In eigener Sache Der Fall Relotius - Spiegel Online · Wir haben dem Qua - litätsjournalismus in...

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I. Vorbemerkung Die Kommission hat keine Hinweise da- rauf gefunden, dass jemand im Haus von den Fälschungen des Claas Relotius ge- wusst hat, an ihnen beteiligt war oder die- se verheimlicht hätte. Die Kommission ist im Laufe ihrer Ar- beit auf lediglich einen weiteren Fall gestoßen, in dem eine bewusste Fäl- schung zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Es handelt sich um einen Autor des Magazins der »Süddeutschen Zei- tung«, der auch mehr als 40 Texte im und bei ver- öffentlicht hat. Nach Prüfung wurden bei zwei Texten gravierende Fälschungen entdeckt. II. Arbeitsauftrag der Kommission Der hat am 19. Dezember 2018 öffentlich gemacht, dass einer seiner Re- dakteure, Claas Relotius, Texte gefälscht hat – vor allem Reportagen. Die Entde- ckung dieser Fälschungen ist dem - -Reporter Juan Moreno zu verdanken, der trotz großer Zweifel im eigenen Haus hartnäckig Betrugshinweisen gegen Claas Relotius nachgegangen ist und unter gro- ßem persönlichem Einsatz die entschei- denden Indizien und Beweise zusammen- getragen hat. Obwohl im Dezember 2018 das komplette Ausmaß des Betrugs noch nicht abgesehen werden konnte, war doch schon damals klar, dass es sich womöglich um einen der schwersten Fälle von publi- zistischer Fälschung in der Nachkriegs- geschichte handelt. Dieser hat den Ruf des und den Ruf einer journalisti- schen Gattung in Deutschland beschädigt, der Reportage. Der ist es seinen Lesern und sich selbst schuldig, die Vor- gänge aufzuklären. Chefredaktion und Ge- schäftsführung entschieden daraufhin, den Fall offen und transparent zu behandeln. Es wurde eine Kommission eingerichtet, die die Fälschungen umfänglich und unab- hängig aufarbeiten sollte. Die Kommission bestand aus drei Personen: l Brigitte Fehrle, freie Journalistin und frühere Chefredakteurin der »Berliner Zei- tung«, 130 In eigener Sache Der Fall Relotius Abschlussbericht der Aufklärungskommission etwas mehr als fünf Monate ist es her, dass wir die Fälschun- gen unseres ehemaligen Redakteurs Claas Relotius offen- gelegt haben. Wie versprochen hat der die Zeit genutzt, um den Betrugsfall aufzuarbeiten. Eine dreiköpfige Aufklärungskommission hat ergründet, wie es Relotius gelingen konnte, sämtliche Sicherungen außer Kraft zu set- zen. Und sie hat untersucht, wie wir dem Betrugsverdacht nachgegangen sind, als dieser erstmals vom Kollegen Juan Moreno geäußert wurde. Die gute Nachricht: Es wurden keine Hinwei- se darauf gefunden, dass jemand im Haus von den Fälschungen wusste, sie deckte oder gar an ihnen beteiligt war. Die schlechte Nachricht: Wir haben uns von Relotius einwickeln lassen und in einem Ausmaß Fehler gemacht, das gemessen an den Maßstä- ben dieses Hauses unwürdig ist. Und: Wir sind, als erste Zweifel aufkamen, viel zu langsam in die Gänge gekommen und haben Relotius’ immer neuen Lügen zu lange geglaubt. In sei- ner Verdichtung zeichnet der Bericht da ein ver- heerendes Bild. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir den Bericht für die Veröffentlichung im und auf an einigen Stellen anonymisiert; überall dort, wo wir bereits in eigener Sache unter Nennung vollstän- diger Namen berichtet haben, tun wir dies auch hier. Auch wenn Claas Relotius seine Fälschungen mit aller Akribie ver- tuscht und abgesichert hat, so haben doch einige Kollegen die Verantwortung dafür übernommen, dass sein Treiben so lan- ge unentdeckt bleiben konnte: Der zuständige Dokumentar hat den auf eigenen Wunsch verlassen, zwei von Relotius’ ehemaligen Vorgesetzten sind abgetreten, der eine als Ressortleiter, der andere als Chefredakteur. Im hinteren Teil des Berichts werden exemplarisch einige Beispiele genannt, in denen nicht betrogen, aber unsauber gearbeitet wurde: indem Geschichten durch eine sehr groß- zügige Auslegung von Abläufen oder Fakten eine künst- liche Dramaturgie eingepflanzt wurde. Dergleichen war bis zuletzt auch in anderen Redaktionen durchaus üblich, macht die Masche aber nicht legitimer – und wird bei uns nicht länger toleriert. Wie geht es nun weiter? Wir haben dem Qua- litätsjournalismus in Deutschland mit dem Fall Relotius einen gewaltigen Imageschaden zu- gefügt, das ist uns bewusst. Deshalb werden wir unsere Lehren daraus ziehen. Wir organisieren unsere Sicherungsmechanismen fortan so, dass sie auch nahtlos funktionieren, wir richten eine unabhängige Ombudsstelle ein, die etwaigen Hinweisen auf Ungereimtheiten nachgehen soll, und wir überarbeiten unsere Recherche-, Doku- mentations- und Erzählstandards. Die Kommis- sion hat hierzu eine Reihe von Vorschlägen gemacht, zusätzlich arbeiten drei -Teams an einem neuen journalistischen Regelwerk für unsere Marke. Wenn all das den besser macht, stellen sich die Betrügereien von Claas Relotius rückblickend betrachtet vielleicht als heilsamer Schock heraus. Der Abschluss- bericht war dafür ein wichtiger Schritt, aber die Aufarbeitung geht weiter. Thomas Hass, Geschäftsführer; Steffen Klusmann, Chefredakteur SPIEGEL 52/2018 Liebe Leserin, lieber Leser,

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I. VorbemerkungDie Kommission hat keine Hinweise da-rauf gefunden, dass jemand im Haus vonden Fälschungen des Claas Relotius ge-wusst hat, an ihnen beteiligt war oder die-se verheimlicht hätte.Die Kommission ist im Laufe ihrer Ar-

beit auf lediglich einen weiteren Fall gestoßen, in dem eine bewusste Fäl-schung zweifelsfrei nachgewiesen werdenkonnte. Es handelt sich um einen Autordes Magazins der »Süddeutschen Zei-tung«, der auch mehr als 40 Texte imSPIEGEL und bei SPIEGEL ONLINE ver-öffentlicht hat.Nach Prüfung wurden bei zwei Texten

gravierende Fälschungen entdeckt.

II. Arbeitsauftrag der Kommission

Der SPIEGEL hat am 19. Dezember 2018öffentlich gemacht, dass einer seiner Re-dakteure, Claas Relotius, Texte gefälschthat – vor allem Reportagen. Die Entde-ckung dieser Fälschungen ist dem SPIE-GEL-Reporter Juan Moreno zu verdanken,der trotz großer Zweifel im eigenen Haushartnäckig Betrugshinweisen gegen ClaasRelotius nachgegangen ist und unter gro-ßem persönlichem Einsatz die entschei-denden Indizien und Beweise zusammen-getragen hat. Obwohl im Dezember 2018das komplette Ausmaß des Betrugs nochnicht abgesehen werden konnte, war doch

schon damals klar, dass es sich womöglichum einen der schwersten Fälle von publi-zistischer Fälschung in der Nachkriegs -geschichte handelt. Dieser hat den Ruf desSPIEGEL und den Ruf einer journalisti-schen Gattung in Deutschland beschädigt,der Reportage. Der SPIEGEL ist es seinenLesern und sich selbst schuldig, die Vor-gänge aufzuklären. Chefredaktion und Ge-schäftsführung entschieden daraufhin, denFall offen und transparent zu behandeln.Es wurde eine Kommission eingerichtet,die die Fälschungen umfänglich und unab-hängig aufarbeiten sollte. Die Kommissionbestand aus drei Personen:l Brigitte Fehrle, freie Journalistin undfrühere Chefredakteurin der »Berliner Zei-tung«,

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In eigener Sache

Der Fall RelotiusAbschlussbericht der Aufklärungskommission

etwas mehr als fünf Monate ist es her, dass wir die Fälschun-gen unseres ehemaligen Redakteurs Claas Relotius offen -gelegt haben. Wie versprochen hat der SPIEGEL die Zeitgenutzt, um den Betrugsfall aufzuarbeiten. Eine dreiköpfigeAufklärungskommission hat ergründet, wie es Relotiusgelingen konnte, sämtliche Sicherungen außer Kraft zu set-zen. Und sie hat untersucht, wie wir dem Betrugsverdachtnachgegangen sind, als dieser erstmals vom Kollegen JuanMoreno geäußert wurde. Die gute Nachricht: Es wurden keine Hinwei-

se darauf gefunden, dass jemand im Haus vonden Fälschungen wusste, sie deckte oder gar anihnen beteiligt war.Die schlechte Nachricht: Wir haben uns von

Relotius einwickeln lassen und in einem AusmaßFehler gemacht, das gemessen an den Maßstä-ben dieses Hauses unwürdig ist. Und: Wir sind,als erste Zweifel aufkamen, viel zu langsam indie Gänge gekommen und haben Relotius’immer neuen Lügen zu lange geglaubt. In sei-ner Verdichtung zeichnet der Bericht da ein ver-heerendes Bild. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir den

Bericht für die Veröffentlichung im SPIEGEL und auf SPIEGEL ONLINE an einigen Stellen anonymisiert; überalldort, wo wir bereits in eigener Sache unter Nennung vollstän-diger Namen berichtet haben, tun wir dies auch hier. Auchwenn Claas Relotius seine Fälschungen mit aller Akribie ver-tuscht und abgesichert hat, so haben doch einige Kollegen dieVerantwortung dafür übernommen, dass sein Treiben so lan-ge unentdeckt bleiben konnte: Der zuständige Dokumentar

hat den SPIEGEL auf eigenen Wunsch verlassen, zwei vonRelotius’ ehemaligen Vorgesetzten sind abgetreten, der eineals Ressortleiter, der andere als Chef redakteur.Im hinteren Teil des Berichts werden exemplarisch einige

Beispiele genannt, in denen nicht betrogen, aber unsaubergearbeitet wurde: indem Geschichten durch eine sehr groß-zügige Auslegung von Abläufen oder Fakten eine künst -liche Dramaturgie eingepflanzt wurde. Dergleichen war biszuletzt auch in anderen Redaktionen durchaus üblich,

macht die Masche aber nicht legitimer – undwird bei uns nicht länger toleriert.Wie geht es nun weiter? Wir haben dem Qua-

litätsjournalismus in Deutschland mit dem FallRelotius einen gewaltigen Imageschaden zu -gefügt, das ist uns bewusst. Deshalb werden wirunsere Lehren daraus ziehen. Wir orga nisierenunsere Sicherungsmechanismen fortan so, dasssie auch nahtlos funktionieren, wir richten eineunabhängige Ombudsstelle ein, die etwaigenHinweisen auf Ungereimtheiten nachgehen soll,und wir überarbeiten unsere Recherche-, Doku-mentations- und Erzählstandards. Die Kommis-

sion hat hierzu eine Reihe von Vorschlägen gemacht,zusätzlich arbeiten drei SPIEGEL-Teams an einem neuenjournalistischen Regelwerk für unsere Marke.Wenn all das den SPIEGEL besser macht, stellen sich die

Betrügereien von Claas Relotius rückblickend betrachtetvielleicht als heilsamer Schock heraus. Der Abschluss -bericht war dafür ein wichtiger Schritt, aber die Aufarbeitunggeht weiter.

Thomas Hass, Geschäftsführer; Steffen Klusmann, Chefredakteur

SPIEGEL 52/2018

Liebe Leserin, lieber Leser,

l Clemens Höges, kommissarischer Blatt-macher, undl Stefan Weigel, Nachrichtenchef desSPIEGEL seit 1.1.2019.Die Aufgabe der Kommission war es:l den Fälschungsfall umfassend zu ermit-teln, Fehlverhalten einzelner Personen auf-zuklären, systemische Ursachen in den Ab-läufen von Redaktion, Dokumentationund anderen Abteilungen zu ermitteln,l zu klären, ob es weitere Fälle gab, undl Verbesserungsvorschläge für eine effi-zientere Fehlerkontrolle für die Redaktionund die Dokumentation zu machen.Die Kommission hat ihre Arbeit Anfang

Januar 2019 aufgenommen. Sie war nichtweisungsgebunden, konnte sich im Hausfrei bewegen und Gespräche führen. Wei-tergehende Ermittlungen, beispielsweisedie Einsicht in E-Mail-Accounts, bedurf-ten der Zustimmung von Betriebsrat, Ge-schäftsleitung und Chefredaktion und wur-den unter Berücksichtigung des Daten-schutzes durchgeführt.Die Kommission möchte sich bei allen

Beteiligten für die Kooperationsbereit-schaft bedanken. Alle Gesprächspartnerwaren an einer Lösung und Aufarbeitunginteressiert. Dies ermöglichte der Kommis-sion eine konstruktive und zügige Arbeit.Ohne die umfangreichen Vorarbeiten derKollegen in der Taskforce und die Recher-chen der Kollegen aus dem Gesellschafts-ressort wäre dieser Bericht in der Kürzeder Zeit nicht möglich gewesen.Besonders hervorzuheben ist die

Beteiligung der Dokumentation an derAufarbeitung. Sie hat zusammen mit Re-dakteuren aus verschiedenen Ressorts alleTexte von Claas Relotius einer erneutenÜberprüfung unterzogen. Das Ergebnis ist dokumentiert und kann online ein -gesehen werden: www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/der-fall-claas-relotius-welche-texte-gefaelscht-sind-und-welche-nicht-a-1249747.htmlDie Kommission hat im Laufe ihrer Ar-

beit viele Gespräche mit Redakteuren, Res-sortleitern, ehemaligen Redakteuren, ehe-maligen Chefredakteuren, sonstigen Mit-arbeitern, Dokumentaren, Justiziaren undExternen geführt und ist zahlreichen Hin-weisen aus der Redaktion und von außer-halb auf mögliche Fälschungen nachge -gangen. Für solche Hinweise wurde eineE-Mail-Adresse eingerichtet ([email protected]). Unter einer weiteren E-Mail-Adresse ([email protected]), dieausschließlich von der Kommission einge-sehen werden kann, konnten und könnenvertrauliche Hinweise gegeben werden.Die Kommission hat diesen Bericht

nach bestem Wissen und Gewissen erstellt.Allerdings konnten noch nicht alle Hinwei-se abschließend überprüft werden, vor al-lem wenn zeitlich weit zurückliegende Er-eignisse betroffen waren. Außerdem kann

nicht ausgeschlossen werden, dass nachVeröffentlichung des Abschlussberichtsneue Verdachtsfälle auftauchen; die E-Mail-Adressen bleiben daher für weitereNachrichten freigeschaltet. Wir bezeichnen im Bericht Männer und

Frauen gleichermaßen in der männlichenForm als »Kollegen«, weil wir die zugesi-cherte Vertraulichkeit aufrechterhaltenwollen.

III. Der Fall RelotiusDieser Teil des Berichts stellt dar, wie es zuder Affäre um verfälschte oder zu großenTeilen erfundene Artikel des RedakteursClaas Relotius im SPIEGEL kommen konn-te. Er fasst zusammen, was die Kommissionüber jene Strukturen und Abläufe im Ge-sellschaftsressort des Heftes weiß, die zurAffäre beigetragen haben. Er basiert aufvielen oft vertraulichen Gesprächen sowieauf ausgewerteten Dokumenten. Mit ClaasRelotius selbst konnte die Kommissionnicht sprechen. Er hat über seinen AnwaltGesprächsanfragen abgelehnt. Es war derKommission daher auch nicht möglich, sei-ne Beweggründe zu recherchieren bzw. dieauf SPIEGEL ONLINE vom 19.12.2018 zi-tierten Aussagen zu hinterfragen. (»Es gingnicht um das nächste große Ding. Es wardie Angst vor dem Scheitern.« Und: »MeinDruck, nicht scheitern zu dürfen, wurde im-mer größer, je erfolgreicher ich wurde.«)Der Bericht enthält an dieser Stelle deshalbausschließlich die Sichtweise der Redaktionund der Dokumentation.Grundsätzlich ist zu sagen, dass der

Fälscher Relotius in erster Linie für sichund seine Texte Verantwortung trägt. Erist Täter. Aber Relotius agierte, wie alleanderen Reporter des SPIEGEL, eingebet-tet in ein Ressort und die Dokumentation.Wie also konnte es sein, dass weder dieRedaktion, die seine Recherchen betreutund seine Texte redigiert hat, noch die Dokumentation, die seine Texte überprüfthat, die Fälschungen entdeckte?

Der KollegeClaas Relotius arbeitete im Ressort Gesell-schaft des SPIEGEL. Das Ressort Gesell-schaft definiert sich als einziges nicht überein Thema, sondern über die journalisti-

sche Gattung Reportage. Relotius galt undgilt als exzellenter Schreiber. Er wurde vonUllrich Fichtner für den SPIEGEL entdeckt,arbeitete ab 2014 zunächst freiberuflichund wurde im April 2017 fest angestellt;seine Ressortleiter waren Matthias Geyer,Guido Mingels und Özlem Gezer. Im SPIEGEL und auf SPIEGEL ONLINE sindin den vergangenen Jahren rund 60 Texteerschienen, die Claas Relotius geschriebenhat oder an denen er beteiligt war. Vonden Kollegen wird er als sympathisch,freundlich zu jedermann und bescheidenbeschrieben; er sei ein stiller, eher zwei-felnder Typ gewesen, der sich oft Rat ge-holt habe. Niemand im Haus, auch keinfrüherer Mitarbeiter konnte sich vor -stellen, dass er inkorrekt arbeitet oder garfälscht. Die Kommission hat vielen lang-jährigen, erfahrenen Reportern auch au-ßerhalb des Gesellschaftsressorts die Fragegestellt: Hat es sie nicht gewundert, dassein so junger Kollege in Serie solch außer-gewöhnliche Texte abliefert? Die Antwortwar sinngemäß meist: Ich dachte eben, derist besser als ich. Oder: Der scheint einfachimmer Glück zu haben.Im Nachhinein geben allerdings Dirk

Kurbjuweit und Klaus Brinkbäumer an,bei einzelnen Texten leise Zweifel gehabtzu haben. So wunderte sich Kurbjuweitüber die mangelnde Qualität eines Textesvon Relotius, den er selbst bei ihm in Auf-trag gegeben hatte. Kurbjuweit nannte Re-lotius für die Recherche auch Kontaktper-sonen und überwachte die Fertigstellungdes Textes. Kurbjuweit: »Da war ich ent-täuscht, weil das Storyhafte fehlte, keinechter Relotius.«Brinkbäumer konnte sich nach eigenen

Aussagen an zwei Momente des Zweifelnsan Texten von Relotius erinnern. Beim In-terview mit Traute Lafrenz wunderte ersich, dass eine fast Hundertjährige, die inden USA lebt, innenpolitische deutscheVorgänge wie den Aufstieg der AfD kom-mentiert. In der Rückschau, so Brinkbäu-mer, hätte er nach Autorisierung verlangensollen. Doch der Text sei geschickt ge-schrieben gewesen und habe Zweifel undGedächtnisschwächen selbst thematisiert.Der zweite Fall war der Einstieg in die

Reportage »Löwenjungen«, der ihm allzuperfekt vorkam. »Ich habe es als Reporterselbst erlebt, wie Interviews in Gefäng-nissen in Ländern wie dem Irak laufen.«Aber wiederum thematisierte der Textdiese Zweifel selbst.

Die MethodenKollegen umgarnen

Relotius’ Methoden der Vertuschung wer-den von Kollegen im Ressort und in derDokumentation ähnlich beschrieben. Soließ er sie meist sehr frühzeitig an den Recherchen und auch den Rückschlägen

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Er sei ein stiller, eher zweifelnder Typ gewesen, der sich oft Rat geholt habe, sagen Kollegen.

teilhaben. Beispielsweise schrieb er am 29. Mai 2017 an Guido Mingels: »LieberGuido, hier kommt der Text. Bin mit In-halt, Sprache und Erzählfluss wirklich anvielen Stellen unzufrieden, aber das ist al-les, was die Quellen hergeben – die Nach-erzählung ist im Grund komplett kalt ge-schrieben. Vielleicht müssen auch nochmehr Gedanken rein? Ich bin da vorsichtiggewesen, weil ich nicht spekulieren wollte.Der Schluss fehlt auch noch, dafür hätteich aber Stoff.«

Dokumentare ablenken

Die Dokumentare lenkte er gezielt auf ne-bensächliche Probleme: »Kannst du hiernoch mal nachsehen – da bin ich mir unsi-cher; hier musst du nicht suchen – dashabe ich von der Polizei vor Ort.« Vieles,was nicht verifizierbar oder widersprüch-lich war, belegte er mit eigenen Anschau-ungen oder angeblicher Einsicht in Aktenvor Ort. Seine Beliebtheit und seine Artder Kommunikation führten offenbar inDokumentation und Redaktion zu man-gelnder kritischer Distanz gegenüber sei-nen Texten. Um die Aufdeckung von Fäl-schungen zu verhindern, hat Relotius er-heblichen Aufwand betrieben.

Leser einwickeln

Leser, die ihm direkt schrieben, wickelteer geschickt ein. Selbst Menschen mit Fach-kenntnis ließen sich von ihm täuschen. Soschreibt eine Leserin, es sei Relotius ge-lungen, ihre fundierte Kritik an seiner Ge-schichte über die Todesstrafe in den USAzu zerstreuen. Nach seiner Geschichte»Die letzte Zeugin« (SPIEGEL 10/2018)schreibt die Leserin Relotius am 17.7.2018eine E-Mail, in der sie den Verdacht äußert,es könne sich um eine erfundene Geschich-te handeln. Sie fügt eine kommentierteVersion seines Textes mit markierten zwei-felhaften Stellen an.Relotius habe sofort geantwortet,

schreibt sie später: »Eine Antwort vonClaas Relotius lässt nicht lange auf sichwarten – schon am nächsten Tag habe icheine E-Mail von ihm in meinem Postfach.Zunächst fällt mir positiv auf, dass er mei-ne zahlreichen kritischen Anmerkungenoffenbar nicht persönlich nimmt – auchwenn diese immer sachlich waren, könnteman sie in der Fülle und Deutlichkeit den-noch als Angriff deuten und zum Gegen-angriff übergehen. Nein, nichts davon. Erscheint eher dankbar zu sein für meine in-tensive Auseinandersetzung mit der The-matik und mich in meiner Kompetenzernst zu nehmen. Es sei sein erster Artikelzu dem Thema, das ihn nach wie vor inte-ressiere, zu dem er persönlich allerdingsimmer noch mehr Fragen als Antwortenhabe.«Und weiter: »So muss ich im Grunde in

der Summe feststellen: Es ist ihm gelungen,

meine anfänglichen Bedenken, es handelesich um eine erfundene Geschichte, zu zer-streuen. Ich bin blauäugig genug gewesen,Claas Relotius auf den Leim zu gehen.Auch ohne Aufklärung aller Details habeich ihm geglaubt. Weil er glaubwürdigwirkte, weil er für den SPIEGEL schrieb –weil ich es nicht darauf angelegt hatte, ihmFehler und Fälschungen nachzuweisen,sondern selbst dazulernen und verstehenwollte.«

Abdruck von Leserbriefen verhindern

Eine Veröffentlichung der wenigen kriti-schen Leserbriefe, die an ihm vorbei zumSPIEGEL gelangten, konnte er oft verhin-dern. Obwohl Relotius sonst durchwegals freundlich und nett beschrieben wird,konnte er dabei massiv auftreten. »Daskann ich als Autor auf keinen Fall so ste-hen lassen, ich bitte um Verständnis« und »Ich bin klar dagegen«, schrieb erder Leserbriefredaktion in zwei E-Mailszu deren Wunsch, einen Leserbrief zum Fall Kaepernick (»Touchdown«, SPIEGEL44/2017) zu veröffentlichen. Vermutlichwollte er auf diese Weise die Entde-ckungsgefahr verringern. Niemand, auchnicht seine Ressortleitung, hat ihn darangehindert.

Making-of-Videos ablehnen

Der Kommission ist auch ein Fall bekannt,bei dem Kollegen von SPIEGEL ONLINERelotius gebeten haben, für ein Making-of zu seinem Text »Königskinder«, SPIEGEL 28/2016, ein Interview zu geben.Relotius schaffte es trotz intensiven Be -mühens der SPIEGEL-ONLINE-Kollegen,eine Tonaufnahme zu verhindern.

Keine Übersetzungen zulassen

In mehreren Fällen nahm er Einfluss aufdie Online-Veröffentlichung seiner Texteund die Übersetzung in den englischspra-chigen Dienst. Dokumentiert sind dieseVersuche für die Texte »Mathys großerSchlaf« (SPIEGEL 30/2015), »Königs -kinder« (SPIEGEL 28/2016), »Löwenjun-gen« (SPIEGEL 8/2017), »In einer kleinenStadt« (SPIEGEL 13/2017), »Touchdown«(SPIEGEL 44/2017) und »Die letzte Zeu-gin« (SPIEGEL 10/2018).

Die VorgesetztenDas Verhältnis der Ressortleitung zu Relotius war geprägt von absolutem Zu -trauen, zum Teil Bewunderung. Der da-malige Chefredakteur Klaus Brinkbäumerschrieb, die Ressortleitung der Gesellschafthabe ihn »geradezu verehrt«; ein Mitglieddes Ressorts habe ihn ein »Jahrhundertta-lent« genannt: »Der ist jetzt schon besser,als wir je waren.« Ein anderes Mitglieddes Ressorts habe ihn mit dem Satz be-drängt, Relotius einzustellen, da auch die»Zeit« an ihm Interesse habe, einen wieRelotius »findet man einmal in zehn Jah-ren«. Brinkbäumer schrieb der Kommis-sion, er habe sich davon ablenken lassen. Relotius’ Texte riefen bei den Verant-

wortlichen im Ressort Bewunderung hervor. So schrieb Guido Mingels zumText »Königskinder« (SPIEGEL 28/2016):»Weiß gar nicht, wann mich ein Text zu-letzt so mitgenommen hat. Unerträglichstarker Text.« Und zum Text »Die letzteZeugin« (SPIEGEL 10/2018): »Da ist direrneut eine großartige Geschichte gelun-gen! (…) Ich hab beim Lesen die ganzeZeit irgendwie schon den Film dazu vorAugen gesehen, weil das alles so absolutfilmreif (»The Last Witness«) ist. Eine gro-ße Parabel.« Und über »In einer kleinenStadt« (Fergus Falls, SPIEGEL 13/2017)schrieb Matthias Geyer an Relotius: »Nunaber haben Guido, Özlem und ich DeinenText gelesen und sind uns einig, dass Dirdamit ein ganz starkes Stück gelungen ist.Du hast einen wesentlichen Teil der ame-rikanischen Gesellschaft unters Mikroskopgelegt und mit leisen Tönen einen Text ge-schrieben, der einem endlich klarmacht,was da los ist.«

AlarmsignaleDie Kommission ist bei ihrer Rechercheauf verschiedene Hinweise und Warnun-gen gestoßen, die Anlass zu Misstrauengegenüber Claas Relotius hätten gebenkönnen; einige eher vage und unspezifisch,andere deutlich klarer.

Unklare WarnungenDer falsche Experte

Vom ersten Hinweis auf unsauberes Ar-beiten von Claas Relotius berichtet JuanMoreno in seiner Chronologie der Ereig-nisse. Ihm sei bereits 2013 der bis dahinunbekannte Autor aufgefallen, weil der ineinem Text für das Magazin »Cicero« ei-nen Experten namens Oscar Espinosa zi-tiert und als 46-jährigen Volkswirt und ehe-mals inhaftierten Dissidenten beschreibt.Espinosa sei Moreno ein Begriff gewesen,allerdings sei er nicht 46 Jahre alt gewesen,sondern über 70 und kurz nach Veröffent-lichung des Textes in Spanien gestorben.

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Das Verhältnis der Ressortleitung zu

Relotius war geprägt von absolutem

Zutrauen.

Der falsche Friseur

Hätte die Redaktion des SPIEGEL über Re-lotius Informationen eingeholt, bevor erzunächst als freier Mitarbeiter und späterfest angestellt beschäftigt wurde, hätteman auf einen Vorgang bei »NZZ Folio«aus dem Jahr 2014 stoßen können, der imNetz recherchierbar ist. Dort hatte Relo -tius für die Rubrik »Beim Coiffeur« einStück über einen Friseursalon in Finnlandgeschrieben. Einer Leserin fielen Unge-reimtheiten auf. Die Zeitung musste eineBerichtigung drucken und beendete dieZusammenarbeit.

Der Tweet aus Fergus Falls

Nach der Geschichte »In einer kleinenStadt« twitterte Michele Anderson aus Fer-gus Falls (die später die Fehler des Textesin einem Blog detailliert aufgearbeitet hat)am 7.4.2017 an den SPIEGEL-Account: »Ilive in Fergus. We’re wondering why hespent time here if he was just going to writefiction. Hilarious, insulting excuse for jour-nalism.« Der Tweet blieb unentdeckt.

Die misstrauische Nannen-Jury

In einem Editorial schrieb der damaligeChefredakteur des »Stern«, ChristianKrug, am 27.12.2018: »In der Jury des Nan-nen-Preises, die alljährlich die besten jour-nalistischen Leistungen in deutschsprachi-gen Medien auszeichnet, haben wir in denvergangenen Jahren in einigen Sitzungenüber Artikel von Claas Relotius diskutiert.Mehrere Jurymitglieder äußerten Zweifeldaran, dass sich alles so abgespielt hatte.«In einem Gespräch mit der Kommissionerklärte Krug, dass die Jury beim erstenMal das Glatte und Märchenhafte des Tex-tes »Königskinder« bemängelt habe, eshabe aber auch inhaltliche Zweifel gege-ben; zwar habe niemand von Fälschunggesprochen, man habe aber schon gefragt,ob das alles so stimmen könne. Der dama-lige SPIEGEL-Chefredakteur Klaus Brink-bäumer, der ebenfalls der Jury angehörte,habe darauf verwiesen, dass der Text vonder Dokumentation überprüft worden sei.Beim zweiten Mal sei über den Text »Lö-wenjungen« entsprechend »sehr breit« dis-kutiert worden. Klaus Brinkbäumer entgegnete auf An-

frage der Kommission: »In der Nannen-Jury sind bei Sitzungen, an denen ich alsJuror teilgenommen habe, keine Zweifelam Wahrheitsgehalt der vornominiertenRelotius-Texte diskutiert worden. Es gab,wie bei jedem Text, den wir dort bespro-chen haben, Fürsprecher und Gegner, aberdie Kritik der Gegner bezog sich auf Spra-che und Struktur der Reportagen.« Chris-tian Krug relativierte auf Anfrage der Kommission daraufhin seine Aussagen.Der Leiter der Henri-Nannen-Schule, An-dreas Wolfers, bestätigte die AussagenBrinkbäumers: Man habe in der Jury beim

Text »Königskinder« nicht von Fälschunggesprochen, sondern nur darüber, dass derAutor sich in die Gedanken der Kinder ver-setzt habe und dass die Geschichte zu glattaufgeschrieben sei. Über den zweiten Text»Löwenjungen« sei gar nicht mehr intensivgesprochen worden, weil in dem Jahr dieSchulz-Story so klar dominiert habe.

Deutliche WarnungenBislang konnte die Kommission feststellen,dass es im Haus drei deutliche Warnungenvor Fälschungen in Relotius-Geschichtengab. Jede davon hätte Relotius stoppenkönnen – zumindest theoretisch. Die erste Warnung eines Lesers muss

Matthias Geyer, den Leiter des Gesell-schaftsressorts, erreicht haben, er hat je-doch nicht reagiert. Bei der zweiten War-nung ist nicht ganz klar, ob und, wenn ja,wen in der Ressortleitung sie erreichte. Diedritte Warnung war die des Kollegen JuanMoreno. Ungeachtet dieser Warnung pro-duzierte und veröffentlichte das Gesell-schaftsressort noch knapp zwei Wochennach Eingang von Morenos ersten Indizieneine von Relotius in drei nicht unwichtigenTeilen gefälschte Titelgeschichte zum The-ma Klimawandel. Dabei hätte MatthiasGeyer da schon klar sein müssen, dass siees bei Relotius möglicherweise mit einemBetrüger zu tun hatten.

Leserbrief »Blindgänger«

Am 11. November 2015 schickte ein Leser,nach eigenen Angaben Lektor für Fach-magazine, eine E-Mail an die Adresse [email protected]. Darin wies er ruhigund detailliert auf Fehler in der Relotius-Geschichte »Blindgänger« (aus der Rubrik»Eine Meldung und ihre Geschichte«,SPIEGEL 46/2015) hin, nachdem er denText mit einer einfachen Google-Recher-che überprüft hatte.Der Chefredaktionsaccount, auf dem

die E-Mail einging, wird vom Sekretariatder Chefredaktion verwaltet. Die Kolle-ginnen dort leiteten die E-Mail am selbenTag weiter, das konnte die Kommission imAusgangsfach überprüfen; die E-Mail gingkorrekterweise an Klaus Brinkbäumer undden für Relotius zuständigen RessortleiterMatthias Geyer. Es gibt dort keine Hinwei-se darauf, dass jemand dem Leser geant-wortet hat.

Für die Rubrik »Eine Meldung und ihreGeschichte« recherchierte Claas Relotiusim Herbst 2015 die Geschichte von Ka-thryn Rawlins aus Atherstone, Warwick-shire, die viele Jahre lang eine Vase in ihrerWohnung hatte, die tatsächlich eine Gra-nate aus dem Ersten Weltkrieg gewesensein soll. Der Kern des Textes ist korrekt,es gab die als Vase genutzte Granate. Re-lotius hat auch tatsächlich mit KathrynRawlins Kontakt per E-Mail gehabt undzudem ein kurzes Telefonat mit ihr ge-führt, das bestätigte sie dem SPIEGEL. Of-fenkundig hat Relotius viele der Detailsseiner Geschichte dann aus britischen Zei-tungen abgeschrieben und die jeweils dra-matischsten ausgewählt. Auf Bitte desSPIEGEL hat Rawlins sich den Text mit-hilfe eines Übersetzungsprogramms nocheinmal durchgelesen. Ihr Fazit: Relotius’Darstellung enthält dieselben Detailfehlerwie die Texte anderer Zeitungen. Der ent-scheidende Fehler sei die Behauptung, dieGranate sei scharf gewesen, als Rawlinsdie Polizei verständigte. Britische Zeitun-gen hatten dies anscheinend fälschlich be-hauptet, Relotius hat diese Behauptungwohl ungeprüft übernommen. Der Leserschrieb in seiner E-Mail: »Die ganze Storyfällt hier eigentlich in sich zusammen.« Doch nach Eingang der E-Mail bei Brink-

bäumer und Geyer passierte nichts. Wederbat einer der beiden Empfänger die Doku-mentation um Prüfung, noch erhielt derLeser nach eigenen Angaben eine Antwortoder eine Eingangsbestätigung. Brinkbäu-mer gibt an, sich »in Umrissen« an dieseBeschwerde zu erinnern; er habe sie damalsmit der sinngemäßen Anmerkung weiter-geleitet: »RL-Gesellschaft bitte antworten.«In neun von zehn Fällen seien die Ressort-leiter seiner Bitte gefolgt. Wenn es in die-sem Fall anders gewesen sei, liege sein Ver-säumnis darin, es nicht überprüft zu haben.Nach Auskunft der IT muss mit an Si-

cherheit grenzender Wahrscheinlichkeitdavon ausgegangen werden, dass die E-Mail in Geyers E-Mail-Eingang angekom-men ist. Sie wurde ja nicht von einem ex-ternen Server gesendet, sondern nur vominternen SPIEGEL-Server verarbeitet. Undim sehr unwahrscheinlichen Fall, dass sienicht angekommen wäre, hätte beim Ab-sender eine Warnung auftauchen müssen.Matthias Geyer kann sich an die E-Mail

nicht erinnern. Auf Bitte der Kommissiondurchsuchte er seinen E-Mail-Account, dortwar sie nicht zu finden. Er sagte, dass er abund zu alte E-Mails lösche, wozu die IT tat-sächlich gelegentlich auffordert. Daraufhinbat die Kommission ihn um Erlaubnis, dieIT nach der E-Mail suchen zu lassen. DieKollegen dort können auch endgültig ge-löschte E-Mails sehen, wenn auch nur einegewisse Zeit nach Löschung. Doch auch dieIT konnte die E-Mail in seinem Accountnicht finden.

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In eigener Sache

Offenkundig hat Relotius viele der Detailsaus britischen Zeitungen

abgeschrieben.

SPIEGEL TV sucht die »Löwenjungen«

Am 18. Februar 2017 erschien im Gesell-schaftsteil die in Teilen gefälschte Relo tius-Reportage »Löwenjungen« über zwei Kin-der, angeblich Brüder, die im Auftrag desIS Selbstmordanschläge verübten bzw. ver-üben sollten. Mitte April dann recherchier-te ein erfahrener SPIEGEL-TV-Kollege mit einem ebenfalls erfahrenen Freien undKameramann im Irak. Sie wollten unteranderem ein Stück über Kindersoldatendrehen und dafür auch die Hauptfigur»Nadim« aus der Relotius-Geschichte interviewen.Einer der beiden fand »Nadim« dann

auch, aber im Schnitt fiel schließlich auf,dass diverse Teile der Relotius-Geschichtenicht zu den Erkenntnissen der TV-Kolle-gen passten. So waren die beiden Haupt -figuren »Nadim« und »Khalid« wohl keineBrüder, »Nadim« hieß in Wahrheit zudemMahmud, er saß in einem anderen Gefäng-nis und wollte, anders als in der Geschichtebeschrieben, zurück zu seiner Familie inMossul.Ein leitender Kollege bei SPIEGEL TV,

als Diensthabender mit im Schnitt, ist sichsicher, dass er die Ressortleitung der Ge-sellschaft »so im Vorbeigehen« auf die Un-stimmigkeiten ansprach – er kann sich nurnicht mehr erinnern, wen von den damalsZuständigen. Der TV-Kollege sagt: »Relo-tius meldete sich dann bei mir. MeineNachfrage muss ihn also erreicht haben.«Die Mitglieder der Ressortleitung sagenaber, dass sie nichts von der Warnung wissen.Relotius kam in den Schnittraum und

auch noch ins Autorenbüro, in dem derFilmautor am Text arbeitete. Wortreich»erklärte« Relotius die Unstimmigkeiten.Der Autor sagt, er habe dann auf Relotius’Bitte hin auch den Namen des Jungen von»Mahmud« in »Nadim« geändert, weil essowieso oft sinnvoll sei, die Namen vonKindern zu deren Schutz zu ändern. Sonstwar der Film unabhängig von Relotius’ Ge-schichte und stimmte mithin. Die Kollegenvon SPIEGEL TV fühlten sich darüber hi-naus nicht dafür zuständig, Relotius weiterhinterherzurecherchieren, weil sie auchdavon ausgingen, dass die Geschichte vonder Dokumentation überprüft worden war.

Morenos MisstrauenAm Freitag, dem 16. November 2018, te-lefonierte Juan Moreno mit Matthias Gey-er und sagte ihm (laut Geyer aufgeregt undungeordnet), dass Relotius Teile der ge-meinsamen Geschichte »Jaegers Grenze«gefälscht habe. In dieser Geschichte ginges um die Karawane von mittelamerikani-schen Flüchtlingen, die in die USA wollten– und es ging um eine rechte Miliz auf US-Seite, die angeblich Jagd auf genau solcheMenschen machte. Moreno hatte in Mexi-

ko recherchiert, Relotius hatte die angeb-lichen Milizionäre beschrieben. An diesemTag war die Geschichte gerade in der digi-talen Ausgabe erschienen. Am Sonntag da-nach, den 18. November, lieferte Morenoin einer langen E-Mail Indizien und Ver-dachtsmomente.Schon beim Telefonat am 16. November

erkannte Matthias Geyer nach Ansicht derKommission das Gewicht von MorenosAnschuldigungen. Er sagte nach eigenemBekunden zu Moreno: »Juan, ich möchteeinmal festhalten, worum es hier geht: Ent-weder richtest du gerade einen Kollegenhin, oder du richtest dich selber hin.« (Mo-reno selbst hat das Zitat etwas anders inErinnerung: »Du weißt schon, was du dagerade tust? Du versuchst, das Leben einesjungen, talentierten Kollegen zu zerstö-ren.«)Matthias Geyer schrieb in einer Zusam-

menfassung seines Gesprächs mit derKommission über diesen Moment: »Fürmich war klar, dass wir es jetzt mit einemVorgang zu tun haben, der für einen derbeiden Beteiligten Konsequenzen habenmuss: Entweder ist Relotius ein Betrüger,oder Moreno zerstört gerade den Betriebs-frieden bzw. betreibt Rufmord.«Dass Geyer die Bedeutung erkannt hat-

te, wird auch dadurch klar, dass er unmit-telbar nach dem Telefonat Ullrich Fichtnerals designierten Chefredakteur informierteund sich beim Sportressortleiter, ebenfallsein Vorgesetzter/Auftraggeber von More-no, rückversicherte.Zwei Wochen nach Morenos ersten Hin-

weisen und zehn Tage nach der E-Mail mitden Indizien für die Fälschung ließ das Ge-sellschaftsressort trotzdem die Klima-Titel-geschichte »Was der Erde droht« passieren.Einstieg, Schluss und eine Mittelpassagestammten von Claas Relotius, angeblichvon der Pazifikinsel Kiribati. Heute ist klar,dass Relotius nicht einmal auf Kiribati war,sein Text war gefälscht. Obwohl Geyer es nach eigener Auskunft

für möglich hielt, dass Relotius ein Betrü-ger sein könnte (… entweder Relotius istein Betrüger …), stoppte er den Klimatitelnicht. Er strich die Relotius-Passagen auchnicht aus dem Text. Ebenso wenig leiteteer Recherchen ein, um den Fall vor Erschei-nen der Titelgeschichte aufzuklären.

Ullrich Fichtner wurde von Geyer schonals Chefredakteur angesehen, und auchFichtner selbst empfand sich als Chefre-dakteur. Die beiden noch amtierenden Mit-glieder der Chefredaktion, Dirk Kurbju-weit und Susanne Beyer, waren zu diesemZeitpunkt nicht über den Verdacht gegenRelotius informiert. Kurbjuweit sagte ge-genüber der Kommission: »Wir haben dasam Montag (17.12.2018) wie alle anderenerfahren.« Deshalb hatten die beiden kei-ne Chance, den Titel vorsichtshalber zustoppen oder eine Prüfung zu veranlassen. Ullrich Fichtner sagte der Kommission,

es habe keine Dringlichkeit gegeben zuhandeln. Moreno habe seine Argumenteund Verdachtsmomente zunächst schlechtvorgetragen. Es habe, so Fichtner, aus sei-ner Sicht noch keinen Fall gegeben; dashabe sich erst am 9. Dezember geändert,als Relotius zwei Videos vorgeführt wur-den, die Moreno zusammen mit einemMünchner Fotografen in den USA gedrehthatte. In diesen beiden Videos warfen dieHauptfiguren der Geschichte »JaegersGrenze« Relotius vor, nahezu alles ge-fälscht zu haben. Bis dahin, so Fichtner,habe es Indizien gegeben, aber keine Beweise. Fichtner sagte der Kommission, er habe

den designierten, aber noch nicht amtie-renden Chefredakteur Steffen Klusmannwohl in der Woche nach Geyers erstemAnruf zum ersten Mal informiert, aberohne Details zu nennen, eher ungefähr so:»Da ist was, ich kümmere mich.« Zu derZeit hätten Klusmann und er selbst biszum Hals in Terminen gesteckt. Er sagtezudem, er habe geglaubt, dass er einen gu-ten Ressortleiter (Geyer) habe, der sichum das Problem kümmere. Er selbst habevon dem Titel mit den Kiribati-Passagengewusst und habe auch ein frühes Manu-skript gelesen. Er sei aber davon ausgegan-gen, dass mit dem zuständigen Dokumen-tar geredet werde. Matthias Geyer sagt,Morenos Vorwürfe hätten sich damals nurauf den Text »Jaegers Grenze« bezogen.Niemand habe zu dem damaligen Zeit-punkt den Verdacht gehabt, dass es sichbei Relotius um einen systematischen Be-trüger handeln könnte.

Der Umgang mit MorenoDie Reaktionen auf den WhistleblowerMoreno sowie das Handling des Falles inden ersten Tagen und Wochen waren lang-sam und mangelhaft, geprägt von Vertrau-en gegenüber Relotius und Misstrauen ge-genüber Moreno. Der Fall wurde behan-delt, als ginge es nur um Gezänk zwischeneinem freien Kollegen und dem Nach-wuchsstar des Ressorts – und nicht um ei-nen Verdacht, der dem ganzen Unterneh-men schaden könnte. Besonders schwerwiegt, dass die Verantwortlichen im Ge-

134

Juan Moreno sagt, dass Relotius Teile der gemeinsamen

Geschichte gefälscht habe.

sellschaftsressort keine eigenen Re -cherchen anstellten, um den Fall aufzuklä-ren. Dies hätten sie selbst dann tun müs-sen, wenn sie Relotius für unschuldig hielten, denn schließlich wurde er schwerbeschuldigt. Während das Gesellschaftsressort also

nichts recherchieren ließ, was den Fall hät-te klären können, fuhr Moreno aus eige-nem Antrieb in die USA, um selbst zu re-cherchieren.Zeit verstrich, und außerdem riskierten

die Beteiligten, dass der Fall nach außendringt – dann hätte der SPIEGEL nicht ein-mal mehr die Chance gehabt, die Affäreselbst aufzuklären. Denn laut (späterer)Auskunft von Moreno war eine US-Jour-nalistin schon dabei zu recherchieren. Au-ßerdem waren Bürger in Fergus Falls Re-lotius ebenfalls auf der Spur und planteneine Veröffentlichung. Über die Kleinstadtin den USA hatte Relotius 2017 eine, wieman heute weiß, weitgehend erfundeneReportage geschrieben.Vor allem aber führte das fehlerhafte

Handling dazu, dass der SPIEGEL den inTeilen gefälschten Klimatitel druckte.Moreno, als fester Freier praktisch je-

derzeit kündbar, sah sich gefährdet. Er hat-te den Eindruck, als laufe er beim SPIEGELgegen eine Wand: »Es waren dicke, solideBetonwände, SPIEGEL-Qualität gewisser-maßen.« Das Einzige, was das Gesell-schaftsressort in den ersten Wochen unter-nahm, war, Relotius mit Morenos Vorwür-fen zu konfrontieren. Relotius bekam soGelegenheit, weitere Lügengebäude auf-zubauen.

Die Chronologie der Aufdeckung

Die zeitliche Abfolge der Vorgänge zeigt,wie zögerlich die Aufklärung angegangenwurde – und dass die Ressortleitung undder designierte Chefredakteur UllrichFichtner Moreno alleinließen. Die Chro-nologie basiert auf einem Protokoll, dasMoreno Ende Dezember auf Bitte von Ull-rich Fichtner angefertigt hat, und auf Ge-sprächen von Matthias Geyer und UllrichFichtner mit der Kommission. MatthiasGeyer hat aus dem Gespräch ein eigenesProtokoll angefertigt.

Dienstag, 13. November 2018

Moreno schreibt an Relotius als Reaktionauf Relotius erste Version des Textes »Jae-gers Grenze«, diese E-Mail gehe in »cc«auch an Matthias Geyer. Moreno listet sei-ne bis dahin noch lediglich inhaltlichenund formalen Probleme mit dem Text auf.Er äußert sich allerdings bewundernd da-rüber, dass es Relotius gelungen sei, in sokurzer Zeit Zugang zu einer Bürgerwehrgefunden zu haben. Das habe ein bekann-

ter Fotograf, der seit 20 Jahren in der Ge-gend recherchiere, noch nie geschafft. Gey-er fordert nach eigener Aussage Relotius auf,die Vorhaltungen Morenos auch unter Zu-hilfenahme der Dokumentation zu klären. Moreno wehrt sich dann gegen »Regie-

anweisungen« von Relotius beim Bearbei-ten des Textes und schreibt, er tue sich»sehr schwer mit diesem Wunsch nach ein-fachen, klaren Erklärungen. Es ist nie klarund einfach«.

Mittwoch, 14. November

Relotius schreibt an Moreno: Er habe »denTag und die halbe Nacht« damit verbracht,den Text »szenischer, erzählerischer« zumachen. Am Abend ruft Geyer bei More-no an und äußert sich laut Moreno verär-gert über dessen Verhalten gegenüber Re-lotius und die E-Mail. In den kommendenTagen soll es ein Gespräch geben.Inzwischen hat Moreno das Layout der

Geschichte mit den Fotos zu sehen bekom-men. Er hat erste Zweifel, dass die Ge-schichte so stimmt, wie Relotius sie aufge-schrieben hat. Er findet in amerikanischenMedien Hinweise auf diese Unstimmigkei-ten. Moreno recherchiert nach eigenen An-gaben die ganze Nacht weiter und ist sichdanach sicher, dass Text und Bilder nichtübereinstimmen. Die Hauptfigur »ChrisJaeger« heißt in einer Geschichte der»New York Times« zum Beispiel Chris Maloof. Das Bild des Fotografen JohnnyMilano ist von 2016. Moreno findet einenText des amerikanischen JournalistenShaun Bauer, dem es gelungen war, eineBürgerwehr undercover zu infil trieren.Die Männer in Bauers Geschichte habenseltsamerweise ähnliche Deck namen wiebei Relotius: Pain, Spartan, Ghost, Jaeger.Am Abend schreibt Moreno nach eige-

nem Bekunden eine warnende E-Mail anden zuständigen Dokumentar und schicktihm alle bis dahin bekannten Informatio-nen, allerdings mit der Bitte, diese vertrau-lich zu behandeln.

Donnerstag, 15. November

Der Dokumentar ruft Moreno (nach An-gaben von Moreno) an und sagt, er sei nurfür die normale Textverifikation zuständig,ansonsten müsse er dem Autor glauben.Der Dokumentar bestätigte diese Version

später in einem Gespräch mit der Kom-mission und sagte, Moreno habe ihn auf-gefordert, die E-Mail wegzuschmeißen.Geyer ruft Moreno an, laut Moreno »zu-

tiefst verärgert« über dessen angeblich»völlig unprofessionelles Verhalten« undden kritischen Ton in der E-Mail vom 13. November. Geyer zur Kommission:»Ich fand seine Arbeitsweise unprofessio-nell und spreche mit ihm über den Unter-schied zwischen Reportage, Report undEssay. Ich sage ihm, er müsse in der Lagesein, Egoismen zurückzustellen.« Es wird ein Gesprächstermin für den

22. November vereinbart.

Freitag, 16. November

Am Nachmittag telefoniert Moreno mitMatthias Geyer. Laut Geyer spricht More-no schon in diesem Telefonat von »Fäl-schung«, er sagt, dass der Text »JaegersGrenze« in den Teilen, die Relotius ge-schrieben habe, nicht stimme. Moreno schildert die festgestellten Un-

stimmigkeiten. Geyer habe gesagt, er habedie Anmerkungen zur Kenntnis genom-men, er halte nichts davon. In diesem Ge-spräch fällt das Hinrichtungs-Zitat. Geyersagt dazu außerdem: »Ich habe erst malkeinen Grund, an der Integrität von Claaszu zweifeln.« Moreno bietet nach eigenerAussage an, seine Hinweise noch malschriftlich vorzutragen. Geyer sagt hinge-gen, er habe Moreno aufgefordert: »Schickmir das schriftlich, dann prüfen wir das.«Nach diesem Gespräch hat Moreno den

Eindruck, gerade gefeuert worden zu sein.Er telefoniert mit dem Fotografen ScottDalton, der ihm anbietet, mit ihm nachArizona zu fahren, um Beweise zu recher-chieren. Diesen Eindruck vermittelte of-fenbar auch Relotius, der am Abend derVerleihung des Reporterpreises (4.12.2018)Kollegen zufolge sagte, er sei traurig, weilMoreno seinen Texten nachrecherchiere;Moreno habe sich verrannt und werde des-wegen wohl entlassen.Geyer informiert Fichtner. Man ist sich

einig, dass man auf Morenos schriftlicheAusführungen warten müsse.

Sonntag, 18. November

Moreno schickt eine lange E-Mail an Geyerund Özlem Gezer unter anderem mit dreiFragen, Bilddateien, die die Namensdiffe-renz (Maloof/Jaeger, Foley/Nailer) belegen,zudem mit dem Instagram-Profil von ChrisMaloof (»Jaeger«) und weiteren Argumen-ten. Fichtner sagte der Kommission später,Morenos E-Mail sei schwer zu verstehengewesen: Er habe seinen Fall schlecht vor-getragen und geglaubt, dass alle wüssten,worum es gehe, nur weil er seine drei Fra-gen verschickt habe. Allerdings ist diese E-Mail nach Auffassung der Kommission klargenug, um den Vorwurf des Betrugs durchRelotius nachvollziehen zu können.

135DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019

In eigener Sache

Nach diesem Gespräch hat Moreno

den Eindruck, gerade gefeuert worden zu sein.

Es wäre ab diesem Moment möglich ge-wesen, Relotius auffliegen zu lassen, wennein Verantwortlicher eine Überprüfungder Vorwürfe vorgenommen oder veran-lasst hätte. Man hätte etwa Maloof übersein Instagram-Profil kontaktieren und fra-gen können, ob er sich auch manchmal»Jaeger« nenne oder ob er Claas Relotiuskenne. Auch ein Telefonat mit dem Foto-grafen Johnny Milano über die Identitätvon Maloof wäre möglich gewesen.

Montag, 19. November

Am Montagvormittag wird die E-Mail vonMoreno stattdessen an Relotius übergeben,er wird um eine schriftliche Stellungnahmegebeten. Relotius erhält damit die Gele-genheit, Vorwürfe (auch durch neue Fäl-schungen) scheinbar zu entkräften.Moreno fängt derweil an, andere Texte

von Relotius zu durchforsten, und findetHinweise auf mögliche Fälschungen in denRelotius-Texten über Colin Kaepernickoder die »Königskinder«.

Dienstag, 20. November

Relotius übergibt seine schriftlichen Ant-worten an Geyer. Geyer leitet sie an Ficht-ner weiter. Es soll nun einen Gesprächs-termin mit den Beteiligten geben. Bei derSuche nach einem Termin stellt man fest,dass Relotius vom 23.11. bis 3.12. in Urlaubgehen will. Man beschließt, die Angele-genheit auf Anfang Dezember zu vertagen.Die Erwiderung von Relotius wird JuanMoreno erst am 10. Dezember gezeigt. Erhat also bis zu diesem Zeitpunkt keineMöglichkeit, auf die Rechtfertigungen undneuerlichen Fälschungen zu reagieren.

Donnerstag, 29. November

Moreno fliegt für das Sportressort in dieUSA; er will dort aber auch Beweise gegenRelotius sammeln und dafür etwa die Bür-gerwehr treffen – auf eigene Faust und Rech-nung. Auf dem Flughafen London erreichtihn eine E-Mail von Geyer mit dem Ge-sprächstermin: »Die Runde wird aus mir,Fichtner, Claas und Dir bestehen.« Morenosagt mit Verweis auf die USA-Reise ab. Öz-lem Gezer wird von Geyer dazu nicht ein-geladen. Man habe ihr gesagt, so Gezer, esseien schon zwei Chefs dabei, das sei aus-reichend. Auch in den folgenden Wochenwird Özlem Gezer nach ihren Angaben vonGeyer nicht einbezogen. Geyer sagte derKommission: »Am Abend des 18. Novem-ber 2018 hat Juan Moreno um 22.36 Uhrseine ›drei Fragen‹ zu Relotius’ Rolle imText ›Jaegers Grenze‹ per Mail an mich ver-schickt, Özlem Gezer war in cc. Am darauf-folgenden Morgen, 19. November, habe ichpersönlich mit ihr darüber gesprochen. Dieweitere Aufbereitung lag in den Händen desdesignierten Chefredakteurs Ullrich Ficht-ner und mir. Darüber wurde Özlem Gezerin den wesentlichen Punkten informiert.«

Freitag, 30. November

Moreno fährt zusammen mit einem Foto-grafen rund 700 km von Las Vegas nachArizona zu Tim Foley (bei Relotius »Nai-ler«) und konfrontiert ihn mit einem Por-trätfoto von Relotius auf seinem Handy.Foley sagt, er kenne Relotius nicht. Da-nach nimmt Foley Detail um Detail derRelotius-Teile der Geschichte auseinander.Moreno und der Fotograf dokumentierenFoleys Aussage in einem gut 29 Minutenlangen Video. Foley stellt auch den Kon-takt zu Chris Maloof (bei Relotius »Jae-ger«) her. An diesem Tag, zwei Wochennach dem ersten Anruf von Moreno, er-scheint der SPIEGEL mit dem Klimatitelund den Kiribati-Teilen von Relotius.

Montag, 3. Dezember

Foleys Frau Jan schickt eine empörte E-Mail an Relotius und fragt ihn, wie er dazukomme, eine lange Geschichte über dieBürgerwehr zu schreiben, ohne da gewe-sen zu sein. Diese E-Mail wird Claas Relo-tius später verfälschen, um »beweisen« zukönnen, dass er doch dort war.

Dienstag, 4. Dezember

Moreno fährt zu Chris Maloof. Maloofsagt ebenfalls, er kenne Relotius nicht undsei mit ihm auch nie an der Grenze gewe-sen. Auch die ihm angedichtete Vorge-schichte (deutsche Vorfahren, von Latinosangefixte Junkie-Tochter etc.) dementiertMaloof. Er zeigt seine Handrücken in dieKamera, die nicht so tätowiert sind, wieRelotius geschrieben hat.

Samstag, 8. Dezember

Fichtner liegen die Videos von Morenovor. Er informiert Geyer und sagt, Relotiuswerde darin schwer belastet. Geyer: »Wirbeschließen ein unverzügliches Treffen fürden nächsten Vormittag in meinem Büro.Fichtner lädt Relotius per E-Mail für 11.30Uhr dazu ein.«

Sonntag, 9. Dezember

Relotius bekommt die drastischen Videoszu sehen. Relotius sagt nach Erinnerungvon Geyer, das sehe »tatsächlich schlecht«für ihn aus. Auf die Frage, ob er etwas Ent-lastendes habe, zeigt Relotius auf seinemHandy die (von ihm selbst verfälschte) E-Mail von Foleys Frau Jan vor, aus der indieser Version nun hervorzugehen scheint,

dass Relotius den Protagonisten »Nailer«doch persönlich gesprochen habe.

Montag, 10. Dezember

Fichtner konfrontiert Moreno bei einemVieraugengespräch in Hamburg in seinemBüro nach dessen Aussagen mit der Erwi-derung von Relotius auf seine E-Mail vom18. November. Er äußert nach Aussagenvon Moreno außerdem Zweifel an derEchtheit der Videos. Fichtner laut Moreno:Er sei »Partei«, und man wisse nicht, »wasich Foley und dem anderen geboten habe«. Ullrich Fichtner stellt die Situation fol-

gendermaßen dar:Er habe das Gespräch mit Moreno ge-

sucht, nachdem die Videos vorlagen. Re-lotius habe dadurch zwar schlecht dage-standen, sei allerdings durch die (gefälsch-te) E-Mail entlastet worden. Die Mail sei»stark« gewesen und habe die Glaubwür-digkeit der Videos erschüttert.Fichtner: »Diese Informationen – und

auch die mehrseitige schriftliche Erklärungvon Relotius – habe ich mit Moreno an je-nem Montag ausgetauscht, als Beweismit-tel gewissermaßen. Das hat ihm die Gele-genheit gegeben, seine berechtigten Zwei-fel an der E-Mail loszuwerden und endlichauf Relotius’ Version der Vorgänge zu rea-gieren. Er hat allerdings, das muss dannnun auch mal auf den Tisch, die Gelegen-heit genutzt, diffuse Drohungen auszuspre-chen. Er raunte, dass der Fall womöglichbald öffentlich werde, dass ihn, Moreno,bereits eine Journalistin kontaktiert habe,dass die Leute der Miliz Klagen gegen denSPIEGEL planten, solche Dinge. Seine ei-gene Rolle dabei blieb diffus, es war aberklar, dass er andeuten wollte, womöglichselbst illoyal zu werden. Ich habe ihm des-halb nicht nur gesagt, dass er ›Partei‹ sei,was er im juristischen Sinne ja auch war;ich sagte ihm aufgrund seiner zum Teilziemlich schmierigen Drohungen auch,und zwar mehr oder weniger wörtlich:Juan, ganz ehrlich, du klingst grade wieeine Figur aus einem Mafiafilm.«

Zu dem oben genannten Vorwurf Fichtners sagt Moreno: »Ich habe dem SPIEGEL niemals direkt oder indirekt ge-droht, noch habe ich zu irgendeinem Zeit-punkt angedeutet, illoyal werden zu wol-len, also mit meinem Wissen zu einem Medium gehen zu wollen. Einziges Zielmeines wochenlangen Handelns war, mei-ne durch eine Fälschung ramponierte Re-putation als freier Journalist wiederherzu-stellen und Schaden von meinem wichtigs-ten Auftraggeber abzuwenden.«Morenos Problem sei durchgängig, so

Fichtner, dass er jeden seiner Belege füreinen absoluten Beweis gehalten habe.Fichtner: »Ich hatte damals auf der einenSeite den immer noch vermeintlich unbe-scholtenen Kollegen Relotius – und ich hat-

136

In eigener Sache

Die Mail soll demonstrieren, wie

leicht Relotius gefälscht haben kann.

te auf der anderen Seite zwei dubiose Ge-stalten, von denen ich nur wusste, dass siein Milizen zum Privatvergnügen Streifegegen Einwanderer aus Mexiko gehen. Ichhatte zwei Videoclips, deren Entstehungs-geschichte ich nicht kannte und die mirdas Blut gefrieren ließen wegen ihres In-halts, aber auch wegen Morenos Gnaden-losigkeit. Und ich konnte wirklich nichtwissen, was gesprochen worden war, be-vor die Kamera anging.« Diese Skepsishabe er Moreno mitgeteilt. Es sei gut mög-lich, dass er gesagt habe, er wisse ja nicht,ob Moreno denen womöglich sogar Geldbezahlt habe. Die Eindeutigkeit des Zitatsvon Moreno sei aber »mit Sicherheitfalsch«. Fichtner sagt, er habe sich damalswie ein Richter gefühlt, er habe nur Indi-zien in der Hand gehabt. Er habe keineFehler machen wollen. Über den Statusder Videos habe er sich auch mit seinem»Ermittler« Clemens Höges ausgetauscht,der seine Zweifel geteilt habe (Dies mussallerdings nach dem Gespräch mit Morenogewesen sein, denn Höges wurde erst am11.12. hinzugezogen und bekam die Videosam Tag danach. Höges, damals zeitweiseVertretung in der Ressortleitung Ausland,sagt zu der Frage der Echtheit, er hielt esfür »denkbar, aber nicht wahrscheinlich«,dass Foley und Maloof in den Videos lü-gen, um sich einer strafrechtlichen Verfol-gung zu entziehen).

Moreno wird bei dem Treffen mit Ficht-ner am 10. Dezember auch eine weitere(gefälschte) E-Mail von einem der angeb-lichen Milizionäre (Deckname in der Ge-schichte »Luger«) an Relotius vorgehalten,die zu beweisen scheint, dass der Milizio-när Relotius kennt und dass sein Klarname»Mike Morris« lautet. Der Account [email protected], die Unter-schrift »lug«. Dies alles sieht Moreno nach seinen An-

gaben an diesem 10. Dezember zum erstenMal. Er überlegt, wie er die Lügen von Re-lotius entlarven kann. Er lässt von einemFreund einen E-Mail-Account kreieren mitdem fast identischen Absender [email protected]. Von diesem Account aus geht eine E-

Mail in die Redaktion: »Everything is trueClaas is telling you. We killed three Mexi-cans today« – gezeichnet mit dem Kürzel»lug«. Die E-Mail mit dem offenkundig er-fundenen Text soll demonstrieren, wieleicht Relotius seine angeblichen Gegen-beweise gefälscht haben kann. Fichtnerschlägt ein Gespräch mit Moreno und Re-lotius im Januar vor – zumindest geht dasaus einer E-Mail von Moreno hervor, inder er sein Unverständnis über einen Ter-min mit Relotius erst am 10. Januar äußert.Fichtner sagt, der Termin 10. Januar sei»routiniert und ohne großes Nachdenkenals Terminblocker auf Vorrat« eingestellt

worden, nachdem vorherige Termine mitRelotius und Moreno nicht zustande ge-kommen waren.

Dienstag, 11. Dezember

Moreno schreibt erneut an Fichtner undlistet alle ihm vorliegenden Hinweise auf.Er schreibt, dass sich Colin KaepernicksAnwalt gemeldet habe und dementiere,dass Relotius mit Kaepernick oder dessenEltern gesprochen habe. Moreno schreibtFichtner: »Bitte schreib ihm oder rufe ihnan.« Moreno gibt ebenfalls den Tipp, inRelotius’ E-Mail-Account nach der echtenE-Mail von Foleys »Sprecherin« und Ehe-frau Jan zu suchen. Er gibt weiterhin denHinweis, mit dem Fotografen Johnny Mi-lano zu sprechen, der bezeugen könne,dass es »Jaeger« nicht gibt und sein Fotoin Wahrheit Chris Maloof zeige. Erst diese Mail mit Hinweisen auf wei-

tere Fälschungen scheint Fichtners Glau-ben an die Unschuld von Relotius ernst-haft zu erschüttern. Seine Antwort an Mo-reno: »Ich bin sprachlos, verlass Dich da-rauf, dass ich alles tun werde, um diese Ge-schichte zu ermitteln und zu bereinigen.«

Mittwoch, 12. Dezember/Donnerstag, 13. Dezember

In der Nacht zu Donnerstag fährt ÖzlemGezer zu Relotius und bringt ihn zum Re-den. Stunden später wird im Beisein vonBetriebsrat und Personalabteilung derdienstliche E-Mail-Account von Relotiusgeöffnet und die Fälschung der E-Mail vonFoleys Ehefrau entdeckt. Nachmittags füh-ren Ullrich Fichtner, Özlem Gezer undMatthias Geyer ein mehrstündiges Ge-spräch mit Relotius, in dem er seinen Be-trug gesteht. Am Abend informiert Ficht-ner per SMS Steffen Klusmann.

Freitag, 14. Dezember

Klusmann informiert den GeschäftsführerThomas Hass. Beide entscheiden, für Mon-tag eine Taskforce einzuberufen. Bis dahin,so Klusmann, wollte man den Kreis derEingeweihten möglichst klein halten. Ull-rich Fichtner sei derweil dabei gewesen,das große Stück zu schreiben.

Montag, 17. Dezember

Thomas Hass informiert die amtierendenChefredakteure Susanne Beyer und DirkKurbjuweit.

Am 19. Dezember enthüllt der SPIEGELdie Affäre im eigenen Haus mit einer um-fangreichen Geschichte auf SPIEGEL ON-LINE und in der Folge in dem SPIEGEL-Titel »Sagen, was ist.«

IV. Wie konnte es so weit kommen?

Claas Relotius war ein Einzeltäter, der miterheblicher Energie gefälscht und seineFälschungen vertuscht hat. Er ist in aller-erster Linie für sein Handeln verant -wortlich.Gleichwohl stellt sich die Frage, unter

welchen Voraussetzungen und in welchemUmfeld ein solches Ausmaß an Fälschungüber derart lange Zeit möglich war. DieKommission hat mehrere Faktoren identi-fiziert, die eine systemische Rolle im Falldes Claas Relotius gespielt haben könnten.l Die Stilform der Reportage, die mögli-cherweise für Fälschungen besonders an-fällig ist.l Der Druck durch Journalistenpreise.l Die besondere Konstruktion des Gesell-schaftsressorts innerhalb des SPIEGEL.l Die Dokumentation, die beim Aufspü-ren von Fehlern, die den Fälscher mögli-cherweise entlarvt hätten, versagt hat.l Der Umgang mit Fehlern.

Die Reportage als anfällige Stilform

Die Reportagen, die das Gesellschaftsres-sort mit einigen der besten Autoren derRepublik Woche für Woche produziert,sind oft filmisch erzählte Geschichten;Plots werden akribisch geplant und Figu-ren gelegentlich wie bei einem Filmcastinggesucht. Die Geschichten leben von hoherDetailgenauigkeit. Dies ist im Fall der Ent-stehungsgeschichte von »Jaegers Grenze«in einem E-Mail-Verkehr zwischen Matthi-as Geyer, Moreno und Relotius gut nach-zuvollziehen. Dort heißt es unter anderem:»Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Siekommt idealerweise aus einem absolut ver-schissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoff-nung auf ein neues, freies gutes Leben inUSA (…) Es muss eine sein, die mithilfeeines Kojoten über die Grenze will (…)Die Figur für den zweiten Konflikt be-schreibt Claas (…) Dieser Typ wird selbst-verständlich Trump gewählt haben, istschon heiß gelaufen, als Trump den Mau-erbau an der Grenze ankündigt hat, undfreut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks,wie Obelix sich auf die Ankunft einer neu-en Legion von Römern freut (…) Wenn ihrdie richtigen Leute findet, wird das die Ge-schichte des Jahres.«Solch detaillierte Anweisungen per

E-Mail sind nach Angaben einiger Mitar-

137DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019

Am 19. Dezember enthüllt der SPIEGEL

die Affäre im eigenen Haus.

beiter unüblich. Dieser Mail vorausgegan-gen war ein Streit zwischen Juan Morenound dem Ressortleiter über die Frage, obes für den Text zwei Autoren braucht. Mo-reno wollte Alleinautor sein. Dafür hatsich Moreno in einer SMS entschuldigt.Am Nachmittag schrieb er an MatthiasGeyer: »Man sollte sagen, wenn man sichverrannt hat. Du hast recht. Es ist reine Eitelkeit. Ich will die Geschichte alleinemachen, weil ich glaube, dass es eine geileGeschichte werden kann.«Plot, Casting und manchmal Zeitdruck

bergen die Gefahr, dass die Wirklichkeitdem Drehbuch angepasst wird. Zumalwenn Journalistenpreise gewonnen wer-den sollen. Die Reportagen von Claas Re-lotius waren Extrembeispiele dafür. Diese Art der Komposition von Repor-

tagen kommt nicht nur im SPIEGEL vor,sie wurde zumindest bis zum Fall Relotiusmanchen jungen Journalisten sogar vonExperten nahegebracht. Nur wenige wa-ren bereit, darüber mit der Kommissionzitierfähig zu sprechen.Michael Schmuck, Journalist, heute An-

walt für Presserecht, Dozent und ehema-liger Geschäftsführer der Nachfolge-Schu-le der Nannen-Schul-Dependance in Ber-lin (KLARA), bestätigte der Kommissionauf Anfrage, dass es dort im Reportage -seminar im Rahmen eines sechswöchigenVolontärskurses eine Unterrichtseinheitgegeben habe zum Thema »Ist Schwindelnund Erfinden erlaubt?« – die Frage sei vonDozenten keineswegs klar und kurz mit»Nein« beantwortet worden.

Unterthemen seien gewesen:l Darf es eine »Kunstfigur« geben? EinenZusammenbau mehrerer realer Personen?l Darf eine Woche Reportagezeit für denLeser zum Beispiel auf einen Tag verkürztwerden?l Darf der Reporter dem Leser suggerie-ren, er habe selbst Beobachtungen ge-macht, obwohl er nicht vor Ort war?l Dürfen störende Fakten weggelassenoder fehlende ergänzt werden, um die Ge-schichte rund zu machen?Schmuck: »Zu dieser Diskussionsein-

heit wurden bekannte Reporter oder Re-porterinnen eingeladen. In aller Regel wa-ren sie der Meinung: Ja, das alles darf manin gewissem Umfang. Was nun immer ›ge-wisser Umfang‹ heißen mag. Sie erzähltendann auch aus ihren Reportagen solcheBeispiele, die dann eben mal mehr undmal weniger die wahre Geschichte ver-fälschten. Aber Einigkeit bestand immerdarin, dass das erlaubt sei.«Nicht besser agierte der branchenweit

bekannte Journalistikfachmann MichaelHaller – im Interview mit der »taz« vom11.2.2019 versuchte er allerdings nach Be-kanntwerden der Relotius-Affäre, sich vondergleichen zu distanzieren. So hielt ihmdie »taz« vor, in seinem Standardwerk »Die

Reportage« postuliere er »eine Montage-technik, bei der der Reporter mehrere Ge-sprächspartner zu einer Person zusammen-führen darf«. Haller, der in dem Interviewvon verschiedenen Arten der Wahrheit re-det (»›Stimmen‹ ist ein weites Feld«), sagteder »taz« nach Relotius: »Ich verstehe gut,wenn man hier heute strenger denkt, seit-dem wir wissen, wie viel Missbrauch getrie-ben wird.« Er kommt in dem Interviewauch nicht ganz davon weg, dass er früherdas »Verdichten« vertrat, also das literari-sche Zusammenführen von Fakten, die inWahrheit aus verschiedenen Zusammen-hängen stammen. Haller: »Ich finde, diesubjektiven Erzähltexte gewinnen ihre Aus-sagekraft durch ein etwas anderes Realitäts-verständnis (…) Ich produziere keine Lü-gengeschichte, wenn ich Verhaltensmusterdurch Verdichtung herausarbeite.«In ausführlichen Gesprächen mit den

Leitern der Henri-Nannen-Schule und derMünchner Journalistenschule wurde derKommission versichert, dass den Auszu-bildenden dort solche zweifelhaften Rat-schläge nicht gegeben würden. Seit der Aufdeckung des Fälschungsfalls

Relotius wird darüber diskutiert, ob dasGenre »Reportage« insgesamt diskredi-tiert ist. Das sieht die Kommission nichtso. Reportagen haben da, wo es etwas zusehen, zu hören, zu erzählen und zu be-schreiben gibt, dort, wo Wirklichkeit an-schaulich, nachvollziehbar und verständ-licher werden soll, ihre Berechtigung. Le-ser des SPIEGEL lesen, das weiß man ausLeseranalysen, gern lange Geschichten.Die Lesequoten der langen Texte, egal, obexzellent geschriebene Reportage oderfaktenreiche Titelgeschichte, übersteigenim SPIEGEL die der kürzeren Texte. DieseAnalyse stellt aber auch das Diktum infra-ge, nach dem nur die vermeintlich außer-gewöhnlich gut geschriebene und erzählteGeschichte es schafft, Leser zu begeistern.Leser haben offenbar ganz unterschiedli-che Kriterien. Ein wichtiges ist das inhalt-liche Interesse an einem Thema.In den vergangenen Jahrzehnten wurde

vor allem bei Magazinen häufig eine sehrbesondere Form der Reportage kultiviert.Sie sollte »möglichst nah dran« sein, einerklaren Dramaturgie mit ausgesuchten, insDrehbuch passenden Protagonisten folgen,

die »gecastet« wurden, »Kino im Kopf«erzeugen, das Leben in einer »nutshell«zusammengeschrumpft erzählen, und dasGanze mit frischem Blick. Generationenjunger Journalisten wurden in dieser Er-zählform ausgebildet. Die Reportage wur-de zur »Königsdisziplin« erklärt. Journa-listenschüler lernten, Szenerien auszu-leuchten, ihre Protagonisten zu formen,Widersprüchliches und Sperriges wegzu-lassen, schwarz-weiß zu erzählen, Grau-töne zu meiden, die Wirklichkeit der Dra-maturgie unterzuordnen, Geschichtenrund zu machen. Diesen Auszubildenden hat vermutlich

niemand gesagt, sie sollten fälschen odererfinden. Doch vom »Verdichten« zum»Dichten« ist es eben – legt man es daraufan – nur ein kleiner Schritt. Und wenn derbesondere Plot und die außergewöhnli-chen Protagonisten erwartet und dann prä-miert werden, ist die Versuchung für dieSchreiber groß, von der Wirklichkeit ab-zuweichen, sie zu dehnen oder zu verschö-nern. Der Blick derer, die in der Redaktiondes SPIEGEL redigieren und für die Plau-sibilität eines Textes verantwortlich sind,orientiert sich aber offenbar immer wiederam schön geschriebenen Text, an der be-sonderen Story. Manche Verantwortlichenfragten nicht in erster Linie, ob eine Ge-schichte stimmt, sondern ob sie schön ge-schrieben und toll komponiert ist: UllrichFichtner am 19.12.2018 auf SPIEGEL ONLINE: »Als Redakteur, als Ressortleiter,der solche Texte frisch bekommt, spürtman zuerst nicht Zweifeln nach, sondernfreut sich über die gute Ware. Es geht umeine Beurteilung nach handwerklichen Kriterien, um Dramaturgie, um stimmigeSprachbilder. Es geht nicht um die Frage:Stimmt das alles überhaupt.«Die Erzählweise, die in Reportagesemi-

naren, zum Beispiel dem des »Reporter-forums«, gelehrt wurde und wird, bedientsich dabei aus dem Werkzeugkasten desFilms, der Comics und der Literatur, alsoder Fiktion. Zitiert wird immer wieder derbritische Literaturwissenschaftler, Roman-autor und Essayist E. M. Forster und seinberühmter Beispielsatz: The king died,and then the queen died. Dies, so Fostersinngemäß, sei eine Story. Erst der Satz:The king died, and then the queen died ofgrief, mache daraus einen Plot.Das macht das Problem und die Gren-

zen dieser Methodik für Journalismus sehrdeutlich. Im Journalismus wird es schwersein, immer die Gründe oder Ursachen ei-nes Todes zu ermitteln. Vielleicht hatte dieKönigin eine Lungenentzündung, hat sichumgebracht oder wurde vergiftet. Vielesist denkbar. Journalisten müssen oft schrei-ben: The king died, and then the queendied, and we don’t know why.Besonders gefährdet und anfällig für

Ausschmückungen und Fehleinschätzun-

138

Die Reportage macht das Aufspüren

der Fälschung oder der Verfälschung

schwer.

gen scheint die Form der »szenischen Re-konstruktion«, wie sie im SPIEGEL auchin den szenischen Einstiegen häufig ge-nutzt wird. Hier werden nicht nur Ereig-nisse rekonstruiert, es werden auch Ge-danken und Gefühle nachempfunden. DerReporter schaut in den Kopf seines Prota-gonisten, versetzt sich in seine Gefühls-und Gedankenwelt hinein. Die Form derszenischen Rekonstruktion, oft als Einstiegbenutzt, ist also vom Grunde her eine »Er-findung«. Denn selbst wenn alles recher-chiert ist, so wurde es mehrfach gefiltert.Von demjenigen, der es erzählt, und dannein zweites Mal im Kopf des Reporters.Von Authentizität, die die Stilform der Re-portage suggeriert, ist man dann weit ent-fernt. Der Reporter ist der Interpretationseiner Informanten ausgeliefert. Je nachRecherchemöglichkeit bekommt er nur dieAuskünfte, die in das von den Informantengewünschte Bild passen. Er macht sich da-mit zum Komplizen der Interessen desProtagonisten.Es gibt natürlich gelungene Beispiele

von szenischen Einstiegen. Zum Beispielder Anfang einer Geschichte über dieSPD (SPIEGEL 4/2019). Er erzählt eineBegebenheit zwischen dem niedersächsi-schen Ministerpräsidenten Stephan Weilund einer Besucherin eines Parteikon-vents, die ihn fragt: »Kannst du bitte un-sere Partei retten und den Vorsitz über-nehmen? Weil stockt kurz. Die Frage istschmeichelhaft, aber auch gefährlich, einReporter steht daneben, er sollte jetztdringend etwas Unverfängliches sagen.«Es gelingt dem Autor nicht nur, diese Sze-ne gut zu beschreiben, sondern auch nochsich selbst als Beobachter und damit Teil-habender zu reflektieren.Relotius hat die Form der erzähle -

rischen Reportage zu scheinbarer Meis-terschaft gebracht. Er lieferte in Serie buchstäblich unglaubliche, märchenhafteGeschichten und erzählte unfassbare Schicksale. Glänzend geschrieben, außer-gewöhnliche Story, passendes Weltbild,preisverdächtig. Die Geschichten von Re-lotius passten offenbar in vielerlei Hin-sicht perfekt in die Erwartungshaltungder Redaktion. Anders ist es nicht zu er-klären, dass die kritische Distanz zu Au-tor und Text – Grundvoraussetzung fürdie Beurteilung eines Textes, auch seinesWahrheitsgehalts, – verloren ging. DieFrage »Kann das sein?« hat niemand ge-stellt. Georg Mascolo, Ex-Chefredakteurdes SPIEGEL, schrieb kürzlich nach derAufdeckung des Falls Relotius selbstkri-tisch in einem Text: »Waren wir blind,waren wir, war ich zu begeistert von allzuperfekten Texten?« Jurys der kleinen und großen Journalis-

tenpreise haben Relotius mit Auszeichnun-gen überhäuft (Relotius gewann allein vier-mal den »Reporterpreis«, insgesamt wurde

er circa 40-mal ausgezeichnet). Die Redender Laudatoren lesen sich heute wie Real-satire. Alle waren von der angeblich bril-lanten Schreibe, den aufregenden Drehbü-chern, den besonderen Protagonisten be-eindruckt. Niemand hatte offenbar Zweifel.Bestenfalls gab es gelegentlich, wie in derNannen-Jury, ein leises Unbehagen an der»zu glatt polierten Geschichte«, von»Kitsch« war die Rede oder von Zweifelnan der Quellenlage. Doch auch diese Zwei-fel, wie bereits Hinweise von Lesern oderKollegen zuvor, verpufften. Innerhalb eines selbstreferenziellen Sys-

tems der medialen Blase war niemand inder Lage, das Unwahrscheinliche in Relo-tius’ Texten als Fälschung zu vermutenoder gar zu erkennen.Was heißt das für den Journalismus,

den Reportagejournalismus im Besonde-ren? Ganz allgemein gesagt: Man kannnicht einfach so weitermachen, wenn klarist, wie anfällig diese journalistische Formfür Betrug ist, wie leicht es für Relotiuswar, damit durchzukommen. Die Repor-tage ist eben nicht nur eine Form, und damit unschuldig. Sie verführt zur Fäl-schung und macht das Aufspüren der Fälschung oder der Verfälschung schwer.In der Reportage liegt also eine Gefahr,die umso größer ist, je weiter weg ihreHandlung spielt. Darüber nachzudenken ist eine Aufgabe

für jede Redaktion, jeden Kollegen, derals »Erstleser« einen Text auf den Tischbekommt, für alle Reporterfabriken, fürdie Journalistenschulen. Allerdings ist diese Selbstreflexion über-

fällig und wäre auch ohne den Fälscher Re-lotius nötig. Der Journalismus, nicht nurder erzählerische Journalismus, hätte sichin der digitalen Welt schon längst verän-dern müssen. In Zeiten der weltweiten Beunruhigung

suchen die Menschen nach Orientierung.Aufgabe von Journalismus in der Demo-kratie ist es, den Bürgern dabei zu helfen,sich ein Urteil zu bilden und Entscheidun-gen zu treffen. Dafür bedarf es der Infor-mation und Aufklärung. Zusammenhängemüssen aufgezeigt, Hintergründe und his-torische Entwicklungen erklärt werden.Wenn Öffentlichkeit, der Austausch vonArgumenten, das Ringen um Positionen

eine notwendige Voraussetzung für Demo-kratie ist, so darf sie nicht den Desinfor-matoren überlassen werden. Wenn Popu-listen versuchen, die öffentliche Debattezu okkupieren, muss Journalismus eineAlternative anbieten, also antipopulistischsein. Wenn Information, Desinformation,Meinung, Urteil und Vorurteil immer nureinen Klick weit auseinander liegen, dannmüssen wir Journalisten uns fragen, wiesich Journalismus kenntlich macht und da-von abgrenzt. Bislang beklagen wir zwardiese Verrohung, schauen ihr aber tatenloszu. Wir schreiben unsere Texte, als wärenichts passiert. Im besten Fall in guterhandwerklicher Qualität.Journalisten müssen damit rechnen,

dass Nutzer heute informierter sind als frü-her. Noch nie war es so leicht, sich weltweitInformationen zu verschaffen. Gleichzeitigsind die Menschen desinformierter als frü-her, weil sie einer Fülle von nicht überprüf-ten, nicht recherchierten Informationenausgesetzt sind. Guter Journalismus mussim konstruktiven Sinn verunsichern. Nichtmit donnernden Meinungen, sondern mitdem starken Argument. Das Sowohl-als-auch – oft als Beliebigkeit missbilligt – istdie Voraussetzung für die Eröffnung einesgesellschaftlichen Dialogs. Wenn Journa-lismus nicht zuhört, verschiedene Meinun-gen nicht anerkennt, unterschiedliche Lö-sungswege für Probleme nicht selbst auf-zeigt oder mindestens gelten lässt, wird erTeil des Problems.Bei der Suche nach Wegen für einen

glaubwürdigen Journalismus, auch den Reportagejournalismus, in Zeiten der digi -talen Desinformation, geht es um Wahr-haftigkeit, um Information und um Trans -parenz.

Wahrhaftigkeit: Die erste Frage an ei-nen Text muss immer lauten: Stimmt das?Ist es plausibel? Kann das sein? Wenn etwas nicht stimmt, ist es kein

Journalismus. Wenn etwas nicht stimmt,oder nicht genau so stimmt, begibt sichder Journalist in den Graubereich der In-szenierung und Erfindung. SprachlicheAusschmückung von Szenen oder die Illu-mination von Orten, Verhältnissen, Ge-danken und Beziehungen verwischen dieGrenze zur Literatur. Die Reportage istdort das richtige Genre, wo es für den Re-porter viel zu sehen und zu erkunden gibt,wo er teilhaben kann an Ereignissen undGesprächen. Jedes Adjektiv birgt die Ge-fahr einer subjektiven Interpretation undöffnet die Tür zur Erfindung. Das heißt auch, alles ist unzulässig, was

nur im Kopf des Journalisten existiert. DieDramaturgie einer Geschichte – und na-türlich muss ein Text eine Dramaturgie ha-ben – muss der Wirklichkeit folgen. Wi-dersprüchliches gehört zur Wirklichkeitund macht einen Text nicht unrund, son-dern interessant.

139DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019

In eigener Sache

Journalisten müssen damit

rechnen, dass Nutzer heute informierter sind als früher.

In eigener Sache

Information: Mehr denn je braucht die-se Welt Information, Analyse, Wissen, Er-kenntnis. Es mag zu anderen Zeiten richtiggewesen sein, die Menschen in erster Liniezu packen, sie anzurühren, sie emotionalabzuholen. Es mag richtig gewesen sein,mit unverbrauchtem frischem Blick aufeine unbekannte Wirklichkeit zu schauen,um zu staunen oder Menschen aufzurüt-teln. Auch der »Thesenjournalismus«, derviel verbrannte Erde bei denjenigen hin-terließ, die anderer Meinung waren, hatteeinst Konjunktur. Egal. Vergangen. DieseZeiten sind vorbei. Weg mit den Ausrufe-zeichen. Die täglich konsumierten Mittei-lungen in den sozialen Medien sind vollvon Emotion, von Hass, Überschwang,Blödsinn, Vorurteilen, Behauptungen, Ver-schwörungstheorien. Wir können das nichttoppen. Wir müssen es unterbieten. Dafürbedarf es auch des Mutes zum Nichtwis-sen. Die Sätze »Ich weiß es nicht« oder»Wir wissen es noch nicht« sollten zu denStandardsätzen einer Redaktion gehören.Erfreulicherweise hat sich im Onlinejour-nalismus das Genre »Was wir wissen undwas wir noch nicht wissen« eingebürgertund wird gepflegt. Gerade im SPIEGEL, von dem die Leser

Aufklärung und Aufdeckung erwarten,von dem sie wollen, dass er nichts glaubtund alles prüft, ist die Art erzählte Ge-schichte überholt, die in erster Linie aufEmotion und dem sogenannten frischenBlick basiert. Der unbelastete Reporter,der in ein fremdes Land fährt, mit fremderKultur und einer Sprache, die er nicht ver-steht, der in jeglicher Hinsicht auf Über-setzer angewiesen ist, wird wahrscheinlichnichts sehen, was er sich nicht schon vor-gestellt hat. Er wird im schlechtesten Fallseine Vorurteile reproduzieren. Ein Text, der ausschließlich aus subjek-

tiven Beobachtungen und Beschreibungenberuht, hilft in dieser Zeit des Anschau-ungsdurcheinanders nicht weiter.

Transparenz: Ein Text ohne Quellenan-gabe ist kein Journalismus. Es reicht nicht,wenn der Reporter weiß, dass die Geschich-te stimmt, der Leser muss es nachvollzie-hen können. Er muss wissen können, nichtglauben müssen. Es ist falsch, vom Leserzu fordern, er müsse Vertrauen haben. DerLeser muss im Gegenteil gar kein Vertrau-en haben, der Journalist muss ihm mit je-dem Text beweisen, dass die Sachverhaltestimmen und das Thema relevant ist. Dasgeht nur, wenn man die Quellen offenlegtund Recherchewege transparent macht.Dies würde dem Leser die Anstrengungund den Aufwand verdeutlichen, den dieRedaktion, der Reporter unternommenhat, um die Geschichte und die Informa-tionen zu recherchieren. Vielleicht würdedies – sozusagen als Beifang – auch dieWertigkeit der journalistischen Arbeit ver-deutlichen. Leser würden besser verstehen,

wie aufwendig, wie sorgfältig, wie ausführ-lich unsere Recherchen sind.

Der Druck der Journalistenpreise

Kein anderes SPIEGEL-Ressort wird auchnur annähernd so oft mit Journalistenprei-sen ausgezeichnet wie das Gesellschafts-ressort, und im Ressort entsteht entspre-chender Druck auf junge Kollegen. Einersagt, zwei Ressortleiter hätten ihm vor Jah-ren vorgeworfen, seine Geschichten seienzwar gut, doch sie würden keine Preise ge-winnen: »Aber darum geht es nun mal inunserem Ressort«, habe einer der Ressort-leiter gesagt.Die ehemalige stellvertretende Chef -

redakteurin Susanne Beyer bestätigte imGespräch mit der Kommission, dass vonder Chefredaktion Journalistenpreise aus-drücklich gewünscht worden seien. Beson-ders auf das Gesellschaftsressort habe esdabei erheblichen Druck gegeben. Das seiauch ein Grund gewesen, warum KlausBrinkbäumer den Vertrag von MatthiasGeyer als Ressortleiter des Gesellschafts-ressorts nur für ein Jahr habe verlängernwollen – weil da nicht mehr so viele Preisegekommen seien.Brinkbäumer sagte der Kommission:

»Nein, das stimmt so nicht.« Er begründetedie Überlegungen zur Auflösung des Res-sorts damit, dass die Gesellschaft »zu vielüber einsame Straßen in Afghanistan undzu wenig über in Deutschland relevanteThemen schrieb«. Außerdem habe dasRessort seinen Auftrag, »Smarter living«-Themen umzusetzen, nur halbherzig an-gegangen. Man habe nie Preise gezählt, je-doch habe die »Zeit« 2015/16 weit vorngelegen; das habe man aber dank des Ge-sellschaftsressorts in den letzten beidenJahren drehen können.Folgt man der Lesart der derzeitigen Kol-

legen des Gesellschaftsressorts, spielen Prei-se bei ihrer Arbeit keine Rolle. Es werde nieüber Preise geredet, hieß es übereinstim-mend während eines Gesprächs mit derKommission. Wenn man gewinne, freueman sich natürlich, aber meistens gratuliereder Ressortleiter nicht einmal. Allerdingsräumte einer der Reporter im Einzelge-spräch ein, dass es Relotius ohne seine Prei-se im Ressort wohl schwerer gehabt hätte.

Das Gesellschaftsressort alsSonderfall im SPIEGEL

Das Gesellschaftsressort hat im Haus denRuf, sich abzuschotten, auch gegenüber Kri-tik. Das erklärt sich zum Teil aus der Grün-dungsgeschichte. Als das Magazin SPIEGELREPORTER 2001 wegen ökonomischer Er-folglosigkeit eingestellt wurde, transferierteder damalige Chefredakteur Stefan Austdie gesamte Gruppe unter dem Ressortlei-ter Cordt Schnibben – Reporter, Dokumen-tare, Layouter – in das neu gegründeteSPIEGEL-Ressort Gesellschaft. Einer, derdamals dabei war, nannte es »hineinge-bombt«. Ullrich Fichtner sagte der Kom-mission: »Wir sind hier reingekommen wieIsrael in die arabischen Gebiete und hattensofort einen Sechstagekrieg.«Die Kollegen wollten und sollten mit

Unterstützung der Chefredaktion vor al-lem große Reportagen zu diversen The-men schreiben. Dafür musste das neue Res-sort häufig in Themenbereiche vordringen,von denen die Redakteure der Fachres-sorts oder die Auslandskorrespondentenmehr verstanden oder in denen sie sogargerade selbst recherchierten. Das führtezu Konflikten, geschürt sicherlich auchvon einer Portion Neid wegen der beson-deren Arbeitsbedingungen und auch Fä-higkeiten vieler Reporter. Auch die Tatsa-che, dass früher nur wenige Autoren Na-menstexte schreiben durften, befeuerte dieneidhafte Konkurrenzsituation. Das Ge-sellschaftsressort galt als »Lieblingsressortder Chefredaktion«. Ein anderer leitenderRedakteur sagte der Kommission, CordtSchnibben habe ein Elitendenken im Res-sort geprägt, das von Matthias Geyer wei-tergepflegt wurde. Der Hass auf das Res-sort sei immer größer geworden.In der Folge führte dies zu einer nunmehr

fast 20-jährigen Konfliktsituation zwischendem Gesellschaftsressort und dem Rest desSPIEGEL. Der Kernvorwurf: Das Ressortsei an Kooperation nicht interessiert undignoriere die Kompetenz der Fachressorts.Die Reporter hinterließen in den jeweiligenBerichtsgebieten oft verbrannte Erde, weilsie sich nicht um eine dauerhafte Koopera-tion mit den Informanten vor Ort kümmernmüssten. Die Stellung des Gesellschaftsres-sort war in der Vergangenheit innerhalb desSPIEGEL stark; es agierte stets mit Unter-stützung der jeweiligen Chefredaktionen,die Kritik an der Arbeitsweise des Ressortsoder den Texten abgepuffert hat. Das führtedazu, dass Kritik nur noch punktuell oderverhalten geäußert wurde. Viele Redakteuresagten der Kommission, sie würden die Tex-te des Gesellschaftsressorts nicht mehr lesen.Ein Kollege nannte es einen »Ermüdungs-bruch« im Umgang mit dem Gesellschafts-ressort. Die Abschottung des Gesellschaftsres-

sorts zeigt sich auch am Umgang mit Leser-

140

Das Gesellschafts-ressort hat im

Haus den Ruf, sich abzuschotten.

briefen. Alle Ressorts bekommen Fahnender Leserbriefseiten in der Regel vorab zurKenntnis, sofern ihre Geschichten erwähntwerden. Nach Aussagen von Kollegen sollMatthias Geyer mindestens so häufig einge-griffen haben wie alle anderen Ressorts derHeftredaktion zusammen. Manche kriti-schen Leserbriefe seien dann gar nicht oderkürzer veröffentlicht worden. Matthias Gey-er dazu: »Ich habe das Gesellschaftsressort13 Jahre lang geführt. In dieser Zeit ist esmeiner Schätzung nach ein halbes DutzendMal dazu gekommen, dass ich in der Leser-briefredaktion angerufen habe. Anlass dafürwar jeweils, dass zu bereits veröffentlichtenTexten aus meinem Ressort ausschließlichnegative Briefe gedruckt werden sollten. Ichhabe in diesen Fällen den Kolleginnen undKollegen aus dem Leserbriefressort lediglichdie Frage gestellt, ob tatsächlich kein einzi-ger positiver Brief eingegangen sei, den manzu den negativen Briefen dazustellen könne.Ich habe niemals versucht, einen negativenLeserbrief zu redigieren geschweige dennzu verhindern.«Auch die Zusammenarbeit des Gesell-

schaftsressorts mit anderen Ressorts ist un-gewöhnlich – etwa beim Umgang mit ei-nem Leiter des DII-Ressorts. Dieser hatteden Eindruck, die Konferenzen im RessortDII könnten kreativer werden. Deshalbfragte er bei der Gesellschaft an, ob er alsGast an einer dortigen Konferenz teilneh-men dürfe. Die Bitte sei abgelehnt worden. In der Regel geht es bei Kooperationen

um größere Themen und Geschichten, dievon Gesellschaftsautoren zusammenge-schrieben werden sollen; die Redakteure an-derer Ressorts liefern zu. Aber Kooperationist für das Gesellschaftsressort aus der Sichtder anderen Ressorts für gewöhnlich eineEinbahnstraße. Bitten anderer Ressorts da-rum, Fahnen von Geschichten aus ihremThemenbereich vorab zu sehen, werden oftnicht erfüllt. Eine kritisch-fachliche Prüfungvon Kollegen ist dadurch nicht möglich.Die Verantwortlichen und Mitglieder

des Gesellschaftsressorts haben diese Kri-tik gegenüber der Kommission als unzu-treffend zurückgewiesen.Offenbar haben aber trotz ihrer Unter-

stützung für die Reporter verschiedeneChefredaktionen in den vergangenen zehnJahren die systemischen Probleme zwischendem Gesellschaftsressort und dem Rest desSPIEGEL als so gravierend erachtet, dass sieüberlegten, die Struktur zu ändern. Der da-malige Chefredakteur Klaus Brinkbäumererwog sogar eine Auflösung des Ressorts.

Die besondere Rolle der Dokumentation

Jedem Journalisten können Fehler und Ungenauigkeiten unterlaufen, und imSPIEGEL ist es (eine) Aufgabe der Doku-

mentation, diese Fehler zu beseitigen, be-vor die Texte veröffentlicht werden. Damitschützen Dokumentation und Bilddoku-mentation die journalistische Integrität desSPIEGEL und auch die der Autoren. Sietun das seit Jahrzehnten mit hoher Zuver-lässigkeit. Kein anderes Blatt in Deutsch-land hat eine auch nur annähernd so großeDokumentation wie der SPIEGEL. Die Do-kumentare sind in ihren jeweiligen Berei-chen hoch qualifiziert. Sie arbeiten imIdeal fall eng mit den Redakteuren zusam-men. Am besten bereits beim Entsteheneiner Geschichte. Die Dokumentare sindalso nicht nur »Fehlerfinder«, sie sind auchRechercheure. Sie halten dabei stets einekritische Distanz zu den Redakteuren. Ver-sehentliche Faktenfehler waren nicht dasKernproblem im Fall Claas Relotius: Erhat absichtlich und in erheblichem Um-fang gefälscht und erfunden, ähnlich wieJayson Blair in der »New York Times«oder Tom Kummer in der »SüddeutschenZeitung«. Relotius hat Redaktion und Do-kumentation dabei mit erheblicher Ener-gie und Raffinesse getäuscht und hinter-gangen. Die Dokumentation ist in erster Linie

für Faktenfehler zuständig. Dennochkommt die Dok-Leitung schon in einerersten Analyse im Januar 2019 selbst -kritisch zu der Auffassung, dass man beisehr sorgfältiger Arbeit auch den Fäl-schungen hätte auf die Spur kommen kön-nen. Voraussetzung sei allerdings gewe-sen, dass eine grundsätzliche Skepsis ge-genüber dem von Relotius versichertenWahrheitsgehalt seiner Reportagen be-standen hätte. Die Kommission sprichtsich als Lehre aus dem Fall Relotius dafüraus, die Intensität der Verifikation allerTexte beizubehalten oder im Einzelfallnoch zu verstärken. In der SPIEGEL-Dokumentation arbei-

ten rund 80 Kollegen, davon rund 50 ve-rifizierende Dokumentare. Sie sind in so-genannte Referate eingeteilt und arbeitenin ihren jeweiligen Fachgebieten. Die Aus-nahme bildete das Gesellschaftsressort.Mit der Übernahme des Magazins SPIE-GEL REPORTER in den SPIEGEL im Jahr2001 wurde auch der damalige Dokumen-tar aus der damals dem Reporter-Magazinzugeordneten Dokumentationsabteilung(mit ihren vorher gut drei Stellen) über-nommen. Er war sein eigener Referatslei-

ter, im Ressort arbeitete nur noch eineHalbtagskraft. Der Dokumentar verifizier-te seither die Reportagen, egal, in welchenWeltgegenden oder Sachgebieten sie spiel-ten. Diese Sondersituation in der Doku-mentation bestand seit Beginn der Über-nahme der Reportereinheit.Alle weiteren Chefredaktionen und

Ressortleitungen haben dies nicht infragegestellt. Genauso wenig wie die Leitungder Dokumentation. Klaus Brinkbäumeretwa bewertet die Konstruktion erst »inder Rückschau« als Fehler. Nach dem Ein-druck der Kommission war die Situationim Haus allgemein bekannt. Diese Schwachstelle wurde vonseiten

der Dokumentation unmittelbar nach Be-kanntwerden des Falls Relotius beseitigt.Seither werden die Texte aus der Gesell-schaft von Fachdokumentaren bearbeitet.Allerdings habe die früher sehr gute Ko-operationsbereitschaft innerhalb der Do-kumentation nachgelassen, berichtet einDokumentar, es werde sehr stark in Refe-raten gedacht und der Hass auf das Gesell-schaftsressort sei sehr groß.Die Nachverifikation der Texte von

Claas Relotius hat eklatante Fehler desfür die Gesellschaft zuständigen Doku-mentars offenbart. Das gilt selbst dann,wenn man in Rechnung stellt, dass die Ve-rifikationsrichtlinien für die Reportageund einige andere Stilformen, zum Bei-spiel Kino- und Buchkritiken oder auchdie SPIEGEL-Gespräche, weichere Prüf-kriterien vorsehen als für Nachrichtentex-te oder Ähnliches.So gilt etwa auch für Orts- und Milieu-

schilderungen in Reportagen und Korres-pondentenberichten ein eingeschränkterVerifikationsaufwand. Trotzdem wurdenviele Faktenfehler übersehen, aus derenSumme womöglich eine andere Beurtei-lung der Texte von Relotius hätte erwach-sen können.Der Dokumentar habe, so die Beobach-

tung der Dok-Kollegen, nur selten die Expertise der Fachkollegen eingeholt. Siebeobachteten das Phänomen der »wei-ßen«, also sehr leeren Manuskripte, andenen der Dokumentar wenig korrigierthatte, was sehr unüblich ist. Andere Dokumentare sagten der Kommission, siehätten Schwierigkeiten mit den Manu-skripten ihres Kollegen gehabt, weil es unmöglich gewesen sei zu erkennen, waser mit den Redakteuren schon geklärt hat-te; er habe immer sehr viel mündlich be-sprochen.Unabhängig von der speziellen Situa -

tion im Gesellschaftsressort scheinen einigeSPIEGEL-Redakteure zu glauben, dass vorallem Dokumentation und Rechtsabtei-lung dafür verantwortlich sind, fehlerfreieTexte zu produzieren. Zahlreiche Doku-mentare äußerten in Gesprächen mit derKommission erschreckende Dinge. So wür-

141DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019

Die Dokumentare sindnicht nur »Fehler-

finder«, sie sind auchRechercheure.

den Redakteure etwas als Tatsache darstel-len, obwohl es nur von einem Gesprächs-partner gesagt worden sei; aus stilistischenGründen werde oft unterschlagen, dass diebeschriebene Tatsache nur auf einer ein-zigen Äußerung beruhe. Fakten, die nichtin die Stoßrichtung einer Geschichte pass-ten, würden manchmal einfach weggelas-sen. Ein anderer Dokumentar schilderteder Kommission, dass »nicht selten« kurzvor Druck Fakten vom Dokumentar sohingebogen werden sollen, dass ein Text»gerade eben nicht mehr falsch ist«, umeine These zu retten, die in einer Konfe-renz vorgestellt wurde. Ein weiterer Do-kumentar sagte der Kommission, es gebeeinige Redakteure, die schlampig arbeite-ten und die Dokumentation nutzten, umschlecht recherchierte Geschichten druck-fähig zu bekommen. Und noch ein andererDokumentar sagte, dass die meisten Re-dakteure zwar akribisch arbeiten würden,dass es aber »zwei, drei Leute« gebe, dieohne Dokumentation auf dem Markt kei-ne Chance hätten.

Umgang mit FehlernDie Kritik- und Fehlerkultur im Haus istnicht sehr ausgeprägt. Dazu passt, dassviele Kollegen, die wir für diese Untersu-chung gesprochen haben, von der Mög-lichkeit der Vertraulichkeit Gebrauch ge-macht haben. Die theoretische Möglich-keit, dass ein Kritisierter in Zukunft einVorgesetzter sein könnte, hat bei vielenGesprächspartnern Ängste ausgelöst. Die Meinung darüber, ob Fehler in Tex-

ten im Nachhinein korrigiert werden sol-len, gehen weit auseinander. Im Gegensatzzu SPIEGEL ONLINE, wo sich klare Re-geln zum Umgang mit Fehlern entwickelthaben, gilt das fürs Heft nicht. Es existiertsowohl die Auffassung, Fehler sollten garnicht erwähnt werden, als auch, jeder Feh-ler sollte korrigiert werden.Fehler in der konkreten Arbeit müssen

aber – klaren Regeln folgend – sanktio-niert werden und Konsequenzen haben.Die Tatsache, dass dies in der Vergangen-heit selten bis nicht passiert ist, führt zufalscher gegenseitiger »Toleranz«. Imschlimmsten Fall zum Nichterkennen ei-nes Fälschers.Zwei Kontrollinstanzen sind für eine

gute Fehlerkultur entscheidend. Die einesind die Kollegen (Journalisten, Dokumen-tare, Fotografen, Juristen der Rechtsabtei-lung), die andere die Leser.Redakteure, Dokumentare, Fotografen,

Ressortleiter und die Rechtsabteilung müs-sen ermutigt werden, Zweifel an Textenoder an der Qualität der Arbeit von Kolle-gen zu äußern.Ein Dokumentar sagte der Kommis -

sion, es sei unüblich, schlampige Kollegenzu verpetzen. Eigentlich müsse man die

dem Ressortleiter melden, aber das ma-che niemand. Der Kommission begegneteimmer wieder der Satz: »Ich möchte nie-manden anschwärzen.« Oder: »Ich möch-te meinen Kollegen nicht misstrauen.«Darin liegt ein grundlegendes Missver-ständnis. Es geht nicht um Anschwärzenoder Misstrauen. Es geht um Qualitäts-kontrolle. Einzig die Tatsache, dass einschlechter oder falscher Text oft keinendirekten Schaden anrichtet, kann keinGrund dafür sein, keine Qualitätskontrol-le vorzunehmen. Für diese Qualitätskon-trolle sind Redaktion, Dokumentationund Justiziariat gleichermaßen zuständigund verantwortlich.

Der Umgang mit Leserbriefen

Leserbriefe gehen – wenn sie nicht an denAutor eines Textes direkt gerichtet sind –bei der SPIEGEL-Tochterfirma Quality Ser-vice in der Abteilung Lesermarkt ein. Die-se stellt alle Briefe, die sich auf Artikeloder andere redaktionelle Inhalte bezie-hen, ins Intranet. Dort können sie theore-tisch von jedem Redakteur eingesehenwerden.Die Leserbriefredaktion liest dann alle

Briefe, wählt die interessant erscheinen-den aus, extrahiert Stellen, die zur Ver -öffentlichung geeignet sind, redigiert understellt daraus die Manuskripte. Briefe, indenen mit Abo-Kündigung gedroht wird,werden markiert, damit die Abteilung Le-sermarkt sich um die Zurückgewinnungkümmert. Briefe, die Hinweise auf Fehlerin SPIEGEL-Artikeln enthalten, werdenebenfalls markiert, damit die stellvertre-tende Dokumentationsleitung sie prüft, be-antwortet und entscheidet, ob ein Korrek -turkasten abgedruckt werden soll. Briefe,die vom Autor des jeweiligen Textes beantwortet werden sollen, markiert dieLeserbriefredaktion zur Weiterleitung. Andere beantwortet sie selbst. Die Manu-skripte gehen an den zuständigen Ressort-leiter DII. Der Kollege bearbeitet sie undbefördert sie zur Fahne.Damit gehen die Texte in den Umlauf –

an die Ressortleiter der von den jewei -ligen Leserbriefen betroffenen Ressorts,die Dokumentare, die die betreffendenArtikel geprüft hatten, die Autoren der

Artikel und die Chefredaktion, bevor sie(mit eventuellen Änderungen versehen)wieder bei der Leserbriefredaktion lan-den, die mit dem Layout zusammen danndie Seite baut. Hat ein Ressort Ände-rungswünsche, wendet es sich damit andie Leserbriefredaktion, im Konfliktfallentscheidet die Ressortleitung DII. Diefertige Seite wird vom Ressortleiter DIIgeprüft und danach als Ressortseite aus-gegeben.Grundsätzlich gilt, dass Leserbriefe be-

antwortet werden müssen. Dies geschiehtdurch die Leserbriefredaktion, die Auto-ren oder durch die Dokumentation. Oballe Leserbriefe beantwortet werden, wirdnicht nachgehalten. Die Kommission hatim Laufe der Aufklärungsarbeit einige Bei-spiele von verärgerten Lesern gefunden,die zum Teil auf mehrere Briefe zum sel-ben Thema über Jahre hinweg keine Ant-wort erhalten haben. Ein besonderes Problem stellen Briefe

dar, die per E-Mail direkt an den Autor gehen. Dies hat es Relotius ermöglicht,mindestens eine kritische Leserin (Textzur Todesstrafe, »Die letzte Zeugin«) ab-zuwimmeln. Ihre Einwände zu dem Texthaben nach ihren eigenen Angaben wederdie Ressortleitung noch die Leserbrief -redaktion erreicht.

V. Weitere FälleZunächst die gute Nachricht: Die Kommis-sion hat beim SPIEGEL keinen weiterenClaas Relotius gefunden. Das bedeutetaber leider nicht, dass es keine anderenFälschungen gab.

FälschungenAuf hoher See

Im Januar 2019 flog beim Magazin der»Süddeutschen Zeitung« ein Autor mit ei-ner erfundenen Geschichte auf – allerdingsvor dem Druck. Der Autor hat zwischen2006 und 2008 auch für den SPIEGEL undSPIEGEL ONLINE geschrieben. Insgesamt43 Texte; die meisten in Kooperation mit»11 Freunde«. Eine Überprüfung ergab,dass die meisten Texte – von kleineren Un-genauigkeiten abgesehen – in Ordnungsind.Zwei Geschichten wurden aber massiv

verfälscht: »Flankenläufe auf hoher See«(SPIEGEL ONLINE, 29.9.2010) ist in weiten Teilen aus einer alten SPIEGEL- Geschichte (»Fußball auf hoher See«,8.1.1958) abgekupfert und in Teilen ver-ändert worden: Aus schwedischen Schiffenwurden norwegische, aus einer schwedi-schen Zeitung eine norwegische, Detailswurden dazuerfunden.Im August 2018 beschrieb der derselbe

Autor im SPIEGEL, wie er an einem schö-nen Sommertag ein verirrtes Mädchen

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Ein Dokumentar sagte, es sei unüblich,schlampige Kollegen

zu verpetzen.

nach Hause begleitet und sich angesichtsder Debatten über Kindesmissbrauch fühltwie ein Verbrecher (»Kennst du den?«,SPIEGEL 33/2018.) Die Geschichte war(ohne Kenntnis der SPIEGEL-Redaktion)bereits in kürzerer Form im »Tagesspiegel«erschienen – im Dezember 2015. Das Mäd-chen trug damals allerdings einen anderenNamen und den Witterungsbedingungenentsprechend eine Daunenjacke und einevom Weinen beschlagene Brille. Auch inweiteren Details stimmten die Texte nichtüberein.

Noch mehr Fälscher?Weitere Fälle bewusster Fälschungen hatdie Kommission bislang nicht gefunden.Die Kommission hat sich aber vorrangigum die Aufklärung der Relotius-Affärebemüht; so gibt es etwa noch Hinweisezu SPIEGEL-Texten aus den Fünfzigerjah-ren, denen nachgegangen werden sollte.Die Arbeit muss in diesem Punkt weiter-gehen.

Journalistische Unsauberkeiten

Allerdings hat die Kommission im Laufder vergangenen Monate etliche Hinweiseerhalten (von außen und aus dem Kolle-genkreis), dass manche SPIEGEL-Kollegenin ihren Texten nicht immer journalistischkorrekt arbeiten. Es handelt sich dabei aus-drücklich nicht um Fälschungen, sondernin der Regel um Verfälschungen. Die Vor-würfe zielen auf Abweichungen vom SPIE-GEL-Grundsatz: »Sagen, was ist«. Es gehtmeist darum, dass Tatsachen nicht korrektoder nicht vollständig dargestellt wurden;entweder aus dramaturgischen Gründen,weil sich eine Geschichte geschmeidigererzählen lässt, wenn man beim Beschrei-ben nicht ausschließlich an Fakten gebun-den ist, oder aus weltanschaulichen Grün-den, weil sich eine Geschichte stringentererzählen lässt, wenn man widersprüch -liche Fakten weglässt. Die Kommission hatbei ihren vielen Gesprächen mit Redak-teuren, Dokumentaren und Justiziarenden Eindruck gewonnen, dass es sich hiernicht nur um gelegentliche Ausreißer han-delt, sondern zum Teil um unterschied -liche Auffassungen davon, was in einemjournalistischen Text noch zulässig ist undwas nicht. Daher hat die Kommission ei-nige exemplarische Beispiele ausgewählt,an denen sich zeigen lässt, dass es auch ab-seits vom Fall des Claas Relotius Verände-rungsbedarf im Haus gibt.Die Kommission stellt aufgrund ihrer

langjährigen Berufserfahrung in unter-schiedlichen Medien ausdrücklich fest,dass solche oder ähnlich gelagerte Fälleauch in anderen journalistischen Publika-

tionen zu finden sind, mithin also kein rei-nes »SPIEGEL-Problem« vorliegt.Es folgen zunächst drei Fälle, in denen

an Manipulationen aus dramaturgischenGründen gedacht werden könnte.

Manipulationen aus dramaturgischen Gründen

»Asadullahs Spiel«

Ein Text über den ersten afghanischen Fuß-ball-Cup in Kabul schildert zunächst eineHinrichtung aus dem Jahr 1999, als Tali-ban auf dem Rasen des Ghazi-Stadionsvor Publikum eine Frau töteten, und da-nach ein Fußballspiel am selben Ort – imJahr 2012. Die Einstiegsszene beschwörtdie Symbolkraft der Veränderung: damalsExekution, heute Friedensprojekt, im sel-ben Stadion. »Dasselbe Stadion, dasselbeFeld, gedacht für dasselbe Spiel. DamalsTod, heute unbändiges Leben«, so heißtes im dritten Absatz des Textes. Die Spieleder Afghan Premier League fanden jedochnicht im Ghazi-Stadion statt, sondern imbenachbarten AFF-Stadion, das der Autorals Teil derselben Sportstätte wahrnahm.Eine Leserin, die Kontakt zu afghanischenJournalisten hat, machte den Autor nachErscheinen des Artikels darauf aufmerk-sam, dass es sich um zwei unterschiedlicheStadien handelt. Sie liegen etwa 750 Meterauseinander.Der Autor schreibt, alle, mit denen er

vor Ort zu tun gehabt habe, hätten die gan-ze Anlage »Ghazi« genannt, also den Platzdaneben in die Bezeichnung mit einbezo-gen. Bei den beiden Szenen, die er am An-fang des Textes parallel beschrieben habe,sei er von einer »bedeutungsmäßigen Ein-heit des Ortes« ausgegangen, so wie man»Wimbledon« sage, auch wenn auf ver-schiedenen Feldern gespielt werde.

»Ich bin Tatunca. Punkt«

Aus dramaturgischen Gründen kann abernicht nur bei Ortsbeschreibungen gemo-gelt werden, sondern auch bei der zeitli-chen Abfolge von Ereignissen: Vor einigenJahren erschien eine Reportage vollerabenteuerlicher Details. Der Kollege be-schrieb die Suche nach einem verrücktenDeutschen, der sich Tatunca nennt und an-

geblich seit Jahrzehnten im Dschungel alsHäuptling eines Indianerstammes lebte.Diese Suche bildete den Plot der Geschich-te. Der Autor traf den Menschen am Endeder Reise durch Zufall in einem Einkaufs-zentrum. In Wahrheit hatte die Zufallsbe-gegnung jedoch schon vor der abenteuer-lichen Suche stattgefunden. Der Autorschildert es so: »Wir flogen zusammennach Manaus, ohne Kontakt mit Tatuncaaufgenommen zu haben. Die Reise unddie Suche sollten das Thema sein. Der Kof-fer des mitgereisten Fotografen ging ver-loren, und er wollte sich neue Kleider imbenachbarten Shoppingcenter kaufen.Dort saßen Tatunca und seine Frau undtranken Tee.« Die in der Reportage geschil-derte Begegnung war ein zweites Treffenam Ende der Reise. Der Autor zur Kom-mission: »Für die Geschichte habe ich mitder Reise angefangen und die zweite Be-gegnung ans Ende gesetzt. Das Überra-schungstreffen am ersten Tag habe ichnicht aufgenommen.«Beide Begegnungen waren also echt,

keine gefälscht – es wurde lediglich die ers-te weggelassen. Hätte der Autor sie er-wähnt, wäre die Suche allerdings keinerichtige Suche mehr gewesen. Der Plot hät-te nicht mehr funktioniert.

»Schlangen und Gespenster«

Manche Autoren entwickeln bei der Ge-staltung der Dramaturgie große Kunstfer-tigkeit, etwa im Text »Schlangen und Ge-spenster« aus dem Jahr 2004:»Als Martin Walser das Gerücht hört,

dass er den Nobelpreis für Literatur nichtgewonnen hat, erstarrt er für einen langenAugenblick. Sein Gesicht wird zu Marmor,glatt, reglos, undurchdringlich. Er schweigt,dann sieht es so aus, als richte er ein paarWorte an sich selbst. Er nickt.Elfriede Jelinek hat gewonnen, eine

Österreicherin, eine Frau, die Deutschschreibt. Günter Grass 1999 und Jelinek2004, in den nächsten Jahren wird keindeutschsprachiger Autor den Nobelpreisgewinnen, und Walser ist 77.«Martin Walser schickte nach Erscheinen

des Artikels einen ungehaltenen Leserbriefmit der Überschrift »Auch das Unwichtigedarf wahr sein«: Er habe erst deutlich nachseinem Gespräch mit dem SPIEGEL vonder Preisentscheidung für die Konkurren-tin erfahren. Der SPIEGEL-Kollege sei alsokeineswegs in dem Moment dabei gewe-sen. »Diese Tragödienmimik, die mir derSPIEGEL-Kollege in mein brav bleibendesGesicht inszeniert, kommt mir erfundenvor«, schreibt Walser.Auf Anfrage der Kommission antwortet

der Redakteur, Walser habe tatsächlichnicht durch ihn davon erfahren, dass Jeli-nek den Nobelpreis gewonnen habe. Dashabe er aber auch in seinem Text nicht ge-schrieben. Im ersten Absatz werde aus-

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Manche Autoren entwickeln bei der Gestaltung der

Dramaturgie großeKunst fertigkeit.

schließlich und korrekt geschildert, wieWalser auf das Gerücht reagierte, jemandanderes habe gewonnen. Der Name derKonkurrentin werde hingegen erst imzweiten Absatz genannt. Das stimmt zwar, ist aber offenbar für

den Leser nicht leicht durchschaubar, nichteinmal wenn der Leser (wie in diesem FallMartin Walser) selbst dabei gewesen ist.Und dem Autor ist das offenbar auch be-wusst; er schreibt in seiner Antwort: »Dasist etwas kompliziert, vielleicht auch etwaskrumm, aber falsch ist hier nichts.«Es gibt daneben auch Beispiele für Un-

genauigkeiten, bei denen nicht dramatur-gische, sondern weltanschauliche Motiveunterstellt werden könnten.

Manipulationen aus welt-anschaulichen Gründen

»Lasst es krachen«

In einer Titelgeschichte über den G-20-Gipfel in Hamburg sprach der Autormit der Mutter eines in Genua getötetenDemonstranten über die Krawalle am 7. Juli 2017. Über die Frau heißt es: »Sieselbst marschierte nicht mit, dafür sei siezu alt. Aber sie kam als Kassandra, alsfriedvolle Warnerin, sie sah den Rauch,den Tumult, die Einsatzwagen aus sichererEntfernung von ihrem Hotelzimmer amHamburger Hauptbahnhof aus.« Dasstimmt so nicht: Am 5. Juli hatte die Fraueine Demonstration angeführt. Währendder Krawalle am 7. Juli war sie aber schonwieder zurück in Genua und konnte vondort keinen Rauch im Schanzenviertel sehen, wie sie dem Medienmagazin »Jour-nalist« sagte. Doch selbst wenn sie nochin Hamburg gewesen wäre, hätte sie vonihrem Hotelfenster nichts gesehen. DemMedienmagazin »Meedia« sagte sie, ihrZimmer im Europäischen Hof habe nachhinten gelegen, zu einem geschlossenenInnenhof. Der Medienunternehmer FrankOtto sagte gegenüber »Meedia«: »FrauGiuliani wurde hier in ein sehr komischesLicht gerückt. Gerade so, als wäre sie eineKrawalltouristin, dabei kam sie als eineMahnerin. Es wäre auch nicht schwer ge-wesen, sie anzusprechen, sie war ja fürmehrere Tage in Hamburg und hat auchan Demonstrationen teilgenommen. Daswird nur vom SPIEGEL ganz anders dar-gestellt.« Der SPIEGEL verwies damals auftelefonische Aussagen der Frau, die miss-verständlich gewesen seien.

»Donald Trump: Ratloser Präsident«

In einem anderen Fall berichtete ein Autorauf SPIEGEL ONLINE über eine Wissen-schaftskonferenz in den USA und beginntseinen Text so:

»In den Blicken, die John Holdren andiesem frühen Morgen aus dem Publikumzugeworfen werden, war so manchem dieSehnsucht anzumerken. Eine Sehnsuchtnach einer anderen, besseren Zeit viel-leicht, in der die Meinung der Wissen-schaft wieder eine größere Rolle spielt.Der riesige Saal des Austin Convention

Center ist rappelvoll. Und das am Morgenum acht Uhr, am vierten Tag der AAAS,der größten Wissenschaftskonferenz derWelt, wo sich bei dem ein oder anderender knapp 10000 Teilnehmer vielleichtschon etwas Müdigkeit bemerkbar macht.Doch für John Holdren sind sie alle ge-kommen. Denn der hagere Mann mit Voll-bart berichtet von früher, als die Präsiden-ten der Vereinigten Staaten regelmäßig sei-nen Rat gesucht hatten.«Ein Teilnehmer hatte die Veranstaltung

anders wahrgenommen und verwies auf einFoto, das er von seinem Platz in der letztenReihe des Saals aufgenommen habe. Erschreibt: »Der Veranstaltungsraum war ei-ner der kleinen im Konferenzzentrum. Zu-dem wurde noch vorn mit runden Tischendie Anzahl der Plätze reduziert. Trotzdemwar es keineswegs rappelvoll. Es waren kei-ne 10000 Teilnehmer zu John Holdren ge-kommen, sondern allenfalls 250.«Der Teilnehmer unterstellt, der Autor

habe die Veranstaltung absichtlich falschbeschrieben, weil er sich aus weltanschau-lichen Gründen gewünscht hätte, dass ge-rade bei diesem speziellen Redner mehrZuhörer gekommen wären. »Ihr Reporterwar da. Die Zitate stimmen. Aber warumwerden die Leser so in die Irre geführt? Esgab keinen Massenaufstand der Wissen-schaftler gegen Trump. Musste die Ge-schichte unbedingt so aufgepumpt wer-den? Hier wurde nicht gesagt, was ist.«Der Autor des Textes erklärte gegen-

über der Kommission, den Einstieg nichtaus politischen Gründen so formuliert zuhaben; er habe lediglich deutlich machenwollen, dass die Konferenz im Vergleichzu anderen Veranstaltungen an diesemTag sehr gut besucht worden sei.

Sonderfall »Szenische Rekonstruktion«

Immer wieder stören sich Leser an der imSPIEGEL noch gelegentlich auftauchenden

szenischen Rekonstruktion von Ereignis-sen ohne Quellenangabe. Seit der berühm-ten Schilderung der Spielzeugeisenbahnim Keller Horst Seehofers sollte eigentlichklar sein, dass bei szenischen Rekonstruk-tionen deutlich gemacht wird, woher dieInformationen stammen, die der Autorverwendet. Trotzdem unterbleibt das im-mer wieder:So beginnt etwa das Porträt eines italie-

nischen Spitzenkochs mit der Beschrei-bung einer sehr persönlichen Szene:»Ein Tag im Leben von Massimo Bottu-

ra beginnt mit Billie Holiday. Oder mit Miles Davis oder mit Thelonious Monk.Bottura liegt im Bett, drückt eine Tasteund wird langsam wach. Er fährt hoch, be-ginnt zu denken, hinten im Kopf spielt im-mer der Jazz. Bottura brabbelt vor sichhin, und wenn der Gedanke reif ist, schreiter ihn hinaus.«Keine Quelle, aber Eindrücke aus

dem Hinterkopf der Hauptperson. EinLeser schrieb, er müsse davon ausgehen,dass der Autor bei Bottura am Bett ge-sessen und die Szene beobachtet habe;allerdings könne er sich das kaum vorstellen. »Sollte sich Ihr Autor dieseSzene nur ausgedacht haben oder sievom Hörensagen schildern, halte ichdies für unzulässig (siehe SeehofersSpielzeug eisenbahn […]) und journalis-tisch un seriös.«Der zuständige Ressortleiter antwortete

dem Leser: »Unser Autor hat sich die frag-liche Szene von Massimo Bottura schil-dern lassen. Ich kann verstehen, dass Siesich angesichts der Vorwürfe gegen ClaasRelotius auch an einer derartigen Szenestoßen, halte sie aber journalistisch für vertretbar. Trotzdem stimme ich Ihnen in-sofern gern zu, als dass tatsächlich klarergewesen wäre, wenn wir an einer Stelleklargemacht hätten, dass wir BotturasSchilderung folgen.«

VI. Veränderungsvorschlägeder Kommission

Journalistische StandardsFür Recherchen, Reportagen und andereTexte bedarf es der Vergewisserung überbewährte Standards und der Neujustie-rung. Derzeit tagen im Haus unter demTitel »SPIEGEL-Werkstatt« verschiedeneArbeitsgruppen, die sich mit der Fortent-wicklung von Erzählstandards, Recher-chestandards und Verifikationsregeln be-schäftigen.Die Vorschläge der Kommission be -

ziehen sich allein auf die Verhinderungvon Fälschungen und Verfälschungen.Aus den beschriebenen systemischenPro blemen, die dem Fälscher Relotius

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Es sollte klar sein, woher die Informationen

stammen, die der Autor verwendet.

ein Umfeld ermöglichten, ergeben sichaus Sicht der Kommission folgende Standards:

1. Die Geschichte muss stimmen. Verant-wortlich dafür ist die Redaktion.2. Stimmen heißt nicht nur, dass die Fak-ten richtig sind, dass es die Personen gibt,dass die Orte authentisch sind. Der Textmuss in Dramaturgie und Ablauf die Wirk-lichkeit wiedergeben.3. Wesentliches darf nicht weggelassenwerden. 4. In Texten geht es zuerst immer um Tat-sachen, nicht um deren Überhöhung oderInterpretation.5. Fakten schlagen die vermeintlich litera-rische Qualität.6. Beschreibungen sollten nur so viele Ad-jektive beinhalten, wie für das Verständnisder realen Szenerie nötig. Mit jedem wei-teren gerät der Autor an die Grenze zurFiktion. 7. Szenische Einstiege in Texte sind nurdann erlaubt, wenn sie selbst erlebt wur-den oder ihre Quelle genau benannt wird.Sie sind nur sinnvoll, wenn sie dem Leserhelfen, das Thema besser zu verstehen.Werden die Szenen kolportiert, musskenntlich gemacht werden, wer der Zitat-geber ist und welches Interesse er mög -licherweise daran hat, diese Szene zu ver-öffentlichen. Der Autor darf nicht unaus-gesprochen Komplize des Informantenwerden.8. Szenische Rekonstruktionen könnensich nur auf Tatsachen beziehen. Gefühleoder Gedanken von Protagonisten könnennicht rekonstruiert werden.9. Eine Geschichte sollte immer mehrerePerspektiven einnehmen.10. Für relevante Tatsachenbehauptungenbraucht ein Autor zwei voneinander un-abhängige Quellen.11. Eine Geschichte ohne Klarnamen darf nur ausnahmsweise erscheinen. Klar -namen dürfen nur dann verschlüsselt werden, wenn es dafür wichtige Gründegibt. Immer muss die Ressortlei tung zustimmen und die Klarnamen kennen.Bei Personen, deren Identität aus Sicher-heitsgründen geheim bleiben soll, muss die Chefredaktion eingebundensein.12. Jeder Reporter muss seine Recherchelückenlos dokumentieren. Vor allemdann, wenn sie nicht überprüfbar ist. Pro-tagonisten müssen fotografiert werden,Kontaktdaten müssen vorliegen, der Reporter muss nachweisen können, dass er die beschriebenen Orte besuchthat, für Interviews bedarf es einer autorisierten Fassung oder einer Audio-datei. Diese Unterlagen müssen der Do-kumentation aufbereitet vorgelegt undmindestens zwei Jahre aufbewahrt wer-den.

GesellschaftsressortÜberlegungen, wie das Gesellschaftsres-sort besser in die Gesamtredaktion desSPIEGEL eingebunden werden kann, wur-den unabhängig vom Fall Relotius in denvergangenen mindestens 10 bis 15 Jahrenvon unterschiedlichen Chefredaktionenangestellt. Wir dokumentieren hier die un-terschiedlichen Überlegungen, die uns imZuge der Recherche begegnet sind. Wirverzichten auf Zuweisung der einzelnenIdeen auf bestimmte Personen. Die Kom-mission gibt zu diesem Thema keine Emp-fehlung ab, gibt aber zu bedenken, dassangesichts der Schwere des Fälschungs-skandals eine adäquate Antwort gegebenwerden sollte.

1. Die Leitung des Gesellschaftsressortswird verändert.2. Das Gesellschaftsressort wird zur Re-portergruppe ohne eigene Seiten. Es mussseine Texte und Ideen mit Ressortleiternbesprechen, in deren Zuständigkeit dasThema fällt.3. Das Gesellschaftsressort wird aufgelöst,die Reporter wandern in die Ressorts undschreiben dort Reportagen. Die Seiten desGesellschaftsressorts werden den übrigenRessorts zugeschlagen.4. Das Gesellschaftsressort wird erheblichgeschrumpft, die verbleibenden Reporterarbeiten als Redakteure und müssen dieTexte von Reportern aus den Ressorts»einkaufen«.

DokumentationDie folgenden Vorschläge sollen dabei hel-fen, Fälschungen, aber auch vermeintlicheVerschönerungen und unzulässige Verdich-tungen oder Weglassungen mit vertretba-rem Aufwand auszuschließen. Diese Re-geln gelten für alle Ressorts und Autoren.

1. Jeden Mittwoch nach der Platzbespre-chung sollte das CvD-Sekretariat per Zu-fallsgenerator (App) eine Seitenzahl aus-wählen und die Dok-Leitung informieren,welcher Text dort eingeplant ist. Die Ge-schichte, die zu dem Zeitpunkt auf dieserSeite/diesen Seiten eingeplant ist, wird vorErscheinen erweitert verifiziert. Das heißt,die Dokumentation überprüft den Textnicht nur durch das normale Verfahren,

sondern bittet den Autor oder die Autorinauch um Notizen, Fotos, Videos, Audio-Aufnahmen. Sie lässt sich ebenfalls Telefonnummern, E-Mail-Adressen oderbeispielsweise Facebook-Profile der vor-kommenden Personen geben, auch, fallsvorhanden, die eines »Fixers«, Überset-zers oder Fahrers. Die Autoren und Res-sortleiter werden darüber informiert. Dasist nicht immer möglich, denn natürlichgilt es beispielsweise, den Quellenschutzvon Informanten sicherzustellen, die nichtgenannt werden wollen. In diesen Fällensollten die Dok-Kollegen die Textpassagenbesonders kritisch durchsehen. In Zwei-felsfällen muss die Ressortleitung infor-miert werden. Bei großen und aktuellenGeschichten (etwa Titel am Produktions-tag), bei denen eine komplette erweiterteVerifikation aus Zeitgründen nicht mög-lich wäre, reicht es, wenn ein Teil geprüftwird. Sollte die Geschichte danach etwaaus Platzgründen entfallen, ist der Zwecktrotzdem erfüllt. Jemand wie Relotiuswüsste, dass es nur eine Frage der Zeit ist,bis er entdeckt würde. Dasselbe Verfahrengilt für eine der größeren SPIEGEL-ON-LINE-Geschichten pro Woche, die vonden SPIEGEL-ONLINE-Blattmachern aus-gewählt wird. Die Dok meldet das Ergeb-nis der erweiterten Verifikation jeweils andie Ombudsstelle (s. u.). Nach rund dreiMonaten sollten Dok, CvD und Ombuds-stelle das Verfahren evaluieren und gege-benenfalls optimieren.2. Nach demselben Verfahren wird jedeWoche ein Text ermittelt, der nicht gedoktwird. Jeder Autor muss also so arbeiten, alswäre er die letzte Instanz. Hintergrund ist,dass immer wieder die Vermutung geäußertwurde, dass die Arbeit der Dokumentationbei Redakteuren zu Bequemlichkeit führe.3. Hat ein Dokumentar den begründetenVerdacht, es könne bei einem Text mehrals nur ein Faktenfehler vorliegen, kanner in Absprache mit der Dok-Leitung eineerweiterte Verifikation vornehmen.4. Künftig sollten wieder grundsätzlichjene Regeln für die Abläufe zwischen Dokund Redaktion gelten, die seit Jahren ver-einbart sind, aber nicht immer eingehaltenwerden. Das heißt, die Autoren respektiveRessorts müssen der Dokumentation an-notierte Texte vorlegen. Auf den Manu-skripten/Fahnen sind die Quellen zu mar-kieren; sofern es sich um Dokumente han-delt, werden die beigelegt – sortiert undmarkiert. Das erleichtert der Dok die Ar-beit sehr und gibt ihr Zeit, sich ausgiebigerum schwierige Passagen zu kümmern. Tex-te, die diese Kriterien nicht erfüllen, wer-den in Zukunft nicht mehr gedokt.5. Dokumentare sollten nicht so eng anein Ressort gebunden sein, wie das bei derGesellschaft der Fall war. Da die Gesell-schaft in allen Themenbereichen arbeitet(Deutschland, Ausland, Wirtschaft etc.),

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In eigener Sache

Führt die Arbeit der Dokumentation bei

Redakteuren zu Bequem lichkeit?

sollten die jeweiligen Fachdokumentareeingesetzt werden, die von der Dok-Lei-tung je nach Thema ausgewählt werden.Das wurde inzwischen bereits so einge-führt und sollte so bleiben.6. Im Sport und bei den Investigativenmöchte die Dok beim bisherigen Verfah-ren bleiben, das sich aber von der Gesell-schaft unterscheidet, da die Dokumentaredort keine eigenen Referate haben, son-dern dem Wirtschaftsreferat unterstelltsind. Die Kommission empfiehlt, dies kri-tisch zu prüfen.7. Autoren, die einen Text oder ein Multi -mediastück für einen der bedeutendenJournalistenpreise einreichen wollen,müssen die Dok-Leitung grundsätzlichvor Einreichung um eine erweiterte Ve-rifikation bitten. Das bedeutet auch, dasssie ihre Rechercheunterlagen mit Kon-taktdaten etc. bis dahin aufbewahrenmüssen. Eine Geschichte, die nicht erwei-tert verifiziert werden kann, darf nichteingereicht werden.8. Gespräche oder Interviews müssen im-mer autorisiert werden, wie das ja schonlange der Fall ist; Gleiches gilt für längereFrage-/Antwortpassagen in Hybridtex-ten. Wenn Gesprächspartner nicht auto-risieren können oder wollen, muss derAutor/die Autorin der Dok eine Audio-aufnahme und die ausgeschriebene Text-fassung (Transkriptions-Software) vor -legen. 9. Vor Neueinstellungen von Redakteu-ren/Reportern in die integrierte Redaktionsollte die Dok mehrere ihrer veröffent -lichten Texte auf Fälschungen oder Ver -fälschungen überprüfen, und zwar nichtdie Arbeitsproben aus der vorgelegten Bewerbungsmappe.10. Weder Autoren noch Ressortleiter dür-fen direkt von den zuständigen Redakteu-ren verlangen, kritische Leserbriefe nichtzu veröffentlichen. Es ist immer die zu-ständige DII-Ressortleitung zu bitten,wenn Leserbriefe nicht veröffentlicht werden sollen, weil sie beispielsweise irre-führend sind oder Faktenfehler enthalten.Bei Briefen, die das DII-Ressort betreffen,ist die Chefredaktion zu informieren.11. Die Kollegen der Dokumentation soll-ten darauf achten, ob einzelne AutorenSchwierigkeiten mit der Faktengenauigkeithaben. Sollte so etwas auffallen, muss dieDok-Leitung die jeweiligen Ressortlei -tungen darüber informieren. Unabhängigdavon sollte es einen regelmäßigen Austausch zwischen Dokumentation undRessortleitungen über die Standards derArbeit geben.12. Dokumentare müssen sich regelmäßigund verbindlich in Recherchemethodenfortbilden.13. Neu eingestellte Redakteure müssenverbindlich in den Verifikationsregeln ge-schult werden.

14. Um zu garantieren, dass die Dokumen-tation bei der Prüfung von Texten genü-gend Zeit hat, um entsprechend der Qua-litätsanforderungen zu arbeiten, soll einZeitmanagement geschaffen werden. DassReporter wochenlang Zeit haben zu re-cherchieren und zu schreiben, die Doku-mentation aber für große Texte manchmalnur vier Stunden, ist nicht qualitäts -fördernd und oft auch nicht nötig. Darindrückt sich eine gewisse Gleichgültigkeitund mangelnde Wertschätzung gegenüberder Arbeit der Dokumentare aus.15. Deshalb erarbeitet die Dok-Leitungmit den Ressortleitern und der Schlussre-daktion einen Zeitplan für die Erstellungvon Fahnen. Nicht aktuelle Texte müssenbevorzugt montags und dienstags gedoktwerden. Dieses Verfahren scheint zwin-gend angesichts der zusätzlichen Aufga-ben, die durch die Onlinetexte auf die Dokzukommen.

Unabhängig vom Fall Relotius gibt es in-nerhalb der Dokumentation bereits eineVielzahl von Überlegungen, wie die Arbeitbesser organisiert und damit effektiver wer-den kann. Diese beschäftigen sich auch mitFortbildung und der Zusammenarbeit derDokumentare über die Referatsgrenzen hi-naus. Diese zu bewerten und zu beurteilenist nicht Aufgabe der Kommission.

Verbesserung der Fehlerkultur

1. Fehler werden regelmäßig kurz im Heft korrigiert. Es gibt einen Verweis aufOnline (Blog).2. Online werden Fehler ausführlicher dar-gestellt und korrigiert. Hier könnten auchRechtsstreitigkeiten, soweit es möglich istund sinnvoll erscheint, im Ergebnis dar -gestellt werden. 3. Ausschließlich Ressortleiter, nicht dieAutoren selbst, dürfen die Kollegen von SPIEGEL INTERNATIONAL oderSPIEGEL+ darum bitten, Geschichtennicht zu veröffentlichen, wie Relotius dasgetan hat. Hat ein Kollege Bedenken ge-gen die Veröffentlichung einer Geschichteauf INTERNATIONAL (wofür es in selte-nen Ausnahmefällen Gründe geben kann),

sollte die Ressortleitung diese Gründe prüfen. Die Fälle werden dokumentiert.4. Für Hinweise, Kritik oder Beschwerden,mit denen ein Leser oder Mitarbeiter aufdem üblichen Weg nicht weiterkommtoder für die er Vertraulichkeit wünscht,wird im Haus eine Ombudsstelle einge-richtet. Hinweisgeber wie Juan Morenomüssen die Möglichkeit haben, eine neu-trale Instanz anzurufen, wenn sie kein Gehör finden. Ebenso Leser, die sich mit ihren Beschwerden ungenügend beachtetfühlen. Diese Person braucht einen klarumrissenen Auftrag, klar definierte Rechteund Pflichten.5. Die Kontrolle durch die Rechtsabtei-lung, deren Kritik und Zweifel, sind einunschätzbarer Wert bei der Vermeidungvon Fehlern. Die Rechtsabteilung teilt ihrWissen und ihre Erfahrungen gern mit denRedakteuren. Die Rechtsabteilung solltebei der Aufdeckung von Fehlern gestärktund verpflichtet werden, über Redakteuremit hoher Fehlerdichte in einem abge-stimmten Verfahren gegenüber Ressortlei-tern und Chefredaktion zu berichten. Fort-bildungen der Rechtsabteilung für Redak-teure sollten systematisiert und verstetigtwerden. Für Redakteure müssen dasPflichtveranstaltungen sein. Die Rechtsab-teilung sollte komplizierte Konfrontatio-nen prüfen, bevor diese an die Informan-ten rausgehen. 6. Gibt es Hinweise auf Faktenfehler, etwavon Kollegen oder durch Leserbriefe oderE-Mails, sollten die zuständigen Ressort-leiter diese Hinweise prüfen oder durchdie Dok prüfen lassen – nicht die Autorender Geschichten selbst, wie es im Fall Re-lotius passiert ist. Bei den meisten Leser-zuschriften ist das bereits der Fall, nichtaber bei jenen, die die Autoren direkt er-reichen.7. Grundsätzlich gilt, dass Leserbriefe be-antwortet werden müssen. Dies geschiehtdurch die Leserbriefredaktion, die Auto-ren oder direkt durch die Dokumentation.Die Kontrolle liegt bei der Leserbrief -redaktion. Es sollte geprüft werden, ob eseine technische Möglichkeit gibt, dass E-Mails, die sich direkt auf einen Text bezie-hen, auch von der Ressortleitung oder derLeserbriefredaktion eingesehen werdenkönnen oder diese automatisch erreichen.Weder Autoren noch Ressortleiter dürfendirekt von den zuständigen Leserbrief -redakteuren verlangen, kritische Leserbriefenicht zu veröffentlichen. Es ist immer diezuständige DII-Ressortleitung zu bitten,wenn Leserbriefe nicht veröffentlicht wer-den sollen, weil sie beispielsweise irrefüh-rend sind oder Faktenfehler enthalten. DieLeserbriefredaktion und die Social-Media-Redaktion sollten dazu gestärkt werden.

Brigitte Fehrle, Clemens Höges (Kommis-sionsmitglied bis 16.4.), Stefan Weigel

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Hinweisgeber müssen die

Möglichkeit haben, eine neutrale Instanz

anzurufen.