INDIVIDUUM FAMILIE - LEBENSLAGE · •In den 1930er-Jahren entwickelte Jacob L. Moreno die...
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INDIVIDUUM – FAMILIE -LEBENSLAGEDIMENSIONEN ERZIEHUNGSBERATERISCHER DIAGNOSTIK
BKE FACHTAG „FUNDIERT BERATEN“ 20. MÄRZ 2019
CHRISTINE UTECHT, DIPL. SOZ. PÄD.,
LEITERIN DES JUGEND- UND FAMILIENBERATUNGSZENTRUMS TÜBINGEN, LANDKREIS TÜBINGEN
SOZIALE DIAGNOSTIK IN DER ERZIEHUNGSBERATUNG
1. Geschichte der sozialen Diagnostik
2. Missbrauch – Kritik – Renaissance Sozialer Diagnostik
3. Grundprinzipien sozialer Diagnostik
4. Diagnostisches Fallverstehen
5. Multiperspektivische Diagnostik
6. Soziometrische Diagnostik
7. Basisinstrumente für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik
8. Soziale Diagnostik im Konzept Kooperativer Prozessgestaltung
• Die Sozialarbeitspionierin Mary Richmond setzt mit ihrem 1917
erschienen Buch „Social Diagnosis“ schon die wesentlichen Impulse für
Soziale Diagnostik, wie sie heute verstanden wird. Sie propagiert bereits
ein multiperspektivisches Modell der Datensammlung:
the solcialworkers first relations
with his client
with his clients family
with sources of insight outside the family group
• Dabei betont sie die Wichtigkeit der interpretativen, verstehenden Seite
der „imaginative insight“
DIE ANFÄNGE DER SOZIALEN DIAGNOSTIK
DIE ANFÄNGE DER SOZIALEN DIAGNOSTIK
o Alice Salomon eröffnete mit ihrem Buch „Soziale Diagnostik“ (1926) den
Diskurs im deutschsprachigen Raum. In den 4 zentralen Aspekten
tauchen bereits die Dimensionen Individuum – Familie - Lebenslage
auf:
1. die Darlegung des Notstandes/der sozialen Schwierigkeit
2. die Darlegung der besonderen Umstände und der Eigenart der
Person
3. die Darlegung der Ursachen, die den Notstand herbeigeführt haben
4. Die Möglichkeiten der Hilfe und die Hemmungen, mit denen bei der
Hilfstätigkeit zu rechnen ist, soweit sie in der Person des Klienten,
in seiner unmittelbaren Umgebung oder der übrigen Umwelt liegen
Schule
Aggressives Verhalten
Kulturelle Vorbehalte
Kulturelle Vorbehalte
HISTORISCHE WURZELN DER SOZIALEN DIAGNOSTIK• Dritter historischer Bezug der sozialen Diagnostik ist die
geisteswissenschaftliche Hermeneutik. Der Philosoph Friedrich
Schleiermacher (1768 – 1834) begründet eine allgemeine
Hermeneutik, die nicht mehr den spezifischen Gegenstand,
sondern den Akt des Verstehens, die Auslegung selbst zum
zentralen Thema macht.
• Vierte Wurzel sozialer Diagnostik kann in der Entwicklung
ethnografischer und rekonstruktiver Ansätze der
Sozialforschung Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts im
Rahmen der Chicager Schule der Soziologie gesehen werden
• In den 1930er-Jahren entwickelte Jacob L. Moreno die
Soziometrie zur Messung von Gruppenbeziehungen
MISSBRAUCH – KRITIK – RENAISSANCE SOZIALER DIAGNOSTIK
• In der NS Zeit wurden die Diagnosen zur
Aussonderung „Verwahrloster“ und kranker
Menschen missbraucht, Fachkräfte aus
Gesundheits- und Sozialinstitutionen wurden
zu Erfüllungsgehilfen der NS Rassenhygiene
MISSBRAUCH – KRITIK – RENAISSANCE SOZIALER DIAGNOSTIK
• Der Anti-Diagnostik-Reflex in den 1960er und
nachfolgenden Jahren
• Zunehmende Akademisierung und Professionalisierung
Sozialer Arbeit seit den 80er Jahren führte zu einer
Renaissance der Sozialen Diagnostik, bedingt auch durch
o den moralischen und strafrechtlichen Legitimationsdruck in der
Jugendhilfe
o und den zunehmenden Qualitätsdiskurs
GRUNDPRINZIPIEN SOZIALER DIAGNOSTIKNACH MAJA HEINER (2013)
1. Partizipative Orientierung: Soziale Diagnostik soll dialogisch
angelegt sein, Aushandlung steht im Vordergrund, Beteiligung der
Klienten am diagnostischen Prozess
2. Sozialökologische Orientierung: Kontextabhängigkeit von
Problemen und Zuständen
3. Multiperspektivische Orientierung: um die Komplexität von Fällen
ausreichend abzubilden
4. Reflexive Orientierung: Überprüfbarkeit von Diagnosen,
Verhinderung von Festschreibungen, Bereitschaft erarbeitete
Schlussfolgerungen zu revidieren
DIAGNOSTISCHES FALLVERSTEHENNACH MAJA HEINER 2004
Objektivierend-
interventionsgerichtete Seite
• Kriteriengeleitete Sammlung und
Bewertung von Informationen über
die soziale Lage der Klienten
• Objektives Erfassen von
Lebensumständen
• Analytisches Durchschauen von
Situationen und Strukturen
• Auftragsklärung
Interpretierend verstehende Seite
• Auf Verstehen zielendes einfühlendes
Nachvollziehen der Situation
• Klienten mit ihrer Persönlichkeit, ihrer
Familie, Lebenswelt und in Ihrem
Alltag verstehen
• Aushandlungsprozess auf Augenhöhe
mit den Klienten über ein
gemeinsames Verständnis der
Probleme und möglicher
Lösungsansätze
DIAGNOSTISCHE VERFAHREN NACH FUNKTIONDBEZOGENER VERWENDBARKEIT (NACH HEINER)
Orientierun
gs-
diagnostik
Zuweisungs
-diagnostik
Gestaltungs
-diagnostik
Risiko-
diagnostik
Schule
Aggressives Verhalten
Kulturelle Vorbehalte
Kulturelle Vorbehalte
MULTIPERSPEKTIVISCHE DIAGNOSTIK
Sozialraum
Inklusions- und
Exklusionsprozesse
Persönliche Netzwerke
Ressourcenhorizonte
Person Umwelt
Biografie
Lebensweltliche
Erfahrungen
Primär-
beziehungen
Indivi
-
duum
Egozentrierte
Egozentrierte
GENOGRAMM
FAMILIENAUFSTELLUNG
RESSOURCENFußball
spielen
Fahrrad
fahren
ein guter
Freund sein
Pünktlich sein
Verhalen in
der Schule
Wut
bezwingen
Ausdauer
sich
konzentrieren
Musik
machen
EGOZENTRIERTE NETZWERKDIAGNOSTIK MIT SOZIALRAUMBEZUG NETZWERKKARTE NACH FRÜCHTEL
Ich
EGOZENTRIERTE NETZWERKDIAGNOSTIK MIT SOZIALRAUMBEZUG NETZWERKKARTE NACH FRÜCHTEL
Ich
KOORDINATEN PSYCHOSOZIALER DIAGNOSTIK UND INTERVENTIONEltern haben klare Werte
Positive
Geschwisterbeziehung zu
den älteren Geschwistern
Jonathan wünscht sich die
Anerkennung seines Vaters
Lehrerin engagiert sich für
ihn
Er hat einen guten Freund
Motivation und
Commitment sind hoch
Jonathan will die „normale“
Schule besuchen
und dafür seine Wut
bezwingen
Er ist bereit mitzuarbeitenEltern sind stark überfordert,
PTBS
Hohe soziale Belastungen der
Familie
Drohender Schulausschluss
Jonathan fühlt sich auf der E-
Schule diskriminiert
Kontakte zu problematischen
Jugendlichen im Wohnumfeld
Aggressive Ausbrüche
Mangelnde Impulskontrolle
Übergriffe auf Mitschüler
und Lehrer
PTBS der Eltern übertragen
sich auf ihn
Stärken und Ressourcen
Stressoren, Belastungen, Defizite
PersonUmgebung
BASISINSTRUMENTE FÜR FALLVERSTEHEN UND SOZIALPÄDAGOGISCHE DIAGNOSTIK (ADER/SCHRAPPER)
Fall
(Fall-) Chronologie
Genogramm
Netzwerkkarte
Ressourcenkarte
Re-Inszenierungen im Helfersystem (szenisches Fallverstehen/ kollegiale Beratung)
Einschätzung der Risiken und Gefährdungen für Leben und Entwicklung der Kinder
SOZIALE DIAGNOSTIK IM KONZEPT KOOPERATIVER PROZESSGESTALTUNG (HOCHULI FREUND)
SITUATIONS-ERFASSUNG
• Klient*innen bezogene Aufträge erfassen
• Informationen und Geschichten aufnehmen
• Eigne Bewertungen bewusst zurückstellen
• Verschiedene Erfassungsmethoden nutzen
ANALYSE
• Multiperspektivisch, themenbezogen geeignete Analysemethoden nutzen
• Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung thematisieren und in der systematischen Auswertung gewichten
• Fallthematik herausarbeiten
DIAGNOSE
• Erklärungen finden, was herausfordernd/behindernd ist
• Eigene Erklärungen in den dialogischen Verständigungs-prozess einbringen
• Diagnose ist ein kooperativer Prozess => auf dem gemeinsamen Weg sollten Klient*innen Neues über sich entdecken, ihre Themen ergründen, sich selbst besser verstehen
• Voraussetzung für gelingende Veränderungsprozesse
VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT