INKLUSIVE WOHNARCHITEKTUR MIT VERNETZUNG ZUM … · Inklusive und demografietaugliche Wohnun-gen...

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Innovative modulare Bauweise verknüpft interdisziplinäre und demografietaugliche Wohnkon- zeption – der Hersteller McCube gewährt Einblicke in hochspannende Kostensenkungseffekte Ein Brückenbautext zwischen den Professionen von Ulrike Jocham Laut zahlreicher Pressemeldungen gibt es auf dem Wohnungsmarkt viel zu wenige Wohnungen für Menschen mit Behinderung und Senioren, obwohl diese seit nunmehr schon rund 10 Jahren durch das Gesetzt zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behin- derung (kurz UN-Behindertenrechtskonvention oder UN-BRK, veröffentlicht am 31.08.2008 im Bundesgesetzblatt) gefordert sind. Barrierefreie und vor allem bezahlbare Wohnungen sind immer noch Mangelware. Inklusion beim Wohnen kann so nicht umgesetzt und der demografische Wandel nur extrem mangelhaft und kostenintensiv bewältigt werden. Dabei wären Wohnungen mit einem intelligenten Diversity Management (Vielfaltsmanage- INKLUSIVE WOHNARCHITEKTUR MIT VERNETZUNG ZUM GEMEINWESEN 1 FOTO: ALUMAT FREY/© 2018 MULTIVISUALART.COM NULLSCHWELLEN SIND LÄNGST MÖGLICH UND FÜR ALLE KOMFORTABLER, ABER SELBST IN DER BEHINDERTEN- UND ALTENHILFE NOCH VIEL ZU WENIG IM EINSATZ. FOTO: ALUMAT FREY/© 2018 MULTIVISUALART.COM ZEICHNUNG: ULRIKE JOCHAM

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Innovative modulare Bauweise verknüpft interdisziplinäre und demografietaugliche Wohnkon-zeption – der Hersteller McCube gewährt Einblicke in hochspannende Kostensenkungseffekte Ein Brückenbautext zwischen den Professionen von Ulrike Jocham

Laut zahlreicher Pressemeldungen gibt es auf dem Wohnungsmarkt viel zu wenige Wohnungen für Menschen mit Behinderung und Senioren, obwohl diese seit nunmehr schon rund 10 Jahren durch das Gesetzt zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behin-derung (kurz UN-Behindertenrechtskonvention oder UN-BRK, veröffentlicht am 31.08.2008 im Bundesgesetzblatt) gefordert sind. Barrierefreie und vor allem bezahlbare Wohnungen sind immer noch Mangelware. Inklusion beim Wohnen kann so nicht umgesetzt und der demografische Wandel nur extrem mangelhaft und kostenintensiv bewältigt werden. Dabei wären Wohnungen mit einem intelligenten Diversity Management (Vielfaltsmanage-

INKLUSIVE WOHNARCHITEKTUR MIT VERNETZUNG ZUM GEMEINWESEN

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FOTO: ALUMAT FREY/© 2018 MULTIVISUALART.COM

NULLSCHWELLEN SIND LÄNGST MÖGLICH UND FÜR ALLE KOMFORTABLER, ABER SELBST IN DER BEHINDERTEN- UND ALTENHILFE NOCH VIEL ZU WENIG IM EINSATZ.

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ZEICHNUNG:ULRIKE JOCHAM

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ment), die von fast allen Menschen genutzt wer-den können, längst möglich und für alle besser! Aber nicht nur das. Zahlreiche weitere innovative Lösungen sind vorhanden. Mit disziplinübergrei-fenden Wohnkonzepten können Inklusion konse-quent umgesetzt, strukturelle Verbesserungen in der Altenhilfe erreicht und gleichzeitig volkswirt-schaftliche Einsparungen ohne Qualitätseinbu-ßen erzeugt werden. Auch architektonisch ist In-klusion und Innovation in greifbarer Nähe. Doch interdisziplinäre und gemeinwesenorientierte Wohnprojekte benötigen eine ganz bestimmte ergonomische und empowernde (stärkende) Ar-chitektur. Gerade die Modulbauweise bietet da-für ideale Voraussetzungen. Erfahren Sie mehr über multiprofessionelle Konzepte, unnötige inno-vations- und inklusionshemmende Strukturen und extrem spannende Einsparpotentiale nicht nur durch multiprofessionelle Versorgungskon-zepte, sondern auch durch neue industriell vor-gefertigte Bauweisen. Die Modulbauhersteller McCube und LF ModulBau verraten, dass bei in-telligenten Planungen eine Einsparung der Bau-kosten von mehr als 20 Prozent erreicht werden kann.

Inklusive und demografietaugliche Wohnun-gen fehlen

Dass es immer mehr ältere Menschen gibt und geben wird, ist längstens bekannt. Auch der Arti-kel 19 der UN-BRK fordert schon lange „das glei-che Recht aller Menschen mit Behinderung, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Men-schen in der Gemeinschaft zu leben.“ Jeder soll wohnen und leben können wo, wie und mit wem er möchte und niemand soll verpflichtet werden „in besonderen Wohnformen zu leben.“ (ebd.) Aufgrund fehlender geeigneter Wohnarchitektur gibt es diese Wahlmöglichkeit viel zu wenig, ins-

besondere für Menschen mit einem intensiveren Unterstützungsbedarf, egal ob als ältere Men-schen oder als Mensch mit Behinderung! Fast keine Wohnung auf dem Wohnungsmarkt erfüllt das geforderte Universal Design der UN-BRK.

Universal Design

Das ist eine Gestaltung die „von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpassung oder ein spezielles Design genutzt werden“ kann. (UN-BRK, Artikel 2) Es wurde von Ronald L. Mace und seinen Mitarbeitern in den 80er Jah-ren in Amerika entwickelt und beschreibt insge-samt 7 Gestaltungsprinzipien, die das Leben von allen Menschen vereinfachen. Mit dem gerings-ten Kostenaufwand soll mit diesem Designkon-zept die größtmögliche Nutzbarkeit für möglichst viele Menschen erreicht werden. Die Definition von Universal Design nach diesem Designkon-zept wurde in die UN-BRK aufgenommen.

Mindeststandard Universal Design

Doch wie müssen Wohnungen aussehen, damit möglichst jeder in jeder Lebensphase die Woh-nung nutzen kann, niemand unnötig ausge-schlossen wird und die Kosten möglichst gering bleiben? Dieser Frage gehe ich seit meinem Ar-chitekturstudium nach und führe deshalb bis heu-te zahlreiche disziplinübergreifende Adressaten-interviews durch. Für die Lösung müssen mög-lichst alle verschiedenen Nutzerzielgruppen be-rücksichtigt werden: u.a. Kinder, Menschen mit Klein- und Großwuchs, Familien, Menschen mit allen Behinderungsarten, Senioren sowie Pflege-fachkräfte und Pädagogen, die Menschen in den Wohnungen pflegen und unterstützen. Die größ-ten Knackpunkte, die Menschen von der Nut-zung ausschließen können, sind die Türschwel-len, die bis heute fast jeden Hauseingang im

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Wohnungsbau verbauen und die Bäder. Kann ein Bad aufgrund zu kleiner Bewegungsflächen, einer Badewanne oder einer Duschschwelle nicht mehr benutzt werden, müssen oftmals älte-re Menschen sogar aus der Wohnung ausziehen, wenn der Umbau nicht möglich oder zu kostenin-tensiv wird. Seit meinen Recherchen zum Bielefel-der Modell (Erläuterungen folgen auf Seite 5f und 14f) habe ich begonnen, einen Mindeststandard Universal De-sign zu konzipieren, den ich seither mit weiteren optimierten Standards bis zum Höchststandard Universal Design ausbaue. Menschen mit den verschiedensten Behinderungen kommen in Woh-nungen mit dem Mindeststandard Universal De-sign zurecht, sogar die meisten Nutzer von Roll-stühlen. Die Anforderungen an einen Mindest-standard Universal Design sind gering, erfordern jedoch in den wichtigsten Grundanforderungen eine klare Konsequenz:

- Nullschwellen in allen Außentüren wie Haustü-ren, Wohnungseingangstüren, Terrassen- und Balkontüren

- Eingangstüren min. 90 cm breit, Innentüren min. 80 cm breit

- bodengleiche Duschen mit flexibler Duschab-trennung, unterfahrbare Waschbecken, Installati-on von Assistenzsystemen an den Wänden muss möglich sein

- ausreichende Bewegungsflächen im Bad, vor Küchenschränken, in Fluren usw. von mind. 120/120 cm (150/150 cm große Bewegungsflächen für handbetriebene Rollstühle sind nur notwen-dig, wenn von 4 Seiten z.B. von Wänden oder Duschabtrennungen der Wendevorgang verhin-dert wird), erreichbare Bedien- und Nutzerele-mente

- ausreichend geförderte Wohnungen, mit einem Mietpreis, der den Einzug auch von Menschen mit Anspruch auf Transferleistungen ermöglicht

- Mindestgröße einer Wohnung für eine Person von 45 qm

Für die Nutzer, die aufgrund von größeren Roll-stühlen größere Bewegungsflächen benötigen, ist eine Quote an zusätzlichen Wohnungen not-wendig. Z.B. von 40 – 60 Wohnungen pro Wohn-projekt 2 Wohnungen mit Bewegungsflächen von 150/150 cm. Dieses Verhältnis hat sich innerhalb des Bielefelder Modells bewährt, muss jedoch dringend noch genauer überprüft werden.

Der Unterschied zur DIN 18040

Der Mindeststandard Universal Design beabsich-tigt Wohnungen mit dem geringsten Kostenauf-wand für die größtmögliche Gruppe von Men-schen nutzbar zu machen und die Gestaltung für alle zu verbessern. Die Anforderungen der DIN 18040 hingegen sind nicht mit den Anforderun-gen der UN-BRK und des Universal Designs gleichzusetzen. Bei der unabdingbaren Schwel-lenfreiheit bei Türen und Duschen ist die DIN 18040 erstaunlich unklar und inkonsequent. Bei den Duschen fordert sie grundsätzlich eine Be-wegungsfäche von 150/150 cm. Wenn die Du-schen niveaugleich gebaut und die Duschenab-trennungen flexibel ausgeführt werden, können die Bewegungsflächen auch neben dem direk-ten Duschbereich zum Wenden mitbenutzt wer-den. Die Fußstützen des Rollstuhls können z.B. auch Platz unterhalb eines Hänge-WCs finden oder die Beine mit den Fußstützen unterhalb ei-nes unterfahrbaren Waschbeckens. Diese Bewe-gungsflächen zum Wenden mit Rollstühlen wer-den in der DIN 18040 überhaupt nicht berück-sichtigt. Intelligent eingeplantes Raumpotential

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ermöglicht vielen Rollstuhlnutzern auch in Wohnungen mit den kleine-ren Bewegungsflächen von 120/120 cm klarzukommen.

Flexible Nutzbar- und Vermietbarkeit

Der Mindeststandard Universal Design bietet immense Vorteile z.B. auch für Wohnungsunternehmen durch eine maximal flexible Vermiet-barkeit und den möglichst langen Verbleib von Senioren in der eigenen Wohnung. Auch alle Immobilieninvestoren und –besitzer profitieren da-von, denn die Wohnungen erfüllen alle die Mindestanforderungen an ein selbstständiges und gesundheitsförderndes Leben im Alter. Die Wohnungen sehen ganz normal aus, sie weisen kein besonderes Son-derdesign auf. Bei der Quote von Wohnungen mit den größeren Bewe-gungsflächen hingegen ist die Vermietbarkeit schwieriger, da bei weni-gen Wohnungen die passenden Nutzer in einem gewissen Zeitraum ge-funden werden müssen. Wenn jedoch diese Wohnungen innerhalb von

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Nullschwellen sind im Zeitalter des demografischen Wandels und der Inklusion unverzichtbar! Was nützen Wohnungen, deren Eingang bereits 1 - 2 cm hohe Türschwellen den Zugang für immer mehr Menschen versperren oder kostenintensive Terrassen und Balkone, die nicht jeder nutzen kann?!

NULLSCHWELLEN SIND ERGONOMISCHER, STURZPRÄVENTIVER UND FÜR ALLE MENSCHEN BESSER!

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inklusiven und gemeinwesenorientierten Wohnprojekten angeboten wer-den, haben die mulitprofessionellen Teams vor Ort direkten Kontakt zu Personen, die auf die größeren Bewegungsflächen angewiesen sind und die Vermittlung dieser Quotenwohnungen geht schneller und einfa-cher.

Die Vorgeschichte zum Bielefelder Modell

Bereits 2005 konnte ich das Bielefelder Modell kennen lernen. Zu die-sem Zeitpunkt waren noch beide Gründer dieser Wohnkonzeption aktiv. Bei diesem Wohnkonzept werden Gebäude mit rund 40 – 60 Wohnun-gen benötigt, die alle den Mindeststandard Universal Design aufweisen und 2 Wohnungen, mit den größeren Bewegungsflächen. In den Wohn-projekten gibt es zusätzlich ein Wohncafé, in dem gemeinsame Mahlzei-ten eingenommen und verschiedene Aktivitäten und Veranstaltungen stattfinden können. Direkt neben dem Wohncafé befindet sich das multi-

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SKIZZE: ULRIKE JOCHAM

Das Bielefelder Modell hat gezeigt, dass eine kostenneutrale Versorgungs-sicherheit Wohnprojekt im Umkreis von rund 500 Metern um das Wohnprojekt zum umliegenden Quartier hin realisierbar ist. Wichtig dafür ist nicht nur eine kon-zeptionelle, sondern auch eine architektonische Vernetzung mit dem angrenzenden Gemeinwesen. Je mehr Wege aus allen Richtungen zum gemeinschaftsfördernden Wohncafé und zum versorgenden mulitprofessio-nellen Quartiersteam möglich sind, umso besser.

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professionelle Team aus Altenpflegern, Gesund-heits- und Krankheitspflegern, Heilerziehungs-pflegern, Heilpädagogen, Sozialpädagogen, Fa-milienpflegern usw. die neben der Pflege- und Assistenz zusätzlich die Vernetzung des Wohn-projektes mit dem Gemeinwesen vor Ort fördern und das vorhandene Sorgepotential aus dem Wohnprojekt und dem umliegenden Quartier auf-greifen, z.B. durch Ehrenamtliche, die im Wohn-café kochen oder auch Menschen mit Behinde-rung, die ältere Menschen besuchen. Beim Start eines Wohnprojektes leben höchstens ein Drittel Menschen mit Pflege- und Assistenzbedarf in den dazugehörigen Wohnungen. Durch die Be-zahlung von Ehrenamtspauschalen können Trans-ferleistungsempfänger wie z.B. viele Menschen mit Behinderung ihr geringes Budget aufbessern und bedeutende Gemeinwesen- und Sorgepoten-tiale einbringen. Ein Bad für alle ermöglicht zu-sätzlich die Nutzung einer Badewanne. In dem mindestens 5 – 10 Menschen mit einem erhöhten Pflege- und Assistenzbedarf in das Wohnprojekt einziehen, ist eine kostenneutrale Versorgungssi-cherheit vor Ort durch das multiprofessionelle Team vorhanden. Dadurch entstehen spannende Einsparpotentiale, wie z.B. die Einsparung der Betreuungspauschale, die im klassisch Betreu-ten Wohnen aus der Altenhilfe zwischen 80 und 150 Euro pro Monat kostet. Die Unterstützungsan-gebote gibt es Sozialgesetzbuch übergreifend. Dafür muss die bisher übliche Versäulung zwi-schen den verschiedenen Sozialgesetzbüchern und sozialen Dienstleistern aufgelöst werden. In-terdisziplinarität ist für eine erfolgreiche Umset-zung unabdingbar.

Die Weiterentwicklung „inklusiv wohnen 2.0“

Bei der Implementierung des Bielefelder Modells in Baden-Württemberg von 2008 – 2011 konnte

ich bereits zahlreiche praktische und wertvolle Erfahrungen sammeln. Derartig chancenreiche aber auch tiefgreifende und komplexe Erneuerun-gen benötigen im Vorfeld eine fundierte Vermitt-lung von Wissen, Konzeptverständnis und eine neue professionelle Haltung. Die Leistungsträger müssen bereit sein, für Menschen mit einem in-tensiveren Unterstützungsbedarf auch entspre-chend mehr zu bezahlen. Nur so können die sys-temübergreifenden Einspar- und Verbesserungs-potentiale auch für den ganzen Pflegebereich entstehen. Dass zukünftig allein der individuelle Bedarf einer Person Ausgangspunkt für die Zu-weisung von Leistungen der Teilhabe sein soll, bietet dafür eine ideale Ausgangsbasis. Die Po-tentiale durch die Auflösung der Versäulung zwi-schen den verschiedenen Sozialgesetzbüchern gilt es dringend weiter zu entwickeln. Die multi-professionellen Quartierteams aus der Alten- und Behindertenhilfe sollten zusätzlich durch die Kin-der- und Jugendhilfe bereichert werden. In der Architektur gibt es neben dem Mindeststandard Universal Design zahlreiche weitere Möglichkei-ten, die Menschen im Wohnprojekt und im an-grenzenden Quartier mit einer ergonomischen, inklusiven und demografietauglichen Bauweise zu stärken (empowern) und so zu weiteren Kos-tensenkungseffekten zu gelangen.

Leider werden derartig innovative Wohnkonzepte nur sehr wenig und mit einer mangelhaften Kon-sequenz umgesetzt. Bei aktuelleren Recherchen erfahre ich, dass sogar vereinzelte Städte z.B. diese einsparbare Betreuungspauschale des Betreuten Wohnens auch noch bezuschussen, statt die Chancen durch disziplinübergreifende Wohnkonzeptionen wahrzunehmen.

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Fehlentwicklungen beim sog. barrierefreien Wohnungsbau

Zusätzlich werden sehr viele neue Wohnungen selbst in Pflegeimmobilien als barrierefrei be-schrieben, obwohl sie gar nicht barrierefrei sind. Sogar die konventionelle rechtliche Definition von barrierefrei fordert die selbstständige Nutzbarkeit von Bauwerken für Menschen mit Behinderung. (Musterbauordnung § 2, Absatz 9 und Behindertengleichstellungsgesetz § 4) Die UN-BRK schreibt die Teilhabe für alle Men-schen vor. In der Realität grenzen jedoch ver-schiedene unnötige Barrieren, wie z.B. technisch überholte Schwellen viele Menschen grundlos aus oder verhindern eine selbstständige Nutzbar-keit. Das ist weder barrierefrei, noch inklusiv, noch diskriminierungsfrei. Türschwellen zwi-schen 1 und 2 cm Höhe verbauen bis heute in fast allen Haustüren von Wohngebäuden, in fast allen Terrassen- und Balkontüren und in zahlrei-chen Duschen die Zugänge. Dabei gibt es nur

Argumente für Nullschwellen. Ergonomisch sind ebene und schwellenfreie Fußböden für alle bes-ser. Kein Fuß benötigt eine Schwelle im Boden. Auch ästhetisch spricht alles für Nullschwellen. Ein harmonisch fließender Übergang zwischen innen und außen erzeugt optisch wesentlich an-sprechendere Erscheinungsbilder als eckige, kantige und überflüssige Unterbrechungen. Zu-sätzlich definiert sogar der Arbeitsschutz alle Hö-henunterschiede im Boden, die größer als 4 mm sind, als eine Stolperstelle. Stolpern und stürzen kann jeder aufgrund von Schwellen. Sturzpräven-tion in der Architektur ist für alle Menschen gefor-dert und für die hochrisikogefährdeten Zielgrup-pen wie Kinder, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen unverzichtbar, denn Stürze kön-nen selbstständigkeitseinschränkende und ge-sundheitsgefährdende, im schlimmsten Fall so-gar lebensgefährdende Folgen vor allem für älte-re Menschen nach sich ziehen. Trotzdem halten konventionelle Bauausführende an Türschwellen

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NIVEAUGLEICHE ÜBERGÄNGE BEI AUßENTÜREN SIND SCHON SEIT ÜBER 2 JAHRZEHNTEN REALISIERBAR.

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fest. Die 2017 veröffentlichte Studie „Barrierefrei-es Bauen im Kostenvergleich – eine Analyse not-wendiger Mehrausgaben gegenüber konventio-nellen Bauweisen“ von TERRAGON WOHNBAU im Auftrag vom Deutschen Städte- und Gemein-debund geht sogar so weit zu behaupten, dass bis zu 2 cm hohe Balkonzugänge „in der Regel auch von Rollstuhlfahrern ohne größere Proble-me zu nutzen“ seien. Gibt es einen „Regel-Rolls-tuhlfahrer“? Wo bleibt die Wertschätzung gegen-über der menschlichen Vielfalt und der Anspruch für alle Menschen Zugänglichkeit zu schaffen und den Alltag zu vereinfachen? Wo bleibt bei derartigen Aussagen, die Absicht Universal De-sign, Inklusion und Sturzprävention umzusetzen? (Achtung: auch für Nutzer von Rollstühlen bes-teht die Gefahr, aufgrund von kleinen Schwellen aus dem Rollstuhl zu fallen!) Nach der UN-BRK sind ganz klar Nullschwellen gefordert, diese können von allen genutzt werden, Tür- und Duschschwellen hingegen nicht. Am Beispiel von Nullschwellen ist klar erkennbar, dass das geforderte Universal Design kein unerreichbar hehres Ziel ist, sondern längstens realisierbar – sogar im sozialen Wohnungsbau! Seit meinen nun schon über 12-jährigen Recherchen zum Thema Nullschwellen stoße ich kontinuierlich auf fragwürdige innovations- und inklusionshemmen-de Strukturen, die grundlos die Nullschwellen-Entwicklung hemmen und dadurch wirtschaftli-che Belastungen erzeugen. (z.B. Artikel in Fachzeitschrift Frei-

räume 2018) Zahlreiche Normen und Richtlinien, müssten schon längst nach der UN-BRK im Sin-ne von Nullschwellen und dem geforderten Uni-versal Design überprüft und angepasst werden. (UN-BRK Artikel 4f) Was sollen Wohnungen bei immer mehr älteren Menschen bezwecken, die bereits die Eingänge verbauen? Weshalb sollen Men-schen mit körperlichen Einschränkungen für Ter-

rassen- und Balkone bezahlen, wenn sie diese nicht selbstständig und sicher nutzen können? Die erwähnte TERRAGON-Studie hingegen er-klärt wieder ohne fachlichen Beleg einen Balkon-zugang „mit einer Schwelle von maximal zwei Zentimetern“ als tolerierbar. Dies steht im kras-sen Widerspruch zur übergeordneten UN-BRK, zur geforderten Sturzprävention in der Pflege, zur Nullschwellen-Stellungnahme vom Arbeits-ausschuss der DIN 18040 aus dem Jahr 2013 und zum baden-württembergischen Nullschwel-len-Runderlass aus dem Jahr 2014.

Innovation ist gefragt

Die Autoren der TERRAGON-Studie sind fast aus-schließlich aus dem baulich-technischen Be-reich. Derartige weitreichende Aussagen, die zu Ausgrenzung und Diskriminierung von Men-schen mit Behinderung führen, lassen einen inter-disziplinären Ansatz vermissen. Doch die stei-genden Herausforderungen aufgrund von Inklusi-on und demografischen Wandel können nicht al-lein von einer Profession bewältigt werden. Es wird das Know-how vieler Professionen benötigt. Und das erfordert wiederum ein multiprofessio-nelles Changemanagement oder nach Bertrand Piccard anders ausgedrückt: „Wenn du Innovati-on willst, musst du aus dem System heraustre-ten.“

Inklusion benötigt Innovation

Die grundlegenden Anforderungen bereits bei einem Mindeststandard Universal Design zu strei-chen, kann also nicht die Lösung sein. Die stei-genden gesellschaftlichen Herausforderungen z.B. auch durch Zunahme von „Flüchtlingen“ und durch grundsätzlichen Mangel an bezahlbaren Wohnungen mit gleichzeitigem demografischem Wandel und der Aufgabe Inklusion umzusetzen,

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können nicht mit Blick auf nur eine Zielgruppe gelöst werden. Wohnun-gen sind keine kurzlebigen Verbrauchsgüter, sie müssen während ihrer Nutzungsdauer vielen verschiedenen Zielgruppen und Lebensphasen gerecht werden. Wir brauchen fach- und ressortübergreifend geeigne-tes Einsparpotential beim Bauen. Selbst der Hauptverband der Deut-schen Bauindustrie aus Berlin macht auf seinen Internetseiten deutlich, dass auch die Bauindustrie ihre Hausaufgaben machen muss durch ei-ne stärkere Industrialisierung des Wohnungsbaus mit Forcierung auf ei-nen seriellen Wohnungsbau. Als eine Lösung schlägt dieser Verband „qualitativ hochwertige aber dennoch gleichzeitig kostengünstige Wohnmodule“ vor. Bei dieser Bauweise werden dreidimensionale Raum-einheiten in der Fabrik computerunterstützt vorgefertigt produziert. Auf der Baustelle müssen diese Module dann nur noch zusammenmontiert werden. Dadurch entstehen spannende Kostensenkungseffekte. Die sich öffnenden wirtschaftlichen Ressourcen können in eine qualitätvolle

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Mit Modulen kann wesentlich schneller gebaut werden. Im Geschosswohnungs-bau ist sogar rund ein Jahr Bauzeit einsparbar - das bedeutet mehr Mieteinnahmen bzw. Nutzungszeit.

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empowernde, demografietaugliche und ergonomische Wohnarchitektur investiert werden, die sogar einen maximalen Standard an Universal De-sign und Teilhabe für alle ermöglicht.

Think out of the box!

Das österreichische Start-up “McCube” fertigt seit 2015 ökologische Modulhäuser als vorwiegend Ein- oder Zweifamilienhäuser, die sich fle-xibel an die Wohn- und Lebenssituation seiner Bewohner anpassen. Sie können leicht vergrößert oder verkleinert werden und bei Bedarf so-gar ihre Standorte wechseln. Heimische Hölzer aus einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung und Hanf als Baustoffe sorgen für ein angeneh-mes Raumklima, egal ob Sommer oder Winter. Eine energieeffiziente Bauweise ermöglicht die Einsparung von Heizkosten. Auf Wunsch sind verschiedenste Techniken erhältlich, wie z.B. die Einbeziehung von re-generativen Energiequellen oder Bussystemen für sog. intelligente Häu-

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Die Module können in einem unter-schiedlich hohen Vorfertigungsgrad auf die Baustelle geliefert werden und müssen hier nur noch zusammengefügt und montiert werden.

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ser mit Funktionen wie z.B. automatische Jalousi-esteuerung. Durch die große Nachfrage nach die-sen neuen Häusern expandiert McCube nun seit 2018 auch ins Nachbarland Deutschland. Dafür wurde eine eigene Firma gegründet, die McCu-be Deutschland GmbH (MC. D.) Die beiden Deutschland-Geschäftsführer Simon Lube und Rainer Forster vom McCube Deutschland haben zusätzlich ein weiteres neues Unternehmen ins Leben gerufen, die LF ModulBau. McCube Deutschland ist genauso wie McCube Österreich im Einfamilienhaussegment tätig. Die LF Modul-Bau übernimmt als eigenständiges Unternehmen größere Objektbauten in Modulbauweise. „Mit dem neu gegründeten Start-up LF ModulBau kön-nen nun auch größere Geschosswohnungsbau-ten in der flexiblen, nachhaltigen und ökologi-schen Qualität umgesetzt werden“, erklärt Simon Lube. Das sind ideale Voraussetzungen die Wohnprojekte „inklusiv wohnen 2.0“ mit einer in-novativeren und wirtschaftlicheren Architektur zu errichten. Dadurch entstehen nicht nur Einspar-potentiale im Bereich der Kosten für Pflege und der Assistenz, sondern zusätzlich im Bereich der Baukosten.

Kostensenkungseffekte

Das Bauen mit vorgefertigten Modulen ermög-licht eine schnelle Bauabwicklung. Statt einer Bauzeit bei Geschosswohnungsbauten von häu-fig über 1,5 Jahren, kann hier rund 1 Jahr früher eingezogen werden. Allein dies bedeutet wirt-schaftliches Kapital, nämlich rund 1 Jahr mehr Mieteinnahmen. Bei z.B. 60 Mietwohnungen pro Wohnprojekt bei einer durchschnittlichen Miete von angenommen 600 Euro pro Wohnung erge-ben sich für dieses eine Jahr schnelleres Bauen rund 432.000 Euro Mehreinnahmen. Allein mit diesem Einsparpotential ist weit mehr als ein Min-

deststandard an Universal Design möglich. Das Vielfaltsmanagement (Diversity Management) von allen Wohnungen, dem Wohncafé, dem Well-nessbereich mit Badewanne und dem Büro vom Quartiersteam kann weiter optimiert werden! Für z.B. Nullschwellen, Handläufe für Kinder und Er-wachsene, ergonomische Assistenzsysteme, Raumspartüren, Schiebetüren sowie den Kom-fort und die Selbständigkeit fördernde Dusch-WCs in den Wohnungen und vieles weitere ist plötzlich Budget vorhanden!

Noch mehr Einsparpotential

Da „inklusiv wohnen 2.0“ eine gleiche Wohnarchi-tektur je Wohnprojekt benötigt, können mehrere Wohnprojekte mit der Modulbauweise standardi-siert, also mit gleichen Grundrissen geplant und errichtet werden. Je mehr Wohnprojekte gleich-zeitig starten, umso größer sind die Kosten-senkungseffekte. Bei 10 Wohnprojekten in einem Bundesland oder bundesweit verteilt ist das Ein-sparpotential schon mehr als beachtlich. „Wenn alle Wohngebäude mit rund 60 Wohnungen die gleichen Grundrisse und die gleiche technische Ausstattung aufweisen, können von den Gesamt-kosten zwischen 10 – 20 Prozent eingespart wer-den“, erklärt der Geschäftsführer Simon Lube. Wenn der Bau eines Wohnprojektes mit 60 Woh-nungen rund 10 Mio. Euro kostet, lautet das Ein-sparpotential umgerechnet 1 – 2 Mio. Euro. Ein-em qualitätsvollen universell designten Wohn-raum steht somit nichts mehr im Wege, selbst für den Geschosswohnungsbau ohne Versorgungs-konzept!

Individuelle Erscheinungsbilder

Ein höherer Wiederholungsfaktor der jeweiligen Wohnprojekte und Geschosswohnungsbauten birgt ein vergleichsweise höheres Einsparpotenti-

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al. Dies muss jedoch keine Monotonie nach sich ziehen. „Auch wenn die Grundrisse und die tech-nischen Ausstattungen gleich ausgeführt wer-den, kann jede Fassade individuell gestaltet und mit ganz verschiedenen Materialien ausgestattet werden, beispielsweise mit Holz oder Etnernit. Selbst bei den Dächern gibt es verschiedene Ausführungsvarianten, entweder als Flach- ,Pult- oder Satteldächer, wobei Flachdächer für den Modulbau ideal sind. Diese können auch als um-weltfreundliche begrünte Dächer gefertigt wer-den“, erklärt Simon Lube.

Flexibilität auch im Geschosswohnungsbau

„Die Möglichkeit Wohnungen zu vergrößern oder zu verkleinern gibt es genauso wie bei McCube mit der LF ModulBau im Modul-Geschosswoh-nungsbau“, betont Simon Lube. Übereinanderlie-gende Wohnungen können so z.B. flexibel um ein Zimmer vergrößert werden, wenn z.B. jemand

einzieht, der einen persönlichen Assistenten be-nötigt. Die Wohnungen passen sich bei einer in-telligenten Vorplanung flexibel an die unter-schiedlichsten Bedürfnisse an, wenn dies ge-wünscht wird.

Technische Genauigkeit ideal für 0-Schwellen

„Durch die werksseitige Vorfertigung können die einzelnen Module millimetergenau angefertigt werden“, erläutert der technische Deutschland-Geschäftsführer Rainer Forster von McCube und LF ModulBau und verweist auf die baukonstrukti-ve und energetische Leistungsfähigkeit sowie die gestalterische Präzision. Diese Genauigkeit ist ein großer Vorteil gegenüber der konventionel-len Bauweise, in der Toleranzen zu den geplan-ten Maßen von bis zu 2 cm keine Seltenheit dar-stellen. Insbesondere beim Einbau von Außentü-ren mit Nullschwellen, stellt eine millimeterexakte Anfertigung der Laibungen und der Fußboden-

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aufbauten eine ideale Voraussetzung dar, denn Nullschwellen erfordern eine genaue und saube-re Montage. Die industrielle Vorfertigung von Raummodulen passt somit technisch optimal zu den Nullschwellen-Anforderungen der UN-BRK und des darin geforderten Universal Designs. „Wenn Kunden Nullschwellen möchten, setzen wir diese gerne um“, erklärt Rainer Forster, ge-nauso wie alle weiteren Anforderungen an ein U-niversal Design.

Wir sind alle bei der kontinuierlich zunehmenden Anzahl von älteren Menschen mit Pflegebedarf auf eine professionsübergreifende Erneuerung der vorhandenen Strukturen angewiesen. Innova-tion gibt es bei den aktuellen Herausforderungen nur außerhalb der bisherigen Systeme. Allein die Kosten für die Pflegeversicherungen zu steigern, um dem Pflegenotstand und die steigenden Pfle-gekosten zu bewältigen, reicht nicht mehr aus. Und immer nur die sog. „Barrierefreiheit“ im Woh-

nungsbau zu streichen, ist ebenfalls sehr kon-traproduktiv und extrem belastend für alle folgen-den Generationen und die sozialen Sicherungs-systeme. Innovativere und nachhaltigere Lösun-gen sind möglich! Packen wir es an!

Ulrike Jocham, die Frau Nullschwelle, Stuttgart: September 2018

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MEHR INFOS ZU MC CUBE DEUTSCHLAND UND LF MODULBAU:

AM SÄGEWERK 13, 68526 LADENBURGTELEFON: +49 6203 185 93 51E-MAIL: [email protected] INTERNET: WWW.MC-CUBE.DE

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Persönliche Vorgeschichte der Autorin

Seit meinem 16. Lebensjahr konnte ich in meiner Ausbildung und in meiner praktischen Tätigkeit als Heilerziehungspflegerin verschiedenste Ein-richtungen der Alten- und Behinderten- sowie Kinder- und Jugendhilfe kennen lernen (z.B. Wohnheime, Werkstätten, Fördergruppen, Pflege-heime, ambulant betreutes Wohnen, sog. Betreu-te Wohnanlagen aus der Altenhilfe, betreute Wohngemeinschaften). Schon als junger Mensch hatte ich Begegnungen mit Menschen mit Behin-derung, die sich intensiv ein Wohnen in einer ganz normalen Wohnung wünschten. Doch war der Unterstützungsbedarf hoch, konnte dieser Wunsch nicht erfüllt werden. Das war die Ge-burtsstunde meiner Recherchen für inklusive Wohnprojekte. Aufgrund meiner zahlreichen Er-fahrungen mit Menschen mit den verschiedens-ten Einschränkungsarten (z.B. sog. „geistige Be-hinderung“ besser Lernschwierigkeiten, körperli-che Behinderungen, Hörbehinderung, schwere Mehrfachbehinderung, Sehbehinderung, ältere Menschen mit den verschiedensten Einschrän-kungen, sozial benachteiligte Kinder und Jugend-liche) war mir schon während meines Studiums der Architektur klar, dass unsere Gebäude und Wohnungen von allen nutzbar sein müssen. Frü-here Momente, in denen ich erlebt habe, dass z.B. Menschen auf dem Boden robbend zur Toi-lette in der Disco mussten, weil sie nicht anfah-ren konnten oder Besuche von Rollstuhlnutzern in Wohnungen nur extrem schwer oder gar nicht möglich waren, haben mich zuvor sehr geprägt. Auch Erfahrungen in Altenpflegeheimen, bei de-nen ich aufgrund von Pflegekraftmangel keine ausreichende Zeit hatte, den Heimbewohnern ihr Essen zu geben, waren der Grund, in meinem Architekturstudium neue Wohn- und Betreuungs-konzepte zu konzipieren. Leider stellten weder

Barrierefreiheit noch Inklusion ein gefragtes archi-tektonisches Thema in den 90er Jahren dar. Ich habe von Professoren immer nur gehört, das sei zu teuer und werde nicht gebraucht. Bei meinem neuen Wohnprojektentwicklungen im Hauptstudi-um bin ich sogar auf erstaunliche Abwehr gesto-ßen. Die damals schon vorhandenen DIN-Nor-men für Barrierefreiheit wurden im Studium nicht thematisiert, hingegen die DIN-Norm für Bau-werksabdichtung und die Flachdachrichtlinie mehr als intensiv. 20 Jahre später bin ich auf das Bielefelder Modell gestoßen. Bereits die erste Re-cherchereise hat mich begeistert. Ich hatte das große Glück, noch beide Gründer, Theresia Brechmann und Werner Stede (†), über mehrere Jahre aktiv kennenlernen zu können. Bei meinen Recherchen und während der Implementierung dieses Wohnkonzeptes in Baden-Württemberg wurde ich von beiden intensiv geschult. Kurz vor meinem ersten Besuch in Bielefeld habe ich ein Heim für Menschen mit MS besucht und eine an MS erkrankte Mutter gesprochen, die mir erzähl-te, dass sie ihren Sohn seit er 3 Jahre alt ist, nur noch ganz vereinzelt ca. 1 – 3 Mal pro Jahr se-hen kann. Im Bielefeld saß ich kurz darauf in ei-nem Wohnprojekt im dazugehörigen Wohncafé mit dort Wohnenden bei einem gemeinsamen ge-mütlichen Abendessen. Ein Mensch mit MS war wie selbstverständlich mit dabei. In dem Heim hingegen gab es nur Menschen mit MS und alle haben mitbekommen, wie es einzelnen im End-stadium der Krankheit sehr schlecht ging. In dem Wohnprojekt in Bielefeld gab es nur einen Mieter mit MS. Ein Heilerziehungspfleger vom dort tätigen multiprofessionellen Team erzählte mir von einer anderen Mutter, die ebenfalls an ei-ner schweren Krankheit erkrankt ist, und deren Sohn das Jugendamt in einer Wohngruppe unter-bringen wollte. Die pädagogischen Fachkräfte

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vom multiprofessionellen Team haben die Mutter unterstützt und Lösungen für die Betreuung des Sohnes und der Mutter gefunden, sodass die bei-den zusammen wohnen bleiben konnten. Das hat mich so begeistert! Bei weiteren Recherchen konnte ich unter anderem zahlreiche Menschen mit einem 24-stündigen Hilfebedarf interviewen, die mir alle zeigten, das selbstbestimmtes Woh-nen in einer eigenen Wohnung für alle möglich ist. Zusätzlich bin ich auf zufriedene Pflegefach-kräfte gestoßen. „Endlich kann ich so arbeiten, wie ich es gelernt habe.“ Dieser Satz klingt noch heute in meinem Ohr. Ich habe durch die Grün-der des Bielefelder Modells erlebt, dass Inklusi-on von Menschen selbst mit schwersten Mehr-fachbehinderungen im ganz normalen Geschoss-wohnungsbau möglich ist und gleichzeitig die Le-bensqualität von allen Menschen im Quartier ge-nau dadurch steigen kann! Ich habe erlebt, dass Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung innerhalb dieser

Wohnkonzeption entstehen und die Potentiale aufgrund von deren Behinderungen die Wohn- und Betreuungskonzeption und die Lebensquali-tät von allen verbessern können. Ich habe erlebt, dass durch neue Strukturen, die Arbeitsbedin-gungen von Fachkräften aus Pädagogik und Pfle-ge beachtlich verbessert werden können! Und ich habe die letzten Jahre erlebt, dass der Stand der Technik eine bessere Architektur für alle Nut-zer längst ermöglicht, jedoch völlig unnötige hemmende Strukturen, deren Realisierung verhin-dern. Wir können es besser! Auch unsere Kinder brauchen später Lösungen, für eine Gesellschaft mit immer mehr älteren Menschen.

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DIE AUTORIN ULRIKE JOCHAM UNTERSTÜTZT GERNE MIT WEITERBILDUNGEN, BERATUNGEN UND SACHVERSTÄNDIGENGUTACHTEN:

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FOTO: DIE ARGE LOLA