Individuelle Entscheidungsfindung nach pränatal diagnostizierter schwerer fetaler Fehlbildung;...

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1 3 ORIGINALARBEIT Zusammenfassung Die Pränatalmedizin kann neben optimaler Therapie und Geburts- planung auch Entscheidungshilfe zum Fortsetzen oder Beenden einer Schwangerschaft geben. Nach einer diagnostizierten schweren fetalen Fehlbildung stimmt retrospektiv etwa ein Drittel der Frauen ihrer Entscheidung zum Verlauf (Austragen versus Schwan- gerschaftsabbruch) nicht mehr umfassend zu, ein weiteres Drittel ist sehr verunsichert. Welchen Einfluss hat das Lebensumfeld der Schwangeren auf ihre Entscheidung in dieser existenziellen Situation? Wie werden die getroffene Entscheidung und die damit verbun- denen Erfahrungen nach Abschluss der Schwangerschaft bewertet? Was kann aus Sicht der Betroffenenperspektive von Medizinern erwartet werden? Es wurden problemzent- rierte teilnarrative Interviews mit 11 Frauen geführt. Einschlusskriterium war eine abge- schlossene Schwangerschaft mit pränatal diagnostizierter schwerer fetaler Fehlbildung, die eine Entscheidung zum Austragen oder Beendigen nach medizinischer Indikations- stellung und im gesetzlichen Rahmen zuließ. Die Auswertung der transkribierten Inter- views erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring, computergestützt durch die Software ATLAS.ti. Die Zufriedenheit mit der Entscheidung im Rückblick ergibt sich aus der individuellen Lösung eines bestehenden Konfliktes zwischen der Grundhaltung zum Leben (eigene Erfahrungen, Vorwissen und Werte) und dem tatsächlich vorhandenen Lebensumfeld (Lebensplanung, Familie, finanzielle Aspekte). Entsprechend der individu- ellen Bewertung der Erfahrungen wurden 4 Prototypen klassifiziert. Frauen mit starkem Grundkonflikt erlebten die Geburt eher negativ und litten länger unter psychopathologi- schen Symptomen. Eine ausreichend lange Bedenkzeit sowie ein positives und akzeptie- Ethik Med DOI 10.1007/s00481-013-0259-3 Individuelle Entscheidungsfindung nach pränatal diagnostizierter schwerer fetaler Fehlbildung Ulrike Heider · Florian Steger Das vorliegende Manuskript wurde im Rahmen der medizinischen Dissertation von Ulrike Heider erstellt. U. Heider () Abteilung Geburtshilfe und Pränataldiagnostik, St. Elisabeth-Krankenhaus, Biedermannstraße 84, 04277 Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] Prof. Dr. phil. F. Steger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland Eingegangen: 24. Juli 2012 / Angenommen: 25. Februar 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Originalarbeit

Zusammenfassung Die Pränatalmedizin kann neben optimaler therapie und geburts-planung auch entscheidungshilfe zum Fortsetzen oder beenden einer Schwangerschaft geben. nach einer diagnostizierten schweren fetalen Fehlbildung stimmt retrospektiv etwa ein Drittel der Frauen ihrer entscheidung zum Verlauf (austragen versus Schwan-gerschaftsabbruch) nicht mehr umfassend zu, ein weiteres Drittel ist sehr verunsichert. Welchen Einfluss hat das Lebensumfeld der Schwangeren auf ihre Entscheidung in dieser existenziellen Situation? Wie werden die getroffene entscheidung und die damit verbun-denen erfahrungen nach abschluss der Schwangerschaft bewertet? Was kann aus Sicht der betroffenenperspektive von Medizinern erwartet werden? es wurden problemzent-rierte teilnarrative interviews mit 11 Frauen geführt. einschlusskriterium war eine abge-schlossene Schwangerschaft mit pränatal diagnostizierter schwerer fetaler Fehlbildung, die eine entscheidung zum austragen oder beendigen nach medizinischer indikations-stellung und im gesetzlichen rahmen zuließ. Die auswertung der transkribierten inter-views erfolgte mittels qualitativer inhaltsanalyse nach Mayring, computergestützt durch die Software atlaS.ti. Die Zufriedenheit mit der entscheidung im rückblick ergibt sich aus der individuellen Lösung eines bestehenden Konfliktes zwischen der Grundhaltung zum Leben (eigene erfahrungen, Vorwissen und Werte) und dem tatsächlich vorhandenen Lebensumfeld (Lebensplanung, Familie, finanzielle Aspekte). Entsprechend der individu-ellen Bewertung der Erfahrungen wurden 4 Prototypen klassifiziert. Frauen mit starkem Grundkonflikt erlebten die Geburt eher negativ und litten länger unter psychopathologi-schen Symptomen. eine ausreichend lange bedenkzeit sowie ein positives und akzeptie-

ethik MedDOi 10.1007/s00481-013-0259-3

Individuelle Entscheidungsfindung nach pränatal diagnostizierter schwerer fetaler Fehlbildung

Ulrike Heider · Florian Steger

Das vorliegende Manuskript wurde im rahmen der medizinischen Dissertation von Ulrike Heider erstellt.

U. Heider ()abteilung geburtshilfe und Pränataldiagnostik, St. elisabeth-Krankenhaus, biedermannstraße 84, 04277 leipzig, Deutschlande-Mail: [email protected]

Prof. Dr. phil. F. Stegerinstitut für geschichte und ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Martin-luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland

eingegangen: 24. Juli 2012 / angenommen: 25. Februar 2013© Springer-Verlag berlin Heidelberg 2013

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rendes Entscheidungsumfeld (Patient-arzt-Kommunikation, angemessene psychosoziale begleitung) trugen deutlich zur Zufriedenheit der befragten bei. aus Sicht der betroffenen Frauen werden erwartungen an Pränatalmediziner weitergegeben.

Schlüsselwörter Pränataldiagnostik · Entscheidungsfindung · Schwangerschaftsabbruch · Qualitative Studie

Individual decision-making after detection of a severe fetal malformation

Abstract Definition of the problem Prenatal medicine should not only aim at optimal ther-apy and birth planning, it should also help in decision-making with regard to continuing or terminating the pregnancy. after a pregnancy with a known severe fetal malformation, a third of the women retrospectively do not completely agree to their former decisions to continue or to terminate the pregnancy. another third of the women are strongly uncertain about their decisions. How do social circumstances influence pregnant women’s decision making in this existential situation? How do they evaluate their decision and their expe-riences after the pregnancy? From the perspective of the affected women—what can be expected from physicians? Methodology Problem-centered and narrative interviews were carried out with 11 women. Criteria for the respondents were a completed pregnancy with prenatally diagnosed severe fetal malformation, which allowed a legal decision to continue or terminate the pregnancy. the analysis of the transcribed interviews was performed using qualitative content analysis according to Mayring and was computer-supported by the software atlaS.ti. Results the retrospective satisfaction with the decision depends on finding an individual solution of an existing conflict between the basic attitude towards life in general (personal experience, prior knowledge, values) and the actually existing social circumstances (personal planning of life, family career and financial background). According to the individual analysis we classified four basic types. Women with a strong basic conflict experienced the birth rather negatively and suffered from psychopatho-logical symptoms for a longer time. Sufficient reflection and a positive and accepting environment (patient–physician communication, adequate psychosocial support) strongly contributed to the satisfaction of the interviewees. Conclusion From the perspective of the affected women, expectations of prenatal physicians are presented.

Keywords Prenatal diagnostic · Decision-making · termination of pregnancy · Qualitative analysis

Erkenntnisinteresse und Motivation

in Deutschland lassen ca. 85 % aller schwangeren Frauen pränataldiagnostische (PnD) Untersuchungen durchführen [3]. bei etwa 3 % der untersuchten Feten wird dabei eine schwere erkrankung festgestellt. Werdende eltern können sich anschließend zwischen mehreren Optionen informiert entscheiden. Die erste Option ist die intrauterine therapie und eventuell vorzeitige entbindung. Die zweite Möglichkeit beinhaltet ein abwarten des Spontanverlaufs mit austragung der Schwangerschaft und Planung postnatal unterstützen-der therapien bzw. Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen. Die dritte alternative ist der (späte) Schwangerschaftsabbruch, besonders dann, wenn keine die Krankheit wesentlich

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verbessernden therapieoptionen bestehen und eine medizinische indikationsstellung vor-liegt. Diese entscheidung konfrontiert betroffene oft mit einem Dilemma, in dem sich der ethische Konflikt zwischen dem Lebenswert des Fetus einerseits und dem Recht auf ein selbstbestimmtes und verantwortliches leben der Frau mit dem Wunsch nach einem gesun-den Kind andererseits spiegelt. Studien mit Paaren über deren einstellung zu Präimplan-tationsdiagnostik, Pränataldiagnostik, genetischer Diagnostik und möglichem Spätabort [9, 17, 22] haben dies bereits mehrfach verdeutlicht. Die aktuelle politische Debatte führte in diesem Kontext zu gesetzesänderungen (gesetz zur Änderung des Schwangerschaftskon-fliktgesetzes 2009, Gendiagnostikgesetz 2009, Zulassung der PID in begrenztem Umfang 2011) und einer verbesserten beratungssituation. insbesondere ist seit 2010 jeder Schwange-ren, bei der pränatal eine schwere fetale erkrankung festgestellt wurde, eine psychosoziale beratung anzubieten. Sollte sich die Schwangere danach zum Schwangerschaftsabbruch entscheiden – gesetzlich ist dies bei einer schwerwiegenden beeinträchtigung des lebens oder der gesundheit der Mutter (u. a. Unzumutbarkeit) unter bestimmten Voraussetzungen jederzeit möglich –, muss zwischen der Diagnosestellung mit ausführlichem gespräch über diese erkrankung und der medizinischen indikationsstellung zum Schwangerschaftsab-bruch eine Frist (bedenkzeit) von mindestens drei tagen liegen. laut statistischem bundes-amt liegt in Deutschland die Zahl der Spätabbrüche nach der 22. Schwangerschaftswoche (SSW) bei jährlich mehr als 400 in den Jahren 2010 (462) und 2011 (480) [27]. bis 2009 wurden jährlich etwa 200 Spätabbrüche nach der 23. SSW erfasst. europaweit erfolgen nach Diagnose einer fetalen Fehlbildung in Frankreich1 die häufigsten Spätabbrüche (2,65 pro 1000 geburten), während dies in Deutschland mit bisher 0,2 pro 1000 wenige sind ([7], einbezogen sind Datenbanken zwischen 2000 und 2005). nach eigener rechnung sind die aktuellen deutschen Zahlen für die Jahre 2010 und 2011 bei rund 0,7 pro 1000. nach den richtlinien der bundesärztekammer zur Pränataldiagnostik [31] besteht deren Ziel in der ermittlung von risikoschwangeren und der Diagnostik fetaler erkrankungen. einerseits sol-len damit intrauterine therapien ermöglicht und das geburtsmanagement optimiert werden. andererseits sollen entwicklungsgestörte Feten detektiert und durch erweiterte Diagnostik und beratung eine entscheidungshilfe zum Fortsetzen oder beenden der Schwangerschaft gegeben werden. in diesem Zwiespalt agieren Mediziner und werdende eltern gleicherma-ßen. betroffene, die zunächst mit höchst unterschiedlichen Motiven (wie babyfernsehen, Sicherstellung der gesundheit, geschlechtsmitteilung, ablehnung invasiver Maßnahmen) und einem vergleichsweise geringen informationsstand [3] zur Untersuchung kamen, erle-ben nach auffälliger PND eine traumatische und oft konflikthafte Zeit der Entscheidung [8]. auch nach abgeschlossener Schwangerschaft bleibt das ereignis lebensthema, über dessen einschätzung nicht selten Unsicherheit besteht. insgesamt wird in Studien zu Spät-abbrüchen nach auffälliger PnD der anteil der Frauen, die ihrer getroffenen entscheidung rückblickend nicht mehr umfassend zustimmen oder jetzt anders entscheiden würden, mit etwa einem Viertel bis zu einem Drittel beziffert. ein weiteres Drittel der Frauen war sehr verunsichert oder würde die entscheidung nie mehr treffen wollen [6, 16, 24]. Das trifft auch auf ein Viertel der Frauen nach Schwangerschaftsfortsetzung zu [6]. auch nach frü-her Schwangerschaftsunterbrechung sind letztlich 16 % unzufrieden und 19 % würden diese entscheidung nie mehr treffen [19]. Warum so viele betroffene im nachhinein unsicher bezüglich ihres entscheidungsweges sind, ist nicht genau bekannt. Vermutet werden neben psychischen Vorerkrankungen und jüngerem alter [19] auftretende Partnerschaftsprobleme, Schuldgefühle und belastende lebensumstände [6]. Deshalb ist es von wissenschaftlichem

1 in Frankreich wird die reguläre Pränataldiagnostik erst nach der 22. SSW durchgeführt, es gibt aber auch insgesamt eine deutlich höhere rate an interruptiones [5, 7, 21].

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Interesse, die individuelle Entscheidungsfindung in Abhängigkeit vom Lebensumfeld zu analysieren. Der beitrag des Patient-arzt-Verhältnisses sowie der psychosozialen bera-tung soll aus Sicht der Befragten reflektiert werden. Weitere interessierende Aspekte sind die rückblickende persönliche bewertung der einmal getroffenen entscheidung sowie die erfahrung von akzeptanz im professionellen und privaten lebensumfeld.

Fragestellung

Wir waren von der beobachtung geleitet, dass Frauen, die sich zur Schwangerschaftsbeen-digung wegen schwerer fetaler erkrankungen entscheiden, erstens im nachhinein unzufrie-dener mit ihrer getroffenen entscheidung sind als diejenigen, die sich zum Fortführen der Schwangerschaft entschieden hatten, oder zweitens sie im rückblick überwiegend anders treffen würden. auch könnten sie länger an psychopathologischen Folgen leiden. Wir begrün-den diese eingangshypothese durch direkte Feldbeobachtung der autoren, aussagen aus Mitarbeiterbefragungen psychosozialer beratungsstellen sowie Studienergebnissen, wonach 75 % der Frauen nach Schwangerschaftsfortsetzung ihrer entscheidung umfassend zustim-men, aber nur 38,5 % nach Schwangerschaftsabbruch [6]. Zudem erschien es sinnvoll, nach der letzten Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (2009) mit der vorgeschriebe-nen dreitägigen bedenkzeit nach Diagnosestellung die getroffene entscheidung in bezug auf das vorhandene Zeitfenster zu bewerten. Wir vermuteten, dass langsam und überlegt getrof-fene Entscheidungen einen positiven Einfluss auf das Geburtserleben und dessen psychische Verarbeitung haben. im Mittelpunkt der vorliegenden Studie sollte die analyse der unmit-telbaren erlebnisse und gedanken der betroffenen Schwangeren stehen. Die zentrale For-schungsfrage lautete: Welche Kriterien prägen individuell den entscheidungsprozess nach auffälliger PnD? Wie werden die getroffene entscheidung, deren Umsetzung und mögliche lebensrelevante und psychische Folgen reflektiert? Inwiefern lassen sich Perspektiven für die Praxis (Ärzte,2 geburtskliniken, psychosoziale beratungsstellen) aus Sicht der befragten formulieren? Welche Schlüsse lassen sich daraus für ein ethisches Handeln ziehen?

Methode

Wir wählten zur erforschung der subjektiven erfahrungen in einem kleinen teilnehmerfeld eine explorative qualitative Methode: problemzentrierte teilnarrative interviews.

Datenerhebung

Zwischen 2010 und 2012 wurden 11 Frauen aus Mitteldeutschland befragt, die nach prä-natal diagnostizierter schwerer fetaler Fehlbildung eine entscheidung zum erhalt oder zum beenden der Schwangerschaft treffen mussten. auswahlkriterien zur befragung im rahmen der Studie waren dabei schwer lebensbegrenzende fetale erkrankungen, sowohl chromo-somal als auch organisch, die nach derzeitiger Herangehensweise eine solche entscheidung innerhalb gesetzlicher (Schwangerschaftskonfliktgesetz) und medizinischer Gesichtspunkte zulassen. Die psychosoziale beratung wurde dementsprechend allen Frauen ab 2010 ver-

2 Wo im Folgenden die maskuline endung verwendet wird, sind Frauen wie Männer gleichermaßen gemeint. Die Wahl der männlichen Schreibweise geschieht nur, um einen lesefreundlichen Sprachgebrauch zu ermög-lichen.

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pflichtend, davor teilweise, angeboten. Diejenigen Frauen, die ihre Schwangerschaft bewusst fortsetzten, nahmen die beratung auf eigenen Wunsch nicht in jedem Fall wahr (s. tab. 1). Das Vorgehen bei Schwangerschaftsabbruch oder Fetozid (ab der 23. SSW) hatte sich jeweils korrekt an der aktuell gültigen rechtslage orientiert.

Tab. 1 Überblick über die 11 befragteni. Fetale er-

krankung Ereignisjahr

Schwangerschafts-ausgang nach entscheidung zum Beenden/Fortsetzen

alter beratung vorher (außer PnD)

beratung und begleitung danach

religion

1 trisomie 212009

abbruch 15. SSW [B]

37 J. Keine Psychosozia-le beratung, Selbsthilfegruppe

2 trisomie 182006

abbruch 21. SSW [B]

36 J. Keine Psychosozia-le beratung, Selbsthilfegruppe

evangelisch getauft danach konfirmiert

3 ausgeprägte Skelettanomalie2009

ausgetragen, 30. SSW, 15 min gelebt [F]

39 J. Keine Seelsorger evangelisch

4 Spina bifida2008

Fetozid 24. SSW [B]

33 J. Psychosoziale beratung, Seelsorger

Psychosozia-le beratung, Selbsthilfegruppe

Katholisch

5 trisomie 18, Herzfehler2011

ausgetragen, iUFt 42. SSW [F]

31 J. Psychosoziale beratung

Hebamme, Frauenärztin

6 Wolf-Hirsch-horn-Syndrom2010

Fetozid 23. SSW [B]

29 J. Psychosoziale beratung, genetiker

Humangenetik, Selbsthilfegruppe

7 trisomie 21, aVSD2011

abbruch 22. SSW [B]

24 J. Psychosoziale beratung

Psychosozia-le beratung, Selbsthilfegruppe

8 Hydrocephalus, Hirnentwick-lungsstörung2011

abbruch 22. SSW [B]

33 J. Psychosoziale beratung, genetiker

Psychosozia-le beratung, Selbsthilfegruppe

9 body stalk anomaly eines geminus2011

ausgetragen, 34. SSW, ein Kind lebt, ein Kind in 1. Stun-de gestorben [F]

34 J. Keine Psychosoziale beratung

Christlicher glaube, keine Kirchenzuge-hörigkeit

10 lKg-Spalte, Hydrocephalus, Hirntumor2008

Fetozid 33. SSW [B]

36 J. Psychothera-peut, Seelsorger

Psychotherapeut, Seelsorger

evangelisch

11 trisomie 212009

ausgetragen, 37. SSW, lebt [F]

24 J. Städt. be-ratungsstelle (sozial-finan-ziell)

Hebamme, Selbsthilfegruppe

evangelisch

AVSD atrioventrikulärer Septumdefekt; B/F beenden/Fortsetzen der Schwangerschaft; I interview; IUFT intrauteriner Fruchttod; J Jahre; LKG lippen-Kiefer-gaumenspalte; PND beratung durch den Pränataldiagnostiker; SSW SchwangerschaftswocheWeitere erfragte Themen: Partnerschaft; beruf/bildungsabschluss; weitere Kinder/Schwangerschaften; träger der beratungsstelle; aktiv in internetforen/trauergruppen

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Die Suche nach interviewpartnern erfolgte über psychosoziale beratungsstellen und Selbsthilfegruppen. Die anzahl und auswahl der befragten richtete sich nach der Methode des theoretical sampling [28]. es wurden die typischerweise in einer Pränatalsprechstunde auftretenden Fälle mit ausgeprägten anomalien und dafür üblichen unterschiedlichen Schwangerschaftsverläufen in die befragtengruppe aufgenommen. in anlehnung an Wit-zel und Schütze [12, 26, 32] wurden 11 problemzentrierte teilnarrative und leitfadenge-stützte interviews geführt. Die leitfadenkonstruktion orientierte sich an inhaltlich-thema-tischen Schwerpunkten zum Umgang mit PnD und Vorerfahrungen der Forschergruppe. Die interviews wurden in neutralen beratungsräumen oder zu Hause geführt, und dauerten im Schnitt etwa eine Stunde. Der Zeitpunkt der befragung lag fallindividuell minimal drei bis maximal 40 Monate nach abgeschlossener Schwangerschaft (2006 bis 2011, s. tab. 1). Demzufolge wurden Fälle vor und nach inkrafttreten der neuen beratungs-regelung zu Spätabbrüchen erfasst. alle gespräche wurden audiodigital aufgezeichnet, transkribiert und methodisch nach dem Verfahren der strukturierenden qualitativen inhaltsanalyse [20] aus-gewertet. Die forschungsethischen Kriterien der Freiwilligkeit und informiertheit wurden dabei stets eingehalten. im Vorfeld war die Studiendurchführung von der ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Martin-luther-Universität Halle-Wittenberg genehmigt worden (16.12.2010).

Zusätzlich wurden in einem Kurzfragebogen persönliche und soziale angaben sowie die Krankengeschichte erfasst. eine Übersicht über die teilnehmerinnen, vorliegende fetale erkrankungen, ereignisjahr der betrachteten geburt/Fehlgeburt und den entsprechenden Schwangerschaftsausgang gibt tab. 1.

Datenaufbereitung

alle interviews wurden vollständig transkribiert – angelehnt an Hoffmann-riem [11] – sowie im Folgenden anonymisiert und für die weiterführende analyse mit der Software atlaS.ti aufbereitet.

Datenanalyse

Unsere Studie folgt dem Verfahren der strukturierenden inhaltsanalyse nach Mayring [20]. Das impliziert eine kategorienbasierte Datenanalyse. Dabei wurden die analysekategorien in einem ersten Schritt induktiv aus dem textmaterial unter einbezug der Hauptthemen der befragten generiert. in einem zweiten Schritt (nach 30 % textdurchlauf) wurden diese sys-tematisiert sowie in der Auseinandersetzung mit fachspezifischer Theorie und problemfeld-relevantem Vorwissen deduktiv angereichert. ergebnis dieses systematisierenden induktiv-deduktiven Vorgehens ist ein Kategoriensystem bestehend aus acht Hauptkategorien und zugewiesenen Subkategorien, welche durch treffende ankerbeispiele expliziert wurden. Die gemeinsam im team verabredeten Kodierrichtlinien ermöglichten zudem eine bewer-tung der jeweiligen aussagen hinsichtlich ihrer Stärke sowie ihres zeitlichen bezuges zur Diagnosestellung.

Die Hauptkategorien umfassen folgende acht Schwerpunkte:

1. einstellung zum Kind, auf das Kind bezogene gefühle2. einstellung zur PnD3. Verhältnis zu Ärzten, medizinischem Personal4. Partnerbezug5. lebensfaktoren

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6. bewältigungsfaktoren und entscheidungssituation7. Reflektion der Entscheidung8. Hauptgründe für die getroffene entscheidung

in einem umfassenden Materialdurchgang wurden sämtliche interviews auf diese Weise analysiert, wobei kodierte Fundstellen vernetzt und interpretiert sowie quantitativ ver-glichen wurden. Dieses strukturierende Verfahren ermöglichte eine Zusammenfassung wesentlicher gesprächsinhalte jedes interviews. Die zentralen themen der befragten wur-den danach jeweils mit deren lebensumfeld und angaben aus den Kurzfragebögen kontext-ualisiert. Das kombinierte Vorgehen führte nicht nur zu einer Strukturierung deskriptiver thematischer Schwerpunkte, sondern im Folgenden auch zu einer typisierung und theorie-bildung innerhalb des beschriebenen Forschungskontextes. Dabei bildeten sich vier Proto-typen heraus.

Die ergebnisdarstellung wurde im Forscherteam überprüft und zudem rückmeldung an die befragten selbst gegeben.

Ergebnisse der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse: Treffen existentieller Entscheidungen nach Pränataldiagnostik

Typologische Analyse: Die individuelle Lösung eines Grundkonflikts – 4 Typen der entscheidungsbewertung

Die rückblickende bewertung und das erleben der ereignisse während und nach der ent-scheidungsfindung ergeben sich aus der individuellen Lösung eines Grundkonflikts zwi-schen der persönlichen Werthaltung und dem lebensumfeld. Optimal ist die Konformi-tät dieser zwei bestimmenden Komponenten: einerseits der grundeinstellung zum leben, lebenswert bzw. lebensbeginn sowie dem Umgang mit Schwangerschaft, mit Kranken und mit Kindern. Diese Grundeinstellung basiert auf persönlichen und beruflichen Vorerfah-rungen, verfügbarem Wissen, religionszugehörigkeit und moralischen sowie gesetzlichen Werten. auf der anderen Seite steht die lebensplanung, die sich im eigenen lebensentwurf, dem tatsächlich vorhandenen bzw. zu erwartenden Lebensumfeld (finanziell, beruflich, Familie, Freunde), der Qualität und akzeptanz in der Partnerschaft sowie eigenen mobili-sierbaren lebensressourcen ausdrückt.

In der befragten Gruppe konnten drei Prototypen klassifiziert werden, ein vierter mög-licher typ wird unter Hinzuziehung von erfahrungsberichten postuliert. tabelle 2 zeigt 4 typen der entscheidungsbewertung hinsichtlich ihrer Zufriedenheit im rückblick. Unab-

Tab. 2 Bewertung der Entscheidung in Abhängigkeit vom Lösen eines individuellen Grundkonfliktsausgang der Schwangerschaft

Zufriedenheit mit der getroffe-nen entscheidung, kein starker Grundkonflikt

Unzufriedenheit oder starke ambivalenz bzgl. der getroffenen entscheidung, starker Grundkonflikt

Schwangerschaft bewusst fortgesetzt

typ 1bewertung individuell als richtigEinklang von Werthaltung und Lebensplanung/-umfeld

Postulierter typ 4bewertung individuell ambivalent/falschWerthaltung bzw. äußere Werte (Mediziner, Familie) überwiegen Lebensplanung

Schwangerschaft beendigt

typ 2bewertung individuell als richtigÜbereinstimmung von Werthaltung und Lebensumfeld

typ 3bewertung individuell ambivalent/falschLebensumfeld/-planung überwiegt die Werthaltung

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hängig vom Schwangerschaftsverlauf gaben die befragten an, ihrer entscheidung heute entweder umfassend zuzustimmen (Spalte Zufriedenheit), oder aber stark im Zweifel zu sein bzw. heute diese entscheidung nicht mehr so zu treffen (Spalte Unzufriedenheit/starke ambivalenz).

bei der erstgenannten Möglichkeit besteht rückblickend Zufriedenheit und kein starker Grundkonflikt. Größtmögliche Übereinstimmung von Grundhaltung und Lebensplanung führt zu einer als richtig wahrgenommenen entscheidung, gesunden Verarbeitung, geringe-ren psychopathologischen langzeitfolgen und letztlich zur Zufriedenheit mit dem Umgang mit der Schwangerschaft. Die entscheidung kann dabei sowohl für das austragen als auch für den abbruch der Schwangerschaft ausfallen.

Typ 1 – Zufriedenheit nach Fortsetzung der Schwangerschaft

Darunter verstehen wir diejenigen Frauen, die ihre Schwangerschaft bewusst fortgesetzt haben, das Kind ist dabei kurz vor bzw. kurz nach geburt gestorben oder lebt in der Familie. Sie sind weitgehend zufrieden mit dem gesamtverlauf und haben eher glück bei der geburt empfunden. alle diese Frauen sind überzeugt von der richtigkeit ihres Handelns.

Dann das gefühl, vielleicht lebt es ja doch wenigstens kurz. taufen können, beerdigen können, namen geben… als diese entscheidung durch war, war auch viel last weg. aber dieses gefühl, sich gegen ein leben zu entscheiden, das glaub ich, war wahr-scheinlich das Schlimmste […] Und ich würde es wieder – ich bin so froh, dass ich mich so entschieden hab. (befragte = b 3)

Typ 2 – Zufriedenheit nach Schwangerschaftsbeendigung

Diese Frauen haben sich zum Schwangerschaftsabbruch entschieden, weil ein so schwer behindertes Kind nicht in Frage gekommen wäre. Sie schildern dabei keinen großen Kon-flikt mit dem Tötungsgedanken im Mutterleib, sahen die medizinische Begründung im Vor-dergrund und fühlten sich durch die Ärzte bestätigt. Sie äußerten insgesamt Zufriedenheit mit dem Verlauf und stehen mit sich im einklang.

Ja das war einfach die entscheidung, was passiert, wenn das Kind da ist? Muss einer zu Hause bleiben? Was passiert mit uns? na so einfach die Zukunftsfrage. Das war glaub ich so der Hauptausschlag. […] Und wir waren uns beide einig, dass ein leben mit einem behinderten Kind nicht in Frage kommt, […] nicht mit dem Herzfehler […] Meine persönliche erfahrung ist, dass es gut verlaufen ist. (b7)

Die zweite Möglichkeit wird eher von Schuldgefühlen, anhaltendem Zwiespalt oder Unzu-friedenheit mit der entscheidung geprägt.

bei einer entscheidung, die mit deutlicher nichtübereinstimmung der beiden Kompo-nenten Werthaltung und lebensumfeld einhergeht, treten längerfristige psychopathologi-sche Symptome auf, wie z. b. überlange trauer, Depressionen, Schuldgefühle oder Partner-konflikte, ambivalentes Verhältnis zu PND, zu Ärzten, zu einer weiteren Schwangerschaft. Die getroffene entscheidung wird im nachhinein als stark ambivalent oder gar falsch bewertet bzw. es wird der Wunsch geäußert, sie habe „am liebsten nicht stattgefunden“. Die entscheidung kann dabei sowohl für den abbruch als auch theoretisch für das austragen der Schwangerschaft ausfallen.

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Typ 3 – Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch heute als stark zwiespältig oder falsch erachtet

bei den hier zugeordneten Frauen wurde die Schwangerschaft – teilweise ohne adäquate beratung und sehr schnell – abgebrochen, weil sie nicht mit dem lebensumfeld, den lebensvorstellungen, der Partnerschaft, den eigenen ressourcen kompatibel war. trotz-dem besteht in abgestuften Varianten ein deutlicher Konflikt mit dem Tötungsgedanken, mit der grundeinstellung zum leben, zur Schwangerschaft und zum Umgang mit behinderten. Dies führte zu entsprechend anhaltenden Schuldgefühlen, pathologischer trauerreaktion und stark zwiespältiger betrachtung der entscheidung im rückblick.

es geht nicht nur um das Kind. es geht auch um mein leben. ich habe in diesem Moment, als ich diese entscheidung treffen musste in ner kurzen Zeit diese entschei-dung von meinem gefühl wie auch von meinem Verstand eindeutig getroffen, […] da gab es keine Unsicherheit. […] aber ich könnte so eine entscheidung nicht noch mal treffen […]. ich würde jetzt nicht noch mal einen Schwangerschaftsabbruch machen. (b1)

Postulierter Typ 4 – Entscheidung zur Fortsetzung der Schwangerschaft rückblickend als stark ambivalent oder falsch betrachtet

ergänzend zu den beschriebenen Prototypen aus unserem Studienkollektiv scheint eine weitere gruppe bedeutsam. Vorstellbar ist, dass die Schwangerschaftsfortführung mit der lebenshaltung übereinstimmend entschieden worden ist. allerdings könnten die betroffe-nen stark unter den Umständen des nicht kompatiblen lebensumfeldes leiden, wie z. b. der schweren alltagsbelastung beim leben mit einem behinderten Kind, einer eventuell folgenden trennung vom Partner, Verlust von Freunden und von eigenständigkeit. entspre-chende Studien [13] und Erfahrungsberichte über Partnerkonflikte, negative Gefühle zum Kind oder schwere Depressionen legen das nahe.

Zumindest denkbar ist auch die Konstellation einer Schwangerschaftsfortsetzung ent-gegen der eigenen grundeinstellung, wenn das lebensumfeld dies „verlangt“, z. b. religiös bedingt, vom Partner bestimmt, oder der abbruch ärztlich verweigert wird. Wir konnten für diesen typ keine beispiele im untersuchten Kollektiv und dem veranschlagten befragungs-zeitraum finden. Die meisten Frauen, die sich bewusst zur Schwangerschaftsfortführung mit erkranktem Kind entschieden haben – das wird auch durch die literatur bestätigt [1, 24] – sind grundsätzlich in Übereinstimmung mit ihrer entscheidung. Wir begründen diese lücke zum einen mit der Seltenheit einer solchen Konstellation in unserer – das Selbst-bestimmungsrecht der Mutter achtenden – gesellschaft und, insbesondere im letzteren Fall, auch mit einer möglichen tabuisierung der Problematik bzw. verminderten gesprächsbe-reitschaft betroffener. in diesem Zusammenhang lässt sich auf berichte betroffener ver-weisen („Oldenburger baby tim“, Spiegelbericht: „Der ludwig lacht“3), Diskussionen in internetforen sowie statistische angaben zum Familienleben mit behinderten Kindern. es ist unbekannt, ob diese Dimension der starken lebensbelastung im Fall einer ungewollt ausgetragenen Schwangerschaft überwiegt.

3 Ärzte verweigerten den abbruch, die eltern würden sich trotzdem immer wieder dazu entscheiden, vgl. lakotta b (2009) Spiegel online 22. Juni 2009. http://www.spiegel.de/spiegel/a-631869.html. Zugegriffen: 30. Okt. 2012.

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Fallübergreifende zentrale themen – deskriptive ergebnisse aus den interviews

Stellenwert eines positiven Entscheidungs- und Handlungsumfeldes

Von wesentlicher bedeutung für das erleben und die Verarbeitung des entscheidungskon-flikts ist ein positives und akzeptierendes Entscheidungsumfeld. Darunter fassen wir drei Komponenten zusammen: 1. Sehr stützend wird eine menschliche Handlungsweise und patientenzentrierte Kommunikation der involvierten Ärzte und geburtshelfer wahrgenom-men. 2. Kompetente und angemessene psychosoziale begleitung trägt insbesondere bei der Schock- und Trauerbewältigung sowie bei einem starken Grundkonflikt der Entscheidung zur Persönlichkeitsstärkung und einbindung des persönlichen Umfeldes bei. 3. Die Stär-kung der individuellen entscheidung, ihrer Umsetzung und langanhaltenden bewältigung gelingt am besten in einer voll akzeptierenden und achtsamen Partnerschaft verbunden mit der Unterstützung durch Familie und arbeitsumfeld.

Im folgenden Abschnitt der deskriptiven Teilergebnisse finden sich diese Komponenten einzeln wieder. Die dazu führenden individuellen ergebnisse aus den interviews und Kurz-fragebögen sind in tab. 3 zusammengefasst.

Zeit der Entscheidung

Was als angemessene Zeit gelten kann, ist individuell verschieden; die meisten Frauen nann-ten ca. eine Woche bedenkzeit. erfolgt die Umsetzung der entscheidung zu schnell und ohne kritische Prüfung nach Überwindung der ersten Schocksituation, können hinterher – speziell nach einem abbruch – langfristig Zweifel und ambivalente gefühle, extreme trauer sowie Schuldgedanken zu psychopathologischen Symptomen führen (s. tab. 3). Zusätzlich werden häufiger die begleitenden Ärzte oder medizinische Maßnahmen abgelehnt.

Beratung

Die psychosoziale Beratung trug positiv zur Verarbeitung und Bewältigung der Konfliktsi-tuation bei, wurde von den befragten aber nicht als entscheidungsrelevant wahrgenommen. es nahmen 6 der 11 Frauen vor und 8 Frauen nach dem Schwangerschaftsabschluss seelsor-gerische bzw. psychosoziale begleitung in anspruch, 3 Frauen wurden psychotherapeutisch behandelt. Keine Frau gab an, allein durch diese beratung zu ihrer entscheidung gefunden zu haben. bedeutsame aspekte waren eher die emotionale und praktische Vorbereitung auf die (tot-)geburt, die einbeziehung des Partners, langfristige trauerbegleitung und gesprächs-möglichkeit sowie die Vernetzung mit anderen betroffenen (beispielsweise Schmetter-lingskinder, Sternenähen). Über angenehmere und teils glücklichere geburtserfahrungen berichteten die befragten, die sich bewusst auf die geburt bzw. den abbruch vorbereitet hatten und sich mit möglichen trauerritualen für den damit verbundenen abschied vom Kind auseinandergesetzt hatten. Vorrangig benötigten Frauen mit starkem Grundkonflikt (siehe erstes ergebnis typ 3) die psychische betreuung und entscheidungsbegleitung. auch begleitende Fachärzte, Hebammen oder ein gut auffangendes empathisches Umfeld (enge Verwandte, Freunde, Seelsorger, glaubensverankerung) wurden gleichwertig empfunden.

Beratung, Kommunikation und Kompetenz begleitender Mediziner

Stärkend wurden experten (Pränatalmediziner, gynäkologen und Humangenetiker) emp-funden, die kompetent, wertneutral und ergebnisoffen, aber auch menschlich zugewandt

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beraten hatten, ebenso diejenigen Ärzte, die eine tatsächliche begleitung (Möglichkeit meh-rerer gesprächstermine, Hilfe bei der Krankschreibung, Partnerinformation, Klinikwahl, entbindungsplanung) anboten.

Die Ärzte in der Klinik haben sehr „medizinisch“ auf mich gewirkt, […] wirkten zu wenig menschlich auf mich und schoben das gespräch einer extra beraterin zu. Diese strikte trennung zwischen ärztlicher beratung vor der geburt und seelsorgerischer begleitung nach der geburt hat mich verwundert. ich hätte auch hier erwartet, dass der arzt, der die entscheidung zum abbruch mit getragen hat, auch hinterher noch einmal vorbeikommt. Beeinflusst hat mich aber in besonderer Weise die Reaktion des Chefarztes […], der plötzlich aus seiner routine heraus so menschlich wurde und mir zugewandt. (b10)

Die befragten fühlten sich als hilfesuchende Patienten nicht akzeptiert, wenn ihre getrof-fene entscheidung auf Desinteresse, Unverständnis oder Vorwürfe durch Mediziner stieß. Folgen waren u. a. entlastende arztwechsel (b1, b3, b7). als negativ wurde außerdem die ärztliche Unsicherheit über den Verlauf nach geburt geschildert, speziell bezüglich reani-mationsmaßnahmen, Verbleiben des neugeborenen bei der Mutter, entscheidung zur Pal-liativbehandlung. Die Schwangerschaft und die geburtssituation wurden als annehmbarer und selbstbestimmt erlebt, wenn individuelle Vorstellungen (z. b. zeitliche bedingungen, rituale, Partnerbegleitung) zugelassen wurden, Ärzte und Hebammen die Frau in ihrer ent-scheidung akzeptierten und wenn nach Spätabbruch oder Fetozid trauermöglichkeit zuge-standen wurde.

Die richtigkeit der getroffenen entscheidung wird für die eltern durch wiederholte Untersuchungen zur Diagnosepräzisierung, Zweitmeinungen und expertengespräche mit aussagen zur kindlichen Prognose bestätigt, ebenso durch das ergebnis einer Karyotypisie-rung oder einer Obduktion.

Partnerbezug

Partner wurden mehrheitlich einfühlsam begleitend, stützend und akzeptierend wahrgenom-men und in die Entscheidung einbezogen. Selten fiel die Entscheidung über den Verlauf allein, in einem Fall entgegen der Vorstellung des Partners. Der Partner erlebt häufig die (tot-)geburt anders als die schwangere Frau. Dies drückt sich in einer unterschiedlichen erlebens-, trauer-, Verarbeitungs- und erinnerungskultur aus.

ich war so glücklich über die geburt […] ihm ist da, in dem Moment hat er einfach nur ein totes Kind gesehen […] ich glaube, ich hab schon vorher mehr getrauert. (b5)

in der psychosozialen beratung wird konkret auf den Partner und dessen gefühle und Hand-lungsmöglichkeiten eingegangen.

Verhältnis zu Pränataldiagnostik

Die meisten Frauen geben rückblickend an, wieder PnD durchführen zu lassen, allerdings nur sichere Methoden und möglichst sehr früh. Keine umfassende Zustimmung wird gegen-über dem ersttrimesterscreening oder der Untersuchung fetaler Dna aus mütterlichem blut geäußert, weil besonders mit letzterer nur trisomie 21 erfasst würde.

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Individuelle Entscheidungsfindung nach pränatal diagnostizierter schwerer fetaler Fehlbildung

Verhältnis zum ungeborenen Kind

Am häufigsten wurden die Gefühle Angst, Trauer und Schock sowie Hoffnung und Schutz-bedürftigkeit benannt, weitere Vorstellungen waren Fremdheit und leere. Starke Fürsorg-lichkeit gegenüber dem Kind wurde oft nach dem treffen der entscheidung (in beide rich-tungen) empfunden. nach totgeburt oder Spätabbruch haben die meisten Kinder einen namen, einen andenkenort und einen Platz in der Familie bekommen.

Diskussion

Die klassifizierten Grundtypen in der Entscheidungsfindung und Bewertung nach auffäl-liger Pränataldiagnostik lassen sich quantitativ in wenigen Studien [6, 24] wiederfinden. besonders die individualkonzepte der sogenannten „ambivalenten Frauen“ sind bisher nicht genau begründet. Betroffene Eltern fühlen sich einerseits der Schwangerschaft verpflichtet, andererseits wollen sie die Familie, das Kind und sich selbst schützen [2]. Unsere Daten zeigen individuelle Haltungen auf, aber auch Möglichkeiten der Hilfeleistung in einer sol-chen Situation: Zeit, akzeptanz, Wertschätzung, ergebnisoffene beratung und begleitung, psychosoziale beratung, trauermöglichkeit.

nach einem Schwangerschaftsabbruch sowie nach einer Fehl- und totgeburt folgt oft eine intensive trauerzeit über etwa 6 Monate mit posttraumatischer belastungsreaktion: Während die traurigen Verhaltensmuster abnehmen, bleibt das Empfinden traumatischen erlebens gleich stark [14, 18, 25] und über Jahre bestehen. Zusätzlich beeinflussen eine län-gere Schwangerschaftsdauer [16], vorhandene Kinder oder psychische Vorbelastungen [19] diese trauer. individuell betrachtet ergibt sich aus der vorliegenden Studie, dass diejenigen Befragten erheblich länger unter Trauersymptomatik litten, die ein größeres Konfliktpoten-tial erlebten, keine ausreichende beratung und entscheidungszeit zur Verfügung hatten oder sich in ihrem Handeln nicht ärztlich akzeptiert fühlten. entscheidend für den Verlauf des trauerprozesses könnten demnach die individuelle bewertung der ereignisse im rück-blick und die Zufriedenheit mit den geburtserlebnissen sein. Für eine retrospektiv posi-tive einschätzung des Schwangerschaftsverlaufes scheint auch der bindungsaufbau zum ungeborenen Kind förderlich [23]. Sozialer und zeitlicher Druck sowie familiäre risiken für genetische erkrankungen können ebenfalls die Verlaufsentscheidung und deren bewer-tung beeinflussen [17]. Diese aussagen stützen die ergebnisse unserer Studie, wonach Müt-ter, die sich überlegt, ausreichend informiert und in einem akzeptierenden Umfeld auf die geburtssituation oder den Schwangerschaftsabbruch vorbereiten konnten, mit dem gesamt-verlauf der Schwangerschaft und ihrer entscheidung überwiegend zufrieden sind. grund-sätzlich findet die Entscheidung zum Schwangerschaftsverlauf zuerst durch die betroffene Frau selbst nach informationserhalt, Überdenken ihrer Situation sowie der Prognose des Kindes statt. erst sekundär wird rücksicherung beim Partner [1], in der Familie [6], bei Freunden, im rahmen einer psychosozialen oder ärztlichen beratung gesucht. Der Kontakt zum ungeborenen Kind scheint in dieser Phase schwer gestört, in abspaltungs- oder Fremd-heitsgedanken äußern sich die widerstrebenden interessen zweier individuen. bekannte Hauptgründe der getroffenen entscheidung sind das baby mit seiner lebensqualität und Prognose [6, 24] sowie dessen effekt auf das leben der Mutter [6]. Für das austragen eines Kindes mit trisomie 21 sind positive Vorerfahrungen mit behinderten Menschen sowie die Mobilisierung eigener ressourcen wichtige Voraussetzungen [1]. auch unsere ergebnisse bestätigen, dass die Prognose des Kindes und sein antizipierter Einfluss auf die Lebenswelt der Mutter/Partnerschaft, aber auch mögliche anpassungen dieser lebensumstände an ein

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krankes Kind, hauptentscheidend sein können. bei der indikationsstellung zum medizinisch begründeten Schwangerschaftsabbruch muss die lebenssituation der Mutter und deren recht auf Selbstbestimmtheit und Unversehrtheit ihres lebens berücksichtigt werden. andererseits ist auch das in abhängigkeit vom gesundheitszustand der Mutter gesetzlich geschützte lebensrecht des Feten zu achten. Diese ärztliche Feststellung wird in einigen Kliniken durch ein Klinisches ethikkomitee unterstützt, z. b. beim erlanger Modell4 [30]. Dadurch gelingt eine ausgewogene und rechtssichere Entscheidungsfindung, die Arzt und Patienten entlasten kann. Zudem werden nach Spätabbruch Diagnostik und Möglichkeiten der psychischen Unterstützung angeboten. auch in unserem Studienkollektiv war dieser bedarf deutlich vorhanden. Die psychosoziale beratung ermöglichte eine bessere Schock-verarbeitung nach Diagnosestellung, Festigung der bereits vorgetroffenen entscheidung, einstellung auf die geburtssituation und war besonders hilfreich bei der trauerbewältigung. Laut Studien wird die Entscheidungsfindung bei einem Viertel der Frauen durch die Bera-tung stark beeinflusst [24] und besonders unterstützend von alleinerziehenden sowie von Frauen mit tot- oder Fehlgeburt in der anamnese erlebt [15]. einige der Studienteilnehme-rinnen – speziell die die Schwangerschaft bewusst fortsetzten – nahmen keine beratung vor-her in anspruch oder schilderten sie als nicht vordergründig wichtig. Diese Frauen waren sich in ihrer entscheidung sicher oder entschieden sich sehr schnell oder verfügten über ein sehr gut auffangendes Umfeld.

Die Zeit rund um Diagnosestellung und Geburt wurde immer wieder als sehr hilflos geschildert und zum teil in abhängigkeit von Medizinern empfunden. in den interviews wurde deutlich der Wunsch nach Perspektivwechsel und Menschlichkeit des arztes neben dessen medizinischer Kompetenz ausgedrückt. Die Wahrnehmung als eigenverantwortlich handelnder und denkender Mensch und als gleichberechtigter Kommunikationspartner sind wichtige Faktoren der Zufriedenheit und Selbstbestimmtheit. Starke Unzufriedenheit mit der geburtssituation oder der betreuung wurde von den befragten eher bei nichtakzeptanz ihrer entscheidung durch Ärzte und Personal geäußert, oder wenn diese eigene moralische

Urteile äußerten. auch bezüglich des normalen geburtserlebens wird – neben Selbst-bestimmtheit unter der geburt – eine ausgeglichene Patient-arzt-Kommunikation als Hauptfaktor der Zufriedenheit hergeleitet [4]. V. a. in bezug auf zeitliche und räumliche gegebenheiten sowie im Umgang mit dem (totgeborenen) Kind nach geburt erwarteten die befragten selbstbestimmtes Handeln (Verzicht auf reanimationsmaßnahmen, das Kind noch lebend erleben, ausreichende abschiedszeit). Die Zusicherung einer Sterbebegleitung und Palliativtherapie des Kindes nach geburt hätte einige Frauen im Vorhinein entlastet, deren Kinder infauste Prognosen hatten. Hier gilt es, rechtliche Sicherheit und orientieren-den Standard für Mediziner und werdende eltern zu schaffen, dies wird bereits international praktiziert und von experten eingefordert [10, 33].

bestätigend zur jetzt gesetzlich auf mindestens drei tage festgelegten Zeit nach bera-tung (Schwangerschaftskonfliktgesetz 2009) wurde häufig eine ausreichende Bedenkzeit gewünscht, auch von denjenigen, die sich schnell zum abbruch entschieden hatten. Unmit-telbar nach Diagnosestellung befinden sich Betroffene in einem Schockzustand und körper-lich-seelischen abspaltungsprozess [24], der eine klare Entscheidungsfindung nicht zulässt. in unserem teilnehmerkollektiv führte dementsprechend eine langsame wohlüberlegte entscheidung – möglichst in Übereinstimmung mit dem Partner und akzeptiert durch den behandelnden gynäkologen – zu größerer Zufriedenheit mit dem Verlauf, zur bewertung der entscheidung als richtig und zu kürzerer und geringerer trauerreaktion. gesetzlich wird

4 nach Konsens mit involvierten Fachärzten und psychosozialen beratern sowie im gespräch mit den eltern wird eine empfehlung an die geburtsmediziner gegeben.

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eine ergebnisoffene und wertneutrale beratung gefordert, von den betroffenen erwartet werden aber auch menschliche Zuwendung und Kommunikationskompetenz der Ärzte. Die Wahrung der Patientenautonomie als ethisches Handlungsmodell (selbständige therapie-entscheidung durch den Patienten nach umfassender information durch den arzt) bedarf demnach einer zusätzlichen Komponente der persönlichen Wertschätzung und empathie und könnte im Sinne eines shared-decision-making erweitert werden. Der arzt muss einen hohen rechtlichen, medizinischen und ethischen Wissensstand fallbezogen anwenden, die Mutter und den Fetus im blick haben und darf der Schwangeren zugleich seine Hilfe und Fürsorge zur Heilung nicht verweigern. Das autonomie-Prinzip des ärztlichen ethischen Handelns muss in der Situation dieses großen Dilemmas um Komponenten des Fürsorge-prinzips erweitert werden.

in unserer befragung würden fast alle Frauen wieder PnD durchführen lassen, allerdings werden nur sichere Methoden akzeptiert. Studien zur einstellung gegenüber PnD bele-gen ebenfalls, dass durch die gemachten erfahrungen zwar mehr Ängste in einer zweiten Schwangerschaft bestehen, die akzeptanz von PnD jedoch hoch ist [8, 24]. eine umfas-sende aufklärung über grenzen, Möglichkeiten und Konsequenzen der vorgeburtlichen Untersuchungen kann zu einer positiven Haltung gegenüber der PnD – z. b. im rahmen einer weiteren Schwangerschaft – führen. insofern ist es bedeutsam, dass Pränatalmedizi-ner über eine hohe Kommunikations- und beratungskompetenz verfügen und den Standard eines informed Consent einhalten. aus unserer Studie geht erneut hervor, dass es von zen-traler bedeutung ist, sich während der medizinischen ausbildung und darüber hinaus in ärztlicher Fort- und Weiterbildung medizinethische Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen [29]. aus expertendiskussionen wird zudem ersichtlich, dass ein hoher bedarf an Kommu-nikationstraining und begleitung involvierter Ärzte besteht.

Fazit für die Praxis

Fast alle befragten würden wieder PnD durchführen lassen, vorzugsweise frühe und sichere Methoden. eine sicher getroffene und ausreichend lang überlegte entscheidung ist eher mit positiven geburtserfahrungen, besserem Verhältnis zu Ärzten und geringeren psychopa-thologischen Folgen verbunden. Weitere zentrale aspekte waren menschliche Zuwendung und akzeptanz der Ärzte. aus den dargestellten ergebnissen hinsichtlich Diagnostik, bera-tung und geburtserleben lassen sich anliegen und erwartungen aus Sicht der betroffenen zusammenfassen (abb. 1).

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Interessenkonflikt Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

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Abb. 1: Verbesserung der Situation durch supportive Maßnahmen

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