Impressum · 2020. 7. 7. · Rotzfrech! – Na?“ „Du? Unserem Spieß ins Gesicht?“ Eine Weile...

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  • ImpressumWolfgang HeldLasst mich doch eine Taube sein ISBN 978-3-96521-037-0 (E-Book) Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 im Militärverlag derDeutschen Demokratischen Republik.Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta © 2020 EDITION digitalPekrul & Sohn GbRGodernAlte Dorfstraße 2 b19065 PinnowTel.: 03860-505 788E-Mail: [email protected]: http://www.edition-digital.de Die lodernde Flamme des Scheiterhaufens verzehrte dieKörper der Märtyrer, aber an ihrem Feuer entzündeten sichunendlich viele Fackeln …M. J. Saltykow-Schtschedrin

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    mailto:[email protected]://www.edition-digital.de

  • 1.HANS SULKA, der Krämer:Ein Kaufmann teilt die Menschen in Kunden und Nichtkundenein … Der Junge auf der Mauer kraulte dem Abkömmling vonmindestens neun Hunderassen das Fell, ließ die Beinebaumeln und beobachtete drei deutsche Soldaten, die ausDragutins Kneipe kamen.Den Uniformierten war nach ein paar Schritten eine leereKonservenbüchse vor die Stiefel geraten. Nun stießen sie dasscheppernde Blech, fröhlich lärmend und einander wieHalbwüchsige rempelnd, über das Kopfsteinpflaster.Der Hund bleckte seine Zähne und knurrte.„Still, Pascha!“, warnte der Junge leise, ohne die Soldaten ausden Augen zu lassen. Er hieß Boris, war neun Jahre alt undhoffte in diesen Minuten, dass die drei Fremden seinenGroßvater und den Krämerwagen nicht bemerkten.Hinter der jetzt herabgeklappten Seitenplanke des vierrädrigenGefährts lockte bunter Wirrwarr. Tücher und Töpfe, Bänderund Bürsten, Zahnpasta und Zuckerstangen. Und wenn’s einSchlangenohr wäre, Hans Sulka hat’s auf seinerPlunderkutsche, so urteilten die Leute ringsum in den Dörfernund Städten des östlichen Kroatiens. Hier in Slawonien,zwischen den Flüssen Drau und Sava, von den fruchtbarenEbenen bis hinauf ins bewaldete Bergland hatte der Händlermit seinem Pferdekarren längst alle guten und schlechten

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  • Wege befahren. Wo auch immer er in dieser vertrautenGegend anhielt, seinen Hengst ausspannte und zurZiehharmonika griff, um die Ankunft weithin mit einer flottenPolka zu verkünden, musste er nicht lange auf Kauflustigewarten.„Schaut euch das an!“, forderte Hans Sulka die beiden Frauenvor seinem Krämerwagen auf. Er ließ das Ende einesStoffballens in der Vormittagssonne glänzen. „Seide! Qualitätwie vor dem Krieg!“Die Frauen tuschelten miteinander. Kundige Griffe und Blickeprüften die Ware.Der Händler drängte nicht. Er wusste, dass sie kaufenwürden. Wohlgefällig musterte er die im weitenBlusenausschnitt der Jüngeren großzügig ausgestelltenstraffen Brüste.„Wie viel verlangst du für den Meter?“, fragte die Ältere, derman ein halbes Menschenalter harte Feldarbeit, siebenschwere Geburten und eine trotz allem unverbrauchteLebenslust ansah. Wie ihre hübsche Begleiterin und HansSulka sprach sie serbokroatisch.Er nannte einen Preis, für den man vor dem Einmarsch derFaschisten in Jugoslawien im April 1941 einen ganzen Ballenbekommen hätte, doch in den seither vergangenensiebenundzwanzig Monaten waren nicht nur die Preise inschwindelnde Höhen geklettert, sondern auch die meistenDinge des täglichen Bedarfs rar geworden.„Zuviel“, sagte die Jüngere.Der Blick des Händlers lag immer noch auf ihrem Busen. Er

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  • kratzte sein glattrasiertes Kinn und lächelte. „Wir könnten unsschnell einig werden.“Die junge Frau taxierte den stämmigen Mittfünfziger, seineStirnglatze und die weißen Schläfen, die welke Haut am Halsund den über seinen enggeschnallten Leibriemen quellendenBauch. Spott umspielte ihre Lippen. „Angeber!“, sagte sie.„Von wegen!“, widersprach die Ältere und lachtebesserwisserisch. Sie war dabeigewesen, als Hans Sulkawährend eines Kirchweihfestes die Wette um ein 50-Liter-Fass Wein gewonnen hatte, indem er mit einem einzigenFausthieb eine armdicke Speiche im Hinterrad einesAckerwagens zerschlug. Noch keine fünf Jahre lag das zurück.Damals hatte er seinen Enkel Boris schon hin und wieder beisich gehabt. Unternehmungslustig blinzelte die Frau ihn an,bevor sie sich wieder der jüngeren Begleiterin zuwandte. „Jeälter der Bock, desto härter das Horn, aber die Augen, dieAugen! Wenn er bloß mehr von den Weibern verstünde …!“In diesem Augenblick begann Pascha zu kläffen.Die Bäuerin verstummte.Boris saß plötzlich steif und hielt seine Beine still.Hans Sulka und die beiden Kundinnen blickten in die Richtung,in die der Hund sein Gebell schickte.Die drei deutschen Soldaten hatten den Krämerwagenentdeckt. Sie kamen heran.„Wir überlegen’s uns mit der Seide“, sagte die Jüngere zuHans Sulka. Mit ihrer Begleiterin entfernte sie sich ohneauffällige Hast aus der Nähe der Deutschen. Als die dreiUniformierten den Händler fast erreicht hatten, gingen die

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  • Frauen schon an dem kleinen Schulgebäude vorbei, in demseit einigen Monaten ein Feldlazarett der Wehrmachtuntergebracht war. Eiliger überquerten sie dann den imSchatten hoher Linden liegenden Platz vor der SS-Kommandantur.Keiner der drei Soldaten in Wehrmachtuniform war älter alsdreißig Jahre. Der Wein in Dragutins Kneipe hatte dieGesichter gerötet. Sie redeten laut und gleichzeitig. DieStraße gehörte ihnen. Die kleine Stadt Novi Brod, Slawonien,Kroatien. Und morgen sowieso die ganze Welt …„Marschiert ’n halben Kilometer hinter mir vorbei und scheißtmich an, weil ich die Flosse nicht gleich hochgerissen habe“,sagte einer der drei. „Aber dem Kerl hab ich was erzählt!“„Kenn ich! Ein ganz scharfer Hund!“„Du musst ihn nur zu nehmen wissen.“„Weißt du, was ich dem gesagt habe? Am Arsch hab ich keineAugen, das hab ich ihm gesagt! Schlankweg ins Gesicht!Rotzfrech! – Na?“„Du? Unserem Spieß ins Gesicht?“Eine Weile schien es so, als sei ihnen der Krämerwagenebenso gleichgültig wie der Hass hinter den Gardinen in denHäusern ringsum.Der Händler griff nach seiner Ziehharmonika. Fast zärtlichglitten seine Finger über die hellen Knöpfe. Paschashartnäckiges Kläffen störte die leise Melodie. Trotzdemschaute einer der drei Uniformierten herüber. Er stutzte undhob interessiert das Kinn.

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  • „Mensch, guck doch mal! Auf so was ist meine Alte ganz wild“,rief er begeistert. „Bauernblusen!“Hans Sulka bekam Kundschaft.Der Junge auf der Mauer blickte jetzt feindselig zum Karren.Er presste die Lippen zusammen. Die Soldaten wühlten in denWaren, hielten sich gegenseitig buntbestickte Blusen vor dieBrust und kommentierten dieses Maßnehmen mit zotigenWitzeleien. An ihrem brüllenden Gelächter beteiligte sich auchder Händler. Er machte ein gutes Geschäft.Indessen trieb Zorn das Blut aus dem Gesicht des Enkels. Indiesen Minuten erlebte Boris zum wiederholten Male einGeschehen, das ihn oft bis in seine Träume verfolgte. Eswaren Augenblicke, in denen er mit dem Gedanken spielte, vorseinem Großvater auszuspeien.Vor dem Mann mit dem Krämerwagen hatte es bei den Sulkasniemals einen Händler gegeben. Wie die Eintragungen in einealte Familienbibel bewiesen, waren sie seitMenschengedenken Bauern gewesen, die dem Boden vieleJahrzehnte reiche Ernte abgerungen hatten. Von Korn, Obstund Wein blieb nach den ständig steigenden Abgaben an dieweltliche und kirchliche Obrigkeit freilich von Jahr zu Jahrweniger übrig. Hinzu kam, dass die durch häufige Erbteilungbedingte Zersplitterung des Ackers überall in den Dörfern desSchwabenlandes die Not wachsen ließ.Um 1745 durchstreiften Auswanderungsagenten der KaiserinMaria Theresia das westliche Europa. Gegen das weitereVordringen der Türken hatte Österreich von der Adria bis nachSiebenbürgen einen Gürtel militärisch organisierter Siedlungenaufgebaut. Dort und im unmittelbaren Hinterland wurden

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  • Flüchtlinge aus den von Osmanen besetzten Gebieten sowieangeworbene Einwanderer angesiedelt. Neben kroatischenund serbischen Dörfern entstanden in jenen Jahren ungarische,rumänische, deutsche, tschechische, slowakische und sogarfranzösische Ansiedlungen.Die Werber fanden auch bei einem der Sulka-Söhne offeneOhren. Mit seiner jungen Frau zog er nach Slawonien. Auf demvon ihm gegründeten Gehöft hatten sich seitdem fünfGenerationen abgelöst. Nachkommen von ihm lebten verstreutbis in die Vojvodina, wo die meisten von ihnen als Landwirteeinen guten Namen hatten.Hans Sulka musste als Zweitgeborener den väterlichen Hofdem älteren Bruder überlassen. Er heiratete die Tochter einesebenfalls deutschstämmigen Dorfschmieds, ging bei ihm in dieLehre und übernahm später die kleine Werkstatt, um sie einigeJahre hindurch mehr schlecht als recht weiter zu führen.Im September 1917 gebar Maria Sulka ihrem Mann einenSohn und im gleichen Monat des folgenden Jahres eineTochter. Der Junge erhielt den Namen Josef. Die Tochtersollte zuerst Johanna genannt werden, vielleicht auch Sophie,Helene oder Hilde, wie viele Mädchen im Dorf, wo auch nachzwei Jahrhunderten noch in fast jedem Haus die vomschwäbischen Dialekt gefärbte deutsche Sprache gesprochenwurde. Doch dann entschieden Hans Sulka und seine Frau zurVerwunderung einiger Nachbarn anders. Das Mädchen erhieltden Namen Slavia.Das in dieser Zeit des Zerfalls der österreichisch-ungarischenDoppelmonarchie überall in den südslawischen Gebietenerstarkende, mit leidenschaftlichem Unabhängigkeitsstreben

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  • gepaarte Nationalbewusstsein der Südslawen führte am 1.Dezember 1918 zur Proklamation des vereinigten Königreichesder Serben, Kroaten und Slowenen.Wir sind zwar Deutsche, erklärten die Sulkas damals einemverständnislosen Nachbarn, aber Slawonien ist unsre Heimat.Hier ist der Boden, der schon unsere Väter und Vorväterernährt hat. Diese Erde trug unsere ersten Schritte, sie istunser Tisch und unser Bett, bis sie am Ende auch unseresterbliche Hülle aufnehmen wird. Wenn wir nun unsererTochter den Namen Slavia geben, so ist das ein Zeichen.Versteh es oder versteh es nicht, Landsmann!Boris, der nun schon seit vierzehn Monaten ständig bei seinemGroßvater lebte und mit ihm kreuz und quer durch das von denHitler-Deutschen besetzte Slawonien zog, war Slavias Sohn.Der Junge liebte seine Mutter sehr, aber wenn er an einerWeggabelung vor die Wahl zwischen einer zweistündigenWanderung zu ihr oder einem harten Tagesmarsch zu seinemGroßvater gestellt worden wäre, hätte er sich ohne Zögern fürdie mühevollere Strecke entschieden.In den Augen des Neunjährigen war sein Großvater derklügste, tapferste und stärkste Mensch auf der ganzen Welt.Den Platz an seiner Seite auf dem Kutschbock desKrämerwagens oder neben ihm beim Nachtlager unter derstrengriechenden Pferdedecke tauschte Boris nicht gegen einKönigsschloss, ein eigenes Pony oder jeden Tag Honigkuchenein. Um so mehr schmerzte ihn die Tatsache, dass diesergeliebte Mensch mit den deutschen Soldaten umging, als wärenicht im ganzen Land die Rede von Zwangsabgaben undniedergebrannten Bauernhöfen, von Verhaftungen, Folterungen

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  • und Mord.Obwohl Boris wie alle Sulkas in der gleichen Sprache redeteund dachte, die auch den Männern in den grauen Uniformenmit dem Silberadler über der rechten Brusttasche von derZunge kam, hasste er die Eindringlinge mehr als Tierquäleroder Leute, die ihre Frauen und einander prügelten. Sieerschienen ihm wie Ungeheuer von einem fernen Stern,blutrünstig, hinterlistig. Und er verstand gut, weshalb diemeisten Leute in Novi Brod und Umgebung einem Hitler-Soldaten nicht einmal einen Schluck Wasser gaben, ohne dazugezwungen zu werden. Die Freundlichkeit, mit der Hans Sulkaden Besatzern vor seinem Krämerwagen begegnete, kam demEnkel wie blanker Verrat vor. In solchen Stunden schämte ersich seines Großvaters. Das Hundegebell war verstummt.Durch die geöffneten Fenster des Dienstzimmers, in dem derSS-Kommandant von Novi Brod residierte, fiel der Blick auf diehohen Linden des still dahindämmernden Marktplatzes.SS-Sturmbannführer Harald Schnitzinger saß hinter einemSchreibtisch und beschäftigte sich mit dem Inhalt einer dickenUnterschriftsmappe. Er mochte Mitte dreißig sein, trug dasrotblonde Haar bürstenkurz und benutzte eine Lesebrille. Auchim Schreibtischsessel verlor der schlanke, sportlich wirkendeMann nichts von einer militärisch-straffen Haltung. Es hatteden Anschein, als sei ihm die Anwesenheit seinesUntergebenen völlig entfallen.Josef Sulka, SS-Oberscharführer und Dolmetscher des

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  • Kommandanten, wartete stumm. Er bewegte keinen Muskel.Sein Blick streifte die an der Wand hinter dem Schreibtischaufgehängten fast lebensgroßen Bilder von Hitler und Himmler,wanderte dann gelangweilt zu einem Dutzend alter, kunstvollerIkonen, mit denen Schnitzinger die linke Seite seines Zimmersgeschmückt hatte, und kehrte schließlich zurück zu demVorgesetzen.„Aha, da haben wir ja auch Ihr Papierchen, Oberscharführer“,sagte der Kommandant endlich. Er nahm ein Schriftstück ausder Mappe und las. An dem engbeschriebenen Blatt hing dasbereits ausgefüllte Formular einer amtlichen Genehmigung, diedem Besitzer uneingeschränkte Bewegungsfreiheit in den vonder deutschen Militärverwaltung kontrollierten Zonen Kroatienseinräumte. Das beigefügte Dossier stimmte den SS-Sturmbannführer wohlwollend. Er schaute seinenUntergebenen an und lächelte. „Ein tüchtiger Mann offenbar,Ihr alter Herr.“„Jawohl, Sturmbannführer!“„Nie rausgekommen aus dieser Gegend, nicht wahr?“„Was mehr als hundert Kilometer entfernt ist, hat ihn seinLeben lang nicht interessiert. So sind die meisten Leute inSlawonien.“„Muss ja kein Makel sein, so was. Aber in den Dörfernringsum weiß er doch Bescheid, nehme ich an.“„Die meisten Familien kennt er mit Namen.“„Ob er mir da wohl einen Gefallen tun würde, was meinenSie?“Josef Sulkas Lider zuckten kaum merklich. Er zögerte. „Mein

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  • Vater hat seine Kanten, Sturmbannführer“, antwortete erausweichend. „Das war auch einer der Gründe, weswegen ichdamals abgehauen und ins Reich gegangen bin. Der Alte hat,wie soll ich sagen …, zu wenig Nationalgefühl.“„Na, na, nun mal nicht gleich so starke Worte. Wie alt warenSie eigentlich, als Sie hier weggegangen sind?“„Sechzehn, Sturmbannführer. Neunzehnhundertvierunddreißig!“Schnitzinger nickte und schaute hinüber zu seinen Ikonen. „Ichkönnte mir vorstellen, dass es nicht schwer für ihn wäre, inden Dörfern das eine oder andere Stück für meine Sammlungaufzustöbern. Natürlich gegen gute Bezahlung.“„Aber sicher, Sturmbannführer“, bestätigte Josef Sulka sofortund sichtlich erleichtert. Er hatte befürchtet, dass Schnitzingereinen Mann für Spitzeldienste suchte. Heiter rezitierte er einenLieblingsspruch seines Vaters: „Ob kleines oder großes Dings,der Sulka hat’s, der Sulka bringt’s!“„Es soll sein Schaden nicht sein“, sagte der Kommandant. Ersetzte seinen Namenszug auf den Passierschein, seine Mieneverriet nicht, wie sehr ihn die Leichtgläubigkeit seinesUntergebenen amüsierte. Das müsste ein dämlicher Anglersein, der dem Fisch statt des Köders gleich die Bratpfannezeigt, dachte er vergnügt.Zufrieden beobachtete Josef Sulka, wie der Kommandant einDienstsiegel auf das Dokument drückte. Unbewusst rieb er dieFinger. Seit Jahren hatte er die Stunde herbeigesehnt, in derer seinem Vater Überlegenheit beweisen konnte. Heuteendlich würde dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Der Scheinöffnete Hans Sulka alle Militärsperren zwischen der Drava im

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  • Norden und der Demarkationslinie zu dem von Mussolini-Truppen besetzten Süden. Auch die Ustascha-Leute des vonder Besatzungsmacht für Kroatien eingesetztenMarionettenregimes unter Ante Pavelic mussten diesesDokument respektieren. In Novi Brod gab es bisher keine fünfZivilpersonen, die eines solchen Vertrauensbeweises fürwürdig befunden worden waren.Josef Sulka dachte an die Ohrfeigen, mit denen ihm sein Vatervor fast zehn Jahren das Schwärmen für die Hitlerbewegung inDeutschland auszutreiben versucht hatte. Wegen einer alten,zerfledderten Zeitung aus dem Reich, in der eineGoebbelsrede stand und die ihm vom Sohn einesdeutschstämmigen Pferdezüchters zugesteckt worden war,hatte Hans Sulka sogar mit dem Hosenriemen zugeschlagen.Glaub bloß nicht, dass ich das alles vergessen habe, ging esJosef Sulka in diesen Minuten durch den Kopf, Haderlump hastdu mich genannt. Und Naziknecht. Bloß weil ich nicht mehratmen konnte in eurem engen, armseligen Kaff ohneelektrisches Licht, Wasserleitung, gepflasterte Straßen, ohneLäden, in denen es Bücher zu kaufen gibt, Radios undMotorräder. Keinen einzigen Brief hast du beantwortet. In allden Jahren ist es nicht n deinen Schädel gegangen, dass ichnur den Platz gesucht habe, an dem ein Deutscher beweisenkann, was in ihm steckt. Und das habe ich geschafft, Alter.Dankbar wirst du mir noch sein, deinem Sohn Josef, demHaderlumpen und Naziknecht. Der Passierschein ist nur derAnfang. Wenn die Bürgermeister in Slawonien überall dieMütze vor dir ziehen und die Kneipenwirte den Tisch polieren,an den du dich setzt, dann wirst du stolz darauf sein, dass derDolmetscher des SS-Kommandanten von Novi Brod ein Sulka

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  • ist und dein leiblicher Sohn … Der Tag wird kommen, Vater,an dem du mir die Stirn küsst und mich um Verzeihung bittestfür jeden Schlag und jede Kränkung! Die slawonische Landschaft, aus der östlichen TiefebeneKroatiens aufsteigend in ein waldreiches Mittelgebirge mit demfast tausend Meter hohen Psunj, im Norden, nach Ungarn hin,an der breiten und gemächlich dahinfließenden Drau grenzend,im Süden von der in vielen Windungen das Flachlanddurcheilenden Sava mit Bosnien verbunden, schöpfte einenwesentlichen Teil ihrer Fruchtbarkeit aus einem fastüberreichlichen Wasservorrat. Die Karasica war nur einer derzahlreichen kleinen Flüsse, die von den Bergen her Felder undWeingärten der Ebene bewässerten.Der Fluss lenkte seinen ruhigen, nur während derSchneeschmelze in den Frühlingswochen ungestümeren Laufim engen Bogen um das Städtchen Novi Brod. Dort, wo einstdie Furt lag, die dem Ort seinen Namen gegeben hatte, hielteine steinerne, von wuchtigen Stützpfeilern getragene Brückeaus der Türkenzeit den Weg zu den Wäldern, hinüber nachBanja Luka und über die Berge bis zur Adria offen. VomSüden kamen auf der festen Straße nicht nur die Bauern derUmgebung zum Markt. Häufig passierten auch schwereLastwagen, hochbeladen mit Gütern aus den Häfen vonZadar, Split oder Makarska auf dem Weg bis hinauf insUngarische die Brücke.An der zuweilen recht belebten Straße, auf der Stadtseite,knapp hundert Schritte vom Flussübergang entfernt, standeinsam ein Häuschen, zu dem ein bis zum Ufer reichender,

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  • ziemlich verwilderter Garten gehörte. Das Anwesen bot eintrostloses Bild. In löcherigen Dachrinnen wuchertenGrasbüschel. Nur hier und da klebte an den Außenwänden desGebäudes noch ein kümmerlicher Putzrest. Auf kleinen,schmutzigen Fensterscheiben wurde das Sonnenlicht stumpf.Jede Luftbewegung entlockte dem brüchigen, in rostigenScharnieren baumelnden Fensterladen ein schrilles Knirschen.In allen Winkeln nistete Verfall. Nichts deutete aufBewohnbarkeit hin, aber dieser Eindruck täuschte.Baba Sova hatte ihren siebzigsten Geburtstag noch vor sich,doch es gab Leute, die behaupteten, sie trüge gewiss schonüber hundert Jahre auf ihrem krummen Rücken. In Novi Brodund einen Tagesmarsch weit im Umkreis kannte jeder ihrenNamen. Wenn die vom Arzt verschriebenen Pillen nicht halfen,wenn der Tierdoktor hilflos die Schultern hob, wenn Flöhe zurPlage wurden, die Ziege keine Milch mehr gab oder einBräutigam seiner Braut weglaufen wollte, dann führtemanchmal schon der erste, aber ganz bestimmt der letzteWeg zur Baba Sova in ihr verwahrlostes Häuschen nahe derBrücke.Die alte, seit vielen Jahren allein lebende Frau kannte sich ausmit der Natur. Für jedes Übel, mit denen der Teufel dieMenschen und Tiere peinigt, hat der Herrgott ein Labsalwachsen lassen, erklärte sie jedem, der es hören wollte.Niemand in der Gegend widersprach dieser Behauptung. BabaSova oder Oma Eule, je nach serbokroatischem oderdeutschem Sprachgebrauch, habe im kleinen Finger, so hießes überall, mehr Weisheit als sieben hochgelehrte Doktoren inihren Köpfen.

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  • Kinder freilich fürchteten sich vor der Alten, zumal in jüngsterZeit. Mit ihrem hageren, zerknitterten Gesicht, den dickenBrillengläsern vor seltsam starr blickenden Augen und denbeiden nussgroßen schwärzlichen Warzen links am Kinn undrechts am Nasenflügel entsprach sie ziemlich genau allenkindlichen Vorstellungen von einer Hexe.Mittwochs und sonnabends zog die Alte mit einemvollgepackten Handwagen zum Marktplatz, um dort Kräuter,Sämereien und manchmal auch frische selbstgesammelte Pilzeoder Beeren anzubieten. An allen anderen Tagen baute siezeitig in der Frühe neben der Tür ihres Häuschens aus dreiBrettern und zwei Holzböcken einen Verkaufsstand auf.An diesem Morgen hatte die Alte schon drei Flaschen einesAbsuds verkauft, der Pferde und Kühe vor lästigen Insektenschützen sollte. Der braune, aromatisch duftende Saft bestandhauptsächlich aus Walnussblättern und Wermutkraut, doch dashielt Baba Sova geheim.Beschirmt vom dichten Laubdach einer hohen großblättrigenPlatane, hockte die alte Frau untätig neben ihrem Stand, aufweitere Kundschaft wartend, umgeben von einer Mixtur ausherben Düften der verschiedensten Heilkräuter und Gewürze.Ihre wässrig-blauen, von den starken Brillengläsern unnatürlichvergrößerten Augen belauerten hellwach die Umgebung.Immer wieder wanderte ihr Blick wie zufällig zu einerMaschinengewehrstellung, die von den Deutschen dicht bei derBrücke in den Uferhang gegraben worden war. Jedes Mal,wenn sie zu den beiden dort auf Wache stehenden Soldatenhinüberschaute, veränderte sich das Greisinnengesicht. DieFaltenbündel wurden scharfkantiger. Auf die welken Lippen

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  • zog die Spur eines Lächelns. In den dunklen Augen glitzerteKälte.Die Stellung der Faschisten befand sich erst seit drei Wochenauf dem diesseitigen Ufer. Vorher hatten die Soldaten mit demMaschinengewehr drüben auf der anderen Seite gelegen, bises zu einem überraschenden Zwischenfall gekommen war. Vordiesem, nun schon mehr als einen Monat zurückliegendenEreignis war es in Novi Brod und in der näheren Umgebung zukeinerlei feindseligen Handlungen gegen dieBesatzungstruppen gekommen. Friedliche Ruhe hatte denArgwohn der Soldaten allmählich eingeschläfert. DerWachdienst wurde Routine. Die Disziplin bröckelte. Man hieltes in der SS-Kommandantur ebenso wie im Stab des in derStadt stationierten Infanterieregiments der Wehrmacht fürausgeschlossen, dass die Partisanen ihr Operationsgebiet inden Bergwäldern verlassen und Aktionen gegen die technischund zahlenmäßig überlegenen deutschen Einheiten in der Stadtwagen würden.Es war nur einer von ungezählten Verstößen gegen dieDienstvorschriften, als ein Gefreiter eines Tages kurz vorMorgengrauen seinen jüngeren Kameraden allein amMaschinengewehr zurückließ. Er hatte am Abend zuvor untenim Fluss ein Dutzend Aalschnüre ausgelegt, die er nun vordem Eintreffen der Ablösung noch schnell einholen wollte. Alser mit spärlicher Beute nach reichlich einer halben Stundewieder an der Stellung eintraf, machte ihn der Anblicksekundenlang handlungsunfähig. Er verharrte reglos undvermochte einer aufsteigenden Übelkeit keinen Widerstandentgegenzusetzen. Nach zwei, drei Schritten zur Seite übergaber sich.

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  • In der Stellung lag der zweite Posten, von einer Blutlacheumgeben, leblos am Boden. Am Hals klaffte eine schreckliche,wie mit einem scharfen Messer geschnittene Wunde. Mitleeren, weitaufgerissenen Augen stierte der Tote, der kaumälter als zwanzig Jahre geworden war, zum wolkenlosenJulihimmel hinauf. Das Maschinengewehr und zwei gefüllteMunitionskästen waren verschwunden.Die von den deutschen Dienststellen sofort eingeleitetenUntersuchungen blieben, was den oder die Angreifer betraf,ohne Ergebnis. Festgestellt wurde lediglich, dass der jungeSoldat mittels einer Schlinge aus sehr dünnem Stahldrahtgetötet worden war. Alles musste überraschend und sehrschnell passiert sein.Vier Tage nach dem Überfall wurden auf dem Marktplatz vonNovi Brod zehn Einwohner öffentlich gehenkt. SS-Streifenhatten die Männer auf übliche Weise willkürlich vomArbeitsplatz, aus Dragutins Kneipe, vom Küchentisch imFamilienkreis oder während des Wasserholens am Brunnenweggeholt. Zur Strafe und Abschreckung, wie es auf denBekanntmachungen hieß, die von SS-SturmbannführerSchnitzinger unterzeichnet waren und noch tagelang nach derHinrichtung an Hauswänden, in Schaufenstern und sogar ander Kirchenmauer klebten.Die Reaktionen der Einheimischen unterschieden sich erheblichvoneinander. In vielen Herzen glomm Hass. Bei jüngerenLeuten wuchs die Bereitschaft, in die Berge zu gehen. Einpaar ältere Frauen und Männer trugen ihren Schmerz und ihreVerzweiflung vor den Altar, doch andere gaben auch vorsichtigzu bedenken, dass die zehn Männer noch leben könnten, wenn

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  • der Soldat an der Brücke nicht umgebracht worden wäre. DerVorwurf richtete sich gegen die Partisanen, denn in Novi Brodzweifelte kein Mensch, gleich ob Einheimischer oderOkkupant, an deren Verantwortung für den Überfall.Der neue Standort für die Maschinengewehrstellung amFlussübergang blieb nicht die einzige Konsequenz desWehrmachtstabes. Der Tod des jungen Soldaten erinnerteOffiziere und Mannschaften gleichermaßen daran, dass sie indiesem Land nicht Jäger, sondern Gejagte waren. Ein Gefühlbreitete sich aus, das die an den Überfällen auf Polen und dieSowjetunion beteiligten Männer nur allzu gut kannten. Plötzlichkam es ihnen vor, als richte jeder Einheimische verstohleneinen Dolch gegen die Faschisten, als drohe hinter jedemBaum eine erhobene Keule, als läge unter jedem Stein eintödlicher Stachel.Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang galt für dieBevölkerung strenge Ausgangssperre. Wehrmacht- und SS-Streifen kontrollierten, von den Ustaschen unterstützt, dieEinhaltung des Verbots. Wer ohne Sondergenehmigunggestellt wurde, musste froh sein, wenn er die Verhöre undQuälereien in den Kellern der Kasernen oder der SS-Kommandantur überlebte.Zusätzlich zu der Wache am Maschinengewehr patrouilliertenneuerdings zwei Posten auf der Brücke. Wer den Flussüberqueren wollte und keine Uniform trug, wurde genauüberprüft. So geschah es auch jetzt mit dem jungenRadfahrer, den die Soldaten auf seinem Weg zur Stadtaufhielten. Er war rothaarig und nicht älter als zwanzig.Während einer der beiden Posten ihn von oben bis unten

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  • abtastete, hielt der andere den Karabiner schussbereit in denHänden. Nachdem die Visitation nichts Verdächtiges an denTag gebracht hatte, widmete der Soldat sein Interesse einemkleinen einachsigen Anhänger, der an dem Fahrrad desRothaarigen befestigt war. Das Gefährt trug einen randvoll mitSommeräpfeln gefüllten Korb.„Ausschütten!“, verlangte der Posten.Von ihrem Platz im Platanenschatten beobachtete Baba Sovadas Geschehen auf der Brücke. Ihre Lippen bewegten sich.Es sah aus, als wälze sie bittere Bissen im Mund. Dann wurdesie von einer Kundin aus ihren Überlegungen gerissen. DieFrau verlangte ein Mittel gegen Spulwürmer.Baba Sova brauchte nur eine Viertelstunde, um in ihremHäuschen eine bräunliche Paste aus Honig und zerquetschtenKürbiskernen herzustellen. Als sie damit wieder zum Standkam, wartete neben der Kundin auch jener rothaarige jungeMann, der die Kontrolle unbeschadet überstanden hatte.Die Frau nahm die Paste, bezahlte die wenigen gefordertenPara und ging.„Kannst deinem Offizier sagen, dass hier nichts passiert ist“,brummte Baba Sova, als die Kundin außer Hörweite war. Siesammelte Äpfel aus dem Korb auf dem Fahrradanhänger inihre Schürze und nahm sich viel Zeit damit. Mäklig prüfte siejede einzelne Frucht und legte zurück, was einen Wurmstichoder eine Druckstelle hatte.„Kommandeur, nicht Herr“, korrigierte der Bursche leise.„Herren Offiziere gibt’s bei den Schwabbis!“„Meinetwegen Kommandeur“, murmelte die Alte. Sie kramte

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  • weiter im Korb. Ihre zeitlupenhafte Umständlichkeit reizte denRothaarigen.„Ich habe wenig Zeit, Baba Sova!“„Keine Kanonen, keine von ihren Panzern.“ Sie redete leisewie in einem Selbstgespräch. „Vorgestern, ganz früh amMorgen, sind welche über die Brücke marschiert. NachSüden. Zweihundert ungefähr, genau konnte ich sie nichtzählen. Die Augen, verstehst du? Gegen das Altwerden blühtkein Kraut. Grau und krumm, das bleibt der Herrgottsweg …“„Sind sie zurückgekommen?“„Gegen Abend. Sah nicht so aus, als ob einer fehlt … Ihr habtkeinen davon erwischt, wie?“„Wart’s ab, Baba Sova!“, sagte der Bursche und schaute zurBrücke. Die Alte musterte ihn, hielt mit einer Hand die gefüllteSchürze und fingerte mit der anderen versonnen an derKinnwarze. „Sag mal, hast du überhaupt schon einen vondiesen Schwabbis in die Hölle geschickt?“Der Rothaarige wandte den Blick nicht von denpatrouillierenden Posten. Er nickte kaum merklich.„Mit einem Gewehr?“„Maschinenpistole … Was soll das Gerede? Ich muss jetztweiter.“„Komm erst mal mit!“ Die Alte bedeutete ihm mit einem Wink,ihr ins Häuschen zu folgen. Als er zögerte, traf ihn ein Blick,wie ihn der junge Mann nur von seinem Vater kannte. Ergehorchte mürrisch.Die Partisanen, deren Kundschafter der Rothaarige war,

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  • gehörten zur Podravskaer Abteilung. Der Stab dieser zur 2.Operativzone der Volksbefreiungsarmee und derPartisaneneinheiten Slawoniens zählenden Truppe lag seitEnde Juni in einem nur achtundzwanzig Kilometer von NoviBrod entfernten Dorf. Weite Gebiete des Landes südlich derKarasica befanden sich bereits fest in den Händen derPartisanen. Die deutschen Streitkräfte hielten nur noch Städte,größere Ortschaften und strategisch besonders wichtigePunkte besetzt. Von dort aus unternahmen sie jedoch mitstarken Kräften, Panzern und Luftwaffenunterstützung immerwieder Vorstöße in das befreite Territorium. Wie an derBrücke von Novi Brod, so waren überall in der Nähe deutscherGarnisonen unauffällige Informanten eingesetzt. Zwischenihnen und den Partisanen bestanden feste Verbindungen.Baba Sova erfüllte diese Aufgabe seit mehreren Monaten.In der dämmrigen Wohnküche der Alten roch es nachKnoblauch und Majoran.Baba Sova legte die Äpfel auf den blank gescheuerten Tisch.Sie wandte sich einer steilen Stiege zu, die hinauf zumDachgeschoss führte.Der Rothaarige kniff die Lippen zusammen. Er empfandwachsendes Unbehagen. Am liebsten hätte er das Häuschengleich wieder verlassen, aber der Respekt vor der alten Frauwar stärker als seine heimliche Scheu vor Zauberwerk undHexerei.„Komm, Junge, komm!“, rief Baba Sova. Sie stöhnte leisebeim Erklimmen der Stufen.Das Treppenholz knarrte unter jedem Tritt.

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  • Der Dachboden des Häuschens war in zwei Hälften geteilt. Aufder einen lag die winzige Schlafkammer, in der anderengurrten ein paar Tauben hinter Maschendraht. Neben dreiAusfluglöchern gab es eine Fensterluke. Von hier fiel der Blickdirekt auf die Brücke. Dicht vor dieser Öffnung verbargeneinige zerschlissene Jutesäcke einen länglichen Gegenstand.„Komm hierher!“, forderte Baba Sova. Der Rothaarige zog vorden niedrigen Dachbalken den Kopf ein und trat näher.Die Alte zerrte die Säcke zur Seite.Verblüfft zuckte der junge Mann zusammen. Seine Augenwurden groß. Er starrte die Alte entgeistert an und schluckte.Es dauerte ein paar Sekunden, bis er seine Stimmewiederfand. „Das … das warst du?“, fragte er fassungslos.Baba Sova nickte. „Musst es nicht an die Glocke hängen,hörst du … Zeig mir, wie das Ding funktioniert!“Vor der Fensteröffnung stand, mit der Mündung zur Brücke,ein Maschinengewehr. Auch die beiden Blechkästen mit dengefüllten Patronengurten fehlten nicht.„Wie hast du das geschafft? Die beiden Faschisten in derStellung …“Die alte Frau unterbrach ihn: „Was soll das jetzt noch, he!Kennst du dich damit aus?“ Sie ließ sich neben der Waffenieder, betrachtete hilflos die Lade- und Abzugsvorrichtungund schnüffelte unzufrieden.Der Rothaarige rührte sich nicht. „So geht das nicht, BabaSova“, sagte er, allmählich seine Fassung wiederfindend. „Ichmuss es dem Kommandeur melden. Was willst du mit soeinem …“ Er stockte mitten im Satz.

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  • Von der Brücke klangen Motorenlärm und laute Stimmen durchdie Luke.Die Alte und ihr Besucher spähten hinüber. Bei den beidenPosten hielt ein Kradmelder der Wehrmacht und rief ihnenetwas zu. Ein zweiter Motorradfahrer fuhr bereits weiterstadteinwärts. Aus der Ferne näherten sich neueFahrzeuggeräusche. Gleich darauf tauchte der erste vonmehreren Lastwagen auf. Die gefleckte Plane war zerfetzt.Am Fahrerhaus fehlte die Frontscheibe. Einige der deutschenSoldaten auf der Ladefläche trugen blutgetränkte Verbände.„Erwischt!“, sagte der Rothaarige. „Das waren unsrePodravskaer!“Baba Sova lachte leise. „Still, Pascha, still!“, sagte Boris und zerrte heftig amHalsband, doch der Hund wollte sich nicht beruhigen. Wütendkläffte er die polierten Stiefel des SS-Oberscharführers an.„Bind ihn hinten am Wagen fest“, befahl Hans Sulka demEnkel, der unwillig gehorchte. Der Junge begegnete seinemOnkel erst zum zweiten Mal. Josef Sulka war vor einigenMonaten von einer in Frankreich stationierten SS-Einheit zurKommandantur in Novi Brod versetzt worden. Seitdem hattensich Vater und Sohn zwar verschiedentlich getroffen, dochBoris war nur einmal dazugekommen, als die Männer sichbereits verabschiedeten.Erneut studierte Hans Sulka den Passierschein. Er brummtezufrieden. Boris war mit dem Hund hinter dem Krämerwagenverschwunden. Das Gebell verstummte.

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  • „Na hör mal, danke könntest du schon sagen!“, meinte Josefverstimmt. „Das Zettelchen erlaubt dir Geschäfte bis hinaufnach Osijek. Tag und Nacht, wenn dir danach ist!“„Danke“, sagte Hans Sulka. Mit spitzen Fingern faltete er dasPapier zusammen und steckte es in eine abgegriffeneBrieftasche.Sein Sohn blickte zum Krämerwagen. „Wieso schleppst dueigentlich ständig den Knirps mit dir herum?“„Ich hab keinen Ärger mit ihm.“„Slavia macht es sich ganz schön einfach.“„Sie hat Plage genug, und mir ist er eine Hilfe“, entgegneteHans Sulka. Er sah Boris hinter dem Wagen hervorkommen.„Und dich geht das überhaupt nichts an, also hör auf damit …Eine Ikone will er, der Herr Kommandant? Sag bloß, er istgläubig.“Boris schlenderte, die Hände in den Taschen, heran. Erbetrachtete seinen Onkel und dessen Uniform aufmerksam.„Sammler“, sagte Josef. „Versuch nicht, ihn reinzulegen. VonIkonen weiß der Schnitzinger alles.“„Wenigstens was“, knurrte Hans Sulka. „Komm, ich habe einenLoza im Wagen, wie du ihn in eurer Kommandantur bestimmtnicht kriegst.“Der dalmatinische Traubenschnaps glänzte wie flüssigerBernstein. Josef schmatzte genießerisch und hielt seinemVater das Glas noch einmal hin. Hans Sulka trank nicht mehrmit.Sein Sohn prostete dem neugierig blickenden Jungen zu.

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  • „Kannst deine Mutter von mir grüßen“, sagte er und zwinkerte.„Sag ihr, dass dein Onkel denkt, auf der Landstraße, miteinem alten Großvater und einem Köter als Schulmeister,könnte nichts Gescheites aus dir werden.“„Hör auf, Josef!“, fuhr Hans Sulka seinen Sohn an.„Sag ihr, wenn ich nach Agram komme, besuche ich sie mal inihrem Krankenhaus. Wenn sie will, bringe ich auch einentüchtigen Papa für dich mit. Da muss sich doch Ordnungreinbringen lassen …“ Der Sohn des Händlers benutzte dendeutschen Namen der kroatischen Hauptstadt Zagreb.„Jetzt ist es aber genug, Josef!“ Hans Sulka nahm seinemSohn das leere Glas aus der Hand. „Merkst du nicht, dass dumir die Kundschaft vergraulst?“Tatsächlich waren während der Anwesenheit des SS-Oberscharführers keine Kauflustigen beim Krämerwagenerschienen. Die Uniform mit den silbernen Runen auf demKragenspiegel schreckte sie offensichtlich ab. Bisher wusstekaum ein Dutzend Leute, dass der Dolmetscher desgefürchteten SS-Kommandanten ein Sulka- Sohn war. Nichteinmal seinen langjährigen Freunden hatte der fahrendeHändler davon erzählt. Es berührte ihn peinlich, dass seinSohn weniger rücksichtsvoll war.„Aber den Passierschein behältst du doch, oder?“ Josef Sulkalächelte spöttisch, rückte seine Schirmmütze zurecht undwandte sich zum Gehen. „Vergiss die Ikone nicht, Vater!“Boris streckte die Hand aus und hielt seinen Onkel an derJacke fest. „Du“, sagte er trotzig, „meine Mami arbeitet nichtmehr im Krankenhaus.“

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  • Mit einer heftigen Bewegung wollte der Händler den Jungenvon Josef wegziehen. „Los, hol mir das Quetschkistchen her!“Doch Josef ließ den Jungen nicht weg. „Moment mal! Nicht imKrankenhaus? Etwa im Puff?“„Im Wald!“, fauchte Boris ihn an.„Willst du wohl still sein!“, zischte Hans Sulka.„Sag das noch mal!“, forderte der Oberscharführer.„Weil sie es den verdammten Schwabbis geben will …“Josef nahm seine Hand von dem Jungen und blickte denHändler an. „Wenn das wahr ist, du, dann …, dann lass eskeinen hören. Seinetwegen, deinetwegen, meinetwegen!“Besorgnis machte seine Stimme leise und vertraulich.„Vergiss es“, sagte Hans Sulka.„Wie kannst du das zulassen, Vater? Ist dir nicht klar, wie dasfür sie ausgeht?“Boris gehorchte unwillig dem Wink des Großvaters und gingzum Wagen.Hans Sulka schaute dem Enkel bekümmert nach, schüttelteden Kopf und musterte dann seinen Sohn. „Hab ich dich haltenkönnen? Sie ist nicht nur dem Namen nach deine Schwester, ineuch fließt auch das gleiche Blut. Ich habe eine Menge gelerntin den Jahren, das kannst du mir glauben. Besondersseinerzeit, als du weggegangen bist.“„Sie rennt in ihr Unglück!“„Ich habe einen Sohn und eine Tochter. Beide sind mir gleichlieb und teuer. Ich will mich weder in ihre noch in deine

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  • Angelegenheiten einmischen. Ihr seid erwachsene Menschen… Aber den Jungen lasst aus dem Spiel, das verlange ich.Und was ein Großvater sagt, ist immer noch Gesetz!“Josef Sulka schaute sich um. Außer einer alten Frau, die ihreBlumen vor dem Fenster goss, war nirgends ein Mensch zusehen. „Du machst dir keine Vorstellung von dem, waspassiert, wenn das rauskommt.“„Angst vor deinen eigenen Leuten?“Am Krämerwagen ertönte ein schriller Akkord. Boris hatte dieZiehharmonika herausgenommen.„Du hast keine Ahnung von den Dingen, die schlimmer sind, alsnur einfach sterben“, sagte Josef ruhig, dann drehte er sichum und ging in Richtung der SS- Kommandantur davon.„Ich kann ihn nicht leiden“, sagte Boris, als er seinemGroßvater die Ziehharmonika gab.„Sag so was nicht“, rügte ihn Hans Sulka. Er nahm dasInstrument und begann zu spielen. Die verhalten-heiterenKlänge sprangen wie ausgestreute, bunte Glasperlen in dieStille.Vor der Kommandantur wurde Josef Sulka von einemUstascha-Mann angesprochen. Der Kroate beschwerte sichüber irgendeine zugesagte, aber nicht gelieferteZigarettenzuteilung. Die Aufmerksamkeit desOberscharführers war nur vorgetäuscht. Er hörte dieHarmonikaklänge und dachte an die Zeit, in der sein Vatermehr schlecht als recht Pferde beschlagen hatte. Statt mich zuprügeln, hättest du lieber mitkommen sollen ins Reich, ging esihm durch den Sinn.

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  • Im Sommer 1934 hatte ein Mann aus Stuttgart, der einen mitihm verwandten Pferdezüchter in Slawonien besuchte, demdamaligen Dorfschmied Hans Sulka eines Abends in derSchenke nach dem neunten Glas Pflaumenschnapsangeboten, den sechzehnjährigen Josef mit nach Deutschlandzu nehmen. Für ein paar Mark Kost- und Logisgeld wollte derStuttgarter für eine Ausbildung als Motorenschlosser sorgen.Der Mann arbeitete bei der Daimler-Benz AG, führte einekinderlose Ehe und schwor darauf, dass Adolf Hitler demdeutschen Volk vom lieben Gott gesandt worden sei. Ersprach von seiner Arbeit als Werkmeister, von der Tätigkeitals Blockwart in der Stuttgarter Leo-Schlageter-Straße, und erbenannte den Pferdezüchter als Zeugen dafür, dass man sichauf sein deutsches Manneswort verlassen könnte.Hans Sulka hatte zugestimmt. Viele Jahre hindurch betreutender Stuttgarter Werkmeister und seine Frau den Jungen ausSlawonien wie ihren eigenen Sohn. Trotzdem hatte er es inden ersten Wochen und Monaten sehr schwer gehabt. DieGleichaltrigen im Betrieb und im Wohnviertel machten sich beijeder Gelegenheit über seinen fremdländischen Akzent lustig.Jeder kleine Fehler löste Spott und schallendes Gelächter aus.Sie nannten den Neuen „Beutegermane“ und „Kanake“, bis erdie Beherrschung verlor und zuschlug. Drei-, viermal ging er indie Falle, denn sein Wutausbruch endete immer mit einerKeilerei, von der er tagelang blaue Flecken davontrug.Schließlich war er klüger geworden. Er übte in jeder freienStunde die deutsche Sprache, las im Duden wie andere inKarl-May-Büchern und lernte Gedichte von Goethe undSchiller auswendig. Nach einem Jahr verschafften ihm seineSprachkenntnisse sogar Überlegenheit gegenüber manchem

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  • Einheimischen. Gleichzeitig suchte er durch besonderen EiferAnerkennung bei den Kollegen in der Lehrwerkstatt undwährend des Pflichtdienstes in der Hitlerjugend zu gewinnen.Im zweiten Jahr durfte er dort bereits das Kommando über diekleinste Einheit, eine Kameradschaft, führen.Josef Sulka wollte beweisen, dass ein in Slawonien geborenerDeutscher mit seinem Stolz, seinen Fähigkeiten und Tugendenjedem Schwaben, Bayern, Sachsen oder Preußen ebenbürtigwar. Selbst der kleinste Erfolg auf diesem Weg machte ihnglücklich. So war ihm die Reichsbürgerurkunde kostbarer alsder mit Auszeichnung erworbene Gesellenbrief gewesen, mitder ihm 1939 die Staatsangehörigkeit verliehen wurde. SeinGedächtnis bewahrte noch heute einige Worte aus der kurzenFestrede auf. Der Mann mit dem goldumkränzten Hakenkreuzan der Uniform hatte gesagt: „Reichsbürger kann nur jemanddeutschen oder artverwandten Blutes sein, der durch seinVerhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treuedem deutschen Volk und Reich zu dienen. Der Reichsbürgerist der alleinige Träger der vollen politischen Rechte!“Gewillt und geeignet, in Treue zu dienen – diese in JosefSulkas Erinnerung unauslöschbare Forderung meldete sich nunauf dem Weg zur Kommandantur beinah schmerzhaft wieder.Hätte dieser kleine Bastard doch bloß den Mund gehalten,dachte er und achtete nicht auf das Genörgel des Ustascha-Mannes. Meine Schwester ein Flintenweib! Wenn das bekanntwird, helfen mir bei Schnitzinger keine zehn Ikonen aus derScheiße, selbst wenn jedes dieser Heiligenbilder älter alsdreihundert Jahre wäre!In diesen Minuten kam sich Josef Sulka wie an den

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