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160 | Phys. Unserer Zeit | 35. Jahrgang 2004 | Nr. 4 DOI:10.1002/piuz.200401042 © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Die Allgemeine Relativitätstheorie verabschiedete sich von Newtons Vorstellung vom absoluten Raum als Inertialsystem. Sie ersetzte ihn durch Raumzeiten, in denen Inertialsysteme lokal und dynamisch definiert sind. Eine fundamentale Konse- quenz dieses dynamischen Konzepts ist das gravitomagne- tische Feld. Im April 2004 startete die Sonde Gravity Probe B, um diesen Effekt im Erdschwerefeld erstmals isoliert zu messen. Feld“, dessen Existenz sich direkt in der Rotation lokaler Inertialsysteme äußert. Ein im Prinzip experimentell beob- achtbarer „Fingerabdruck“ dieses Effekts ist die Lense-Thir- ring-Präzession, die ich weiter unten vorstelle. Astrophysikalische Beobachtungen der letzten Jahre ge- ben starke Indizienbeweise dafür, dass die Voraussage der Existenz gravitomagnetischer Felder durch die ART zutrifft. Ihr direkter Nachweis steht zwar noch aus, ist aber für die nahe Zukunft zu erwarten: Dazu könnte die Sonde Gravity Probe B beitragen (Abbildung 1 und „Internet“). In diesem Beitrag gebe ich einen Abriss der Entwicklung dieses für die ART fundamentalen Aspekts. Von Newton zu Einstein In der Newtonschen Mechanik spielt bekanntlich der Be- griff der Kraft eine zentrale Rolle. Newtons Hauptwerk, die „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“, meist kurz Principia genannt, war einer doppelten Zielsetzung ver- pflichtet, die Newton am Ende seines ersten Scholiums dar- legt: Einerseits sollen aus bekannten Kraftwirkungen die re- sultierenden Bewegungstypen ermittelt werden, anderer- seits soll aus beobachteten Bewegungsverläufen auf die wirkenden Kräfte geschlossen werden. Um dies zu ermöglichen, muss zuerst die Kräfte freie Be- wegung charakterisiert werden. Dies geschieht durch die Lex prima, also das Trägheitsgesetz. Dieses sagt aus, dass die Kräfte freien Bewegungstypen genau die geradlinig gleich- förmigen sind, also die beschleunigungsfreien. Kräfte defi- nierte Newton dann allgemein als Ursachen aller Abwei- chungen von diesen Bewegungstypen. Dies tat er in der Lex secunda: F = m · a. Dieser wohlvertrauten Vorgehensweise haftet aber der Man- gel an, dass nicht gleichzeitig dazu gesagt wird, bezüglich welchem räumlichen Bezugssystem die Bewegung denn „geradlinig“ und bezüglich welcher Zeitskala sie „gleich- förmig“ sein soll. Newton setzte dafür metaphysische Kon- strukte ein, die er „absoluten Raum“ und „wahre Zeit“ nennt. Diese sind zwar nicht direkt sinnlich wahrnehmbar, wie Newton zugesteht. Sie werden aber gerade dadurch in Evidenz gesetzt, dass, bezogen auf sie, die Newtonschen Ge- setze gelten. Was aber heißt konkret „bezogen“, wenn die sinnliche Identifizierbarkeit nicht gegeben ist? Zunächst heißt es eben nicht mehr als die Existenz solcher räumlicher Bezugssysteme und Zeitskalen. Es ist diese Existenzaussage, D as für die Newtonsche Mechanik fundamentale kine- matische Konzept eines globalen Inertialsystems wird bekanntlich in der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) abgeschafft. An seine Stelle tritt ein dynamisches Konzept von Inertialsystemen, die in Raum und Zeit lokal sind. Eine Konsequenz der ART ist, dass diese Inertialsysteme im All- gemeinen sogar gegenseitig beschleunigt sind. Besonders interessant ist der Fall, in dem die Inertialsys- teme relativ zu einander rotieren, zum Beispiel in der Um- gebung kompakter Massen mit Drehimpuls. Nach der ART erzeugen solche Systeme nämlich ein „gravitomagnetisches Inertialsysteme und Gravitomagnetismus Kosmische Kreisel DOMENICO G IULINI INTERNET | Homepage der Gravity-Probe-B-Mission der NASA einstein.stanford.edu Lense-Thirring-Präzession www.physics.uiuc.edu/research/cta/news/sidebands/ Elementare Erklärungen zum Binärpulsar 1913+16 (Cornell University) astrosun.tn.cornell.edu/courses/astro201/psr1913.htm Erster entdeckter Doppelpulsar: Infos und Animationen www.jb.man.ac.uk/news/doublepulsar/ LAGEOS I, II und III ilrs.gsfc.nasa.gov/satellite_missions/list_of_satellites/lageos.html www.laeff.esa.es/eng/laeff/activity/lageos3.html Hinweise auf „frame dragging“ durch rotierende Schwarze Löcher antwrp.gsfc.nasa.gov/apod/ap971107.html Homepage der Gaia-Mission der ESA sci.esa.int/science-e/www/area/index.cfm?fareaid=26

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160 | Phys. Unserer Zeit | 35. Jahrgang 2004 | Nr. 4 DOI:10.1002/piuz.200401042 © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Die Allgemeine Relativitätstheorie verabschiedete sich vonNewtons Vorstellung vom absoluten Raum als Inertialsystem.Sie ersetzte ihn durch Raumzeiten, in denen Inertialsystemelokal und dynamisch definiert sind. Eine fundamentale Konse-quenz dieses dynamischen Konzepts ist das gravitomagne-tische Feld. Im April 2004 startete die Sonde Gravity Probe B,um diesen Effekt im Erdschwerefeld erstmals isoliert zu messen.

Feld“, dessen Existenz sich direkt in der Rotation lokalerInertialsysteme äußert. Ein im Prinzip experimentell beob-achtbarer „Fingerabdruck“ dieses Effekts ist die Lense-Thir-ring-Präzession, die ich weiter unten vorstelle.

Astrophysikalische Beobachtungen der letzten Jahre ge-ben starke Indizienbeweise dafür, dass die Voraussage derExistenz gravitomagnetischer Felder durch die ART zutrifft.Ihr direkter Nachweis steht zwar noch aus, ist aber für dienahe Zukunft zu erwarten: Dazu könnte die Sonde GravityProbe B beitragen (Abbildung 1 und „Internet“). In diesemBeitrag gebe ich einen Abriss der Entwicklung dieses für dieART fundamentalen Aspekts.

Von Newton zu EinsteinIn der Newtonschen Mechanik spielt bekanntlich der Be-griff der Kraft eine zentrale Rolle. Newtons Hauptwerk, die„Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“, meist kurzPrincipia genannt, war einer doppelten Zielsetzung ver-pflichtet,die Newton am Ende seines ersten Scholiums dar-legt: Einerseits sollen aus bekannten Kraftwirkungen die re-sultierenden Bewegungstypen ermittelt werden, anderer-seits soll aus beobachteten Bewegungsverläufen auf diewirkenden Kräfte geschlossen werden.

Um dies zu ermöglichen,muss zuerst die Kräfte freie Be-wegung charakterisiert werden. Dies geschieht durch dieLex prima, also das Trägheitsgesetz. Dieses sagt aus,dass dieKräfte freien Bewegungstypen genau die geradlinig gleich-förmigen sind, also die beschleunigungsfreien. Kräfte defi-nierte Newton dann allgemein als Ursachen aller Abwei-chungen von diesen Bewegungstypen. Dies tat er in derLex secunda:

F = m · a.

Dieser wohlvertrauten Vorgehensweise haftet aber der Man-gel an, dass nicht gleichzeitig dazu gesagt wird, bezüglichwelchem räumlichen Bezugssystem die Bewegung denn„geradlinig“ und bezüglich welcher Zeitskala sie „gleich-förmig“ sein soll. Newton setzte dafür metaphysische Kon-strukte ein, die er „absoluten Raum“ und „wahre Zeit“nennt. Diese sind zwar nicht direkt sinnlich wahrnehmbar,wie Newton zugesteht. Sie werden aber gerade dadurch inEvidenz gesetzt,dass,bezogen auf sie,die Newtonschen Ge-setze gelten. Was aber heißt konkret „bezogen“, wenn diesinnliche Identifizierbarkeit nicht gegeben ist? Zunächstheißt es eben nicht mehr als die Existenz solcher räumlicherBezugssysteme und Zeitskalen. Es ist diese Existenzaussage,

Das für die Newtonsche Mechanik fundamentale kine-matische Konzept eines globalen Inertialsystems wird

bekanntlich in der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART)abgeschafft. An seine Stelle tritt ein dynamisches Konzeptvon Inertialsystemen, die in Raum und Zeit lokal sind. EineKonsequenz der ART ist, dass diese Inertialsysteme im All-gemeinen sogar gegenseitig beschleunigt sind.

Besonders interessant ist der Fall, in dem die Inertialsys-teme relativ zu einander rotieren, zum Beispiel in der Um-gebung kompakter Massen mit Drehimpuls. Nach der ARTerzeugen solche Systeme nämlich ein „gravitomagnetisches

Inertialsysteme und Gravitomagnetismus

Kosmische KreiselDOMENICO GIULINI

I N T E R N E T |Homepage der Gravity-Probe-B-Mission der NASAeinstein.stanford.edu

Lense-Thirring-Präzessionwww.physics.uiuc.edu/research/cta/news/sidebands/

Elementare Erklärungen zum Binärpulsar 1913+16 (Cornell University)astrosun.tn.cornell.edu/courses/astro201/psr1913.htm

Erster entdeckter Doppelpulsar: Infos und Animationenwww.jb.man.ac.uk/news/doublepulsar/

LAGEOS I, II und IIIilrs.gsfc.nasa.gov/satellite_missions/list_of_satellites/lageos.htmlwww.laeff.esa.es/eng/laeff/activity/lageos3.html

Hinweise auf „frame dragging“ durch rotierende Schwarze Löcherantwrp.gsfc.nasa.gov/apod/ap971107.html

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die den wesentlichen Inhalt des Trägheitsgesetzes aus-macht. Vollständig muss das Trägheitsgesetz also so lauten:

„Es gibt ein räumliches Bezugssystem und eine Zeit-skala, so dass bezogen auf sie die Bewegung eines jedenKräfte freien Körpers geradlinig und gleichförmig verläuft.“

Solche Systeme und Zeitskalen heißen nach Ludwig Lan-ge (1863–1936, Chemiker und physikalischer Autodidakt)Inertialsysteme oder Inertialzeitskalen [1]. Es ist klar, dassdie Existenz eines Inertialsystems und einer Inertialzeit-skala sofort die Existenz unendlich vieler weiterer nach sichzieht. Jedes gegenüber einem Inertialsystem konstant ver-schobene, konstant verdrehte oder gleichförmig geradlinigbewegte räumliche Koordinatensystem ist wieder ein Iner-tialsystem; und jede Zeitskala, die sich von einer Inertial-zeitskala um eine konstante additive Konstante unterschei-det, ist ebenfalls wieder eine Inertialzeitskala.

Dies ergibt eine 10-parametrige Freiheit: drei räumlicheTranslationen, drei räumliche Drehungen, drei Geschwin-digkeitstransformationen und eine zeitliche Translation. Inder klassischen (Newtonschen) Mechanik haben die Ge-schwindigkeitstransformationen die Gestalt

(t, x) → (t, x) = (t, x + vt), (1)

wobei v∈R3. Damit bildet die Gesamtheit aller 10-para-metrigen Transformationen die „inhomogene Galilei-Grup-pe“, wobei inhomogen bedeutet, dass sie die Translationenenthält.

In der Mechanik der Speziellen Relativitätstheorie (SRT)sind die Geschwindigkeitstransformationen hingegen durchdie komplizierteren Ausdrücke

(2)

gegeben, die zusammen mit den unverändert bleibendenTranslationen und Rotationen zur „inhomogenen Lorentz-Gruppe“ führen . Hier ist x|| die Parallelprojektion von xauf v, c die Lichtgeschwindigkeit und

Die Geschwindigkeiten v sind auf einen Betrag unter-halb c eingeschränkt. Sowohl in der klassischen wie in derspeziell-relativistischen Mechanik gilt nun das MechanischeRelativitätsprinzip:

„Zwei identische abgeschlossene physikalische Syste-me, die sich relativ zueinander in gleichförmig geradlinigerBewegung befinden, sind hinsichtlich der an den Einzelsys-temen feststellbaren, rein mechanischen Phänomene un-unterscheidbar.“

γ = 12

2– .

v

c

t tc

t t

= + ⋅

= +

γ

γ

v x

x x v x v

2,

)+ + ( –1)( ||

Abb. 1 Gravity Probe B ist am 20. April 2004 gestartet undumkreist in rund 640 km Höhe auf einer polaren Bahn die Erde. Der Satellit hat vier Gyroskope an Bord, die mit ihrenDrehimpulsen ein fast perfektes Raumzeit-Intertialsystem bilden. Dies soll eine Messung des Dragging-Effekts durch dierotierende Erde ermöglichen (Foto: Stanford University).

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Die klassische Mechanik ist also in keiner Weise weni-ger „relativistisch“ als die Mechanik der SRT. Vielmehr un-terscheiden beide sich dadurch, welche Transformationensie als Geschwindigkeitstransformationen benutzen. Dashäufig gebräuchliche Attribut „nichtrelativistisch“ für diePhysik vor 1905 steht eigentlich für „nicht relativistisch imSinne der Lorentz-Gruppe“ und bezieht sich auf die Tatsa-che, dass das auf der Galilei-Gruppe basierte Relativitäts-prinzip der klassischen Mechanik nicht in die Elektrody-namik und andere fundamentale dynamische Theorien fort-gesetzt werden kann.

InertialsystemeWie kann man aber ein Inertialsystem finden oder sich kon-struktiv verschaffen? Diese keineswegs triviale Frage be-antwortete Lange wie folgt: Man nehme drei Kräfte freieMassenpunkte (deren Existenz an dieser Stelle vorausge-setzt wird, zumindest approximativ) und schleudere diesezu einem festen Zeitpunkt (t = 0) von einem Raumpunkt(x = 0) in drei linear unabhängige Richtungen (die dreiRichtungen liegen somit weder auf einer gemeinsamen Ge-raden noch in einer gemeinsamen Ebene). Jedes Koordina-tensystem, aus dessen Sicht sich diese drei Massenpunkteauf Geraden bewegen, ist nun ein Inertialsystem.

Diese zweifelsohne plausibel erscheinende Aussage isttatsächlich mathematisch weniger trivial als es zunächst denAnschein hat. Denn es ist im Allgemeinen nicht wahr, dassjedes Koordinatensystem, bezüglich dem sich drei zwarKräfte frei, aber sonst beliebig bewegte Massenpunkte aufGeraden bewegen, bereits ein Inertialsystem sein muss (siehe unten). Hinreichend dafür sind aber die oben ange-gebenen Bedingungen, dass 1. die Anfangsgeschwindigkeiten linear unabhängig sind

und 2. die Massenpunkte zu einem Zeitpunkt am gleichen Ort

waren (eine elementare Darstellung findet man in [2]).

Die nichttriviale räumliche Aussage des Trägheitsgesetzesist nun,dass sich aus Sicht des so definierten Bezugssystemsjeder weitere (vierte, fünfte etc.) Kräfte freie Massenpunktebenfalls auf einer Geraden bewegt.

Nun setzen wir voraus, dass wir mit dieser Methode einInertialsystem gefunden haben und ferner,dass wir auch dieDistanzen zwischen Raumpunkten messen können. Damitkönnen wir eine Inertialzeitskala einfach durch die Distanzdefinieren, die ein Massenpunkt (zum Beispiel der erste)auf seiner Geraden etwa seit dem Zeitpunkt seines Zusam-mentreffens mit den anderen beiden Massenpunktenzurücklegt.

Als nichttriviale zeitliche Aussage des Trägheitsgesetzesfolgt nun, dass sich bezüglich dieser Zeitskala die zurück-gelegte Strecke eines jeden weiteren (zweiten, dritten etc.)Kräfte frei bewegten Massenpunktes gleichförmig verhält.Anschaulich bedeutet das,dass in Zeitabschnitten, in denender erste Massenpunkt gleiche Strecken durchläuft, auchdie anderen Massenpunkte jeweils gleiche Strecken durch-laufen.

Sind astronomische ReferenzsystemeInertialsysteme?

Das wirft die Frage auf, inwieweit astronomisch bevorzug-te Referenzsysteme tatsächlich auch Inertialsysteme sind.Definiert werden diese meist durch Auswahl bevorzugterObjekte – etwa optische oder Radioquellen – und der Fest-legung, dass in dem zu definierenden Referenzsystem die-se Objekte eine verschwindende (mittlere) Eigenbewegungsenkrecht zur Sichtlinie vom Beobachter zum Objekt be-sitzen. Sie zeigen also keine globale kinematische Rotations-bewegung.

Auf den größten Skalen implementiert zum Beispiel dasseit den 1990er-Jahren gebräuchliche Bezugssystem namensInternational Celestial Reference Frame (ICRF) 610 extra-galaktische Radioquellen. Deren Himmelspositionen kön-nen die vernetzten VLBI-Beobachtungsstationen (Very Lar-ge Baseline Interferometry) extrem genau lokalisieren. Re-lativ zum ICRF kann man nun die Orientierung weiterer Be-zugssysteme untersuchen,etwa des galaktischen,das durchdie Beobachtungen des Satelliten HIPPARCOS (HIgh Preci-sion PARalax COllecting Satellite) neu erstellt wurde. Es er-gibt sich eine sehr kleine obere Schranke für den Betrag ei-ner relativen Winkelgeschwindigkeit von nur 0,25 Millibo-gensekunden pro Jahr,das sind 1/14 400 000 Winkelgrad [3].Eine Steigerung dieser Genauigkeit um mindestens zweiGrößenordnungen ist mit der Hipparcos-NachfolgemissionGaia durch die ESA geplant.

Der physikalisch wesentliche Punkt ist nun, dass dieseastronomisch definierten Bezugssysteme auch in keiner bis-her messbaren Weise von Inertialsystemen abweichen. Diemoderne Kosmologie liefert hierzu Beobachtungen mit na-hezu phantastisch anmutender Genauigkeit [4]. Inten-sitätsvermessungen der kosmischen Mikrowellen-Hinter-grundstrahlung setzen einer globalen Rotation des Kosmosbereits eine obere Schranke von weniger als einer hun-

N O C H K E I N I N E R T I A L S YS T E M |Muss jedes Koordinatensystem, be-züglich dem sich drei Massenpunktezwar Kräfte frei, aber sonst beliebigauf Geraden bewegen, bereits ein Iner-tialsystem sein? Nein, diese Aussageist nicht allgemein gültig.

Die mathematisch saubere Begrün-dung dieser Antwort ist sehr an-spruchsvoll (eine vereinfachte Darstel-lung findet man in [2]). Man kann sichjedoch plausibel machen, weshalb dieAntwort negativ ausfällt: Dazu stelleman sich die drei Massenpunkte aufihren „Flugbahnen“ vor. Dem erstenMassenpunkt kann man nun ein Koor-

dinatensystem so nachführen, dassman ihn im Ursprung des Systems ein-fängt. Danach kann man den zweitenMassenpunkt durch Rotation um denUrsprung auf die z-Achse bringen.Schließlich verschiebt man das Koordi-natensystem entlang seiner z-Achsebis „auf Höhe“ des dritten Massen-punkts (Translation); dort genügtdann eine weitere Rotation, um diesenauf die x-Achse zu legen. Nach dieserOperation bewegen sich alle dreiPunkte auf der xz-Ebene, deren zweiDimensionen kein räumliches Inertial-system aufspannen können.

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dertmillionstel Umdrehung (etwa 13 Millibogensekunden)während des ganzen bisherigen Weltalters!

Koinzidenzen dieser Art sind auf der theoretischen Sei-te im höchsten Maße erklärungsbedürftig. Immerhin wärees zum Beispiel denkbar,dass die enormen galaktischen undextragalaktischen Massen durch dynamische Einwirkungdas lokale Trägheitsverhalten so bestimmen, dass die Kräf-te freie Bewegung der mittleren Bewegung dieser Massenfolgt. Diese Idee formulierte Ernst Mach (1838–1916) be-reits 1883 in seiner berühmten Kritik an den begrifflichenGrundlagen der Newtonschen Mechanik [5]. Einstein er-hob diese Möglichkeit später zum Machschen Prinzip [6].Zu dieser Zeit glaubte Einstein noch fest daran,dass die ARTdas Machsche Prinzip in seiner strengen Form erfüllen wür-de: Danach würden die kosmischen Massen und ihre Be-wegungszustände das lokale Trägheitsverhalten nicht nurbeeinflussen, sondern ganz und gar determinieren. Das hatsich jedoch bald als in dieser Form nicht haltbar erwiesen,wie später noch erläutert wird.

Im Gegensatz zur ART bleibt in der SRT der Begriff desglobalen Inertialsystems gültig. Trotzdem ergibt sich dortbereits eine interessante Veränderung gegenüber der New-tonschen Physik. In Letzterer ist es nämlich sinnvoll, eineMenge von gegenseitig nicht verdrehten Inertialsystemenzu definieren. Damit meint man, dass je zwei solcher Sys-teme neben einer Translation durch eine reine Geschwin-digkeitstransformation der Form (1) verbunden sind, alsoohne Drehung. Das ist mathematisch sinnvoll, denn für Ga-lileische Geschwindigkeitstransformationen (hier mit G(v)bezeichnet) gilt das Kompositionsgesetz (° bezeichnet dieKomposition):

G(v1) ° G(v2) = G(v1 + v2) (3)

wie man anhand (1) leicht nachprüft. Daraus folgt: Sindzwei Systeme S1 und S2 relativ zu einem System S0 nicht ver-dreht, so sind sie auch untereinander nicht verdreht. Manbezeichnet das auch als Transitivität der Relation „nicht ver-dreht“.

Bei Lorentzschen Geschwindigkeitstransformationen(mit L(v) bezeichnet) ist ein solcher Schluss falsch,wie manebenfalls anhand von (2) nachprüft. Vielmehr gilt:

L(v1) ° L(v2) = L(v1 ∗ v2) ° R(v1, v2) (4)

wo ∗ für die Operation der „relativistischen Geschwindig-keitsaddition“ steht und R eine von den beiden Geschwin-digkeiten abhängige Rotation bezeichnet: Das ist die Tho-mas-Rotation, die nur dann die Identität (Einheitstransfor-mation) ist, wenn v1 und v2 parallel oder anti-parallel sind.Im Begriffssystem der SRT ist es also im Allgemeinen nichtmöglich,eine Menge von mehr als zwei untereinander nichtverdrehten Inertialsystemen zu definieren. Nur relativ zueinem fest gewählten Inertialsystem kann eine Menge an-derer Inertialsysteme als nicht verdreht definiert werden[7]. Dieser Effekt ist übrigens auch als Thomas-Präzession

von beschleunigten Teilchen (ohne Gravitationsfeld) be-kannt.

Die Allgemeine RelativitätstheorieIn der ART werden Trägheits- und Gravitationskräfte ver-einheitlicht beschrieben. Dies führt dazu, dass die Gravita-tion selbst nicht mehr als Kraft im Newtonschen Sinne an-zu sehen ist. Das fundamentale Feld der ART ist die 10-kom-ponentige Metrik gµν der Raum-Zeit: Diese symmetrische4×4-Matrix bestimmt die Längen von Zeit- und Ortsdistan-zen. Erst dieses Feld, genauer das daraus durch Differentia-tion bestimmte Zusammenhangsfeld, bestimmt die Träg-heitsstruktur und damit, was „Kräfte frei“ ist. Die Einstein-schen Feldgleichungen lauten

(5)GG

cTµν µν= 8

,

FO R M A L E A N A LO G I E Z U R E L E K T RO DY N A M I K |Wir betrachten die Einstein-Gleichun-gen für den Fall schwacher, stationärerGravitationsfelder. Dann weicht dieMetrik der Raumzeit nur wenig von derMinkowski-Metrik

ηµν = diag (–1,1,1,1)

der SRT ab und es gilt

gµν = ηµν + hµν,

wobei hµν als kleine Größe behandeltwird. Wir vernachlässigen nun quadrati-sche und höhere Ordnungen sowohl inhµν als auch in v/c, wobei v der Betragder Geschwindigkeit der Materie ist.Dann reduzieren sich die EinsteinschenFeldgleichungen (5) auf ein System vonGleichungen, das formal den Maxwell-Gleichungen speziell für stationären Fallder Elektrodynamik gleicht (in derCoulomb-Eichung).

Man beachte, dass dies als rein for-male Analogie zu verstehen ist. Sie giltauch nur in dieser Näherung, denn dieART ist keine Vektortheorie. Dazu führtman eine zum skalaren Potential derElektrodynamik analoge Größe φ ein,wobei

(2/c2) φ = h00 = h11 = h22 = h33,

und ebenso eine zum Vektorpotentialanaloge Größe A = –c (h01,h02,h02).Damit definiert man in weiterer Analo-gie zum Elektromagnetismus das gra-vitoelektrische Feld E = – ∇∇φ und dasgravitomagnetische Feld B = ∇∇ × A. Mitihrer Hilfe erhält die Bewegungsglei-

chung einer Restmasse im Gravitations-feld formal die gleiche Form wie dieeiner Punktladung mit e/m =1 in derElektrodynamik:

v. = E + v × B. (11)

Die linearisierten Einstein-Gleichungenlauten, ausgedrückt durch die Potentia-le φ und AA, wie folgt:

(12)

wobei ρ die lokale Massendichte und vdas (wegen der Stationaritätsbedin-gung zeitlich konstante) Geschwindig-keitsfeld der Materie ist und ∆ == ∇∇·· ∇∇den Laplace-Operator bezeichnet. DieGleichungen (12) entsprechen genauden Maxwell-Gleichungen, nur dassdort die Konstanten (in SI-Einheiten)durch 1/ε0 (statt –4πG) und µ0 (statt–16π G/c2) gegeben sind und ρρ dieBedeutung der elektrischen Ladungs-dichte (statt der Massendichte) an-nimmt.

Die Präzessionsfrequenz eines Krei-sels ergibt sich schließlich analog zurPräzessionsfrequenz –(ge/2m)B desSpinvektors eines elektrisch geladenenTeilchens der Masse m und Ladung e immagnetischen Feld, wenn man dort e = m und den gyromagnetischenFaktor g = 1 setzt.

ΩΩKreisel = – .12

B

∆ ρ= 162πG

c,A v

∆φ ρ= 4πG ,

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G ist die Newtonsche Gravitati-onskonstante, c die Vakuum-lichtgeschwindigkeit.

Dabei ist Gµν eine nichtli-neare Kombination aus gµν undseinen ersten beiden partiellenAbleitungen, während Tµν diezehn Komponenten des Ener-gie-Impuls-Tensors darstellt.Diese sind: Energiedichte (eineKomponente), Impulsdichteoder – dazu proportional –Energiestromdichte (drei Kom-ponenten) und die Impulstrom-dichte (sechs Komponenten).

Die Materie wirkt über denTensor Tµν, der sie repräsen-tiert,auf das Feld gµν ein,das dieTrägheitseigenschaften festlegt.Er determiniert sie aber nichtvollständig, genauso wenig wieeine elektrische Ladungs- undStromverteilung das elektroma-gnetische Feld vollständig de-terminiert. In beiden Fällenbleiben die vom Feld selbst be-

reitgestellten Freiheitsgrade, die freien Wellen, unberührt.Wir erklären gleich, wie man sich diese über einen Analo-gieschluss zur Elektrodynamik anschaulicher vorstellenkann. Zunächst sei festgehalten, dass aus diesem Grund ei-ne nur auf die Materiefreiheitsgrade fixierte Formulierungdes Machschen Prinzips mit dem feldtheoretischen Cha-rakter der ART nicht vereinbar ist, weil sie die Freiheits-grade des Gravitationsfeldes ignoriert. Nur starke Zusatz-annahmen erlauben eine Einschränkung auf die Mate-riefreiheitsgrade.

Rotation lokaler InertialsystemeIm Unterschied zur Newtonschen Gravitation erzeugt alsonicht nur die Massen- oder Energiedichte ein Gravitations-

feld,sondern jede der zehn Komponenten Tµν,dazu gehöreninsbesondere die Massen- oder Energieströme. Diesen An-teil des Gravitationsfeldes nennt man das gravitomagneti-sche Feld oder einfach Gravitomagnetismus, in zunächstgrober Analogie zu Magnetfeldern, die durch elektrischeStröme erzeugt werden.

Tatsächlich stellt sich eine recht enge formale Analogieheraus (siehe „Formale Analogie zur Elektrodynamik“,S. 163). So erzeugt zum Beispiel eine langsam rotierende ku-gelsymmetrische Massenverteilung mit Drehimpuls J eingravitomagnetisches Dipolfeld

(6)

wobei r = √––x·x

––und n = x/r (Abbildung 2).

Die physikalische Bedeutung von ΩΩ erschließt ein Ge-dankenexperiment: Dazu stellen wir uns einen Kreisel vor,der außerhalb einer homogen mit Masse belegten Kugel-schale im Abstand r von deren geometrischen Zentrum ge-lagert sei – und zwar frei von Drehmomenten. Trotzdempräzediert dieser Kreisel nun mit der Winkelgeschwindig-keit ΩΩ relativ zu einem „asymptotischen Inertialsystem“,das durch einen ebensolchen Kreisel im Unendlichen defi-niert wird. Man kann diesen Sachverhalt auch operationa-listischer ausdrücken, indem man das Inertialsystem im Un-endlichen durch das Bezugssystem ersetzt, in dem die mitt-lere Rotation der entferntesten Objekten, wie Quasare, ver-schwindet.

Wegen dieses Gravitomagnetismus, den vor allem Ener-gieströme und Impulsströme verursachen, rotieren also dielokalen Inertialsysteme relativ zueinander. Dieser Effektwurde zuerst 1918 in gemeinsamen Arbeiten von JosephLense (1890–1985) und Hans Thirring (1888–1976) aus derART abgeleitet und wird daher als „Lense-Thirring-Präzes-sion“ bezeichnet. Genauer gesagt bezeichnet man damit im-mer den rotatorischen Anteil eines allgemeinen „FrameDragging“ (Abbildung 3). Sinngemäß hat man sich darun-ter ein Mitschleppen der lokalen Inertialsysteme mit derStrömung von Materie oder von Gravitationswellen vorzu-stellen. Man beachte, dass der Kreisel nicht etwa aufgrundeines „gravitomagnetischen Drehmoments“ präzediert – erist ja drehmomentfrei gelagert –, sondern es würde viel-mehr eines äußeren Drehmomentes bedürfen,um den Krei-sel an dieser Präzession zu hindern!

Auswirkungen der Lense-Thirring-PräzessionVom theoretischen Gesichtspunkt aus gesehen ist der Gra-vitomagnetismus absolut unverzichtbar. Er gehört zum Gra-vitationsfeld genauso unzertrennlich wie das Magnetfeldzum (vereinheitlichten) elektromagnetischen Feld. Wie dortist auch bei der Gravitation die Aufspaltung zwischen „ma-gnetischen“ und „elektrischen“ Feldanteilen vom Bewe-gungszustand des Bezugssystems abhängig. So erhält manbeispielsweise das Newtonsche Gravitationsgesetz relativzu einem Inertialsystem, in dem sich die Zentralmasse ger-adlinig gleichförmig bewegt, nur dann als korrekte Nähe-

ΩΩKreisel ( )( ) –

,xn n J J= ⋅G

c r2 3

3

ABB. 2 | GRAVITOMAGNETISCHES DIPOLFELD

Grafische Wiedergabe des gravitomagneti-schen Dipolfeldes ΩΩ (xx), ausgewertet an Punk-ten im Winkelabstand 30°, die auf einem Kreisvom Radius r um das Zentrum liegen. Im Zentrum sitzt der rotierende Stern, dessenDrehimpuls ein nach oben zeigenden Pfeil(Vektor) symbolisiert. Er erzeugt das Dipol-feld.

Abb. 3 Frame-Dragging-Effektin der Umgebungeines rotierendenSchwarzen Lochs,angedeutet durchdie rotatorischeVerzerrung der Koordinaten-linien. (Grafik: Joe Bergeron. Sky & Telescope

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rung aus der ART, wenn man das gravitomagnetische Feldberücksichtigt [8].

Neben diesen theoretischen Konsistenzgründen gibt eszahlreiche und sehr starke experimentelle Indizien für eineLense-Thirring-Präzession. Sie sind aber immer von anderen,phänomenologisch gleich wirkenden Effekten überlagert.Eine Beobachtung des reinen Lense-Thirring-Effekts ist bis-her noch nicht gelungen; hierfür kommen vor allem dreiAusprägungen in Frage, die ich im Folgenden vorstellenmöchte: Die Präzession von Kreiseln, von Bahnebenen unddie „Periastronpräzession“.

Präzession von KreiselnUm ein Gefühl für die Größenordnung dieses Effekts zu be-kommen, nehmen wir vereinfachend an, die Erde sei eineexakte Kugel mit homogener Massenverteilung. Aus (6) er-gibt sich dann die Präzessionsfrequenz für einen am Nord-pol befindlichen Kreisel zu

(7)

M und R sind dabei die Masse und der Radius der Erde, ωωihre Winkelgeschwindigkeit.

Durch die Eigenrotation der Erde sollte also ein amNordpol aufgehängter Kreisel mit etwa einem Zweimilli-ardstel Bruchteil der Drehgeschwindigkeit der Erde präze-dieren. Dieser winzige Betrag, der etwa 0,6 Millibogense-kunden pro Tag entspricht, ist tatsächlich nur noch ein biszwei Größenordnungen vom heute technologisch Nach-weisbaren entfernt. Großflächige Ringlaser wie derjenige inder Fundamentalstation Wettzell können über den Sagnac-Effekt als Laserkreisel verwendet werden, wobei Auflösun-gen der Erddrehgeschwindigkeit von 10–9 bereits projek-tiert sind (siehe Physik in unserer Zeit 2001, 32(6), 247).

Auf direkte Weise soll soll die Lense-Thirring-Präzessionim Gravity Probe B-Experiment nachgewiesen werden. Beiihm ist ein satellitengestütztes Kreiselsystem in einer Um-laufbahn etwa 640 km über der Erdoberfläche installiertworden. Die Bahn verläuft über die Pole hinweg und schnei-det so die verlängert gedachte Erdachse zweimal. Die po-lare Ausrichtung der Bahnebene ist deshalb günstig,weil aufihr die sonst wesentlich größeren Newtonschen Effekte un-terdrückt sind. Diese sind durch die nicht exakt kugelsym-metrische Massenverteilung der Erde bedingt, also derenhöhere Massenmultipolmomente. Bei nicht-polaren Bahnenführen sie ebenfalls zu einer Präzessionsbewegung,die denhier interessierenden Effekt völlig verwaschen würde.

Durch Mittelung über alle Richtungen von n in (6) ent-lang der polaren Bahn (wodurch n(n⋅J) durch J/2 ersetztwird) ergibt sich

(8)

was etwa 47 Millibogensekunden pro Jahr entspricht. De-taillierte Informationen zu diesem Experiment und seinentheoretischen Voraussetzungen findet man in [9].

ΩΩ ωω ωωKreisel Satellit ( ) ,–=

⋅15 2

10GM

c R

rR + 650 km

103

ΩΩ ωω ωωKreisel Nordpol ( ) , ,–= = ⋅ ⋅45

5 5 102

10GM

c R

Präzession von BahnebenenEine andere Form der Lense-Thirring-Präzession ergibt sich,wenn eine Testmasse (zum Beispiel ein Satellit) einen ro-tierenden Zentralkörper mit Eigendrehimpuls J auf einer el-liptischen Umlaufbahn umläuft. Verläuft die Bahnbewe-gung in einer Ebene,deren Normale nicht parallel zu J liegt,so präzediert die Normale der Bahnebene um J mit der Win-kelgeschwindigkeit

(9)

Dabei ist a die große Halbachse der Ellipse und ε ihre Ex-zentrität.

An den erdgebundenen Satelliten LAGEOS I und II (fürLAser GEOdynamic Satellites), die primär mit der Erfor-schung der Dynamik der Erdkruste befasst sind und derenBahnen mit Hilfe von Lasern bis auf Zentimeter genau ver-messen werden können, hat man diesen Effekt schon ge-messen. Allerdings gelang das bisher nur mit einer unzu-reichenden Genauigkeit von 10–20 %. Das liegt wiederuman der ungenauen Kenntnis der Multipolmomente der Er-de. Diese geringe Genauigkeit könnte mit einem dritten Sa-telliten erheblich gesteigert werden: Dazu müsste man sei-ne Bahngeometrie komplementär zu den der ersten Satel-liten wählen,und zwar so,dass sie eine Elimination der Mul-tipolmomente aus den gemessenen Daten erlauben würde.Leider ist es bisher nicht gelungen, dieses Projekt zu reali-sieren.

Viel versprechender sind natürliche Systeme, in denendas Verhältnis J/a3 sehr viel größer ist. Das ist insbesonde-re bei Neutronensternen oder Schwarzen Löchern der Fall.Um diese kreist in Akkretionsscheiben sehr schnell bewegteMaterie (Abbildung 4). Durch Reibungseffekte stark aufge-heizt, gibt sie elektromagnetische Strahlung im Röntgenbe-reich ab. Neuere Beobachtungen an Systemen mit Neutro-nensternen oder Kandidaten für Schwarze Löcher habennun quasiperiodische Modulationen im Röntgenspektrumsolcher Akkretionsscheiben gezeigt,deren Frequenz geradezu (9) passt (sie liegen im Bereich von einigen Kilohertz).

ΩΩBahn = 23

G

c a2 2 3 21

J

( – ).

Abb. 4 Akkreti-onsscheibe umein kompaktesObjekt (Neutro-nenstern oderschwarzes Loch).Die Innenberei-che werden durchReibung sehrstark aufgeheiztund strahlen imRöntgen-Bereich.

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Eine mögliche Erklärung wäre eine Lense-Thirring-Präzes-sion der Akkretionsscheibe (oder eines innenliegenden Aus-schnitts) mit der durch (9) gegebenen Frequenz. Wegen derdadurch periodisch erfolgenden Verdeckungen des Zen-tralkörpers könnte diese genau zu den beobachteten Mo-dulationen der Röntgen-Intensitäten führen.

Ausgeführt wurden diese Beobachtungen mit dem Sa-telliten RXTE (Rossi X-ray Timing Explorer), der sogar zeit-liche Intensitätsvariationen im Röntgenbereich von bis zu0,1 Millisekunden auflösen kann. Die Beobachtungen vonüber 14 binären Neutronensternsystemen (mit unsichtbarenBegleitern) ergeben starke Indizien für dieses Erklärungs-modell. Allerdings kann die Diskussion darüber noch nichtals abgeschlossen betrachtet werden. Von theoretischer Sei-te ist nämlich seit langem ebenfalls bekannt, dass Visko-sitätseffekte im Gegenzug eine stabilisierende Wirkung aufdie Lage der Akkretionsscheibe haben. Weitere Indizien gibtes bei Objekten, die als starke Kandidaten für SchwarzeLöcher gewertet werden [10].

Periastronpräzession Nach der ART sind die Bahnen um Zentralkörper keine ge-schlossenen Ellipsen, sondern rosettenförmig (Abbildung5). Die Verbindungslinie zwischen Schwerpunkt undschwerpunktsnächstem Bahnpunkt, dem Periastron, ist al-so nicht raumfest in Bezug zu einem asymptotischen Iner-tialsystem, wie wir es oben besprochen haben, sonderndreht sich relativ dazu. Dies ist auch ohne gravitomagneti-sches Feld bereits der Fall, wie es etwa von der Bahn desPlaneten Merkur lange bekannt ist. Hat der Zentralkörperjedoch einen nicht verschwindenden Eigendrehimpuls J,so ergibt das dadurch erzeugte gravitomagnetische Feld ei-nen zusätzlichen Beitrag

(10)

wobei n der Einheitsvektor in Richtung des Bahndrehim-pulses des umlaufenden Körpers ist.

Für halbwegs gleichgerichtete n und J ergibt sich alsoeine „Periastron-Regression“: Das gravitomagnetische Feldschwächt den progressiv wirkenden Beitrag des „elektri-schen“ Anteils des Gravitationsfeldes. Dies ist sehr ein-drücklich am Doppelpulsar PSR B1913+16 nachzuvollzie-hen, für dessen Entdeckung Russel A. Hulse und Joseph H.Taylor Jr. 1993 den Nobelpreis für Physik bekamen [8].

Die ART ergibt für dieses System eine Periastronpro-gression von 4,2° pro Jahr, was sehr genau mit dem expe-rimentell gemessenen Wert übereinstimmt. Das entsprichtdem 35 000-Fachen der Perihelprogression des PlanetenMerkur! Ohne Berücksichtigung des gravitomagnetischenAnteils würde man theoretisch einen Wert erhalten,der umden Faktor 2,5 zu hoch liegt. In diesem,zugegebenermaßenetwas indirekten Sinne, ist die durch das gravitomagneti-sche Feld bedingte Periastronbewegung bereits nachge-wiesen.

Noch extremere Verhältnisse scheinen beim im April2003 entdeckten, ersten echten Doppelpulsar PSR J0737-3039 vorzuliegen: In ihm senden tatsächlich beide Kom-ponenten Pulse aus (Abbildung 6). Er besitzt eine gemes-sene Periastronprogression von sogar 16,9° pro Jahr (sie-he „Internet“, [11,12]). In diesem knapp 2000 Lichtjahreentfernten System umkreisen sich die beiden Pulsare einmalalle 2,4 Stunden.

Die beiden Körper selbst rotieren mit Perioden von 2,8 s beziehungsweise 23 ms [13]. Auf die Beobachtungender nächsten Zeit an diesem Doppelpulsar darf man be-

ΩΩPerizentrum = ⋅2 – 3 ( )3

G

c a2 2 3 21

J n n J

( – ),

Abb. 5 Rosettenbewegung um einen Zentralkörper, genauerden gemeinsamen Schwerpunkt des Systems, wie sie die All-gemeine Relativitätstheorie vorhersagt.

Abb. 6 Der Doppelpulsar PSR J0737-3039. Wie Leuchttürmesenden die beiden Himmelskörper elektromagnetische Wel-len in engen Strahlbündeln aus. Diese sind zufällig so imRaum ausgerichtet, dass sie die Erde überstreichen. Deshalbempfängt man hier scheinbar gepulste Strahlung(siehe Inter-net, S. 160). (Grafik: M. Kramer, Jodrell Bank Observatory, Univer-sity of Manchester).

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sonders gespannt sein, da sie weitere strenge Tests der All-gemeinen Relativitätstheorie liefern werden.

ZusammenfassungNewton formulierte sein Trägheitsgesetz unter der Annahmeeines globalen, absolut gültigen Inertialsystems. Dieses star-re System ersetzte die Allgemeine Relativitätstheorie (ART)durch ein dynamisches Konzept lokaler, Raumzeit abhängi-ger Inertialsysteme. Diese Dynamisierung vormals rein kine-matisch gedachter Strukturen wird durch das gravitomagne-tische Feld vermittelt. Die Existenz dieses Felds verändert somit Newtonsche Vorstellungen tiefgreifend. Im Rahmen derART ist das gravitomagnetische Feld unabdingbar. Experi-mentell wird seine Existenz bereits durch starke Indizienbe-weise gestützt, ein direkter Nachweis steht unmittelbar bevor.

StichworteTrägheitsgesetz, Newtonsche Mechanik, Inertialsystem,Spezielle Relativitätstheorie,Allgemeine Relativitätstheorie,gravitomagnetisches Feld,Lense-Thirring-Präzession,Perias-tronpräzession, Doppelpulsare PSR B1913+16 und PSRJ0737-3039.

DanksagungIch danke Gerhard Schäfer von der Universität Jena für wert-volle Hinweise.

Literatur[1] L. Lange, Berichte über die Verhandlungen der königlich

sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig,mathematisch-physikalische Classe 11888855, 37, 333.

[2] D. Giulini, Philosophia Naturalis 22000022, 39, 343. [3] J. Kovalevsky et al., Astr. and Astroph. 11999977, 323, 620. [4] A. Kogut et al., Phys. Rev. D 11999977, 55, 1901. [5] E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Wissenschaftliche

Buchgesellschaft, Darmstadt 1988 (Nachdruck der 9. Auflage von1933).

[6] A. Einstein, Ann. d. Physik (Leipzig) 11991188, 55, 241. [7] S. A. Klioner und M. Soffel, Astr. and Astroph. 11999988, 334, 1123. [8] K. Nordtvedt, Int. J. Theo. Phys. 11998888, 27, 1395; Physik in unserer

Zeit, 11999911, 22 (1), 29 [9] C. Lämmerzahl, C. W. F. Everitt und F. W. Hehl (Editoren), Gyros,

Clocks, Interferometers...: Testing Relativistic Gravity in Space,Springer Verlag, Berlin 2001.

[10] W. Cui et al., Astroph. J. 11999988, 492, L53. [11] M. Burgay et al., Nature 22000033, 426, 531.[12] A. G. Lyne et al., Sciencexpress 10.1126/ Science.1094645.[13] D. R. Lorimer et al., arxiv.org/pdf/astro-ph/0404274.

Der AutorDomenico Giulini, geb. 1959 in Heidelberg, studiertPhysik in Heidelberg und Cambridge (England),promoviert dort 1990 (PhD). Assistent am Institutfür theoretische Physik der Universität Freiburg,habilitiert dort 1996. Aufenthalte an der ÉcoleNormale Supérieure in Paris, Pennsylvania-StateUniversity (College Park) und der Universität Zürich.Forscht auf den Gebieten der mathematischenAllgemeinen Relativitätstheorie und der Quanten-gravitation.

Anschrift Dr. Domenico Giulini, Physikalisches Institut,Universität Freiburg, Hermann-Herder-Straße 3,79104 Freiburg. [email protected]