entwicklung mit Beschlüssen zu Beginn der Legislatur-periode allerdings über einige Jahrzehnte nicht prakti-ziert (Thüringen ist eine Ausnahme). Die Diäten wurden vielmehr zu unterschiedlichen Zeitpunkten inner-halb der Legislaturperioden angepasst und auch nicht durchweg nur in Höhe der allgemeinen Lohnentwick-lung. Tabelle 1 zeigt, wann die einzelnen Bundesländer die Indexierung eingeführt haben. Nur das Saarland hat die Diäten seiner Landtagsabgeordneten bis heute nicht indexiert.

DIÄTEN IN DEN DEUTSCHEN BUNDESLÄNDERN

Im Laufe der Jahre haben zahlreiche Reformen die Art und Weise geändert, wie Diäten bestimmt wer-den.2 In den 1950er und 1960er Jahren waren die Diä-ten westdeutscher Abgeordneter häufig an die Diäten der Bundestagsabgeordneten gekoppelt. Im Jahr 1975 betonte das Bundesverfassungsgericht, dass Abgeord-nete finanziell unabhängig sein sollten und entschied, dass Landtage die Diäten selber festlegen sollten (vgl. Arnim 1975). Dementsprechend legten die Länder die 2 Weichold (2001) beschreibt, wie sich die Verfahren zur Festlegung der Diäten historisch entwickelt haben.

22

FORSCHUNGSERGEBNISSE

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Diäten fortan selbständig fest und genossen einen gro-ßen Spielraum bei ihrer Festlegung. Nach der Wieder-vereinigung haben die neuen Bundesländer das Vorge-hen aus den alten Bundesländern weitgehend über-nommen, mit Ausnahme Thüringens, wo man sich entschied, die Diäten an die allgemeine Lohnentwick-lung zu koppeln.

Im Jahr 1996 ist mit Bayern das erste Bundes-land dem Vorbild Thüringens gefolgt und indexierte seine Diäten. Die meisten anderen Länder folgten in den frühen 2000er Jahren und bestimmen nunmehr ihre Diäten nicht mehr diskretionär (mit Ausnahme des Saarlands). Zum Beginn einer jeden Legislatur-periode entscheiden die Abgeordneten, wie sie ihre Bezüge indexieren wollen, die dann jährlich steigen. In den meisten Ländern sind die Diätenanpassungen an die allgemeine Lohnentwicklung im privaten und öffentlichen Sektor gekoppelt. Einige Länder greifen auch auf andere Indikatoren wie die Inflation zurück. Niedersachsen ist das einzige Land, in dem der Land-tag jedes Jahr über die Diäten abstimmt. In den ande-ren Ländern ist der Landtag nicht jährlich involviert.

DESKRIPTIVE STATISTIKEN

Wir nutzen Daten über die nomina-len Abgeordnetendiäten aus Lan-desgesetzesblättern sowie Daten des Statistischen Bundesamts, der Statistischen Landesämter, der Landeswahlleiter, des Bundes-tages und des Sachverständigen-rates. Die Daten decken den Zeit-raum 1980–2014 in den alten und den Zeitraum 1991–2014 in den neuen Bundesländern ab. Es wer-den ausschließlich solche Jahre, in denen die Diäten nicht indexiert waren, betrachtet. Dies bedeutet, dass der Beobachtungszeitraum für einige Länder früher als 2014

endet, da diese Länder bereits frü-her mit der Indexierung began-nen (vgl. Tab. 1). Thüringen wurde nicht berücksichtigt, da das Bun-desland die Diäten seit der Wie-dervereinigung an die allgemeine Lohnentwicklung koppelt. Ebenso wurden Diätenerhöhungen von über 20% ausgeschlossen, die sich bei einer Anpassung der Diätenbe-steuerung oder der Umstellung von einem Teilzeit- auf ein Voll-zeitparlament ergeben haben. Der Datensatz beinhaltet 15 Länder und 367 Beobachtungen.3

Abbildung 1 zeigt die durch-schnittliche nominale Diätener-höhung nach und vor Landtags-

wahlen. Die Diäten stiegen durchschnittlich um 1,99%, wenn es der erste Erhöhungsbeschluss innerhalb von 365 Tagen nach einer Wahl war, und um 2,07%, wenn es der letzte Erhöhungsbeschluss innerhalb von 365 Tagen vor einer Wahl war. Zu anderen Zeiten wäh-rend der Legislaturperiode stiegen die Diäten durch-schnittlich um 2,53%. T­Tests auf Mittelwerte zeigen, dass sich weder Nach- noch Vorwahlerhöhungen sta-tistisch signifikant von Erhöhungen zu anderen Zeiten unterscheiden.

Die Korrelation zwischen Diätenerhöhungen und den Dummy-Variablen für Nach- und Vorwahljahr ist sehr gering (– 0,05 bzw. – 0,04), ebenso zwischen Diä-tenerhöhungen und dem Anteil der Legislaturperiode, welcher seit der letzten Wahl verstrichen ist (0,02). Es zeigt sich jedoch eine gewisse positive Korrelation zwi-schen Diätenerhöhungen und der allgemeinen Lohn-entwicklung des Vorjahres (0,34).3 In einigen Fällen gab es Nullrunden. Zur Festlegung des Tages, an dem eine Nullrunde implizit beschlossen wurde, greifen wir auf das durchschnittliche Datum zurück, an dem in diesem Land in anderen Jahren Diätenerhöhungen beschlossen wurden. In unserem Daten-satz gibt es 172 derart festgelegte Beschlüsse für Nullrunden.

Tab. 1 Die meisten Länder indexierten die Diäten im Laufe der 2000er Jahre

Bundesland Zeitpunkt der ersten Indexierung Baden-Württemberg 2006 Bayern 1996 Berlin 2011 Brandenburg 2007 Bremen 2012 Hamburg 2016 Hessen 2000 Mecklenburg-Vorpommern 1999 Niedersachsen 2012 Nordrhein-Westfalen 2009 Rheinland-Pfalz 2017 Saarland – Sachsen 2011 Sachsen-Anhalt 2016 Schleswig-Holstein 2008 Thüringen 1990 Quelle: Darstellung des ifo Instituts.

Tab. 1

1,99

2,53

2,07

0,0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

Erste Erhöhung imNachwahljahr

Restlicher Zeitraum Letzte Erhöhung imVorwahljahr

Quelle: Darstellung des ifo Instituts.

Diäten steigen nach und vor Wahlen etwas weniger stark als in der Mitte der Legislaturperiode, 1980–2014

© ifo Institut

%

Abb. 1

23

FORSCHUNGSERGEBNISSE

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

EMPIRISCHES VORGEHEN

Wir regressieren den Anstieg der nominalen Diäten in einem Land und einem Jahr (Wachstumsrate) auf Dummy-Variablen für das Nachwahl- und das Vor-wahljahr. Die Nachwahljahr-Variable nimmt für den ersten Erhöhungsbeschluss innerhalb von 365 Tagen nach einer Wahl den Wert 1 an (ansonsten den Wert 0). Analog nimmt die Vorwahljahr-Variable für den letz-ten Erhöhungsbeschluss innerhalb von 365 Tagen vor einer Wahl den Wert 1 an.4 Der Referenzzeitraum ist der sonstige Zeitraum. Alternativ wird auch der Anteil einer Legislaturperiode, der zum Zeitpunkt eines Diä-tenerhöhungsbeschlusses bereits verstrichen ist, betrachtet.5 Eine erste Kontrollvariable ist die allge-meine Lohnentwicklung des Vorjahres (nominal, also folglich die Summe aus realer Lohnentwicklung und Inflation), wo wir eine positive Korrelation mit Diä ­ tenerhöhungen vermuten.6 Des Weiteren nutzen wir die Defizitquote des Vorjahres, um die finanziellen Spielräume für Diätenerhöhungen zu messen. Als eine weitere Kontrollvariable wird die Regierungsideologie verwendet (vgl. Kauder und Potrafke 2013; Potrafke et al. 2016). Hier könnte man einerseits vermuten, dass konservative Regierungen der Ansicht seien, dass Diä-ten mit der Vergütung von Unternehmern oder Mana-gern mithalten sollten. Es könnte jedoch auch sein, dass unter konservativen Regierungen Diätenerhöhun-gen kleiner ausfallen, wenn konservative Regierungen für einen schlankeren Staat eintreten. Da Diätenerhö-hungen üppiger ausfallen könnten, wenn Regierungen eine deutliche Mehrheit im Landtag haben, wird auch für den Sitzanteil der regierenden Parteien im Landtag kontrolliert. Schließlich nutzen wir fixe Länder­ und fixe Zeiteffekte. In manchen Spezifikationen betrachten wir den Anstieg der Diäten von Bundestagsabgeord- neten (im Vorjahr) anstelle von fixen Zeiteffekten. Unser Modell schätzen wir mit einem Fixe­Effekte­Schätzer mit robusten Standardfehlern.

ERGEBNISSE

Dier erste Regression beinhaltet keine fixen Zeitef-fekte. Die Koeffizienten der Dummy­Variablen, die Diätenerhöhungsbeschlüsse im Nachwahl- und Vor-wahljahr beschreiben, sind zwar negativ und bestäti-gen damit den Eindruck der Abbildung 1, die Effekte sind jedoch statistisch nicht signifikant. Hingegen zeigt sich für die allgemeine Lohnentwicklung (des Vorjah-4 Wenn es mehrere Erhöhungen in den 365 Tagen nach oder vor ei-ner Wahl gab, betrachten wir lediglich diejenige Diätenerhöhung, die am nächsten an der Wahl lag. Im Fall von vorgezogenen Neuwahlen wird eine Diätenerhöhung nur dann dem Vorwahljahr zugerechnet, wenn die vorgezogenen Neuwahlen zu dem Zeitpunkt der Erhöhung bereits bekannt waren.5 Im Fall von vorgezogenen Neuwahlen wird die reguläre Länge der Legislaturperiode betrachtet, wenn die Diäten erhöht wurden, bevor die vorgezogenen Neuwahlen ausgerufen wurden. Wurden die Diäten hingegen erhöht, nachdem vorgezogene Neuwahlen ausgerufen wur-den, wird die tatsächliche Länge der Legislaturperiode betrachtet.6 Die allgemeine Lohnentwicklung wird hier abgebildet durch die Entwicklung der jährlichen Bruttolöhne und -gehälter der Beschäf-tigten in den einzelnen Bundesländern.

res) eine positive Korrelation, welche statistisch signi-fikant ist: Diäten sind um 0,3% höher, wenn die Löhne im vorangegangen Jahr um 1% gestiegen sind. Die-ser Effekt ist klein, jedoch erweist sich die Konstante ebenfalls als statistisch signifikant, sodass die Diäten um 2,65% pro Jahr stiegen (konditioniert auf die ande-ren erklärenden Variablen); Abgeordnete glätten somit ihre Diätenerhöhungen über die Zeit. Unsere weiteren Kontrollvariablen Defizitquote (des Vorjahres), Regie-rungsideologie und der Anstieg der Diäten der Bundes-tagsabgeordneten erweisen sich als statistisch nicht signifikant. Regierungen mit einer deutlichen Mehrheit im Landtag erhöhen Diäten weniger stark als Regierun-gen mit einer knappen Mehrheit; der Effekt ist statis-tisch jedoch nur marginal signifikant. Integriert man in die Schätzung auch fixe Zeiteffekte, so ändern sich die Schlussfolgerungen nicht. Der Effekt der Regierungs-mehrheit ist jedoch nicht mehr statistisch signifikant.

Alternativ zu den Dummy-Variablen, die Diätener-höhungsbeschlüsse im Nachwahl- und Vorwahljahr abgreifen, nutzen wir den Anteil der Legislaturperiode, der zum Zeitpunkt einer Diätenerhöhung bereits ver-strichen ist, als zentrale erklärende Variable. Unsere erste Regression beinhaltet wiederum keine fixen Zeiteffekte. Die Ergebnisse geben erneut keinen Hin-weis auf Wahlzyklen bei Diätenerhöhungen. Es zeigt sich hingegen erneut ein positiver, statistisch signifi-kanter Zusammenhang zwischen Diätenerhöhungen und der allgemeinen Lohnentwicklung. Unsere Ergeb-nisse ändern sich nicht, wenn wir einen quadratischen Term der Variable hinzufügen, die misst, welcher Anteil der Legislaturperiode zum Zeitpunkt einer Diätener-höhung bereits verstrichen ist. Zwar deutet sich ein Zusammenhang an, der einem umgedrehten »U« folgt, erneut handelt es sich jedoch um einen statistisch nicht robusten Effekt. Das Hinzufügen von fixen Zeiteffekten ändert hieran nichts.

Unsere Ergebnisse ändern sich nicht, wenn wir auch die indexierten Jahre, oder alternativ ausschließ-lich die indexierten Jahre in unsere Regression aufneh-men. Die Ergebnisse bleiben ebenfalls unverändert bei separater Betrachtung der neuen und der alten Bun-desländer sowie bei separater Betrachtung linker und konservativer Regierungen. Ebenso hängen sie nicht davon ab, ob wir den Nachwahl- und Vorwahlzeitraum auf ein halbes Jahr verkürzen oder auf anderthalb Jahre ausweiten. Betrachtet man eine Dummy-Varia-ble, die lediglich angibt, ob Diäten erhöht wurden oder nicht, deuten unsere Ergebnisse an, dass Diätenerhö-hungen vor und nach Wahlen weniger wahrscheinlich waren als in der Mitte der Legislaturperiode. Das Glei-che gilt, wenn wir nur solche Diätenanpassungen als Erhöhungen ansehen, welche über der allgemeinen Lohnentwicklung lagen.

FAZIT

Während der 1980er, 1990er und 2000er Jahre haben die Bundesländer die Diäten von Landtagsabgeord-

24

FORSCHUNGSERGEBNISSE

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

neten jährlich selber festgelegt. Hierdurch erschien es nicht unwahrscheinlich, dass Politiker sich bei Diätener-höhungen durch Wahltermine leiten ließen. Wir haben untersucht, ob Landtagswahltermine tatsächlich Diä-tenerhöhungen beeinflusst haben. Unsere Ergebnisse zeigen jedoch keine robuste Evidenz für Wahlzyklen bei Diätenerhöhungen. Auch Regierungsideologie oder die Regierungsmacht im Sinne der Mehrheitsverhältnisse beeinflussen Diätenerhöhungen nicht. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass Diätenerhöhungen positiv mit der allgemeinen Lohnentwicklung korrelieren.

Warum mag es so sein, dass Diätenerhöhungen keine Wahlzyklen zeigen? Wenn Abgeordnete ihre Diä-ten erhöhen, so tun sie dies für alle Abgeordneten, und nicht nur für Abgeordnete der Regierungsparteien. Zwar mögen Wähler Abgeordnete der Regierungspar-teien dafür abstrafen, dass sie Diätenerhöhungen ini-tiiert haben und dafür gestimmt haben. Wir gehen jedoch davon aus, dass den Wählern bewusst ist, dass alle Abgeordneten von Diätenerhöhungen profitieren und im Ergebnis keine bestimmten Parteien abgestraft werden. Politiker können sich folglich jederzeit die Diä-ten erhöhen, ohne eine negative Reaktion der Wähler zu befürchten. Dies erklärt auch, warum Regierungen mit einer deutlichen Mehrheit im Landtag die Diäten nicht stärker erhöhen als Regierungen mit einer knap-pen Mehrheit.

LITERATUR

Arnim, H. H. von (1975), Abgeordnetenentschädigung und Grundgesetz, Karl­Bräuer­Institut des Bundes der Steuerzahler, Wiesbaden.

De Haan, J. und J. Klomp (2013), »Conditional political budget cycles: A review of recent evidence«, Public Choice 157, 387–410.

Dubois, E. (2016), »Political business cycles 40 years after Nordhaus«, Pub-lic Choice 166, 235–259.

Kauder, B. und N. Potrafke (2013), »Government ideology and tuition fee policy: Evidence from the German states«, CESifo Economic Studies 29, 628–649.

Kauder, B., M. Krause und N. Potrafke (2018), »Electoral Cycles in MPs’ Salaries: Evidence from the German States«, International Tax and Public Finance, im Erscheinen.

Nordhaus, W. D. (1975), »The political business cycle«, Review of Economic Studies 42, 169–190.

Potrafke, N., M. Riem und C. Schinke (2016), »Debt brakes in the German states: Governments’ rhetoric and actions«, German Economic Review 17, 253–275.

Rogoff, K. (1990), »Equilibrium political budget cycles«, American Eco- nomic Review 80, 21–36.

Rogoff, K. und A. Sibert (1988), »Elections and macroeconomic policy cycles«, Review of Economic Studies 55, 1–16.

Weichold, J. (2001), »Der Abgeordnete und die Diäten. Zum verfassungs-rechtlichen Problem der »angemessenen«, die »Unabhängigkeit« des Abgeordneten sichernden Entschädigung«, UTOPIE kreativ 125, 232–241.

25

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

DATENBASIS UMFASST DIE ANGABEN VON RUND 15 700 VERANSTALTUNGSAKTEUREN

Eine aktive Beteiligung der Unternehmen an Messen ist ein wichtiges Instrument ihrer Absatzpolitik. Sie dient der Präsentation des eigenen Leistungsspek-trums, ermöglicht den direkten Dialog mit Kunden und die intensive Beobachtung des Wettbewerbsum-felds. Den Nachfragern bieten Messeveranstaltungen die kostengünstige Möglichkeit, Preise und Leistun-gen von unterschiedlichen Produkten zu vergleichen und sich über neue Entwicklungen im Angebotsspek-trum zu informieren. Die wirtschaftlichen Effekte von Messen gehen aber weit über die absatzwirtschaft-lich motivierten Überlegungen der Aussteller und Besucher hinaus: Messeveranstaltungen sind auch für den Wirtschaftsraum des Messestandorts von gro-ßer Bedeutung. Aussteller und Besucher sind Kunden für dort ansässige Unternehmen. Dadurch entste-hen Arbeitsplätze, zusätzliche Steuereinnahmen und Kaufkraft. Nicht zu vergessen sind hierbei aber auch Kongresse, Tagungen und andere Events (z.B. Kon-zerte, Shows, Firmen- und Sportveranstaltungen), die neben Messen einen bedeutenden Beitrag zu den wirtschaftlichen Effekten eines Wirtschaftsraumes leisten.

Horst Penzkofer

Veranstaltungen der Messe Frankfurt lösen 3,6 Milliarden Euro Umsatz jährlich aus

Im Auftrag der Messe Frankfurt GmbH hat das ifo Institut nach 2000 und 2011 im Jahr 2017 erneut die durch die Ausgaben von Ausstellern und Besuchern auf inländischen Messen1, Kongressen und sonstigen Veranstaltungen ausgelösten wirtschaftlichen Wirkungen ermit-telt. Auf Basis empirischer Erhebungen ausgewählter Veranstaltungen wurden mittels eines Schätzmodells die Gesamtausgaben und darauf aufbauend die Kaufkraft-, Beschäftigungs- und Steuereffekte eines durchschnittlichen Veranstaltungsjahres für Frankfurt, Hessen und Deutschland berechnet.2

Für Analysen im Messewesen ist die zeitliche Abgrenzung von großer Bedeutung, da einige Veran-staltungen nicht jährlich, sondern in einem mehrjähri-gen Turnus durchgeführt werden. Dementsprechend gibt es, gemessen an den Aussteller- und Besucher-zahlen und damit auch im Hinblick auf die wirtschaft-lichen Auswirkungen, »starke« und »weniger starke« Jahre. Daher wurde die Analyse für ein durchschnitt-liches Messejahr (Zeitraum 2015 bis 2017)3 durchge-führt, d.h., alle Messen gingen entsprechend ihrer Periodizität in die Berechnungen ein (vgl. hierzu z.B. Penzkofer 2009, 12): Beispielsweise die Automecha-nika (Internationale Leitmesse der Automobilbranche für Ausrüstung, Teile, Zubehör, Management & Ser-vices) mit dem Faktor ½ und die Ambiente (Interna-tionale Frankfurter Konsumgütermesse) mit dem Faktor 1. Die alle drei Jahre durchgeführte Fachmesse IFFA (Internationale Leitmesse für die Fleischverarbei-tung) erhielt den Faktor ⅓.

Ein wichtiger Faktor für die Validität der Ergeb-nisse sind die der Untersuchung zugrunde liegenden Daten. Für die Berechnungen der wirtschaftlichen Wir-kungen der Messen4 und sonstigen Veranstaltungen wurden rund 6 600 Messebesucher, 8 300 Aussteller und weitere 800 Veranstaltungsteilnehmer repräsen-tativ befragt.

Auf Basis der Informationen aus den standardi-sierten Besucher- und Ausstellerbefragungen wur-den für verschiedene Messetypen (z.B. internationale Konsumgüter- oder Investitionsgütermessen) Aus-

3 Das durchschnittliche Veranstaltungsjahr (Kongresse, Tagungen und sonstige Events) bezieht sich ebenfalls auf den Zeitraum 2015 bis 2017.4 Im Messebereich fanden beispielsweise bei folgenden Veranstal-tungen Besucher- und Ausstellererhebungen statt: Automechanika, Heimtextil, Christmasworld, Creativeworld, Paperworld, Ambiente, Tendence, Prolight+Sound, IFFA, ISH, Light+Building und texcare.

1 Hierbei ist zu beachten, dass die wirtschaftlichen Effekte der an-gestoßenen bzw. abgeschlossenen Aufträge im Rahmen der Messen nicht in die Berechnungen einbezogen wurden.2 Die Quantifizierung der wirtschaftlichen Wirkungen stellt darauf ab, dass die durch die Messe- und Veranstaltungsausgaben ausge-lasteten Produktions- und Beschäftigungskapazitäten nicht durch andere Nachfrageaktivitäten tangiert bzw. genutzt werden, d.h., der etwaige Ausfall der Messe- und Veranstaltungsausgaben als Nach-fragevolumen wird nicht durch Ausgaben anderer Unternehmen und Personen kompensiert. Die Studie stellt somit eine auf die veranstal-tungsinduzierten Ausgaben der Besucher und Aussteller orientierte Impact-Analyse dar.

26

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

steller- und Besucherindikatoren ermittelt. Diese Indi-katoren bildeten die Grundlage für die Hochrechnung der Stichprobenergebnisse zum Gesamtvolumen der Besucher- und Ausstellerausgaben. Das verwendete Modell stellt dabei anhand zahlreicher Merkmale kau-sale Zusammenhänge zwischen den in die Befragun-gen eingegangenen Veranstaltungen und den nicht befragten Veranstaltungen her (vgl. Täger und Penz-kofer 2005). Zur Berechnung der direkten und indirek-ten Effekte wurde die Input-Output-Rechnung5 ver-wendet, die die Transaktionen zwischen den Wirt-schaftszweigen abbildet.

AUSSTELLER UND BESUCHER GEBEN WELTWEIT 2,83 MILLIARDEN EURO FÜR VERANSTALTUNGEN BEI DER MESSE FRANKFURT AUS

Die Veranstaltungen der Messe Frankfurt stehen allem Anschein nach bei Ausstellern und Besuchern hoch im Kurs. In- und ausländischen Ausstellern und Besu-chern sind Beteiligungen an Messen bzw. Teilnahmen an Kongressen und sonstigen Events jährlich insge-samt 2,83 Mrd. Euro wert (vgl. Abb. 1). Dabei gibt jeder Messebesucher durchschnittlich etwa 520 Euro, jeder Kongress-teilnehmer rund 570 Euro und jeder Eventbesucher rund 120 Euro unter anderem für Über-nachtung, Verpflegung, Ein-

5 Infolge zeitintensiver Arbeiten liegen die der Input-Output-Rechnung zugrunde liegenden Tabellen erst mit zeitlicher Verzögerung vor. Während sich über einen längeren Zeitraum die Input-Output-Struk-turen sehr wohl verändern, treten in einer kurzfristigen Betrachtung nur geringfügige Strukturveränderungen auf, so dass nur wenige Jahre zurückliegende Tabellen als eine gute Näherungslösung der aktuellen Wirtschaftsstruktur angesehen werden können. Der Untersuchungszeitraum der Studie bezog sich auf die Jahre 2015 bis 2017, die verwendete Input-Output-Tabelle repräsentiert das Jahr 2013 (vgl. Statisti-sches Bundesamt 2017).

käufe im Einzelhandel und für die Anreise zum Messeort aus. In Summe sind es bei den Besu-chern von Messen und sonstigen Veranstaltungen 1,09 Mrd. Euro (Messebesucher: 0,96 Mrd. Euro; Kongressteilnehmer und Event-besucher 0,13 Mrd. Euro). Zu den Ausgaben der Besucher kommen die der Aussteller hinzu: Für Mes-sen am Standort Frankfurt und im Bundesgebiet werden von den Ausstellern insgesamt 1,74 Mrd. Euro aufgewendet, um ihre Pro-dukte vor internationalem Publi-kum präsentieren zu können. Die Ausgaben pro Aussteller liegen bei rund 42 000 Euro.

Von den Gesamtausgaben der Messebesucher haben die Ausgaben in der Hotellerie und Gastrono-mie mit rund 38% das zweitstärkste Gewicht. Nur die Kosten der An- und Abreise im Fernverkehr schlagen mit 41% etwas mehr zu Buche. In nennenswertem Umfang partizipiert auch der Einzelhandel von den Besucherausgaben (rund 7%). Der Messeeintritt (inkl. Kauf von Katalogen) trägt zu den gesamten Ausgaben der Besucher dagegen nur zu 4% bei. Die Ausgaben der Messebesucher weisen einen starken regionalen Bezug auf und somit eine hohe lokale Wirkung bei der Produktion und Beschäftigung. Mit Ausnahme der Rei-sekosten im Fernbereich fallen nämlich die Ausgaben der Besucher zum überwiegenden Teil am jeweiligen Messeort an.

Von den Gesamtausgaben der ausstellenden Unternehmen entfallen rund 27% auf den Stand-bau; rund 17% der Ausgaben stehen im Zusammen-hang mit den Personalkosten für die Durchführung von Messebeteiligungen. Knapp ein Viertel der Aus-gaben der Aussteller geht an den Messeveranstalter (Standmiete inkl. Gebühren für Strom, Entsorgung usw.). Fast 13% der Ausgaben entfallen auf die An-

0,13

0,96

1,74

2,83

0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0

Besucher sonstigerVeranstaltungen

Messebesucher

Aussteller

Insgesamt

Verteilung der direkten AusgabenDurchschnittliches Veranstaltungsjahr der Messe Frankfurt, Ausgaben in Mrd. Euro

Quelle: Berechnungen des ifo Instituts. © ifo Institut

Abb. 1

1,8

2,4

3,6

Frankfurt Hessen insgesamt Deutschland insgesamt 0

1

2

3

4

KaufkrafteffekteDurchschnittliches Veranstaltungsjahr der Messe Frankfurt

Quelle: Berechnungen des ifo Instituts.

Milliarden Euro

© ifo Institut

Abb. 2

27

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

und Abreise des Personals der ausstellenden Unter-nehmen. Die Ausgaben für die Übernachtung und Ver-pflegung summieren sich auf annähernd 14%. Wäh-rend die Besucherausgaben größtenteils in Frankfurt anfallen, weisen die Ausgaben der Aussteller eine breitere räumliche Streuung auf. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt darin, dass die Aussteller viele Vor-arbeiten und Elemente für den Messestand nicht am Messeort, sondern am Firmensitz bzw. von speziali-sierten Unternehmen in Deutschland oder im Ausland produzieren lassen.

Diese unmittelbar durch Frankfurter Veranstal-tungen ausgelösten Ausgaben fallen somit nicht gänzlich in Frankfurt an. Während beispielsweise die Ausgaben der Besucher und Aussteller für die Übernachtung, Verpflegung und für private Einkäufe überwiegend in Frankfurt getätigt werden, schlagen andere Ausgabenarten, wie etwa die Kosten für die An- und Abreise auswärtiger Besucher und Ausstel-ler sowie den Standbau, zum großen Teil im übrigen Bundesgebiet oder im Ausland zu Buche. Aufgeteilt nach Wirtschaftsräumen werden die direkten Ausga-ben der Besucher und Aussteller zu rund 41% in Frank-furt, etwa 9% im restlichen Hessen, 18% im übrigen Bundesgebiet und zu 32% im Ausland getätigt. In Hes-sen insgesamt fällt somit die Hälfte der direkten Ver-anstaltungsausgaben an.

DIE HÄLFTE DES ERZIELTEN KAUFKRAFTZUFLUS-SES WIRD IN FRANKFURT WIRKSAM

Die direkten Veranstaltungsausgaben bilden nur einen Teil der wirtschaftlichen Effekte ab. Infolge der ausge-prägten Arbeitsteilung werden in erheblichem Umfang Güter und Dienstleistungen von Unternehmen bezo-gen, die von den Ausgaben der Aussteller und Besu-cher nicht direkt betroffen sind. Diese indirekt begüns-tigten Unternehmen fragen ihrerseits wiederum Vor-leistungen von Gütern und Dienstleistungen nach. So ergibt sich eine Kette von leistungswirtschaftlichen Folgewirkungen über alle Wirtschaftszweige.

Das durch die Besucher- und Ausstellerausgaben insgesamt erzeugte bundesweite Kaufkraft-volumen beträgt jahresdurch-schnittlich 3,6 Mrd. Euro (vgl. Abb. 2). Mit 1,8 Mrd. Euro wird die Hälfte des erzielten Kauf-kraftzuflusses in Frankfurt wirk-sam. Nimmt man noch das rest-liche Hessen hinzu, so entstehen im Bundesland Hessen durch die Veranstaltungen bei der Messe Frankfurt insgesamt 2,4 Mrd. Euro an zusätzlichem Kaufkraft-volumen. Die restlichen 1,2 Mrd. Euro entfallen auf das übrige Bundesgebiet.

VERANSTALTUNGEN DER MESSE FRANKFURT SICHERN RUND 33 260 ARBEITSPLÄTZE IN DEUTSCHLAND UND …

Deutschlandweit werden 33 260 Arbeitsplätze6 durch die Ausgaben der Besucher und Aussteller der Ver-anstaltungen der Messe Frankfurt gesichert, davon allein rund 18 500 in Frankfurt (vgl. Abb. 3). Dies ist deutlich über die Hälfte aller Stellen. In Hessen ins-gesamt sind im Jahresdurchschnitt rund 24 200 Per-sonen durch Veranstaltungen der Messe Frankfurt beschäftigt. Aufgrund der Lieferverflechtungen parti-zipieren aber auch Unternehmen in den übrigen Bun-desländern an den wirtschaftlichen Wirkungen. Die Zahl der induzierten Arbeitsplätze beträgt außerhalb von Hessen über 9 000. Von den inländischen Veran-staltungen profitieren insbesondere die Beschäftig-ten im Hotel- und Gaststättengewerbe (vgl. Abb. 4). 6 Die mit der veranstaltungsinduzierten Nachfrage verbundene Be-schäftigung wurde mittels wirtschaftszweigspezifischer Arbeitskoef-fizienten errechnet. Die ermittelten Arbeitsplätze stellen bezogen auf die Arbeitszeit (den geleisteten Output) einer wirtschaftszweigbezo-genen repräsentativen Arbeitsperson Vollzeitäquivalente dar.

18 490

24 190

33 260

Frankfurt Hessen insgesamt Deutschland insgesamt 0

5 000

10 000

15 000

20 000

25 000

30 000

35 000

BeschäftigungseffekteDurchschnittliches Veranstaltungsjahr der Messe Frankfurt

Quelle: Berechnungen des ifo Instituts.

Arbeitsplätze

© ifo Institut

Abb. 3

34%

29%

8%

7%

7%

15%

GastgewerbeHandwerk, veranstaltungsaffine DienstleistungenEinzelhandelVerkehrProduzierendes GewerbeÜbrige Bereiche

Beschäftigungseffekte nach BranchenDurchschnittliches Veranstaltungsjahr der Messe Frankfurt

Quelle: Berechnungen des ifo Instituts. © ifo Institut

Insgesamt: 33 260

Abb. 4

28

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Über ein Drittel aller bundesweiten Arbeitsplätze, die durch die Messe Frankfurt entstehen, sind in dieser Branche angesiedelt. Zurückzuführen ist diese hohe Zahl vor allem auf die durch die internationalen Gäste in Anspruch genommenen Angebote in Hotellerie und Gastronomie. Weitere rund 29% aller Arbeitsplätze entfallen auf das Handwerk und andere veranstal-tungsaffine Dienstleistungsbereiche. Im Einzelhandel befinden sich rund 8% der Arbeitsplätze, jeweils 7% im Verkehrsbereich und im produzierenden Gewerbe.

Hauptprofiteur der Veranstaltungsausgaben ist – wie erwähnt – das Hotel- und Gaststättengewerbe. Dies sieht man auch an folgenden Zahlen für das Hotelgewerbe: In Frankfurt basieren rund 1,82 Mio. Übernachtungen bzw. rund ein Fünftel aller Über-nachtungen auf Veranstaltungen der Messe Frank-furt. Es profitiert aber nicht nur Frankfurt. Außer-halb von Frankfurt im Rhein-Main-Gebiet kommen weitere 680 000 Übernachtungen hinzu, so dass im Rhein-Main-Gebiet insgesamt 2,5 Mio. Übernachtun-gen anfallen.

… INDUZIEREN STEUEREINNAHMEN IN HÖHE VON 657 MILLIONEN EURO

Durch die ausgelösten Produktionsprozesse, die resul-tierenden Einkommen und Gewinne sowie durch den privaten Verbrauch entstehen Steuereinnahmen. Für alle Gebietskörperschaften der Bundesrepublik erge-ben sich für ein durchschnittliches Veranstaltungs-jahr Steuereinnahmen in Höhe von 657 Mio. Euro. Auf Frankfurt entfällt hiervon ein Betrag von 32 Mio. Euro, auf das übrige Hessen 176 Mio. Euro. Über die Hälfte der Steuereinnahmen geht mit 330 Mio. Euro an den Bund.

STEIGERUNG DER WIRTSCHAFTLICHEN EFFEKTE DURCH ERHÖHTE INTERNATIONALITÄT BEI AUSSTELLERN UND BESUCHERN

Die Frankfurter Messen ziehen immer mehr auslän-dische Messeakteure nach Frankfurt. Die gestie-

gene Internationalität der Aus-steller und Besucher sowie auch die gewachsenen Kongressak-tivitäten bewirkten in den ver-gangenen Jahren eine deutliche Zunahme bei den wirtschaftli-chen Effekten in Frankfurt. Die ausländischen Besucher, Aus-steller und Kongressteilnehmer bleiben länger in Frankfurt und geben unter anderem mehr Geld für Übernachtung und Verpfle-gung aus. Werden die sich jeweils auf ein durchschnittliches Ver-anstaltungsjahr beziehenden Befunde aus dem Jahr 2000 (vgl. Penzkofer 2002) mit denen der aktuellen Untersuchung vergli-

chen, so ergeben sich folgende Ergebnisse: In Frank-furt erhöhte sich der Kaufkraftzufluss um 38% (von 1,3 Mrd. Euro auf 1,8 Mrd. Euro), das Steueraufkom-men um 45% (von 22 Mio. Euro auf 32 Mio. Euro) und die Zahl der veranstaltungsinduziert gesicherten Arbeitsplätze um 10% (von 16 770 auf 18 490). Die Wachstumsrate für die Arbeitsplätze fällt im Ver-gleich zu den anderen Effekten geringer aus, da die positiven Beschäftigungswirkungen, die sich aus dem wachsenden Produktionsvolumen ergeben, durch die »negativen Auswirkungen« der gestiege-nen Arbeitsproduktivität vermindert werden. Auf Basis der Ergebnisse dieser Untersuchung lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Veranstal-tungsaktivitäten der Messe Frankfurt für Frankfurt einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor darstellen.

Von den Veranstaltungen der Messe Frankfurt profitiert aber nicht nur Frankfurt, sondern auch das Bundesland Hessen und die Bundesrepublik Deutsch-land. Alle berechneten Indikatoren weisen für Hessen und Deutschland im Vergleich zur Studie des Jahres 2000 Zuwächse auf, die in etwa denen für Frankfurt entsprechen bzw. leicht darüber liegen. Die Ursa-che hierfür ist darin zu sehen, dass die Messe Frank-furt inzwischen in Deutschland deutlich mehr Ver-anstaltungen außerhalb von Frankfurt durchführt (z.B. in Berlin, Hamburg und Nürnberg). Die Ausga-ben anlässlich dieser Veranstaltungen erzeugen Kauf-kraft, Beschäftigung und Steueraufkommen nahezu ausschließlich außerhalb von Frankfurt. Die Entwick-lung der wirtschaftlichen Effekte für Deutschland zeigt Abbildung 5: Das aktuell bundesweit induzierte Kaufkraftvolumen in Höhe von jahresdurchschnittlich 3,6 Mrd. Euro fällt um rund 38% höher aus als für den Jahresdurchschnitt im Zeitraum 1998/2000. Die Zahl der von Veranstaltungen der Messe Frankfurt direkt und indirekt abhängigen Arbeitsplätze wuchs bun-desweit um rund 12%, und die im Vergleich zur Studie aus dem Jahr 2000 höheren Veranstaltungsausgaben führten zudem zu einem höheren Steueraufkommen von rund 48%.

0,0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

Arbeitsplätze Umsatz Steueraufkommen 0

5 000

10 000

15 000

20 000

25 000

30 000

35 000

40 000

Wirtschaftliche Effekte der Frankfurter VeranstaltungenVergleich der durchschnittlichen Veranstaltungszeiträume 1998/2000 und 2015/2017

Quelle: Berechnungen des ifo Instituts.

In Personen

© ifo Institut

Umsatz und Steueraufkommenin Mrd. Euro

1998/00 2015/17

Durchschnitt

1998/00 2015/17

Durchschnitt

1998/00 2015/17Durchschnitt

Abb. 5

29

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

VERANSTALTUNGEN DER MESSE FRANKFURT GENERIEREN BREITES SPEKTRUM AN WIRTSCHAFTLICHEN EFFEKTEN

Zu den Profiteuren der Veranstaltungsausgaben zählen insbesondere Branchen wie das Hotel- und Gaststät-tengewerbe, der Einzelhandel sowie Dienstleister im Bereich Messebau oder Logistik. Von den Ausgaben der Messe- und Veranstaltungsakteure partizipieren aber nicht nur die Unternehmen und damit die Erwerbstä-tigen in diesen Wirtschaftszweigen, sondern auch der Fiskus. Dabei sind vor allem internationale Leitmessen und Kongresse von ausschlaggebender Bedeutung für die wirtschaftlichen Effekte.

Bei den vorliegenden Ergebnissen ist zudem zu berücksichtigen, dass die Berechnungen zu den wirt-schaftlichen Effekten ausschließlich die veranstal-tungsaffinen Ausgaben der Aussteller, Besucher und Kongressteilnehmer beinhalten. Nicht in der Untersu-chung enthalten sind die wirtschaftlichen Wirkungen, die durch angebahnte oder abgeschlossene Aufträge in einer Region ausgelöst werden. Hierdurch könnten Investitionen angestoßen werden, die wiederum wirt-schaftliche Folgewirkungen nach sich ziehen. Darüber hinaus profitieren insbesondere kleine und mittlere lokale Aussteller von der Möglichkeit, kostengünstig am Firmenort mit (inter-)nationalen Kunden Kontakt aufzunehmen. Ohne eine Messebeteiligung könnten unter Umständen Aufträge nicht akquiriert werden und damit Wachstumspotenziale für eine Region ver-loren gehen.

Die Studie erfasst somit nur einen Teil der wirt-schaftlichen Effekte. Hierbei handelt es sich aber um die sozioökonomischen Wirkungen, die repräsentativ auf empirischer Basis ermittelbar sind. Darüber hin-aus gehende wirtschaftliche Effekte bestehen zwar (Aufträge und internationale Kundenkontakte für aus-stellende Unternehmen, Medieninteresse und damit Imagegewinn für die betreffende Region usw.), lassen sich aber kaum bzw. nicht quantitativ abbilden.

LITERATUR

Penzkofer, H. (2002), »Wirtschaftliche Wirkungen der Frankfurter Messen«, ifo Schnelldienst 55(1), 15–22.

Penzkofer, H. (2009), Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung von Messen und Ausstellungen in Deutschland, AUMA-Schriftenreihe – Edition 30, Ausstel-lungs- und Messe-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e.V., Institut der deutschen Messewirtschaft, Berlin.

Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2017), Volkswirtschaftliche Gesamtrech-nung – Input-Output-Rechnung – 2013, Wiesbaden.

Täger, U.Chr. und H. Penzkofer (2005), »Production and employment effects of trade fairs and exhibitions«, in: M. Kirchgeorg, W. M. Dorn-scheidt, W. Giese und N. Stoeck (Hrsg.), Trade Show Management, Gabler, Wiesbaden, 127–139.

30

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Nach den dramatischen Marktkorrekturen in den Jah-ren 2008 bis 2013 befindet sich der europäische Bau-sektor inzwischen wieder auf Wachstumskurs. 2017 lag das Bauvolumen in den 19 Mitgliedländern schon wieder um rund 125 Mrd. Euro (in Preisen von 2016) über dem bisherigen Tiefstand des Jahres 2013. Dies entspricht einem Anstieg um rund 9% auf nunmehr 1,50 Bill. Euro (in Preisen von 2016).

2017 WÄCHST DER BAUSEKTOR ERSTMALS IN ALLEN 19 MITGLIEDSLÄNDERN

Allein im vergangenen Jahr wurden die Bauleistungen um 3,5% ausgeweitet. Ein stärkeres Wachstum gab es zuletzt 2006 (vgl. Abb. 1). Insgesamt legte die Bautätig-keit in Europa seit Beginn der 1990er Jahre nur zweimal

Ludwig Dorffmeister

Länderübergreifender Aufschwung der europäischen BauwirtschaftAusgewählte Ergebnisse der EUROCONSTRUCT-Winter-konferenz 2017

Im vergangenen Jahr dürfte das Bauvolumen im EUROCONSTRUCT-Gebiet1 um 3,5% zuge-nommen haben. Die stärksten Impulse kamen dabei erneut vom Wohnungsbau. Die Entwick-lungen im Jahr 2017 sind aus zweierlei Gründen bemerkenswert. So wurden die Baumaßnah-men in Europa zuletzt 2006 kräftiger ausgeweitet. Zudem nahm die Bautätigkeit erstmals in allen 19 Mitgliedsländern zu.

Die EUROCONSTRUCT-Gruppe geht davon aus, dass sich das Wachstum über den gesam-ten Prognosezeitraum bis 2020 fortsetzen wird. Gleichwohl wird sich das Wachstumstempo sukzessive verringern. So dürfte zum einen der Wohnungsbau mittelfristig deutlich an Schub einbüßen. Zum anderen werden die Neubauleistungen im Hochbausektor zukünftig wesentlich langsamer zunehmen als noch in den Jahren 2016 und 2017. Damals wurden noch Zuwachsraten von jeweils rund 6% erreicht. Darüber hinaus dürfte die Aufwärtsentwicklung in einigen Ländern demnächst zu Ende gehen – jedoch ohne dass hier mit größeren Einbu-ßen bei der Baunachfrage zu rechnen ist.

kräftiger zu als 2017 – nämlich 2006 (+ 4,1%) und 1999 (+ 4,3%). Nach den aktuellen Prognosen werden sich die Wachstumsraten im Prognosezeitraum bis 2020 zwar stetig verringern. Insgesamt dürften sich die getä-tigten Bauleistungen dabei aber um weitere 6% bzw. fast 90 Mrd. Euro (in Preisen von 2016) erhöhen.

Einer der wichtigsten Treiber der aktuellen Auf-wärtsentwicklung ist die robuste wirtschaftliche Ent-wicklung in Europa. Daneben spielen die niedrigen Zin-sen, Zu- und Binnenwanderung, der seit der Finanz-krise vielerorts aufgelaufene Investitionsrückstand oder auch die konsequentere Nutzung der europäi-schen Fördertöpfe eine wichtige Rolle. Während sich einerseits die Bautätigkeit in wirtschaftlich stabilen Ländern wie z.B. Polen, Norwegen und Deutschland weiter auf Wachstumskurs befindet, hat sich in etli-chen Ländern – zuletzt in Portugal – auch die Baunach-frage inzwischen wieder belebt. Aufgrund dieser Kons-tellation ergibt sich erstmals überhaupt ein länder-übergreifender Anstieg der europäischen Bauleistung – wobei darauf hinzuweisen ist, dass für die 19 Län-der des EUROCONSTRUCT-Netzwerks teilweise erst ab Anfang der 1990er Jahre entsprechende Daten zur Ver-fügung stehen. Treffen die Prognosen der Bauexperten zu, könnte sich dieses »Kunststück« 2018 sogar noch einmal wiederholen.

Mittelfristig werden die Bauaktivitäten im EURO-CONSTRUCT-Gebiet jedoch immer schwächer wach-sen. Für 2020 wird nur noch mit einem Anstieg von 1%

1 Das europäische Forschungs- und Beratungsnetzwerk EUROCON-STRUCT® wurde 1975 gegründet. In diesem Verbund kooperieren Institute mit spezifischem Know-How im Bau- und Immobiliensektor aus 15 westeuropäischen sowie vier osteuropäischen Ländern. Den Kern der EUROCONSTRUCT-Aktivitäten bilden Konferenzen, auf denen die neuesten Prognosen zum Baugeschehen in den Mitglieds-ländern vorgestellt werden. Diese Veranstaltungen finden zweimal im Jahr an wechselnden Orten in Europa statt. Außerdem werden Spezialstudien zu den längerfristigen Perspektiven und zu den Struk-turveränderungen im europäischen Bausektor erstellt.Das ifo Institut ist Gründungsmitglied und deutsches Partnerinstitut des Netzwerks. Dieser Beitrag enthält ausgewählte Analysen und Prognosen der 19 Länderberichte zur 84. EUROCONSTRUCT-Konfe-renz, die am 24. November 2017 in München stattfand. Die 85. EURO-CONSTRUCT-Konferenz ist für den 8. Juni 2018 in Helsinki geplant. Das Programm sowie die Anmeldeunterlagen finden Interessenten auf der Homepage des ifo Instituts sowie auf www.euroconstruct.org.

31

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

gerechnet. So schreitet die Erholung des Bausektors in Ländern, die in den vergangenen Jahren starke Einbrü-che zu verzeichnen hatten, weiter voran. Hierzu zählen beispielsweise Irland, Spanien und Portugal, aber auch Frankreich, Italien und Ungarn. In einigen anderen Ländern dürfte in den Jahren 2018 bis 2020 jedoch die Baunachfrage wesentlich langsamer zulegen als zuletzt oder sogar ins Minus rutschen. Hierzu zählen Deutsch-land, Großbritannien, Schweden und Finnland, deren Märkte in den vergangenen Jahren maßgeblich zum Wachstum beigetragen haben. 2017 wurden in diesen vier Ländern immerhin rund zwei Fünftel aller Bauleis-tungen der EUROCONSTRUCT-Ländergruppe erbracht. Eine größere Marktkorrektur ist jedoch in keinem der vier genannten Länder zu erwarten.

TIEFBAU LÖST WOHNUNGSBAU ALS WACHSTUMS­TREIBER AB

Die Erholung des europäischen Bausektors, die 2014 begann, wurde maßgeblich vom Wohnungsbau getra-gen. In den beiden vergangenen Jahren erhöhten sich die Volumina in diesem Teilbereich jeweils um rund 5%

und lagen damit erheblich über den Zuwachsraten für den Bau-sektor insgesamt (vgl. Abb. 2). Dabei waren die erhöhten Woh-nungsbaumaßnahmen in den Län-dern Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, den Nie-derlanden und Schweden für den größten Teil des Anstiegs verant-wortlich. In allen diesen Ländern wird das Wohnungsbaugeschehen im Zeitraum 2018 bis 2020 aller-dings – zum Teil sogar erheblich – an Schwung einbüßen oder sich – wie in Schweden – sogar rückläu-fig entwickeln. Gleichwohl werden die Wohnungsbauleistungen im EUROCONSTRUCT-Gebiet bis zum

Ende des Prognosezeitraums im Jahr 2020 kontinuier-lich zunehmen.

Im Jahr 2016 wurden die Aktivitäten im Nicht-wohnhochbau erstmals seit 2007 wieder um mehr als 1% ausgeweitet. 2017 erreichte der Zuwachs dann sogar fast 3%. Auch wenn die Dynamik mittelfristig wie-der merklich abnehmen dürfte, wird für das laufende Jahr eine Zunahme der Bauaktivitäten um beachtliche 2% erwartet. In der Zweijahresperiode 2017 bis 2018 dürften – in absoluten Werten – die stärksten Impulse vom französischen Markt ausgehen, aber auch in den Niederlanden, Polen, Deutschland und Spanien wird der Nichtwohnhochbau in diesem Zeitraum merklich zulegen.

Im Tiefbausektor schrumpften die Aktivitäten 2016 um 2%. Der Hauptgrund für die rückläufige Ent-wicklung waren Verzögerungen bei der Planung und Vorbereitung von osteuropäischen Infrastrukturpro-jekten. Inzwischen hat sich die Lage aber wieder ent-spannt und gerade Polen und Ungarn setzen alles daran, die Planungen für wichtige Tiefbauvorhaben bis zur Baureife voranzutreiben und die für die Durchfüh-rung bereitgestellten EU-Fördermittel konsequent zu

nutzen. Diese Strategie schlägt sich auch in den prognostizierten Wachstumsraten dieser beiden Länder für die Jahre 2017 bis 2019 nieder. In Polen und Ungarn liegen diese Prognosewerte mit 18 bzw. 17% p.a. sogar noch über denen anderer rasant wachsender Tief-baumärkte wie Norwegen oder Belgien (vgl. Abb. 3).

In den Jahren 2018 und 2019 werden die Tiefbauleistungen im EUROCONSTRUCT-Gebiet voraus-sichtlich um 4 bzw. 4½% zuneh-men. Seit Beginn der 1990er Jahre gab es noch nie stärkere Zuwäch- se. Hier spielt wiederum Polen eine maßgebliche Rolle, dem

-12

-10

-8

-6

-4

-2

0

2

4

6

1,0

1,1

1,2

1,3

1,4

1,5

1,6

1,7

1,8

1,9

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

Quelle: EUROCONSTRUCT.

Entwicklung der Baunachfrage im EUROCONSTRUCT-Gebiet seit 2005In Preisen von 2016

Veränderungen gegenüber Vorjahr in %

© ifo Institut

Bauvolumen in Bill. Euro

Abb. 1

2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020-2

-1

0

1

2

3

4

5

6

WohnungsbauNichtwohnhochbauTiefbauInsgesamt

Quelle: EUROCONSTRUCT.

Entwicklung der Baunachfrage im EUROCONSTRUCT-Gebiet nach BaubereichenIn Preisen von 2016

Veränderungen gegenüber Vorjahr in %

© ifo Institut

Abb. 2

32

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

inzwischen – was den Tiefbau angeht – größten Profi-teur der europäischen Förderung. So wird für Polen der mit Abstand höchste absolute Zuwachs des Tiefbauvo-lumens in den Jahren 2018 und 2019 erwartet. Eben-falls kräftige Anstiege werden zudem für Großbritan-nien, Italien, die Niederlande und Norwegen erwartet.

Insgesamt stehen die Zeichen für den Tiefbausek-tor in fast allen Ländern auf Wachstum, was – neben der wirtschaftlichen Erholung – auch an der umfangreiche-ren öffentlichen Förderung zahlreicher Projekte liegt. Darüber hinaus verfügen inzwischen wieder etliche Staaten über ausreichend Finanzmittel, um notwen-dige Tiefbauvorhaben anzugehen. und nutzen dabei die überaus günstigen Finanzierungsbedingungen. In 14 der insgesamt 19 Mitgliedländer wirken sich zudem die unzureichenden Infrastrukturbedingungen posi-tiv auf die Tiefbaunachfrage aus; in Belgien, Schwe-den und Italien ist der Effekt sogar stark positiv. Als Gründe hierfür sind neben der schwachen Investi-tionstätigkeit seit der Finanzkrise auch demographische Verände-rungen, einschließlich des Trends zur Urbanisierung, zu nennen. Nur in Portugal wirkt sich die immer noch bestehende Unterauslas-tung zahlreicher Bauwerke weiter dämpfend auf die Tiefbaunach-frage aus.

Der starke Aufschwung des Tiefbausektors hat – angesichts des nachlassenden Schubs der Wohnungsbauaktivitäten – zur Folge, dass mittelfristig der Tief-bau die Funktion der Wachstums-

lokomotive für die europäische Bauwirtschaft über-nehmen wird. So wird sowohl in diesem als auch im nächsten Jahr das Tiefbauvolumen deutlich stärker wachsen als der gesamte Bausektor.

NEUBAUAKTIVITÄTEN VERLIEREN ERHEBLICH AN SCHWUNG

Die hohe Dynamik, die der Hochbau vor allem in den Jahren 2016 (+ 3,7%) und 2017 (+ 3,9%) aufwies, wird bis zum Ende des Prognosezeitraums sichtlich nachlassen (vgl. Abb. 4). So dürfte es 2020 gerade noch zu einem Plus von 1% reichen. Dabei werden sich die Bestands-maßnahmen weiterhin als stabiler Faktor erweisen. Nach durchschnittlich rund 1½% im Verlauf der Jahre 2014 bis 2017 dürften nämlich die Baumaßnahmen an den Gebäudebeständen 2018 bis 2020 um durch-

Polen 18,4 ++ + + + + + 0Ungarn 17,1 ++ ++ 0 ++ ++ ++ +

Norwegen 8,7 + + + 0 0 0 +Belgien 7,1 0 + ++ 0 + + —Schweden 4,8 + 0 ++ + + 0 +Niederlande 4,5 0 + + + + 0 +Großbritannien 4,4 + 0 + 0 — 0 0Schweiz 4,2 ++ + 0 ++ + 0 0Portugal 4,1 + + — 0 0 0 —

Tschechien 3,1 ++ + + — 0 0 0Slowakei 2,9 ++ 0 + — 0 0 0Italien 2,3 + + ++ + + 0 0Österreich 2,1 + + 0 + 0 + 0Irland 2,1 + + + 0 + 0 —Frankreich 1,8 + + + 0 + + —Deutschland 1,0 + + + + — 0 0

Dänemark -0,4 0 + + + 0 0 0Spanien -0,5 — 0 0 0 — + ——

Finnland -2,3 + + + 0 + 0 —

Erklärung: ++ starke positive Wirkung, + positive Wirkung, 0 keine oder unklare Wirkung, - negative Wirkung, –– starke negative Wirkung

Quelle: EUROCONSTRUCT.

Einflussfaktoren im Tiefbausektor bis 2019 nach Ländern

Land

Tiefbau2017 bis 2019:

durchschnittlicheprozentuale

Veränderung p.a.

Fonds (EU, national,

regional)

Wirtschafts-wachstum

Infrastruktur-bedingungen

AllgemeineFinanzierungs-bedingungen

Ökologische Faktoren und Energiepolitik

Öff. Finanzierung

und Verschuldung

Wahlen

Einschätzung der Wirkung einzelner Einflussfaktoren

© ifo Institut

Abb. 3

0

1

2

3

4

5

6

7

2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

NeubauBestandsmaßnahmenHochbau insgesamt

Quelle: EUROCONSTRUCT.

Entwicklung der Hochbaunachfrage im EUROCONSTRUCT-Gebiet nach BauartenIn Preisen von 2016

Veränderungen gegenüber Vorjahr in %

© ifo Institut

Abb. 4

33

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

schnittlich rund 1,3% p.a. zuneh-men. Im Neubausektor erwarten die Experten – trotz nachlassen-der Wachstumsraten – allerdings die nach wie vor größten Wachs-tumsbeiträge für den Hochbau. Wie bereits in den Vorjahren wird dabei der Wohnungsbau dominie-ren. Nach satten Zuwächsen von jeweils 9% in den Jahren 2016 und 2017 wird sich aber mittelfristig das Wachstumstempo des Woh-nungsneubaus deutlich verrin-gern. So dürfte das Plus im Jahr 2020 dann noch bei lediglich 1% liegen.

Allein in den fünf Ländern Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Schwe-den wurde der Neubau von Gebäu-den in den beiden Jahren 2016 und 2017 um insgesamt 42 Mrd. Euro (in Preisen von 2016) ausgewei-tet. Bis zum Ende des Prognose-zeitraums im Jahr 2020 kommen in dieser Ländergruppe jedoch nur noch Neubauleistungen in Höhe von 13½ Mrd. Euro (in Prei-sen von 2016) hinzu, wobei in Schweden der Jahreswert von 2017 dann sogar um 1½ Mrd. Euro verfehlt werden dürfte.

Gemäß der aktuellen Prognose für den Hochbau-sektor werden im Jahr 2020 acht der 19 Mitgliedsländer eine rückläufige Neubautätigkeit aufweisen. Gleichzei-tig dürften die Bestandsmaßnahmen hingegen nur in zwei Ländern abnehmen – allerdings nur in margina-lem Umfang. Diese beiden Länder sind Deutschland und die Slowakei.

KRÄFTIGER ANSTIEG DER WOHNUNGS­FERTIGSTELLUNGEN IM JAHR 2017, …

Im vergangenen Jahr erlebte der Wohnungsneu-bau einen beeindruckenden Aufschwung. Die Zahl der fertiggestellten Wohneinheiten in neu errichte-ten Wohngebäuden lag im EUROCONSTRUCT-Ge-biet mit 1,6 Mio. Wohnungen zwar immer noch unter dem Durchschnittswert der 1990er Jahre (1,95 Mio.) und sogar deutlich unter dem Spitzenwert des Jahres 2007 (2,59 Mio.). Aber noch nie wurde im Verlauf der vergangenen fast 30 Jahre das Vorjahresergebnis so kräftig übertroffen wie 2017, nämlich um 167 000 Ein-heiten (vgl. Tab. 1). 2016 betrug der Zuwachs lediglich 30 000 Einheiten. Bis 2019 dürfte sich der jährliche Anstieg dann aber stetig verringern und zum Ende des Prognosezeitraums im Jahr 2020 sogar leicht ins Minus rutschen. Dass die Neubauleistungen im letz-ten Prognosejahr sogar leicht steigen, resultiert aus einer im selben Jahr steigenden Zahl von fertigge-

stellten Ein- und Zweifamilienhäusern (+5 200 Einhei-ten). Diese erfordern im Vergleich zu den Wohnungen in Mehrfamiliengebäuden wesentlich höhere Inves-titionen. Von letzteren werden im Jahr 2020 rund 6 500 Wohneinheiten weniger fertiggestellt als noch 2019, so dass sich insgesamt ein negativer Saldo von 1 400 Wohnungen in neu errichteten Wohngebäuden ergibt.

In den vier Jahren 2017 bis 2020 dürfte sich die Zahl der fertiggestellten Wohnungen um knapp ein Viertel auf 1,77 Mio. Einheiten klettern. Dieser Zuwachs um rund 345 000 Wohnungsfertigstellun-gen geht zu drei Fünfteln auf die vier Länder Frank-reich (+ 73 000), Spanien (+ 50 000), Polen (+ 42 000) und Deutschland (+ 39 000) zurück. Hinzu kommen unter anderem noch Steigerungen von gut 40 000 Fertigstellungen auf den britischen Inseln sowie von jeweils rund 20 000 Einheiten in den Niederlan-den und Ungarn. Die Haushalte in Ungarn profitie-ren dabei von diversen staatlichen Unterstützungs-maßnahmen, wie beispielsweise einem reduzierten Mehrwertsteuersatz für Privatpersonen oder spezi-ellen Zuschüssen für Familien. Hinzu kommt, dass die Haushaltseinkommen steigen und die Finanzie-rungsbedingungen nach wie vor günstig sind. Die Zahl der Fertigstellungen dürfte deshalb 2018 mit 30 000 Einheiten dreimal so hoch sein wie 2016. Allerdings wird die ungarische Fertigstellungsquote dann mit 3,1 Wohnungen pro 1 000 Einwohner immer noch unter dem Durchschnitt aller 19 EUROCONST-RUCT-Länder von 3,6 Einheiten liegen (vgl. Abb. 5).

Tab. 1 Wohnungsfertigstellungena in Europa nach Ländern 2016 bis 2020

In 1 000 Wohneinheiten Veränderung

in % 2016 2017 2018 2019 2020 2020/2016

Belgien 45,1 48,1 44,8 49,4 47,9 6,2 Dänemark 18,7 22,0 23,5 25,5 27,0 44,1 Deutschland 235,7 260,0 275,0 280,0 275,0 16,7 Finnland 30,3 36,5 40,0 36,0 31,0 2,3 Frankreich 335,1 375,6 400,0 416,1 408,5 21,9 Großbritannien 164,6 175,0 177,0 182,0 188,0 14,2 Irland 14,9 18,8 24,0 29,0 34,0 127,7 Italien 81,6 80,6 83,1 84,9 86,9 6,4 Niederlande 54,9 66,0 67,0 68,0 74,0 34,8 Norwegen 29,4 33,9 37,3 35,5 33,0 12,2 Österreich 48,3 50,4 52,4 53,1 53,7 11,2 Portugal 7,3 8,4 10,1 13,1 16,4 125,8 Schweden 53,6 65,0 74,9 73,7 69,2 29,0 Schweiz 53,4 54,3 54,6 54,9 54,5 2,0 Spanien 40,1 55,0 70,0 80,0 90,0 124,3 Westeuropa (EC-15) 1 213,1 1 349,6 1 433,7 1 481,2 1 489,0 22,7 Polen 163,4 182,0 200,0 210,0 205,0 25,5 Slowakei 15,7 18,3 18,1 17,3 16,3 3,8 Tschechien 27,4 28,7 28,9 31,1 33,9 23,7 Ungarn 10,0 18,0 30,0 35,0 29,0 190,0 Osteuropa (EC-4) 216,5 247,0 277,0 293,4 284,2 31,3 Insgesamt 1 429,6 1 596,6 1 710,7 1 774,6 1 773,2 24,0 a Fertiggestellte Wohnungen in neu errichteten Wohngebäuden (Ein-, Zwei- sowie Mehrfamiliengebäude).

Quelle: EUROCONSTRUCT.

Tab. 1

34

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

… WOBEI DIE ENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND NUR MODERAT VERLÄUFT

Die Fertigstellungsquote für Deutschland dürfte 3,3 Wohnungen je 1 000 Einwohner betragen und damit ebenfalls den europäischen Mittelwert für das Jahr 2018 verfehlen. Es wird zwar unterstellt, dass die Zahl der fertiggestellten Wohnungen in Mehrfamili-engebäuden im Jahr 2018 um 20 000 auf 170 000 Ein-heiten steigen wird. Durch die gleichzeitig rückläu-fige Entwicklung im Eigenheimbau um 5 000 auf 105 000 Wohnungen, dürfte am Ende jedoch nur ein Anstieg um 15 000 auf 275 000 Fertigstellungen übrig bleiben. Bezieht man die Wohnungsfertigstellungen in bestehenden Gebäuden sowie in Nichtwohnge-bäuden mit ein, so ergibt sich für 2018 lediglich eine Zunahme um 5 000 auf 315 000 Einheiten. Die Geneh-migungen für Wohnungen in bestehenden Gebäuden haben sich nämlich inzwischen wieder deutlich abge-schwächt, nachdem dieser Bereich im Zuge des ver-stärkten Flüchtlingszuzugs spürbar an Bedeutung gewonnen hatte.

Der Neubausektor – insbesondere was den Geschosswohnungsbau angeht – kann sich derzeit hierzulande nicht mehr über fehlende Beachtung beklagen. So wurden unter anderem die staatlichen Finanzmittel merklich aufgestockt, und auch von pri-vater Seite besteht sehr großes Interesse an Investi-tionen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen zur Ver-ringerung von Baukosten bzw. Realisierungszeiten, allerdings bislang ohne nennenswerten landesweiten

Effekt. Die dominante Rolle spielen derzeit hingegen die diversen Engpässe bezüglich Bauflächen, kom-munalem Personal und Baukapazitäten. Vor diesem Hintergrund ist in Deutschland mit keiner weiteren erheblichen Ausweitung der Wohnungsfertigstellun-gen zu rechnen. Aber der mittlerweile aufgelaufene Bedarf und die in einigen Gebieten langfristig beste-hende Zusatznachfrage dürften die Neubauaktivitä-ten noch über viele Jahre auf einem hohen Niveau halten.

Im Gegensatz zu Deutschland übertreffen die Fer-tigstellungsquoten von Schweden, Finnland, Norwe-gen, der Schweiz, Frankreich und Österreich mit jeweils sechs bis zu siebeneinhalb Wohnungen pro 1 000 Ein-wohner den europäischen Durchschnitt für 2018 erheb-lich. Hier scheinen die Rahmenbedingungen wesentlich umfangreichere Bauaktivitäten zuzulassen als hierzu-lande, wenngleich auch dort nicht alles optimal laufen dürfte. So wird bis auf Österreich in allen genannten Ländern der Einfluss der Immobilienpreise auf die Woh-nungsbaunachfrage als negativ eingeschätzt (vgl. Abb. 6). Vielerorts übersteigt die Wohnungsnachfrage das zur Verfügung stehende Angebot demnach deutlich.

In Österreich sind die Preise für Wohnimmobi-lien seit Mitte der 2000er Jahre kontinuierlich gestie-gen. Aktuell scheint das inzwischen erreichte Niveau für weite Teile der Bevölkerung aber noch bezahlbar zu sein, auch weil die gemeinnützigen Wohnungsun-ternehmen dort eine wichtige Rolle spielen. Daneben dürften die gewerblichen Investoren noch ausreichend Spielraum für zukünftige Preiszuwächse sehen. Gleich-wohl ist sich auch die dortige Regierung des merklichen Preisauftriebs der jüngeren Vergangenheit bewusst. Deshalb hat sie 2016 ein spezielles Kreditprogramm für gemeinnützige und private Wohnungsbauprojekte (»Wohnbauoffensive«) initiiert. Dieses soll dazu beitra-gen, das Wohnen in Österreich »bezahlbar« zu halten. Die Umsetzung hat sich jedoch stark verzögert. Zudem haben die bisherigen Hauptförderer – die Bundeslän-der – darauf mit einer Verringerung ihrer eigenen Woh-nungsbauförderung reagiert.

WACHSTUMSTEMPO IM WOHNUNGSBAU: GROSSE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DEN EINZELNEN LÄNDERN

Der Wohnungsbau wird im Dreijahreszeitraum 2017 bis 2019 in allen 19 Mitgliedsländern zunehmen – am stärksten in Ungarn, Irland und Tschechien mit durch-schnittlich zweistelligen jährlichen Wachstumsraten, am schwächsten in der Slowakei und der Schweiz, mit Anstiegen bis maximal 1% pro Jahr. Der wirtschaftliche Aufschwung und die damit einhergehenden positiven Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Haushaltseinkom-men sind die Hauptreiber für den insgesamt kräftigen Zuwachs der Wohnungsbauaktivtäten. Vielerorts hat in Europa die extreme Bauzurückhaltung im Zuge der Wirtschaftskrise überdies zu einem inzwischen enor-men Nachholbedarf geführt.

0 2 4 6 8

Portugal

Italien

Spanien

Großbritannien

Tschechien

Ungarn

Deutschland

Slowakei

Insgesamt

Niederlande

Belgien

Dänemark

Irland

Polen

Österreich

Frankreich

Schweiz

Norwegen

Finnland

Schweden

© ifo Institut Quelle: EUROCONSTRUCT.

Wohnungsfertigstellungen in Europa 2018Pro 1 000 Einwohner

Fertiggestellte Wohnungen in neuerrichteten Wohngebäuden pro 1 000 Einwohner

Abb. 5

35

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

Was die Wohnungsbaunachfrage angeht, so spie-len – neben den wirtschaftlichen Einflussfaktoren und dem niedrigen Zinsniveau – vor allem demographische Aspekte, wie z.B. eine ausgeprägte Zu- und Binnenwan-derung, eine positive Rolle. In den Ländern Schweden, Großbritannien und Finnland werden die davon aus-gehenden Impulse auf die Bautätigkeit als besonders kräftig eingeschätzt. Dagegen haben gerade die osteu-ropäischen Länder, aber auch Italien und Spanien, mit einer stagnierenden oder sogar rückläufigen Bevöl-kerungsentwicklung zu kämpfen. Die Bewertung der Demographie als Einflussfaktor fällt daher zurückhal-tend aus, d.h., es wird lediglich eine neutrale oder sogar negative Wirkung unterstellt.

ÖFFENTLICHE FINANZLAGE ZWAR VERBESSERT, ABER NOCH IMMER HAUPTHINDERNIS

Auch der Nichtwohnhochbau wird derzeit vorwie-gend vom wirtschaftlichen Aufschwung stimuliert. So hat das Wirtschaftswachstum im Dreijahreszeitraum 2017 bis 2019 in 17 der 19 Mitgliedsländer positive Aus-wirkungen auf die Bauleistungen, in Frankreich und der Schweiz sogar stark positive Auswirkungen (vgl. Abb. 7). In fast ebenso vielen Ländern profitieren der Neubau und Erhalt von Nichtwohngebäuden von der günstigen Entwicklung der Unternehmensgewinne, vor allem in Finnland. Daneben dürfte der Nichtwohn-hochbau in zahlreichen Ländern von den vergleichs-weise vorteilhaften Renditenchancen, dem Moderni-sierungsbedarf sowie dem niedrigen Zinsniveau stimu-liert werden. Andererseits führen in der Periode 2017 bis 2019 unterschiedliche politische Einflüsse zu einer Dämpfung der Baunachfrage. So belasten beispiels-

weise in Spanien die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens die Investitionsentscheidungen vieler Fir-men. Besonders negativ sind die Folgen in Großbritan-nien, wo eine geschwächte Regierung die im Sommer 2016 per Volksabstimmung erfolgte Entscheidung zum Austritt aus der Europäischen Union umsetzen muss. Da die Verhandlungen mit der EU bislang aber nicht recht vorankommen, gibt es noch immer große Unsi-cherheiten über die tatsächlichen Austrittsformalitä-ten. Die Unternehmen werden deshalb auch hier wei-ter zurückhaltend agieren.

Größtes Hemmnis für eine stärkere Belebung des Nichtwohnhochbaus bleibt aber weiterhin die öffentli-che Finanzlage – auch wenn sich die Situation vielfach weiter verbessert hat. Lediglich die drei Länder Ungarn, Schweden und die Niederlande, die sich hinsichtlich der Marktentwicklung bis 2019 in der Spitzengruppe befinden, sind hiervon nicht betroffen. Nach den Ein-schätzungen der jeweiligen Experten sind daher sogar (stark) positive Impulse für die Baunachfrage zu erwar-ten. Im Gegensatz dazu sind die Staatsfinanzen in ins-gesamt sechs Ländern noch immer derart angespannt, dass das Wachstum des Nichtwohnhochbaus davon beeinträchtigt wird.

Darunter fallen auch die beiden vormaligen Kri-senländer Irland und Spanien, die sich inzwischen wie-der auf Erholungskurs befinden. Während sich der spa-nische Markt nur in recht kleinen Schritten, dafür aber stetig, nach oben entwickelt, wird für Irland mittelfris-tig mit einer erneuten Marktkorrektur gerechnet. Ange-trieben durch den Neubausektor hat der irische Nicht-wohnhochbau in den Jahren 2013 bis 2016 bereits um mehr als die Hälfte zugelegt. 2017 und 2018 dürfte dann noch einmal ein Anstieg von insgesamt einem Fünftel

Ungarn 26,6 + + ++ — ++ ++ ++Irland 19,0 + ++ + + + 0 —Tschechien 10,0 + + + 0 + 0 —

Portugal 7,4 + + + + + 0 +Spanien 6,4 + 0 0 0 + 0 0Polen 5,1 + ++ + + + 0 0Niederlande 5,0 + + + + 0 — 0

Dänemark 3,8 ++ + + + + 0 0Schweden 3,5 0 + + ++ 0 + —Frankreich 3,4 ++ + + + 0 — —Großbritannien 2,3 0 + 0 ++ — ++ ——Belgien 2,3 + ++ + + 0 0 +Norwegen 2,1 + + + 0 — 0 —Finnland 2,0 ++ + 0 ++ ++ + —Österreich 1,6 + 0 + + 0 0 +Deutschland 1,4 + + + + + 0 0Italien 1,3 + + + 0 + ++ —Slowakei 1,0 + + 0 0 0 0 0

Schweiz 0,6 + 0 + + + 0 —

Erklärung: ++ starke positive Wirkung, + positive Wirkung, 0 keine oder unklare Wirkung, - negative Wirkung, –– starke negative WirkungDemographische Effekte: Entwicklung der Einwohnerzahl, Änderung der durchschnittlichen Haushaltsgröße, der Altersstruktur, der geographischen Bevölke-rungsverteilung usw.

Quelle: EUROCONSTRUCT.

Einschätzung der Wirkung einzelner Einflussfaktoren

Einflussfaktoren im Wohnungsbausektor bis 2019 nach Ländern

Land

Wohnungsbau2017 bis 2019:

durchschnittlicheprozentuale

Veränderung p.a.

WirtschaftlicheAussichten

Arbeits-markt

Haushalts-einkommen

Demogra-phischeEffekte

AllgemeineFinanzierungs-bedingungen

SteuerlicheAnreize bzw.

öff. Förderung

Wohn-immobilien-

preise

© ifo Institut

Abb. 6

36

DATEN UND PROGNOSEN

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

hinzukommen. Auf diesen rasanten Zwischenspurt wird jedoch ab 2019 voraussichtlich ein ausgeprägter, wenngleich nicht dramatischer Rückgang der Bauak-tivitäten in diesem Teilsegment folgen. Hierbei spie-len der Abschluss zahlreicher größerer Vorhaben, der bereits erfolgte Abbau des Nachholbedarfs sowie wachsende Engpässe bei Bauflächen und Baugewerbe eine wesentliche Rolle. 2020 dürfte das Bauvolumen dann wieder bei weniger als der Hälfte des maximalen Vorkrisenniveaus von damals gut 8 Mrd. Euro (in Prei-sen von 2016) liegen.

DER UNGARISCHE MARKT WÄCHST AM STÄRKS­TEN, IST ABER AUCH DER ZWEITKLEINSTE

In den Prognosen der EUROCONSTRUCT-Gruppe wer-den dem ungarischen Markt die höchsten prozentua-len Zuwächse bis 2020 zugetraut. So dürfte der dortige Bausektor allein in den vier Jahren 2017 bis 2020 um insgesamt zwei Drittel zulegen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es 2016 aufgrund mangelnder Nachfolgevorhaben im Rahmen der europäischen För-derprogramme zu einem Rückgang der ungarischen Bauleistung in Höhe von rund 20% kam. Diese Markt-korrektur betraf fast ausschließlich den Tiefbau sowie die Sanierung von Nichtwohngebäuden. Ebenso bleibt zu beachten, dass die ungarische Bauwirtschaft bereits in den Jahren 2006 bis 2012 Einbußen von insgesamt einem Drittel hinzunehmen hatte.

Die überaus positiven Prognosen zur Bautätigkeit gründen also nicht nur auf den günstigen Rahmenbe-dingungen und den verstärkten Anstrengungen der ungarischen Regierung, sondern auch auf den voran-gegangenen, erheblichen Einbußen, die letztlich wie-derum zu erhöhtem Investitionsbedarf geführt haben.

Die – im Vergleich zu anderen Ländern – großen prozen-tualen Schwankungen der Bauleistungen gehen zudem auf die geringe Größe des ungarischen Marktes zurück. So betrug das gesamte Bauvolumen vergangenes Jahr nur knapp 10 Mrd. Euro (in Preisen von 2016) und war damit das zweitkleinste nach dem slowakischen. Auch wenn die prozentualen Dimensionen von Anstie-gen und Rückgängen relativiert werden müssen, so ist bemerkenswert, dass das ungarische Bauvolumen – nach den aktuellen Prognosen – in den Jahren 2019 und 2020 die höchsten Werte seit dem Fall des Eiser-nen Vorhangs erreichen wird. Auf dem Weg dorthin muss aber im laufenden Jahr erst einmal der nächste Schritt getan werden. Der erwartete Zuwachs von gut 2 Mrd. Euro dürfte dabei zur Hälfte auf das Konto des Wohnungsbaus gehen.

LITERATUR

EUROCONSTRUCT (2017a), 84th EUROCONSTRUCT Country Report – Euro-pean Construction: Market Trends until 2020, 23-24 November 2017, Munich. November 2017, ifo Institut, München.

EUROCONSTRUCT (2017b), 84th EUROCONSTRUCT Summary Report – Euro-pean Construction: Market Trends until 2020, 23-24 November 2017, Munich. November 2017, ifo Institut, München.

Ungarn 12,9 + + + ++ ++ ++ ++

Polen 5,5 + + + 0 + + 0Schweden 5,4 0 + + + 0 + +Irland 5,1 + + + + — 0 —Niederlande 4,5 + + 0 0 + + +

Portugal 3,2 + 0 + + + 0 0Spanien 3,0 + + + 0 + — —Dänemark 2,9 + + + 0 0 + 0Frankreich 2,8 ++ + + + 0 + —Norwegen 2,8 + + + 0 0 0 0Schweiz 2,4 ++ 0 — — + — 0Österreich 2,1 + + 0 0 0 0 0Tschechien 2,1 + + 0 + — 0 —Belgien 1,6 + + + 0 0 0 —Italien 1,5 + + 0 ++ 0 0 0Slowakei 1,3 + 0 0 + 0 0 0

Deutschland 0,3 + + + + + — 0Finnland 0,2 + ++ + 0 + 0 0Großbritannien 0,1 0 + 0 0 + —— —

Erklärung: ++ starke positive Wirkung, + positive Wirkung, 0 keine oder unklare Wirkung, - negative Wirkung, –– starke negative Wirkung

Quelle: EUROCONSTRUCT.

Einschätzung der Wirkung einzelner Einflussfaktoren

Einflussfaktoren im Nichtwohnhochbau bis 2019 nach Ländern

Land

Nichtwohnhochbau2017 bis 2019:

durchschnittlicheprozentuale

Veränderung p.a.

Wirtschafts-wachstum

Unternehmens-gewinne

Erzielbare Gesamtrendite

Gebäude-zustand und

Leerstand

AllgemeineFinanzierungs-bedingungen

Politische Einfluss-faktoren

Öff. Finanzierung

und Verschuldung

© ifo Institut

Abb. 7

37

IM BLICKPUNKT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

1 Im Jahr 2005 hat das ifo Institut seine monatlichen Konjunkturumfragen auf den deutschen Dienstleistungssektor erweitert. Eine Teilgruppe sind seitdem die Archi­tekturbüros. Die ausführlichen Ergebnisse der ifo Konjunkturumfragen werden in den »ifo Konjunkturperspektiven« veröffent­licht. Die Zeitschrift kann zum Preis von 75,– EUR/Jahr abonniert werden.

Das Geschäftsklima bei den an der ifo Konjunkturum­frage beteiligten Architekturbüros verbesserte sich im vierten Quartal bedeutend. Dies verdankte sich einem deutlichen Anstieg beider Teilindikatoren. Die aktuelle Umsatzentwicklung gewann im vierten Quartal deut­lich an Dynamik, und auch die diesbezüglichen Erwar­tungen waren stärker von Optimismus geprägt. Die Beurteilung des Auftragsbestands erreichte im Okto­ber eine neue Bestmarke seit Beginn der Umfrage im Jahr 2005.

Das ifo Geschäftsklima bei den freischaffenden Architekten hat sich gegenüber den Vorquar­talen bedeutend verbessert. Der Indikator überbot im November mit hervorragenden 36,4 Punkten das bisherige Allzeithoch (Novem­ber 2016). Im Dezember konnte der Indikator diese Rekordmarke nicht ganz bestätigen, mit 35,0 Punkten lag er aber weiterhin auf einem sehr guten Niveau.

Das außerordentlich günstige Geschäftsklima wurde zum Groß­teil von der überaus guten Bewer­tung der aktuellen Geschäftslage getragen. Das vierte Quartal fiel dabei durch den höchsten durch­schnittlichen Stand des Lagein­dikators seit Beginn der Zeitreihe auf. Im November kam der Indika­tor mit 65,5 Saldenpunkten dem im Mai 2017 erreichten Allzeithoch (66,4 Saldenpunkte) sehr nahe. Im Dezember verschlechterte sich die Lagebeurteilung auf 61,0 Salden­punkte, lag damit aber noch über dem Stand vom Oktober.

Trotz der bereits überaus positiven aktuellen Geschäfts­

Christoph Zeiner

Sonderauswertung der ifo Konjunkturumfragen für das vierte Quartal 2017:

Architekturbüros1

lage, erwarteten die befragten Architekten im vier­ten Quartal wieder öfter eine weitere Verbesserung ihrer Geschäftslage. Im Oktober hat die Bewertung der Erwartungen für die nächsten sechs Monate mit 13,0 Saldenpunkten den in diesem Jahr höchsten Wert erzielt. Auf gutem Niveau ging der Erwartungsindika­tor zum Jahresende nur leicht (Dezember: 11,6 Salden­punkte) zurück.

Die Umsatzentwicklung wurde im vierten Quartal von den freischaffenden Architekten insgesamt bes­

-60

-40

-20

0

20

40

60

80

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

GeschäftsklimaBeurteilung der GeschäftslageGeschäftserwartungen

Quelle: ifo Konjunkturumfragen, Dezember 2017.

ifo Konjunkturumfrage Architekturbüros: GeschäftsklimaSaisonbereinigt

Salden

© ifo Institut

Abb. 1

-50

-40

-30

-20

-10

0

10

20

30

40

50

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

UmsatzentwicklungUmsatz gegen VorjahresmonatUmsatzerwartungen

Quelle: ifo Konjunkturumfragen, Dezember 2017.

ifo Konjunkturumfrage Architektenbüros: UmsatzSaisonbereinigt

Salden

© ifo Institut

Abb. 2

38

IM BLICKPUNKT

ifo Schnelldienst 2 / 2018 71. Jahrgang 25. Januar 2018

ser beurteilt, als in den vorherigen beiden Quartalen. Dabei fiel die Bewertung im Dezember mit 11,4 Sal­denpunkten gegenüber den beiden vorherigen Mona­ten (im November sogar 25,4) zurückhaltender aus, lag aber immer noch über dem langfristigen Durchschnitt von 2,8 Saldenpunkten.

Gegenüber den jeweiligen Vorjahresmonaten berichteten die Teilnehmer über das ganze vierte Quar­tal von gestiegenen Umsätzen. Insbesondere im Okto­ber wurde diesbezüglich vielerorts von Zunahmen berichtet.

Die befragten Architekten erwarteten im vierten Quartal per saldo eine bedeutende Steige­rung des Umsatzes in den nächs­ten Monaten. Dabei wurden die Umsatzaussichten im Oktober am besten bewertet. Eine ähnlich gute Bewertung der Umsatzer­wartungen gab es zuletzt im Mai 2013. Im November und Dezember büßten die Erwartungen etwas an Optimismus ein, waren aber wei­terhin durchaus zuversichtlich.

Die Architekten beurteilten ihren aktuellen Auftragsbestand im vierten Quartal wieder günsti­ger. Die Bewertung des Auftrags­bestands hatte sich in den beiden vorherigen Quartalen auf hohem Niveau geringfügig verschlechtert. Nun wurde im Oktober (38,3 Sal­denpunkte) ein neues Allzeithoch seit Beginn der Umfrage im Jahr 2005 erreicht. Im November und Dezember konnte dieses Spitzen­ergebnis nicht ganz gehalten wer­den, wobei sich der Indikator wei­terhin auf einem herausragenden Niveau befand.

Im aktuellen Quartal erwar­teten die freischaffenden Archi­tekten, in den nächsten Monaten steigende Preise für ihre Leistun­gen durchsetzen zu können. Die Preiserwartung verschlechterte sich im Dezember nur leicht auf 19,2 Saldenpunkte von zuletzt

22,7 (Oktober: 22,4).Die Architekten gaben über das gesamte vierte

Quartal an, ihren Personalstamm tendeziell ausgewei­tet zu haben. Im November erreichte der zugehörige Indikator den zweithöchsten Stand im laufenden Jahr.

Auch im vierten Quartal waren die Personalpla­nungen – wie in den vorherigen Quartalen – sichtlich auf Wachstum ausgerichtet. Der langfristige Durch­schnitt des zugehörigen Indikators wurde jeweils deut­lich überboten.

-100

-80

-60

-40

-20

0

20

40

60

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Beurteilung des AuftragsbestandsPreiserwartungen

Quelle: ifo Konjunkturumfragen, Dezember 2017.

ifo Konjunkturumfrage Architekturbüros: Auftragsbestand und PreiseSaisonbereinigt

Salden

© ifo Institut

Abb. 3

-30

-20

-10

0

10

20

30

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Entwicklung der BeschäftigtenzahlErwartungen der Beschäftigtenzahl

Quelle: ifo Konjunkturumfragen, Dezember 2017.

ifo Konjunkturumfrage Architekturbüros: BeschäftigteSaisonbereinigt

Salden

© ifo Institut

Abb. 4

Der ifo Newsletter berichtet jeweils am Monatsende in deutscher Sprache über neue Forschungsergebnisse, wichtige Publikationen, ausgewählte Ver-anstaltungen, Personalien, Termine und vieles mehr aus dem ifo Institut.

Der CESifo Newsletter berich-tet unter anderem über alle CESifo-Veranstaltungen, liefert eine kurze Zusammenfassung der zuletzt erschienenen CES ifo Working Papers, informiert über wichtige Neuigkeiten aus dem ifo Institut und über die Gäste der CESifo-Gruppe.

Der ifo Dresden Newsletter ist ein Service der ifo Niederlassung Dresden, der regelmäßig über aktuelle Publikationen und Ver-anstaltungen der Niederlassung berichtet. Er wird alle zwei Mo-nate jeweils zum Erscheinen der Zeitschrift „ifo Dresden berichtet“ verschickt.

Der CESifo FORUM Newsletter informiert vierteljährlich über das Erscheinen einer neuen Ausgabe der Zeitschrift CESifo Forum.

Der ifo DICE REPORT News letter informiert vierteljährlich über das Erscheinen einer neuen Ausgabe der Zeitschrift ifo DICE Report.

Der ifo WORLD ECONOMIC SUR-VEY Newsletter informiert viertel-jährlich über das Erscheinen einer neuen Ausgabe der Zeitschrift ifo World Economic Survey.

Kostenlose Online-Informationsdiensteder CESifo-Gruppe München

Auf unserer Homepage www.cesifo-group.de haben Sie die Möglichkeit, die hier aufgeführten Newsletter zu abonnieren.

ifoWORLD ECONOMIC SURVEY

Newsletter