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© 2011 der deutschen Ausgabe by Empart Deutschland, Bremen

Aus dem Englischen übersetzt von Clarissa Karthäuser

Die Originalausgabe erschien

bei Empart, Croydon, Australien,

unter dem Titel „Madness“

© 2008 by Jossy Chacko

Die Bibelstellen wurden, sofern nicht anders angegeben, der folgenden Bibelübersetzung

entnommen:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999

Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Weiter wurden verwendet:

(GN) Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer

Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart sowie

(L1912) Lutherbibel © 1912 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

1. Auflage 2011

ISBN 978-2-8399-0899-3

Umschlaggestaltung & Layout: Jean-Charles Rochat, Expression Créative

Druck und Verarbeitung: Jordi AG Belp, Schweiz

www.empart.de

www.empart.ch

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UNGLAUBLICHEine außergewöhnliche Reise hin zu dem erstaunlichen Traum, 100 000 Gemeinden zu gründen

Jossy Chacko

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Dieses Buch ist meinem Großvater K.T. Chacko gewidmet.Zu seinen Lebzeiten hat er meine Welt durch seine göttliche Weisheit, seine

Großzügigkeit und seine Art Menschen zu leiten bereichert, und auch jetzt

noch, wo er in der Ewigkeit ist, ist mein Leben von diesen Dingen geprägt.

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Verwendung von NamenSeit September 2005 ist die Organisation „Compassion for India“ in

Australien und anderen Partnerländern unter dem Namen „Empart“

bekannt. Um eine gewisse Einheitlichkeit zu wahren, verwende ich – sofern

möglich – im gesamten Buch „Empart“.

Einige Namen und Details der Geschichte wurden aus Sicherheitsgründen

geändert, um einzelne Personen zu schützen.

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort Volker Schwolow (Empart Deutschland) ................................ 5Vorwort Jossy Chacko (Empart International) ...................................... 7Kapitel 1: Überfallen........................................................................... 9Kapitel 2: Mit Dynamit fischen ........................................................... 19Kapitel 3: Erinnerungen und Wahnsinn .............................................. 33Kapitel 4: Unter Gottes Schutz ........................................................... 47Kapitel 5: Meine Träume zerplatzen ................................................... 55Kapitel 6: Zwei Welten........................................................................ 65Kapitel 7: Ein Slumjunge verändert alles ........................................... 77Kapitel 8: „Du kommst drei Monate zu spät!“ ..................................... 89Kapitel 9: Das Abenteuer beginnt ....................................................... 97Kapitel 10: Reise durch eine verlorene Welt .........................................109Kapitel 11: Prinzipien und Pläne ..........................................................123Kapitel 12: Gott muss real sein .............................................................135Kapitel 13: Wunder überall ...................................................................147Kapitel 14: Helden für das Königreich .................................................155Kapitel 15: Die Verlorenen befreien .....................................................169Kapitel 16: Völlige Hingabe .................................................................179Kapitel 17: Die Ewigkeit vor Augen .....................................................197Nachwort: Jeder Stamm, jede Nation ...................................................209Karte .....................................................................................................213

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VORWORT VOLKER SCHWOLOW

U nglaublich – ich kann mir kein anderes Wort vorstellen, das den Inhalt dieses Buches besser zusammenfasst. Unglaublich, im wahrsten Sinne des Wortes, ist Jossys Lebensgeschichte. Mit nur

20 Dollar in der Tasche wandert er als Siebzehnjähriger von seiner Heimat Südindien nach Australien aus, um dort Karriere zu machen. Nur drei Monate später steht er auf dem Flachdach seiner Wohnung, um sich selbst das Leben zu nehmen. Was dann passiert, ist der Beginn einer aufregenden, nicht nur Jossys Leben verändernden Vision: die Gründung von 100 000 Gemeinden unter unerreichten Volksgruppen in Asien bis zum Jahr 2030. In diesem Buch erzählt Jossy Chacko seine eigene Geschichte, nimmt den Leser mit hinein in seine Kindheit in Südindien und lässt ihn teilhaben an den Erfahrungen auf dem australischen Kontinent. Vor allem gibt er dem Leser Einblick in die Entstehung dieser Vision und fordert ihn dazu heraus, sich mit dem Thema Weltmission neu zu beschäftigen. Als ich Jossy im Frühjahr 2004 kennen lernte, ahnte ich noch nichts von den Dingen, die heute auch mein Leben prägen. Gemeinsam mit meiner Frau ließ ich mich im Herbst desselben Jahres auf das Abenteuer ein, Indien zu bereisen und die Anfänge einer Gemeindegründungsbewegung kennenzulernen, die das Potenzial hat, ganze Nationen nachhaltig zu verändern. Heute, nur wenige Jahre später, ist Empart zu einer globalen Organisation gewachsen, die sowohl in Asien als auch in den unterstützenden Ländern der westlichen

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Welt Menschen verändert. Das, was ich durch die Arbeit von Empart in Asien erlebe, hat meine Beziehung zu Gott und mein Leben als Christ in der westlichen Welt auf den Kopf gestellt. Unglaublich scheint die Vision von 100 000 Gemeinden in Asien zu sein. Noch unglaublicher erscheint mir aber, dass Gott Menschen wie mich dazu gebrauchen möchte, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Es würde mich freuen, wenn dieses Buch dazu beiträgt, dass noch mehr Menschen begeistert werden von dem, was Gott in Asien tut und sich von Gott mit hineinnehmen lassen in diese Vision.

Volker Schwolow, Direktor Empart Deutschland

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VORWORTJOSSY CHACKO

Im Laufe der Jahre haben mich viele Freunde und auch Fremde gefragt, wann ich endlich all das, was ich erlebt habe, aufschreiben und veröffentlichen werde. Als mir schließlich auch noch Mitglieder des

Empart-Vorstandes eine Deadline setzten, wusste ich, dass es an der Zeit war, mit dem Schreiben zu beginnen.Die größte Herausforderung für mich war es, eine Geschichte voller persönlicher Erlebnisse zu erzählen, ohne dabei einzelne Beteiligte übermäßig gut oder schlecht dastehen zu lassen. Sollte mir das nicht gelungen sein, hoffe ich auf Ihr Verständnis. Auch die Entscheidung, welche Begebenheiten ich erzählen und welche ich weglassen sollte, war ziemlich schwierig. Wenn ich sämtliche Erlebnisse aufgeschrieben hätte, dann wäre dieses Buch weit über 500 Seiten dick!Bei manchen Ereignissen und Erinnerungen fiel es mir schwer, sie noch einmal an mich heranzulassen. Andere lösten erneut große Freude in mir aus. Manche trieben mir Tränen in die Augen, andere riefen mir den noch vor uns liegenden Weg wieder ins Gedächtnis und auch all die Herausforderungen und Möglichkeiten, die damit verbunden sind.Obwohl ich im „Westen“ zu Hause bin, sehne ich mich danach, den unbekannten einheimischen Gemeindegründern zu dienen, die sich im Verborgenen um die vielen verlorenen und unerreichten Menschen dieser Welt kümmern. Mein Herz brennt vor Liebe für den Herrn.

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Ich wünsche mir, dass Sie durch meine Geschichte verstehen lernen, dass Gott nicht nur auf Ihr Versagen, Ihre Vergangenheit, Ihren kulturellen Hintergrund oder Ihre Erfahrungen sieht. Er hat einen Plan für Sie – und zwar einen guten Plan! Jagen Sie ihm nach, bis Sie ihn gefunden haben! Geben Sie sich nicht mit dem zufrieden, was Sie erreicht haben, egal, wie alt oder jung Sie sind. In der Ewigkeit werden Sie froh darüber sein!

Jossy Chacko

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ÜBERFALLEN

Johnson, unser Fahrer, drückte auf die Hupe und riss das Lenkrad zur Seite. Eine motorisierte Rikscha streifte unseren Kleinbus nur wenige Zentimeter von unserem schönen neuen Logo entfernt. Auch andere

Hupen heulten auf und mischten sich unter die Schreie der Straßenverkäufer und das Dröhnen der Lastwagen. Das Getriebe knirschte, als Johnson das Lenkrad erneut herumriss.In einer indischen Stadt Auto zu fahren, ist nichts für schwache Nerven. Man läuft immer Gefahr, eine Rikscha zu streifen oder zwischen einem Bus und einem Ochsenkarren eingequetscht zu werden. Fahrräder verstopfen die Straßen wie Fliegen. Hunde, Kühe und Kinder tummeln sich mitten im Verkehr.Doch an diesem Nachmittag konnten noch nicht einmal die Gefahren und das chaotische Durcheinander auf Indiens Straßen unsere Freude dämpfen. Vor einer Woche hatten wir unser erstes „Compassion for India“-Fahrzeug erhalten: ein stabiler, in Indien gebauter Tata-Kleinbus. Als wir den Wagen das erste Mal sahen, war er nur ein großer Haufen Alteisen, doch nachdem zwei Mechaniker drei Wochen lang daran herumgeschraubt hatten, sah er aus wie neu.Dieser cremefarbene Achtsitzer war für uns ein Zeichen dafür, wie sehr Gott unsere ersten zaghaften Bemühungen segnete, mitten in Nordindien sein Reich auszubreiten und Gemeinden zu gründen. Unsere Vision war so groß wie ein halber Kontinent, doch an diesem Tag bündelte sie sich

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in dem großartigen Gefühl, in unserem eigenen Auto zu sitzen und durch Chandigarh, die Hauptstadt von Punjab, zu fahren.Nach bester indischer Tradition, alles vom Taxi bis zum LKW mit knallig-bunten religiösen Malereien zu versehen, hatten wir ein großes rotes Kreuz und den Schriftzug „CFI Ministries“ auf beiden Seiten unseres Vans sowie auf Heck- und Windschutzscheibe angebracht.Während des Fahrens sah ich aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Menschenmenge. Die Frauen in ihren bunt gemusterten Saris fielen mir sofort ins Auge. Sie feilschten mit Händlern über Gemüse und Früchte, die auf den Ständen angeboten wurden. Ein glatzköpfiger Mann trug eine riesige Wassermelone auf seiner Schulter. Sie war so groß wie der Fuß eines Elefanten. Männliche Sikhs mit gelben, grünen und roten Turbanen schritten selbstbewusst an Straßenkindern in braunen Lumpen vorbei. Eine Gruppe lachender Mädchen in Schuluniformen bahnte sich den Weg um einen Haufen mit verrottendem Abfall herum. Ein wahrhaft schillerndes Kaleidoskop unterschiedlicher Menschen. In Indien, meinem Geburtsland, leben mehr als eine Milliarde Menschen, von denen mehr als 40 Prozent den Namen Jesus noch nie gehört haben. Deshalb hat Gott mich in dieses Land berufen. Ich soll diejenigen erreichen, die das Evangelium von Jesus Christus noch nie gehört haben.Aus den Augenwinkeln betrachtete ich Johnson, der sich voll und ganz auf die Straße konzentrierte. Als wir den Bus abholten, hatte uns der Mechaniker, der auch Christ ist, gefragt, ob wir noch einen Fahrer bräuchten. „Ich wüsste da jemanden“, bot er uns an. „Mein Neffe. Für ihn wäre es gut, wenn er mit Leuten wie euch zusammen ist, damit er mehr von Jesus hört. Wenn ihr ihm keinen Lohn geben könnt, würde ich ihn sogar bezahlen, nur damit er mit euch zusammen ist.“Eben jener Neffe war Johnson. Er hatte Drogen- und Alkoholprobleme und Ärger mit der Polizei wegen einiger kleinerer Delikte, die er begangen hatte. Bisher hatte er für seinen Onkel als Mechaniker gearbeitet und war zudem ein guter Busfahrer. Innerhalb von zehn Minuten hatte er seine Sachen gepackt und brachte uns nun von Delhi nach Chandigarh.Auf dem Rücksitz hinter Johnson saß Thomas, unser ehrenamtlicher Repräsentant in Delhi. Seit ich das erste Team australischer Christen 1997 mit nach Delhi gebracht hatte, war ich mit Thomas in Kontakt. Als gebürtiger

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Südinder arbeitete er schon seit über 20 Jahren als Polizeikommissar im Norden. Nun war er jedoch in Rente und hatte sich zu 100 Prozent der Vision verschrieben, Gottes Reich in Nordindien aufzubauen. Der Mercedesmotor des Vans schnurrte unter dem Fahrersitz, während Johnson das Fahrzeug geschickt durch die Straßen lenkte. Wir waren auf dem Weg zu einem unserer ersten Gemeindegründer, der in einem Dorf westlich der Stadt lebte. Unterwegs fuhren wir an fruchtbaren Feldern vorbei, die Punjab als Kornkammer von Indien auszeichnen. Wir passierten Dorf um Dorf, bis wir schließlich eine Stadt erreichten, die etwa eine halbe Stunde von Chandigarh entfernt liegt. Obwohl hier auf den Straßen deutlich weniger los war als in der Hauptstadt, waren immer noch viele Leute unterwegs, um mit oder ohne Fahrzeug ihre Nachmittagsgeschäfte zu erledigen. Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ein Bus auf und stellte sich direkt vor uns. Johnson stieg auf die Bremse und der Wagen kam mit lautem Quietschen zum Stehen. Ungläubig sahen wir zu, wie die Tür des Busses aufflog und zehn, fünfzehn, zwanzig junge Männer herauspurzelten. Es schienen immer mehr zu werden. Als sie wütend und schreiend auf uns zu rannten, wurde uns klar, dass sie auf Gewalt aus waren. Panisch sprangen wir auf und versuchten, die Türen zu schließen. Doch es war schon zu spät: Die Männer hatten es geschafft, sie zu öffnen. Ich zerrte erneut an der Beifahrertür und irgendwie gelang es mir, sie zuzuziehen und die Verriegelung herunter zu drücken.Zur selben Zeit kämpfte Johnson mit seiner Tür und begab sich in Deckung vor den Faustschlägen, die durchs offene Fenster in seine Richtung zielten. Thomas lehnte sich vom Rücksitz aus über unsere Lehnen und versuchte, uns zu helfen, doch die Angreifer schnappten nach seinen Armen. Einige der Männer brüllten herum, hämmerten gegen den Kleinbus und versuchten, die Windschutzscheibe einzuschlagen.Ich griff über Johnson hinweg und tastete nach der Tür. Fäuste trafen mich am Arm, am Kopf und im Gesicht. Ich wusste, dass wir die Tür schließen mussten, denn sobald wir den Schutz des Kleinbusses verließen, wären wir ihnen völlig ausgeliefert. „Lasst nicht los!“, schrie ich. Doch es half nichts. Johnson und Thomas waren schon halb draußen. Dann griff jemand nach Thomas‘ Lederjacke und zog kräftig

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daran. Bevor ich begreifen konnte, was da vor sich ging, fiel Thomas aus dem Wagen.Mir blieb keine Zeit darüber nachzudenken, was diesen außergewöhnlichen Angriff provoziert haben könnte. Vielleicht war es wegen der Kreuze, die unseren Wagen zierten. Religiös motivierte Gewalt von Hindus kam in Nordindien immer häufiger vor. Doch alles, woran ich in diesem Moment denken konnte, war dieses schreckliche, wilde Tauziehen.Als ich Thomas auf den Boden stürzen sah, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass dies das Ende meines Lebens sein könnte.Es waren erst sechs Monate vergangen, seit wir „Compassion for India“ (CFI) in Indien ins Leben gerufen hatten. Für uns war das der Höhepunkt einer außergewöhnlichen Reise voller Überraschungen. Gott hat uns immer wieder unvorbereitet ertappt, kam unseren Erwartungen zuvor bzw. hat sie weit übertroffen.Für mich war es eine Reise, die einige Jahre zurückreichte und ihren Höhepunkt im Jahr 1997 fand, als ich die Organisation in Australien gründete. Mein Ziel war es, Gelder aufzubringen, um die Christen in Südindien bei ihrer Missionsarbeit zu unterstützen. Doch Gott hat meinen Blick schließlich nach Nordindien gelenkt, auf den am dichtesten bevölkerten und am wenigsten erreichten Teil des Subkontinents. Erst Anfang 1998, nachdem ich zwei Monate in Nordindien unterwegs gewesen war, war mein Herz bereit zu verstehen, was Gott mit uns vorhatte. Während dieser Reise habe ich Dinge gesehen, die mich schockiert und auch sehr überrascht haben. Ich bin selbst in Indien aufgewachsen, jedoch in einer eher behüteten Umgebung, nämlich in der Gemeinschaft südindischer Christen. Von den Unerreichten, auf die ich in Nordindien traf, hatte ich nie zuvor etwas gehört. Nun sah ich sie mit Gottes Augen.Überall, wo ich hinkam, waren die Menschen auf der Suche nach Gott: Vor unzähligen hinduistischen Heiligtümern standen Männer und Frauen, die Reis und Früchte als Opfer vor Götterbildern, Kühen, Schlangen und Ratten niederlegten, ohne selbst genug zu Essen zu haben – in der verzweifelten Hoffnung, von ihren Göttern gesegnet zu werden. Am Mittag und bei Sonnenuntergang hielten Muslime am Straßenrand, im Zug oder im Bus inne, um zu beten. Sikhs mit langen Bärten trugen Schwerter und Speere mit sich und verneigten sich vor ihrer Heiligen Schrift des Guru Granth Sahib.

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Jains schützten ihren Mund mit Masken, voller Angst, ein Insekt herunter zu schlucken und so ein schlechtes Karma auf sich zu ziehen.Ich sah so viel Verlorenheit und Hunger nach geistlichen Erfahrungen. Das brachte mich buchstäblich zum Weinen.Ich traf aber auch Christen, deren Opferbereitschaft mir den Atem verschlug. Ein südindischer Mann und seine Frau hatten ihre gut bezahlten Jobs aufgegeben und waren nach Nordindien gezogen, einfach weil Gott es ihnen gesagt hatte. Sie hatten niemanden, der sie unterstützte und kannten auch die dortige Amtssprache nicht. Dieser Mann, Pastor John, besaß ein altes, klappriges Fahrrad, das nur von Stricken zusammengehalten wurde. Damit fuhr er von Dorf zu Dorf, um dort in gebrochenem Hindi von Jesus zu erzählen. Als wir dieses Ehepaar in ihrer kleinen Hütte besuchten, konnten sie uns noch nicht einmal Chai anbieten, einen süßen Tee mit Milch, der in Indien ein Zeichen der Gastfreundschaft ist. Schon seit einigen Tagen hatten die beiden nichts mehr gegessen.Unterwegs traf ich mehrere Pastoren wie John, die fast nichts besaßen, aber das Wenige einsetzten, um Gott zu dienen. Ich kann mich besonders gut an einen hageren, dunkelhäutigen Nordinder erinnern, der etwa 50 Jahre alt war. Er konnte nicht anders, als von Jesus zu erzählen. Was ihn motivierte, war Matthäus 24,14: „Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen.“ Dieses Bibelwort nahm er als seine persönliche Aufgabe und Berufung an. Die Familie dieses Mannes lebte von nur einer Mahlzeit am Tag und sparte so viel Geld wie möglich, damit er Traktate kaufen oder drucken lassen konnte. Um zusätzlich Geld zu verdienen, ging er einmal im Monat ins Krankenhaus, wo er gegen Geld Blut spendete.Ich fragte mich: Wenn ein armer Mann bereit ist, sein eigenes Blut für das

zu verkaufen, wozu Gott ihn berufen hat, was bin ich dann bereit, für meine

Überzeugungen zu tun?

Am Ende meiner Reise war ich zu mehreren Einsichten gekommen:1) Was Nordindien brauchte, war eine dynamische, nachhaltige Bewegung

mit dem Ziel, Gemeinden zu gründen. Es gab Christen, die im sozialen Bereich ausgezeichnete Arbeit leisteten, und einzelne Evangelisten, die

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Heldentaten vollbrachten, um das Evangelium zu verbreiten. Ich suchte jedoch vergeblich nach einer Gemeindegründungsbewegung, die sich für die Gründung starker, pulsierender Gemeinden einsetzt und Menschen, die noch jung im Glauben sind, fördert. Ich war davon überzeugt, dass genau das und nicht weniger die Basis dafür ist, aus Menschen Jünger zu machen, wie Jesus es uns befohlen hat.

2) Ich erkannte, dass die einheimischen Christen, die bereits einen großartigen Dienst leisteten, jemanden brauchten, der sie moralisch, geistlich, strategisch, emotional und finanziell unterstützt. Diese Christen besaßen eine erstaunliche Leidenschaft, Hingabe und Vision für Indien. Sie gaben wirklich alles. Das Problem war, dass ihnen oft die Mittel und das nötige Wissen fehlten. Außerdem waren sie einsam: Es gab einfach niemanden, der sie umarmen und für sie beten konnte, keiner, der zu ihnen sagte: „Du machst das toll, wir unterstützen dich!“ Genau so eine Person wollte ich sein.

3) Mir wurde klar, dass man Nordindien nicht mit derselben Art von Mission erreichen konnte, wie ich sie aus Südindien kannte: Man baut ein Missionszentrum mit einem Krankenhaus, einer Schule, einem Waisenhaus, einem Seminarzentrum und einer Kirche und lädt anschließend alle Leute ein, diese Einrichtungen zu besuchen. Ich realisierte nun, dass in Nordindien, wo Christen als Eindringlinge aus dem Westen abgelehnt werden, so etwas niemals funktionieren würde. Das Evangelium musste in den Alltag der Menschen hineinsprechen. Die Strategie musste dezentralisiert sein. Man könnte selbstständige Ortsgemeinden gründen, deren Basisarbeit von uns unterstützt würde.

So kehrte ich nach Australien zurück, im Gepäck eine lange Liste an Leuten, die ich unterwegs kennen gelernt hatte, und dann begann ich zu beten: „Herr, mit wem davon soll ich zusammenarbeiten?“ Ich kürzte die Liste auf 35 Leute, dann schließlich auf zehn. In dieser Zeit hatte ich zu keinem von ihnen Kontakt. Ich strich nur Namen durch oder ließ sie stehen, je nachdem, was ich empfand, wenn ich für diese Menschen betete. Zum Schluss standen noch fünf Leute auf der Liste. Dann fuhr ich zurück nach Indien.In Chandigarh traf ich mich mit diesen fünf Leuten. Niemand hätte uns für ein besonders beeindruckendes Team gehalten, wir waren ganz normale

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Menschen. Ich war ein einfacher Südinder, der in Australien lebte und noch nicht einmal Hindi sprechen konnte, die Verkehrssprache des Nordens. Thomas war ein pensionierter Polizist und die anderen hatten bisher christliche Schriften verkauft und gepredigt. Wirklich nicht sehr eindrucksvoll. Doch es waren die Menschen, von denen ich glaubte, es sei Gottes Wille, dass ich mit ihnen zusammenarbeitete.Ich sprach mit ihnen über das, was mich bewegte. Ich erzählte ihnen von den mehr als 500 000 Dörfern Nordindiens mit circa 600 Millionen Einwohnern, von denen die meisten noch nie etwas von Jesus gehört haben. Ich beschrieb ihnen meine Vision: die Geburt einer Gemeindegründungsbewegung, mitten in dieser dicht bevölkerten und zugleich unerreichten Region der Welt. Dann forderte ich sie auf, darüber nachzudenken und zu beten, ob sie bereit wären, mit mir gemeinsam die Hände an den Pflug zu legen und diese Bewegung in Gang zu setzen. Zuerst waren sie alle fünf sehr zaghaft. Keiner von ihnen hatte jemals etwas annähernd Bedeutsames getan. Auch hatten sie keinerlei Erfahrungen mit dem Leiten einer Organisation. Als wir schließlich gemeinsam über die Nöte sprachen, fing unsere Vision an, Wurzeln zu schlagen. Wir begannen zu rechnen: Wenn wir es schaffen würden, 100 000 Ortsgemeinden zu gründen und jede dieser Gemeinden würde fünf weitere Dörfer erreichen, dann könnten wir in ganz Nordindien das Evangelium verbreiten. Unsere Aufregung wuchs.Eine Woche lang beteten wir, teilten unsere Gedanken und fragten Gott um Rat. Am Ende dieser Woche waren sich alle fünf einig, dass sie diese Vision gemeinsam mit mir verwirklichen wollten. Wir fassten uns an den Händen und beschlossen, CFI in Indien als Verein eintragen zu lassen. Mit der Unterstützung mehrerer australischer und auch internationaler Freunde arbeiteten Thomas und einige andere in den nächsten Monaten fieberhaft daran, den ganzen Papierkram zu erledigen. Wir eröffneten in Indien auch ein „Büro“, indem wir im Schlafzimmer von Thomas’ Apartment, das sich in einem dicht besiedelten Armenviertel von Delhi befand, ein Faxgerät aufstellten. Als der Strom endlich funktionierte, konnten wir auch mit der Außenwelt kommunizieren.Offiziell gründeten wir die indische Zweigstelle von CFI im November 1998. Wir hatten an alle unsere Bekannten Einladungen verschickt, und es kamen

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schließlich mehr als 50 Pastoren zur Eröffnungsfeier nach Chandigarh. In den nächsten vier Tagen hielten wir unsere erste Pastorenkonferenz ab. Das Leitungsteam bestand zwar nur aus uns fünfen, trotzdem machten wir eine ganz große Sache daraus: Wir ließen Hefte drucken und hängten ein großes Banner auf: „Compassion for India, Erste Pastorenkonferenz“. Das alles war sehr aufregend.Jeder, der uns sah, mag gedacht haben: Was in aller Welt können diese Typen

schon erreichen? Nun, eigentlich nicht viel, doch wir wussten, dass Gott etwas tat.Und genau das war es, was uns in dieses Dorf, eine halbe Stunde von Chandigarh entfernt, verschlagen hatte, wo wir einen unserer Gemeindegründer besuchen wollten. Wir waren uns sicher, dass unsere Vision mit der von Gott übereinstimmte, und sowohl in Indien als auch in Australien wuchs die Begeisterung. Ständig kamen neue Ideen für Gemeindegründer-Trainingszentren und andere Programme auf, und es wurden auch schon Pläne für eine zweite Pastorenkonferenz geschmiedet. Wir spürten, dass Gott uns selbst in den kleinsten Details unterstützte und leitete. Aber es war nicht Gottes Hand, die uns durch die Tür des Kleinbusses mit der Faust schlug und versuchte, uns auf die Straße zu zerren. In diesem albtraumhaften Moment schienen alle unsere Träume zerstört zu werden – in einem reißenden Strom irrationalen Hasses.Voller Entsetzen sah ich, wie Thomas aus dem Wagen stürzte. Wie er es in seiner Polizistenausbildung gelernt hatte, schlüpfte er schnell aus seiner zerfetzten Lederjacke. Ich sah, wie Johnson weggezerrt wurde und außer Reichweite geriet. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, veränderte sich die gesamte Situation schlagartig.Ohne Vorwarnung bremste plötzlich ein zweites, größeres Fahrzeug mit Allradantrieb und kam direkt neben uns zum Stehen. Eine Gruppe von Sikhs sprang heraus. Schnell begannen sie, sich auf unsere Angreifer zu stürzen. Sikhs tragen immer Messer bei sich, das ist Teil ihrer Religion. Und als sie eben diese Messer hervorzogen, ließen unsere Angreifer voller Panik von uns ab und sprinteten zurück zu ihrem Wagen. Auf nicht gerade sanfte Art und Weise schlugen die Sikhs sie in die Flucht.Als sich der Bus in Bewegung gesetzt hatte, drehte sich einer unserer Turban tragenden Retter um und fragte: „Alles klar mit euch?“ „Ich glaube

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schon“, antwortete ich, noch unfähig zu begreifen, was in dieser kurzen Zeit geschehen war.Die Sikhs halfen uns dabei, die Sachen aufzusammeln, die in dem ganzen Tumult auf dem Boden verstreut worden waren – Thomas’ zerfetzte Jacke, seine Geldbörse und sein Geld. So schnell, wie die Sikhs gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden.In einer Art Schockzustand fuhren wir weiter. In unseren Köpfen überschlugen sich die Gedanken, was alles hätte passieren können. Was wäre gewesen, wenn sie unseren Wagen in Brand gesetzt hätten? Was, wenn …? Den Rest des Tages fragte ich Gott immer wieder: „Herr, warum? Wo warst du?“ Schließlich dämmerte mir, dass es vielleicht Gott gewesen war, der die Sikhs geschickt hatte. Im Grunde ist er die ganze Zeit bei uns gewesen.In all den Jahren, die seit diesem Tag im Jahr 1998 vergangen sind, habe ich immer wieder festgestellt, dass es stets mit Herausforderungen und Gefahren verbunden ist, Gottes Wort in Nordindien zu verkünden. Es ist nicht leicht, die Unerreichten zu erreichen. Immer wieder sah ich Evangelisten, Gemeindegründer und Pastoren, die gegen diese Art von Feindseligkeit ankämpfen mussten. Ich sah aber auch immer wieder, auf welch wundersame Weise Gott Bewahrung geschenkt hat, so dramatisch und überraschend wie an jenem Tag.So wie wir einerseits von anti-christlichen Truppen in einem Dorf Punjabs angegriffen wurden, so tragen diese verrückten Männer und Frauen andererseits immer wieder Licht in die Dunkelheit Nordindiens. Und so wie wir, von Fausthieben getroffen, halb aus unserem Wagen hingen, sind sie sich der einen Tatsache bewusst, die alle Herausforderungen und Gefahren zu einem großartigen Abenteuer werden lässt: Gott ist unser Beschützer.Johnson, unser Fahrer, hatte wegen seiner Alkohol- und Drogenprobleme schon einmal im Gefängnis gesessen, drei Gerichtsprozesse standen noch gegen ihn aus. Doch nachdem er zwei Monate lang mit uns unterwegs gewesen war, hat er sein Leben Jesus übergeben.Punjab, sechs Monate später. Wir hatten gerade zehn neue Christen in einem Fluss in der Nähe ihres Dorfes getauft und waren auf dem Weg nach Hause. Plötzlich stoppte Johnson den Wagen und fragte: „Was muss ich tun, um auch getauft zu werden?“ Wir erklärten ihm alles und versprachen, uns später darum zu kümmern. „Nein, ich will jetzt getauft werden!“, erklärte

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er, wendete den Wagen und fuhr zurück zum Fluss. Dass er keine trockenen Sachen bei sich hatte, störte ihn nicht. So fuhr er uns anschließend in nasser Bekleidung nach Hause und stimmte fröhlich in unser Singen ein.Es ist typisch für Gott, so ein seltsames Team zusammenzuwürfeln: einen Südinder, der in Australien lebt und kein Hindi spricht, einen pensionierten Polizisten und einen drogenabhängigen Ex-Sträfling. Offenbar hat er große Freude daran, Dinge so zu tun, wie wir es niemals erwarten würden.Seit diesen Erlebnissen ist viel passiert. „Compassion for India“ (bzw. Empart, wie wir uns jetzt nennen), arbeitet derzeit in dreizehn nordindischen Staaten sowie in Nepal, Tibet und Bhutan. Die Vision, 100 000 Gemeinden zu gründen, wird vorangetrieben: Während ich dieses Buch schreibe, werden pro Woche fünf neue Gemeinden gegründet. Schon bald werden wir es erleben, dass täglich eine neue Gemeinde entsteht! Zahlreiche einheimische Gemeindegründer werden ausgebildet. Andere Programme, die die Gemeinden auf Dorfebene in ihrem Missionsdienst unterstützen, kommen hinzu: Es entstehen Kinderheime, Nähzentren und vieles mehr! Der Widerstand wächst, Seite an Seite mit dem Abenteuer des Glaubens und der Herausforderung durch die Verfolgung.In diesem Buch erzähle ich die Geschichte von „Compassion for India“ bzw. Empart sowie meine persönliche Geschichte. Diese zwei Geschichten sind so stark ineinander verwoben wie die Fäden eines wunderschönen indischen Stoffes. Für mich sind sie untrennbar. Vor allem jedoch verherrlichen sie Gott und seine Taten, mit denen er dafür sorgt, dass die Menschen in Asien alle Chancen erhalten, um ihn kennen zu lernen.Es ist eine atemberaubende Geschichte, die im tropischen Dschungel Südindiens beginnt, wo der Wind durch die Bambushaine pfeift, wo Elefanten im Unterholz des Monsunwaldes umherstreifen und wo ich gelernt habe, Fische mit Dynamit und Stromkabeln zu fangen …

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MIT DYNAMIT FISCHEN

Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern, als uns einer der Arbeiter auf der Farm meines Großvaters zeigte, wie man mit selbst gebasteltem Sprengstoff in einem tiefen Flussbecken Fische fangen kann. Die Ladung wurde gezündet und irgendwer brüllte: „Lauft!“ Mir brauchte das keiner zweimal zu sagen!Peng! Und eine Wassersäule schoss 10 Meter in die Höhe. Als wir dann zurückliefen, um nachzusehen, was passiert war, sahen wir die Fische, die uns bisher immer entwischt waren, wie welke Seerosenblätter auf dem Wasser treiben.Fischen gehen war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen als Kind. Mitten durch unser Farmland in Kerala führte ein breiter Fluss, und auch ein paar Kilometer weiter wurde die Landschaft von einem Flusslauf geteilt. Durch das tropische Klima waren die Flüsse immer voller Wasser und Fisch.Als ich noch sehr klein war, habe ich gemeinsam mit meinen Freunden versucht, die Fische mit einem Handtuch, das wir an den Seiten festhielten, aus dem Wasser zu ziehen. Später haben wir Angeln und Haken verwendet. Doch erst, als wir die Elektrizität entdeckten, wurde die Sache so richtig interessant.Für uns war es eine Frage des Geldes und der Technik. Wir Jungs sparten unser Taschengeld, um davon Elektrokabel zu kaufen (oder von unseren Familien zu klauen), verdrehten die Enden und spannten das Kabel vom Fluss aus zum 200 Meter entfernten Haus. Während einer von uns ein Ende

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ins Wasser hielt, schloss ein anderer den Strom an. Dann legte er den Schalter um. Der kurze Stromfluss brachte spektakuläre Ergebnisse hervor. Sämtliche Wasserlebewesen schossen mit einem lauten Knall in die Luft: Fische, Wasserschlangen, Schildkröten und Frösche! Dann klatschten sie zurück auf die Wasseroberfläche und trieben dort reglos umher. Nachdem wir den Stromkreis wieder unterbrochen hatten, wateten wir in den Fluss und nahmen alles mit, was wir wollten. Fünf Minuten später erwachte der Rest der Tiere wieder zum Leben und schwamm davon.Eigentlich war es mein Vater, von dem ich diesen Trick gelernt hatte. Er hatte unser ganzes Haus verkabelt, dies allerdings nicht fachmännisch ausgeführt. Wir Jungen waren begeistert, als wir herausfanden, dass wir die Wirkung verstärken konnten, wenn wir das Kabel unter Wasser mit Metall in Berührung brachten. Unter meinen Freunden wurde das Ganze zu einer echten Attraktion, bis mein Großvater herausfand, was wir taten und es uns verbot.Meine Familie, also meine Mutter, mein Vater, meine zwei Brüder und ich, lebten mit den Eltern meines Vaters auf deren Farm, am Ende einer dreckigen Straße ohne Namen, mitten im Hügelland von Kerala. Das ursprüngliche Haus hatte mein Großvater K.T. (Thomas) Chacko gebaut. Meine Eltern bauten es aus, so dass es schließlich vier Schlafzimmer besaß. Es war das erste Backsteinhaus mit Ziegeldach in unserer Gegend. Wie bei vielem anderen, war mein Großvater auch hier seiner Zeit voraus.Die Farm war eine von mehreren, die er besaß. Abgesehen vom Wohnhaus, waren da noch einige Lagerhäuser für Werkzeuge, ein großer Kuhstall, ein Hühnerhaus und sieben Ein-Zimmer-Apartments, die er vermietete.Wir bauten so gut wie alles, was wir brauchten, selbst an. Die Hügel um unser Haus herum waren mit Guaven, Jackbaumfrucht, Pfeffer, Kardamom, Maniok und Süßkartoffeln bebaut. Das Einzige, was wir kaufen mussten, war Reis. An Tieren hielten wir Hühner, Enten, Kühe, Ziegen, Papageien, Eichhörnchen, Beos (Vogelart), Hasen und Bienen.In vielerlei Hinsicht war es ein großartiger Ort zum Aufwachsen für einen Jungen wie mich: das heiße tropische Klima, die im Wind schwankenden Kokosnussbäume und Palmen und die traumhaften Berge. Nur drei Kilometer entfernt war ein Wald voller wilder Tiere. Die Tiger waren durch die Jagd zwar

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alle erlegt worden, doch es gab immer noch einige Füchse, Wildschweine und Elefanten. Ein besonderes Vergnügen während der Schulferien war es, im Baumhaus auf einer unserer vielen Plantagen zu übernachten und auf Affen und Elefanten zu lauern, wenn sie auf ihre nächtlichen Raubzüge gingen. Wenn wir sie kommen hörten, zogen wir an einem Seil, an dem ein Blech voller Steine hing. Der ohrenbetäubende Lärm jagte sie sofort davon.Wir hatten auch mit Schlangen zu kämpfen. In unserer Umgebung gab es zwei Pythons von ungefähr drei Meter Länge, die immer wieder versuchten, unsere Hühner oder Ziegen zu erbeuten. Am gefährlichsten aber waren die Kobras. Eines Nachts, als meine Mutter gerade die Hasen fütterte, näherte sich eine Königskobra, ohne dass meine Mutter sie bemerkte. Zum Glück bewegte sie genau im richtigen Moment ihren Fuß, so dass die Kobra an ihrer Ferse vorbeischnappte.Mein Großvater tötete diese Schlange und noch viele andere. Darin war er Experte. Zum Töten benutzte er einen speziellen, zwei Meter langen Stab, den wir den Kobrastab nannten. Er war schon ziemlich alt und niemand durfte ihn ohne Erlaubnis in die Hand nehmen.Wir Kinder hatten unsere eigenen Methoden, mit weniger gefährlichen Schlangen umzugehen. Wenn sich eine Schlange in ihre Höhle zurückzog, zündeten wir davor ein Feuer an, in das wir Chilischoten warfen. Dann fächerten wir den Dampf direkt in die Höhle. Das biss der Schlange in die Augen und trieb sie heraus. Dieselbe Technik wandten wir auch bei Eichhörnchen und anderen Tieren an, die in Höhlen lebten. Als Kinder hat uns das viel Vergnügen bereitet.

Kerala liegt an der Südwest-Küste Indiens und hat eine stolze und sehr alte Geschichte. Auch als Malabar bekannt, war Kerala ein Königreich, das seine eigenen Herrscher, seine eigene Kultur und Geschichte hatte und vom Rest des Subkontinents völlig unabhängig war. Seine religiöse Geschichte fasziniert mich besonders. Die meisten Menschen verbinden mit Indien den Hinduismus, doch als Inder kannte ich nie etwas anderes als das Christentum. Bereits 52 n. Chr. kam der Heilige Thomas, ein Jünger Jesu, mit einem Handelsschiff nach Malabar, in den Hafen Muziris. Malabar, heute unter dem Namen Kodungallur bekannt, ist nur 150 Kilometer von dem Ort entfernt, wo ich aufgewachsen bin.

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Viele Jahre bevor Thomas kam, hatten sich schon Juden in Cochin, einer anderen Küstenstadt angesiedelt. (Noch heute gibt es dort eine Synagoge und ein paar jüdische Familien.) Nach seiner Ankunft hat sich Thomas der dortigen Gemeinde angeschlossen, zog später ins Landesinnere und verkündete dort die Gute Nachricht. Viele örtliche Kaufleute hatten durch ihre Handelsbeziehungen mit Juden bereits etwas von Jesus gehört. Thomas ordnete diese Geschichten in einen historischen Kontext ein und gewann so eine beachtliche Anhängerschaft.Die Leute waren eher Animisten als Hindus und viele fanden den neuen Glauben sehr überzeugend. In diesen ersten Tagen waren sie als „Nazarener“ bekannt, als Nachfolger Jesu von Nazareth, später nannte man sie dann „St. Thomas Christen“. Über die Jahre hinweg entwickelte das Christentum dieser Region ganz bestimmte Eigenheiten. Da unter den ersten Christen viele Händler und Geschäftsleute waren, wurde das Christentum eine Religion der oberen Mittelschicht – ganz im Gegensatz zum Rest Indiens, wo das Christentum eher eine Religion der Armen war. 300 Jahre lang hatten die „St. Thomas Christen“ keinerlei Kontakt zu anderen Gemeinden. Im vierten Jahrhundert wanderten schließlich mehrere hundert Leute aus Syrien ein. Unter ihrem Einfluss schlossen sich viele der östlich-orthodoxen Kirche in Antiochia an und wurden als „Syrische Christen“ bekannt. Über die nächsten tausend Jahre hinweg wuchs die Kirche weiter und gewann in Malabar stark an Einfluss. Als 1498 der portugiesische Entdecker Vasco da Gama kam, veränderte sich alles. Die römisch-katholische Kirche hatte ihn ausgesandt, um Christen und Gewürze ausfindig zu machen. In Malabar fand er beides. Er drang in die bestehende Gemeinschaft ein und übernahm bald die Kontrolle. Die Portugiesen brachten ihre katholischen Traditionen mit und unterdrückten die lokalen christlichen Traditionen. Viele Syrische Christen wurden ins Gefängnis geworfen und ihre Häuser beschlagnahmt. 1599 wurden schließlich alle Christen in Malabar durch einen Erlass für katholisch erklärt. Nach ungefähr 50 Jahren hatten die Syrischen Christen jedoch die Nase voll. 1500 Jahre lang hatten sie ihren Glauben so praktiziert, wie sie es wollten. Und dann waren die Portugiesen gekommen und hatten sowohl ihre Kultur als auch ihren Glauben angegriffen. Am 3. Januar 1653, einem Freitag,

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versammelten sich mehrere tausend Menschen auf einem Platz namens Mattancherry in der Nähe von Cochin und erklärten ihre Unabhängigkeit von der katholischen Kirche. Dieses Ereignis ging als der „Koonan Kurisu Satyam“, der Schwur auf das gebogene Kreuz, in die Geschichte ein, weil die Christen auf ein improvisiertes Kreuz schworen, dass sie sich niemals der päpstlichen Autorität unterwerfen würden.An diesem Punkt betrat unsere Familie die Bühne des Geschehens. Unter den Leuten, die sich gegen die Portugiesen auflehnten, waren auch drei Vorfahren meines Vaters: Thomas, Matthew und Oommen. Wir wissen kaum etwas über sie, nur dass sie starke Überzeugungen vertraten und bereit waren, dafür zu kämpfen.Ihr mutiges Bekenntnis verschaffte der Familie meines Vaters einen festen Stand in der syrisch-christlichen Kirche. Während der nächsten drei Jahrhunderte wurden viele meiner Vorfahren syrisch-christliche Priester, einige von ihnen stiegen in der Hierarchie der Kirche ganz weit nach oben. Um 1914 herum leistete sich mein Großvater K.T. Chacko jedoch etwas Unerhörtes: Er verließ die syrisch-christliche Kirche und schloss sich einer evangelikalen Gruppe an.Schon immer hatte die Hierarchie in der syrisch-christlichen Kirche starken Druck auf das Leben der Menschen ausgeübt. Anfang des letzten Jahrhunderts fühlten sich viele syrische Christen dazu berufen, aus der Kirche auszutreten, sich einer neuen Denkweise zu öffnen und eine formlose, lockere Gruppe zu bilden. Diese Art von Erweckung wurde ausgelöst, als sie in der Apostelgeschichte von der frühen Urgemeinde lasen. Der Bruder meines Großvaters, Geverchen, schloss sich dieser Gruppe an und wurde eine radikale Persönlichkeit.Als mein Großvater ungefähr 16 Jahre alt war, kam er mit diesen „Herausgerufenen“ in Kontakt. Für ihn war es der Beginn einer geistlichen Reise. Kurze Zeit später traf er auf eine andere Gruppe, die von Missionaren der Brüdergemeinde aus England und Neuseeland angeführt wurde. Sie predigten den „Herausgerufenen“ ähnliche Dinge. Die „Brüder“ hatten keine hauptamtlichen Pastoren oder Leiter, sondern nur Älteste, die die Bibel lehrten. Dem Bibelstudium wurde große Bedeutung beigemessen und jeder konnte seine eigenen Erkenntnisse einbringen. Auch mein Großvater besuchte die Bibelstunden und schloss sich schließlich dieser Gruppe an.

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Seine Entscheidung war folgenschwer, denn damit stellte er sich vielen hundert Jahren Familiengeschichte entgegen. Obwohl er und sein Bruder noch Teenager waren, isolierte sie diese Entscheidung vom Rest der Familie, die der syrisch-christlichen Kirche treu blieb. Diesen Mut, sich über Ablehnung hinwegzusetzen und Dinge zu tun, die ihm richtig erschienen, bewies er sein ganzes Leben lang. Zu der Zeit, als er der Brüdergemeinde beitrat, wurden Hochzeiten üblicherweise von den Eltern, Pastoren oder anderen geistlichen Leitern arrangiert. Einige der „Brüder“, denen die rege Teilnahme meines Großvaters am Gemeindeleben aufgefallen war, setzten es sich zum Ziel, für ihn eine Hochzeit zu arrangieren. Sie entschieden sich für ein Mädchen aus einer angesehenen „brüderischen“ Familie. Ihr Name war Mariamma („Maria“ in Malayalam, der Sprache Keralas). Sie war dreizehn Jahre alt, mein Großvater war achtzehn.Sobald sie verheiratet waren, traf mein Großvater eine weitere Entscheidung, die sein Leben grundlegend veränderte: Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle in seiner Familie Farmer gewesen, er hingegen fühlte sich mehr zum Geschäftsleben hingezogen. Also eröffnete er, gemeinsam mit einem anderen Gläubigen seiner Gemeinde, ein Geschäft. Er war Lebensmittel- und Kleidungsladen, Bäckerei, Apotheke und Café in einem. Im Umkreis von 20 Kilometern gab es nichts Vergleichbares.

Vor 90 Jahren gab es in dörflichen Gegenden im Landesinneren nur zwei Arten der Fortbewegung: zu Fuß oder mit dem Ochsenkarren. Das machte die lange, allwöchentliche Reise zur nächstgelegenen Stadt sehr beschwerlich. Die beiden jungen Geschäftsmänner hatten von allem etwas auf Lager, so dass die Leute jetzt nur noch alle drei Monate in die Stadt mussten. Ihr Geschäftsmodell war ein voller Erfolg, und der erste Beweis dafür, dass mein Großvater besonderes Fingerspitzengefühl als Geschäftsmann besaß. Dann geschah etwas Furchtbares: Als mein Großvater 20 Jahre alt war, machte sich die Frau seines Geschäftspartners mit einem anderen Mann aus dem Staub. Das brachte sowohl über den Partner meines Großvaters als auch über ihr Geschäft große Schande. Die meisten Leute in der Gegend waren Christen, die entweder der Syrischen Kirche oder der Brüdergemeinde

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angehörten, und keiner wollte mit so einer schrecklichen Sünde in Verbindung gebracht werden. Deshalb bot mein Großvater seinem Geschäftspartner an, ihn auszuzahlen. Er entschloss sich, die Gegend zu verlassen und woanders neu anzufangen. So verkaufte er auch sein Haus und Grundstück an meinen Großvater. Nun kam mein Großvater erst so richtig in Fahrt: Er nutzte jede Indische Rupie, die er mit dem Geschäft machte, und vervielfachte sie. Zuerst kaufte er eine Kokosnussplantage. Dann baute er eine Mühle, um Kokosnussöl zu produzieren. Bald darauf verarbeitete er auch die Kokosnüsse von anderen Plantagen und verkaufte die Produkte in seinem Laden oder auch außerhalb.Als Nächstes stieg er vom Einzelhandel auf den Großhandel um. Gemeinsam mit einer Handvoll Arbeitern spannte er ein Dutzend Ochsenkarren an und begab sich auf eine viertägige Reise gen Süden, nach Cochin. Diese Reise war nichts für Ängstliche, denn in den Wäldern wimmelte es nur so von Tigern und Elefanten, und auch Räuber lauerten unvorsichtigen Reisenden auf. Mein Großvater war ein angriffslustiger Kämpfer und rüstete seine Leute immer mit Schwertern, Speeren und Messern aus, doch manchmal waren die Angreifer in der Überzahl.Schließlich kaufte er Farmen auf und erwarb alle möglichen Plantagen: Pfeffer und Ingwer, Tee und Kakao, Bananen und Kautschuk. Er kaufte so gut wie jedes Grundstück, das auf den Markt kam, oft auch unbepflanztes Buschland, das er kultivieren konnte. Obwohl er nur drei Jahre zur Schule gegangen war, besaß er einen außergewöhnlichen unternehmerischen Scharfsinn.Das Ganze erreichte seinen Höhepunkt, nachdem mein Vater geboren war. Er war das jüngste von sieben Kindern und seine Geburt läutete das ein, was meine Familie später als „goldenes Zeitalter“ bezeichnete. Über die nächsten 15 Jahre hinweg häuften sie so viel Reichtum an, dass sie am Ende nicht mehr wussten, was sie damit machen sollten. Die Fähigkeit meines Großvaters, Markttendenzen vorherzusehen, war legendär. Als der Pfefferpreis einmal sehr tief sank und viele Bauern aufhörten, Pfeffer anzubauen, pachtete er ein großes Stück Land und baute darauf ausschließlich Pfeffer an. Innerhalb eines Jahres schoss der Preis, durch eine Pfefferknappheit bedingt, um 500 Prozent in die Höhe. Ein

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anderes Mal ließ er seine Arbeiter eine komplette Kakaoplantage abholzen und mit Kautschukbäumen bepflanzen. Alle dachten, er wäre verrückt, aber ein paar Jahre später gab es eine regelrechte Kakaoschwemme und die Preise stürzten ins Bodenlose.Zu seinen besten Zeiten beschäftigte mein Großvater etwa 200 Leute. Er war ein großartiger Teamplayer, der seine Arbeiter sehr respektvoll und freundlich behandelte. Einige von ihnen lebten sogar auf seinem Land; sie waren eher Verwalter als Arbeiter. Etwa sechs Familien zählten dazu – Ehemänner, Ehefrauen, Kinder, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter – und jeder hatte seine Aufgabe. Wenn einer von ihnen krank wurde, kümmerte sich mein Großvater um ihn.Auch in anderer Hinsicht war er ein sehr großzügiger Mensch. Einer der Nachbarn hatte für sein Haus und sein Land eine Hypothek aufgenommen, um an Geld zu kommen und war dann ganz unerwartet verstorben. Nun waren seine Frau und seine vier Kinder den Hypothekengläubigern ausgeliefert. Als diese beschlossen, die Familie einfach hinauszuwerfen, war mein Großvater so empört, dass er sofort in sein Schlafzimmer ging, seinen Safe öffnete und so viel Geld herausnahm, dass er das Darlehen zurückzahlen und auch die Schulden für das Land tilgen konnte. Haus und Land übergab er dann sofort zurück an die Frau des Verstorbenen.Eine andere Facette der Großzügigkeit meines Großvaters zeigte sich in seinem Umgang mit anderen Menschen. Er diskriminierte niemanden auf Grund seiner Kaste, was in Indien sehr selten war, besonders bei Menschen, die so viel Einfluss hatten wie er. Er schätzte Leute, die bereit waren, hart zu arbeiten, egal, was für einen Hintergrund sie hatten. Eine Dalit-Familie (Dalits sind die Unberührbaren), die für ihn arbeitete, hatte sechs Kinder, die den ganzen Tag nur irgendwo umherliefen. Ihnen ermöglichte er es, zur Schule zu gehen und später die Universität zu besuchen. Dadurch wurden alle Familienmitglieder Christen und alle Kinder bekleideten später einflussreiche Positionen.

Auch christlichen Organisationen und Einrichtungen gegenüber war er sehr großzügig. Er finanzierte Missionare und den Bau christlicher Schulen und zahlreicher Kirchengebäude. Einmal hörte er von einem jungen Mann, der die Bibelschule beendet hatte und nun nach einer Möglichkeit suchte,

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Gott zu dienen. Er kaufte ihm Land (oder stellte ihm ein Stück von seinem eigenen zur Verfügung), baute darauf eine Kirche und ein Pfarrhaus und gab dem jungen Mann die Schlüssel. Viele dieser Gemeinden wachsen und gedeihen auch heute noch.So ein Mann war also mein Großvater. Wenn er von einer wirklichen Not hörte und die Möglichkeit sah, diese zu lindern, dann tat er das.Von allen Menschen, die von der Freigebigkeit meines Großvaters profitierten, war es jedoch vor allem seine eigene Familie, die durch ihn gesegnet war. Aus vielerlei Gründen, die ich später noch anführen werde, war mein Vater nicht in der Lage, mich in der Weise großzuziehen, wie es ein Vater normalerweise tut. Deshalb übernahm mein Großvater diese Aufgabe. Er hat mich tiefgreifend beeinflusst, und ich sehe es als eins der größten Privilegien meines Lebens an, von ihm großgezogen worden zu sein. Obwohl er nur wenig größer als 1,50 Meter und dünn wie ein Bambusstab war, hatte er schier unerschöpfliche Energie. Er ging sehr schnell und gab immer 100 Prozent. Er hasste es, Zeit zu verschwenden. Er war immer hoch konzentriert und zielstrebig. Wenn ich morgens gegen sieben Uhr aufwachte, war er schon seit zwei Stunden auf den Beinen. Zuerst ging er nach draußen, um den Tag gemeinsam mit seinen Arbeitern zu planen. Wenn er zurückkam, frühstückte er und saß eine halbe Stunde lang in einem großen, bequemen Stuhl, um Zeitung zu lesen. Dabei durfte ihn niemand stören. Danach war er wieder auf Achse und oft habe ich ihn dabei begleitet. Während er seiner Arbeit nachging, gab er viel von seiner Lebenserfahrung an mich weiter. Damals schenkte ich dem Ganzen keine besondere Aufmerksamkeit, doch heute erinnere ich mich gerne an diese Gespräche und lebe nach den Prinzipien, die er damals an mich weitergab.Zum Umgang mit Geld hat er mir Folgendes beigebracht: Immer, wenn ich ihn um Geld bat, gab er mir mehr, als ich erbeten hatte. Beim nächsten Mal, als ich ihn nach Geld fragte, sagte er dann: „Letztes Mal wolltest du fünf und ich habe dir zehn gegeben. Was hast du mit den anderen Fünfen gemacht?“ Wenn ich sie ausgegeben hatte, anstatt sie zu sparen, hielt er mir einen Vortrag. Er brachte mir den Umgang mit Geld bei, indem ich das Geld, das er mir zusätzlich gegeben hatte, vermehren sollte. Denn so stand ich immer wieder vor der Entscheidung, den Rest sinnvoll anzulegen. Noch heute kann

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ich mit 1000 Dollar in der Brieftasche herumlaufen, ohne das Gefühl zu haben, sie ausgeben zu müssen.Ein anderer Grundsatz, den er mich lehrte, war Selbstachtung. „Arbeite hart, tu was zu tun ist und es wird dir gut gehen“, erklärte er mir. Er bläute mir auch ein, stolz darauf zu sein, wer man ist und wie Gott einen gemacht hat. Zudem zeigte er mir, wie wichtig es ist, Selbstvertrauen zu haben, zu seiner Meinung zu stehen und auch mal Risiken einzugehen. Heute nennen wir das „Bauchgefühl“. Mit Hilfe eines Stocks und eines Guavenbaumes gab er ein weiteres Prinzip an mich weiter. Wir arbeiteten gerade auf der Farm und ich erzählte ihm von meinen Zukunftsträumen. „Viele Leute haben große Träume, verwirklichen sie aber nie“, sagte er. „Weißt du auch, warum?“Ich hatte keine Ahnung.„Es ist nicht der Traum an sich, der etwas bewegt oder verändert; es sind der unbedingte Wille und die Bereitschaft, den Preis dafür zu bezahlen, ihn wahr werden zu lassen.“ Er bückte sich und hob einen Stock auf. „Klemm dir den unter den Arm!“, sagte er. „Jetzt möchte ich, dass du auf den Guavenbaum dort steigst und mir die leckere Frucht von ganz oben pflückst. Aber natürlich ohne den Stock dabei fallen zu lassen!“Das ist einfach, dachte ich. Aber sobald ich loskletterte, fiel der Stock zu Boden. „Das schaffe ich nicht!“, sagte ich.„Genau“, nickte er. „Wenn du deine Träume verwirklichen willst, musst du bereit sein, andere Dinge loszulassen, an denen du festhalten möchtest!“ Viel später in meinem Leben begriff ich durch eigene Erfahrung, wie recht mein Großvater gehabt hatte. Die Fähigkeit, Träume zu verwirklichen, steht in direktem Zusammenhang mit der Fähigkeit, Opfer dafür zu bringen. Ein weiterer Grundsatz, den ich von ihm lernte, war der, dass Menschen stets an erster Stelle stehen. Mein Großvater hat materiellem Besitz nie mehr Wert beigemessen als Menschen, unabhängig davon, ob es sich dabei um seine eigene Familie, Arbeiter oder sogar Fremde handelte. Bei seinen Entscheidungen hatten immer die Menschen Priorität, selbst dann, wenn das Nachteile für ihn bedeutete. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er seine Arbeiter manchmal für eine Woche auf die Felder eines anderen Bauern

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schickte, wenn dieser Schwierigkeiten hatte, und sie trotzdem weiterhin bezahlte. Er erwartete dafür keinerlei Gegenleistung.Von ihm lernte ich auch, großzügig mit meiner Zeit umzugehen. Aus der ganzen Umgebung kamen Menschen herbei, um meinen Großvater um Rat zu fragen. Egal, wer sie waren und wie unangenehm ihre Situation auch war, er stellte seine Zeit und seinen Rat kostenlos zur Verfügung. Umgekehrt war es genauso: Er wusste selbst, wie gut es tat, sich bei jemandem Rat zu holen. Er glaubte, „wo viele Ratgeber sind, da ist der Sieg“ (Sprüche 24,6 - L1912). Oft ging er zu anderen Leuten und fragte: „Wenn du in meiner Situation wärst, was würdest du dann tun?“ Seine Entscheidung stimmte dann zwar letztlich nicht immer damit überein, was andere ihm geraten hatten, aber er respektierte ihre Vorschläge. Daraus lernte ich, dass man, wenn man sich die Zeit nimmt, anderen zuzuhören, weisere Entscheidungen treffen kann.Dazu fällt mir noch etwas ein: Mein Großvater suchte sich immer auf drei verschiedenen Ebenen Rat: von jemand Älterem, von einem Gleichaltrigen und von jemand Jüngerem (oft von einem seiner Söhne). Das stand im totalen Gegensatz zur indischen Kultur, wo ein Vater niemals seine Kinder um Rat fragen würde. Hin und wieder bat er sogar seine Arbeiter um Rat! Management-Experten bezeichnen das heute als „360 Grad-Feedback“ und lehren es in ihren Wirtschaftsseminaren. Mein Großvater lebte es.In all diese Bereiche spielte auch sein Glaube hinein. Er hatte sich bereits als Teenager für Jesus entschieden. Wie tief seine Hingabe an Gott und sein Glaube wirklich waren, verkörpert für mich ein Vorfall, der sich eine Nacht nach der Maniok-Ernte ereignete.Maniok ist ein Wurzelgemüse, das zweimal im Jahr geerntet wird, und nach jeder Ernte veranstalten wir ein großes Freudenfeuer. Die Kinder spielen, während die Erwachsenen ums Feuer herum sitzen und sich Geschichten erzählen. In dieser besonderen Nacht hörte ich, wie mein Großvater meiner Großmutter von der biblischen Geschichte erzählte, die er an diesem Morgen gelesen hatte. Es war die Geschichte von dem Knecht, dem eine riesige Schuld vergeben wird und der kurz darauf einen anderen Knecht zusammenschlägt, weil der ihm eine kleine Schuld nicht zurückzahlen kann.„Ich habe das Gefühl, dass der Herr mich nach meinem Lebensstil beurteilt“, sagte mein Großvater. „Ich habe bei null angefangen und Gott

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hat mich reich gesegnet und beschenkt. Nun habe ich den Eindruck, dass ich jedem vergeben soll, der mir Geld schuldet.“Ich hielt den Atem an. Mein Großvater war sehr wohlhabend und borgte anderen Leuten ständig Geld. In seinem Schlafzimmer bewahrte er fünf oder sechs Bücher auf, voll mit Namen und Adressen von Leuten, denen er Geld geliehen hatte. Es waren hunderte von Namen. Das bedeutete Unmengen, gar Jahrzehnte an Schuldengeld und Darlehenswert.In dieser Nacht sah ich zu, wie er die Bücher aus dem Haus holte und ins Feuer warf. „Das war’s, es ist alles getilgt und vergeben“, rief er.Aus irgendeinem Grund löste diese vorbildliche Tat meines Großvaters in mir den starken Wunsch aus, Menschen ebenfalls zu vergeben. Und wenn ich heute an die Kraft der Vergebung Gottes denke, beginnen die Flammen dieses strahlenden Feuers immer noch lebhaft in meiner Erinnerung zu tanzen.

Auch meine Großmutter hat mich stark beeinflusst, jedoch auf eine völlig andere Weise. Während mein Großvater eher lebhaft und handlungsorientiert war, war sie nachdenklich und gebetsorientiert. Ich habe sie nie wütend oder aufgebracht erlebt. Sie war stets sanftmütig, geduldig und herzlich.Sie interessierte sich überhaupt nicht fürs Geschäftliche, hatte aber völliges Vertrauen in meinen Großvater, dass er weise Entscheidungen traf. Ihr Zuhause war für sie wie eine Burg. Einer der Gründe, warum mein Großvater so viel Erfolg hatte, war der, dass sie völlig hinter ihm stand. Sie verbrachte viel Zeit im Gebet. Was auch immer sie gerade tat – spazieren gehen, kochen oder putzen – sie murmelte vor sich hin und redete mit Gott. Als kleiner Junge habe ich mich manchmal hinter der Tür oder unter dem Bett versteckt und ihr zugehört, wie sie für mich und meine Brüder betete: „Herr, ich bitte dich, dass Jossy zu einem gottesfürchtigen Mann heranwächst, ein gutes Leben führt und dir dient.“ Manchmal kam ich dann hervor und rief: „Das wird niemals passieren, Großmutter! Ich werde Gott niemals dienen!“ Dann lächelte sie, strich mir über den Kopf und sagte: „Gott liebt dich trotzdem – und er wird dich gebrauchen!“Meine Großmutter war immer dankbar. Sie konnte tatsächlich zwei Stunden lang dasitzen und dem Herrn danken: für den Tag, das Wetter, das Haus, die Familie, das Dach … und die Liste geht immer so weiter. Wenn sie sich beim

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Gemüseschneiden in den Finger schnitt, sagte sie nur: „Preist den Herrn! Danke, Herr!“ Ich sagte zu ihr: „Großmutter, du solltest Gott verfluchen, dass er dich nicht bewahrt hat!“ Dann lächelte sie und sagte: „Mein Junge, ich danke Gott, dass der Finger noch dran ist!“ Damit ging auch eine außergewöhnliche Zufriedenheit einher. Meine Großmutter besaß nur wenige Dinge für sich allein. Dennoch war sie mit ihrem Leben sehr zufrieden, weil sie wusste, dass Gott alles unter Kontrolle hatte. Einer ihrer Lieblingssprüche war: „Alle Dinge dienen uns zum Besten, weil wir Jesus lieben!“ Wenn es ein Problem gab, wenn beispielsweise ein Geschäft missglückte oder jemand krank wurde, sagte sie einfach: „Gott hat die Kontrolle. Die Schritte eines Gerechten ordnet der Herr!“ Von ihr habe ich gelernt, das zu akzeptieren: Alles, was ich tun muss, ist dafür zu sorgen, dass meine Beziehung zu Gott in Ordnung ist, dann wird er mich leiten und meine Schritte lenken.Auch hat sie mir beigebracht, niemals schlecht über jemanden zu reden. Manchmal haben Leute Gerüchte über unsere Familie verbreitet oder haben versucht, das Geschäft meines Großvaters zu schädigen. Doch immer, wenn wir diese Leute kritisierten, wies sie uns zurecht: „Auch diese Leute haben etwas Gutes an sich. Du sollst diejenigen segnen, die dich verfluchen.“Die Bibel auf diese Weise zu zitieren, war völlig normal für sie. Es war gerade so, als ob sie ihre Gedanken komplett auf das Wort Gottes programmiert hätte. In jeder Situation führte sie Bibelverse an, anstatt das zu sagen, was sie selbst dachte. Viele der Bibelverse, die ich heute kenne, habe ich meine Großmutter immer wieder sagen hören und mir eingeprägt.Meine Großmutter war eine unglaublich engagierte, treue und gottesfürchtige Frau. Auf ihre ganz eigene Art und Weise hat sie mich und andere Menschen in ihrem Umfeld positiv beeinflusst.

Mein Großvater starb 1991 im Alter von 93 Jahren, was für einen Inder sehr alt ist. Sein Tod war genauso außergewöhnlich wie sein Leben. Eines Morgens ging er seinen üblichen Pflichten nach – er arbeitete immer noch 8 bis 10 Stunden am Tag – kam dann nach Hause und bat um ein Glas Milch. Das war ungewöhnlich für ihn, denn normalerweise trank er lieber Tee. Dann rief er die Familie zusammen und sagte: „Ich glaube, alles ist unter Kontrolle.

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Ich habe meinen Dienst getan. Jetzt ist es Zeit für mich, zu gehen.“ Damit stieg er in sein Bett, verabschiedete sich, schloss seine Augen und war tot.Die Nachricht seines Todes erreichte mich übers Telefon, als ich gerade an der Viktoria Bibelschule in Melbourne studierte. Ich hatte ihn mehrere Jahre lang nicht gesehen und deshalb war die Nachricht absolut katastrophal für mich. Ich war erst 21 Jahre alt und musste nun alleine damit klarkommen, ohne Freunde oder Verwandte in der Nähe, die verstehen konnten, wie tief meine Beziehung zu ihm gewesen war. Er war mein Mentor, mein Held. Als er noch am Leben war, wusste ich es nie richtig zu schätzen, was er alles für mich getan hatte. Erst nach seinem Tod begriff ich, dass ich es ihm und seinen vielen Investitionen in mein Leben zu verdanken habe, dass ich heute der bin, der ich bin.Damit Sie verstehen können, warum die Eltern meines Vaters, besonders mein Großvater, so eine entscheidende Rolle in meiner Erziehung gespielt haben, muss ich Ihnen von meinen Eltern erzählen. Am besten fange ich bei meiner Mutter an – der „Pfingstlernonne“.

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ERINNERUNGEN UND WAHNSINN

Die Familie meiner Mutter, wie auch die meines Vaters, ist tief in der syrisch-christlichen Kirche verwurzelt. Und so wie mein Großvater väterlicherseits, verließ auch der Vater meiner Mutter, Joseph

Thomas, die Kirche, um sich einer evangelikalen Gruppe anzuschließen. Doch während sich Großvater K.T. bereits als Teenager auf die spirituelle Suche begeben hatte, brach Großvater Joseph erst später aus.Die eigentliche Geschichte und auch wie es dazu kam, dass meine Mutter im zarten Alter von 14 Jahren „Pfingstlernonne“ wurde, hatte bereits 60 Jahre zuvor mit drei Teenagern begonnen.Anfang 1900 saßen drei Jungs unter einem Baum und genossen die feuchte morgendliche Kühle in Kerala. Da sie befreundet waren und zur syrisch-christlichen Gemeinde gehörten, trafen sie sich immer auf dem Weg zur Schule, um in der Bibel zu lesen und zu beten. Als sie bei der Apostelgeschichte angelangt waren, staunten sie über das, was dort über das Wirken des Heiligen Geistes stand. „Unsere Gemeinde ist nicht so, wie es hier beschrieben wird!“, sagten sie zueinander.Also fassten sie sich an den Händen, begannen zu beten und beteten auch dann noch, als die Schule schon längst begonnen hatte. „Herr, wir wollen die Kraft des Heiligen Geistes erfahren, so wie wir es gelesen haben!“, sagten sie. „Heiliger Geist, erfülle uns!“ Plötzlich, so beschrieben sie es später,

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waren sie wie vom Blitz getroffen und fielen alle drei zu Boden. Als sie ihren Mund öffneten, begannen sie in einer unbekannten Sprache zu reden.Voller Überzeugung, dass sie genau das erlebt hatten, wovon in der Apostelgeschichte die Rede war, erzählte einer der Jungen, P.M. Samuel, seiner Familie von den Geschehnissen. Sein Vater, ein überzeugter „St. Thomas Gläubiger“, wandte sich schließlich an einen syrisch-christlichen Priester. „So etwas kommt nicht von Gott!“, sagte der Priester. „Dein Sohn ist entweder von einem Dämon besessen oder er ist geisteskrank.“ Damit hatte sich die schlimmste Befürchtung des Vaters bestätigt. P.M.s Eltern wollten ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen, doch er weigerte sich, dort hinzugehen. Sein Vater setzte ihm ein Ultimatum: „Wenn du nicht zur Vernunft kommst und leugnest, was geschehen ist, bist du vom heutigen Tag an nicht länger mein Sohn!“ „Nein!“, widersprach P.M. „Ich werde Jesus Christus nicht entsagen oder verleugnen, was passiert ist!“„Dann verlass mein Haus, ohne etwas mitzunehmen!“ P.M. tat, was sein Vater gesagt hatte, und ging, nur mit seiner Bibel unter dem Arm und der Kleidung, die er am Körper trug. Unter denen, die ihn fortgehen sahen, war auch seine jüngere Schwester Mariamma – meine Großmutter mütterlicherseits (ja, meine beiden Großmütter hießen Mariamma).Das Leben, das P.M. Samuel von nun an führte, liest sich selbst fast so wie die Apostelgeschichte. Von Gott herausgefordert, die Gute Nachricht zu predigen, kam er schließlich in den ostindischen Staat Andhra Pradesh. Dort fuhr er auf einem der heiligen Flüsse des Hinduismus von Dorf zu Dorf und gründete Gemeinden in einer Atmosphäre, die von Heilungen und Wundern geprägt war. Schon in den 1930er Jahren war er zu einem weltweit anerkannten Leiter einer Pfingstgemeinde geworden und war einer der Mitbegründer der größten Pfingstbewegung Indiens, der Indischen Pfingstgemeinde. Als diese 1935 offiziell eingetragen wurde, wurde Pastor P.M. Samuel ihr Erster Vorsitzender.Während all dieser Jahre sprach niemand aus P.M. Samuels Familie mit ihm, bis auf Mariamma. Die beiden hielten geheimen Briefkontakt, selbst nach ihrer Hochzeit noch und als sie selbst Kinder bekam. Seine Briefe waren voller biblischer Lehren, und 1952 war Mariamma schließlich davon überzeugt, dass auch sie eine Pfingstlerin werden sollte.

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Das war jedoch leichter gesagt als getan. Ihr Ehemann, Joseph Thomas (mein Großvater mütterlicherseits), war Laienpriester und Kassenmeister der Kirche und sehr stolz auf seinen syrisch-christlichen Glauben. Also nahm meine Großmutter zur einzigen Pfingstgemeinde, die sie kannte, Kontakt auf, zur Ceylon-Pfingstmission (heute als Pfingstmission bekannt), um sich heimlich taufen zu lassen.Was sie allerdings nicht wusste, war, dass diese Gruppe einige radikale Glaubensgrundsätze vertrat. So war beispielsweise das Tragen von Schmuck verboten. Die Pfingstler erklärten, dass sie Mariamma taufen würden, im Gegenzug musste sie aber versprechen, nie wieder Schmuck zu tragen – auch nicht ihr Minnu, ihre Hochzeitskette, die in Kerala noch größere Bedeutung hat als der Ehering in westlichen Ländern. Mariamma war klar, dass das Ablegen des Minnu dieselbe Bedeutung hätte, als würde sie gegenüber ihrem Ehemann die Ehe für beendet erklären. Deshalb flehte sie die Gemeindeleiter an, diese Bedingung fallen zu lassen. Sie blieben jedoch hart. Meine Großmutter wünschte sich die Taufe jedoch so sehr, dass sie schließlich nachgab.Als sie nach ihrer Taufe nach Hause kam und ihr Minnu nicht mehr trug, ging mein Großvater an die Decke. „Du hast unsere Ehe zerstört! Du hast dich von mir scheiden lassen!“, brüllte er, packte seine Tasche und verließ das Haus. Sie rannte hinter ihm her, fiel vor ihm auf die Knie, umklammerte seine Füße und flehte ihn um Vergebung an. Er vergab ihr – unter der Bedingung, dass sie ihr Minnu wieder anlegt.

Das wiederum brachte die Ceylon-Pfingstmission auf. Sie warfen ihr vor, sie hätte sie betrogen und verweigerten jegliche Gemeinschaft und Kommunikation mit ihr. Schließlich bekam die syrisch-christliche Kirche Wind davon und wies sie ebenfalls ab. Damit war meine Großmutter von allen verstoßen.Ungefähr vier Jahre lang nahm keine Kirche sie auf. Doch Mariamma hielt an ihrem Glauben fest, betete zu Hause, las in der Bibel und unterwies ihre Kinder treu in der Heiligen Schrift, nach bestem Wissen und Gewissen. So stieß ihr neuer Glaube auch bei ihren Kindern auf Interesse. Zwei ihrer Söhne schlichen sich davon, um heimlich die Ceylon-Pfingstmission zu besuchen. Daneben studierten sie P.M. Samuels Briefe wie Bibelarbeiten.

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Schließlich benutzten sie die Notizen sogar, um gemeinsam mit anderen Leuten Bibelstunden abzuhalten.Als die Syrische Kirche Wind davon bekam, wurde sie noch feindseliger und begann, die ganze Familie zu verfolgen. Das verletzte meinen Großvater so sehr, dass er beschloss, sich mit dem neuen Glauben meiner Großmutter zu befassen. Er las alle Briefe von P.M. Samuel, die Mariamma über die Jahre hinweg gesammelt hatte und kam zu der Überzeugung, dass diese Lehre stimmen musste. Um 1957 herum ließ er sich ebenfalls von der Ceylon-Pfingstmission taufen. Infolgedessen exkommunizierte die syrisch-christliche Kirche die gesamte Familie.In seinem neuen Glauben war mein Großvater sehr eifrig und gewissenhaft. Eine der radikalen Lehren der Ceylon-Pfingstmission war, dass man unverheiratet bleiben sollte, wenn man Gott wirklich dienen wollte. Also gab es auch Priester und Nonnen. Das jüngste Kind meiner Großeltern war ein Mädchen, Chinnamma. Die Kirche schlug meinem Großvater vor, sie in den Dienst des Herrn zu stellen. So wurde Chinnamma – meine Mutter – mit 14 Jahren in einem besonderen Gottesdienst, ganz in weiß gekleidet, Gott geweiht und in ein Kloster geschickt, wo sie zu einer „Pfingstlernonne“ ausgebildet werden sollte.Als entferntere Verwandte von ihr, alles syrische Christen, davon hörten, wurden sie sehr wütend und schikanierten meinen Großvater. Drei Monate lang blieb er stur. Dann schlossen sich sogar seine Söhne der Gegenseite an, denn sie sahen für ihre Schwester eine sehr düstere Zukunft voraus. Als schließlich alle seine Söhne drohten, die Familie zu verlassen, hatte mein Großvater keine andere Wahl, als sie nach Hause zu holen.Die Familie blieb weiterhin in der Ceylon-Pfingstmission, bis meine Großmutter 1964 an Gelbsucht erkrankte. Da die Pfingstmission an Heilung durch Gebet glaubte, untersagte sie den Einsatz von Medizin und drohte mit Exkommunikation. Als mein Großvater sie schließlich zum Arzt bringen wollte, brach ein schrecklicher Streit über dem Krankenbett meiner Großmutter aus. Dabei versuchten einige Kirchenmitglieder, sie dort festzuhalten und weigerten sich, sie loszulassen. Am Ende gab mein Großvater nach und meine Großmutter starb im Alter von gerade einmal 60 Jahren. Angewidert und enttäuscht verließ die Familie die Pfingstmission – und war wieder einmal völlig auf sich gestellt.

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Da sie nun zu keiner Kirche mehr gehörten, schrieben sie P.M. Samuel. Auf seinen Rat hin gründeten sie ihre eigene Gemeinde, die Indische Pfingstgemeinde Gottes. Mein Großvater, der als Laienprediger schon Erfahrung gesammelt hatte, wurde ihr Leiter. Als Anleitung zum Predigen dienten ihm die Briefe seines Schwagers. So standen also die Dinge an jenem Morgen, als mein Großvater seine Schwester besuchen wollte und unterwegs einen alten Freund aus seiner Schulzeit traf: K.T. Chacko. Joseph und K.T., meine beiden Großväter, hatten sich mehr als 40 Jahre nicht gesehen. Sie hatten sich viel zu erzählen und brannten darauf, ihre Freundschaft neu aufleben zu lassen.„Und, was passiert bei dir so?“, fragte Großvater Joseph. „Nun“, antwortete Großvater K.T., „ich bin auf der Suche nach einer guten Ehefrau für meinen jüngsten Sohn K.C. Er ist 21 Jahre alt.“ Joseph spitzte die Ohren. „Interessant! Meine jüngste Tochter Chinnamma ist 19 und wäre sicher eine gute Ehefrau für deinen Sohn. „Aber“, fügte er wehmütig hinzu, „sie ist schon verlobt. Mit einem Lehrer.“ Der junge Mann, um den es ging, war nicht irgendein Lehrer. Er und meine Mutter waren zusammen aufgewachsen, ihre Hochzeit war sorgfältig geplant und berücksichtigte auch ihre ähnlichen geistlichen Wurzeln. Außerdem mochten sie sich sehr gern.Nach kurzer Überlegung entschied Großvater Joseph, dass eine Hochzeit mit K.T.s Sohn sehr erstrebenswert wäre. Vielleicht dachte er, K.T. könnte Chinnamma mit seinem geschäftlichen Erfolg eine sichere Zukunft bieten. Vielleicht wollte er aber auch einfach nur die enge Beziehung zu seinem alten Freund erneuern. Obwohl Joseph mit seiner Entscheidung, die Verlobung zu lösen, in Indien die Ehre und den guten Ruf der Familie aufs Spiel setzte, stand er dazu. Und so wurde mitten auf der Straße die Abmachung getroffen. Meine Mutter war am Boden zerstört. Sie versuchte alles Mögliche, um ihren Vater umzustimmen und wurde dabei sogar von ihrer Mutter, ihren Brüdern und ihrer älteren Schwester unterstützt. Doch alle Versuche waren vergeblich. Meine Eltern trafen sich vor der Hochzeit nur ein einziges Mal. Mein Vater und einer seiner Brüder besuchten meine Mutter zu Hause, wo sie ihnen Tee und Kekse servierte. Sie sprachen kein Wort miteinander. Meine Mutter brachte ihm den Tee auf einem Tablett und sah ihn dabei sehr genau an; er

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nahm die Tasse und musterte sie ebenfalls sehr genau. Das war alles. Das Hochzeitsdatum wurde auf den 30. September 1966 festgesetzt. Es gab da nur noch ein Problem: Seit der High School, wo mein Vater im Studium wie auch im Sport ausgezeichnete Leistungen gezeigt hatte, war er sehr launisch geworden und verbrachte viel Zeit allein in seinem Schlafzimmer. Deshalb hatte die Familie einen Arzt zurate gezogen, der ihnen empfahl, meinen Vater zu verheiraten. Dann würde sich das Problem von selbst lösen. Großvater K.T. war sich da nicht so sicher und sprach mit Großvater Joseph darüber. Der war ganz zuversichtlich, dass alles gut werden würde. Schließlich würde Gott es nie zulassen, dass seine Tochter verletzt würde! So fand die Hochzeit nach typisch indischem Brauch im Haus der Familie meines Vaters statt. Die Feierlichkeiten dauerten eine ganze Woche. Alles verlief gut und jeder dachte, dass mein Vater, jetzt wo er verheiratet war, schnell wieder der Alte werden würde: lebhaft und voller Tatendrang. Als dies nicht sofort eintrat, trösteten sie sich mit dem Gedanken, dass es nur eine Frage der Zeit wäre. Und die Leute beteten weiter für seine Heilung.Schon bald nach der Hochzeit wurde meine Mutter schwanger. Damals war es üblich, dass die Frau drei Monate vor der Geburt zurück ins Haus ihrer Eltern zog und erst drei Monate danach zurückkehrte, damit sich ihre Mutter um sie kümmern konnte. Während dieser Zeit kam der Ehemann nur auf Kurzbesuche vorbei.Als es bei meiner Mutter so weit war, zog sie zurück ins Haus ihrer Eltern. Eine Woche später wurde mein Vater jedoch sehr verzweifelt. Er war überzeugt davon, dass seiner Frau und dem Kind etwas Schlimmes passieren würde. Deshalb begann er, seinen Schwiegervater und seine Schwager zu beschuldigen, dass sie ihm Chinnamma wegnehmen wollen und forderte sie zurück. Dabei wurde er richtig ausfällig. Ein paar Wochen später beschloss die Familie meines Vaters, meine Mutter zurück ins Haus ihrer Familie zu bringen. Die Familie meiner Mutter fasste dies als Beleidigung auf und so kam es zu Spannungen zwischen den beiden Familien.Zwei Wochen später gebar meine Mutter einen Sohn: James. Doch nun wollte mein Vater ihn nicht sehen. Er lebte immer noch sehr zurückgezogen und verbrachte viel Zeit in seinem Schlafzimmer oder auf langen einsamen

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Spaziergängen. Er weigerte sich, etwas zu essen und nahm fast nur noch Flüssignahrung zu sich.Da bereute mein Großvater Joseph, dass er für seine Tochter eine so leidvolle Ehe arrangiert hatte. Auch die Brüder meiner Mutter waren sehr besorgt, denn ihre kleine Schwester war ihnen besonders ans Herz gewachsen, seit ihre Mutter gestorben war. Chinnamma war erst 20 Jahre alt und der Gedanke daran, dass sie ihr ganzes Leben mit einem Wahnsinnigen verheiratet sein würde, war unerträglich. Obwohl Scheidung unter südindischen Christen ein Ding der Unmöglichkeit war und die Familie noch über Generationen hinweg gebrandmarkt sein würde, trafen sie diese qualvolle Entscheidung. Denn es gab keinen anderen Weg, um Chinnamma zu retten.Anfangs war die Familie meines Vaters natürlich empört über diesen Vorschlag, doch letztlich sahen sie ein, dass die Situation meiner Mutter gegenüber nicht fair war. Also verhandelten die beiden Familien miteinander und beschlossen: die Ehe wird annulliert. Nun machte sich einer von ihnen auf den Weg, um es meiner Mutter mitzuteilen.Meine Mutter war in die Diskussionen bisher in keiner Weise involviert gewesen, genauso wenig, wie sie zuvor an der Vereinbarung der Hochzeit beteiligt gewesen war. Dementsprechend geschockt war sie, als plötzlich einer ihrer Brüder an der Tür stand und ihr sagte, sie solle ihre Sachen packen. Sie weigerte sich und sagte, dass sie bei ihrem Ehemann bleiben wolle. Ihr Bruder stürmte wutentbrannt davon.Eine Woche später kamen ihr Vater und alle acht Brüder noch einmal zu ihr und wollten sie nach Hause holen. Doch meine Mutter wies sie zurück: „Ich weiß eure Sorge um mein Wohlergehen sehr zu schätzen!“, erklärte sie. „Doch ich habe ein Versprechen abgelegt, dass ich in Gesundheit und Krankheit, bis dass der Tod uns scheidet, diesem Mann treu bleiben werde. Und ich habe dieses Versprechen nicht ihm oder euch gegeben, sondern Gott. Und ihm gegenüber werde ich es nicht brechen. Bitte lasst mich hier!“Ihre Familie schäumte vor Wut. „Also gut, wir lassen dich hier!“, brüllten sie, während sie nach draußen stürmten. „Aber wage es nicht, uns irgendwann um Hilfe zu bitten! Wenn du hier stirbst, dann ist das deine Entscheidung!“Von diesem Moment an ignorierten sie meine Mutter völlig. Viele Monate vergingen, bis es ihr schließlich gelang, die Funkstille zu durchbrechen und wieder Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen. Doch die Beziehung blieb

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angespannt und viele Jahre lang litt Chinnamma unter den Konsequenzen ihrer Entscheidung, meinen Vater nicht verlassen zu haben.Während dieser Zeit bekam sie von ihrer Familie keine Unterstützung, obwohl es ihr sehr schlecht ging.

Ungefähr zwei Monate nach der Geburt von James geschah etwas Unerwartetes: Eines Morgens wachte mein Vater auf, freudestrahlend und munter, als wäre es nie anders gewesen.Großvater K.T. beobachtete ihn sehr genau und kam zu dem Ergebnis, dass er gesund sei. Um seinem Sohn nun den Einstieg ins Geschäftsleben zu ermöglichen, damit er seine Familie versorgen konnte, baute mein Großvater eines der Farmgebäude zu einer Bäckerei um und übergab meinem Vater die Schlüssel. Von nun an arbeiteten meine Mutter und mein Vater gemeinsam in der Bäckerei. Ihr Geschäft lief gut und war sowohl Einzel- als auch Großhandel. Das machte meinen Großvater zufrieden und stolz.Nach einem Jahr wurde mein Vater jedoch wieder launisch, trank Alkohol und rauchte. Zudem nahm er Geld aus der Kasse, ohne es zurückzuzahlen und verreiste, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Monate vergingen, die Misswirtschaft wurde immer schlimmer und Schulden häuften sich an. Meine 22 Jahre alte Mutter führte die Bäckerei so gut sie konnte alleine weiter, doch dann wurde sie erneut schwanger. Im Frühjahr 1969 schritt mein Großvater schließlich ein, schloss die Bäckerei und übernahm alle Schulden.Wieder einmal drehte mein Vater durch. Das Geschäft zu verlieren war für ihn so, als nähme man ihm sein Kind weg. Er wütete und tobte. Erneut wurden Ärzte herbeigerufen und diesmal lautete ihr Urteil anders: „Er ist geisteskrank! Ihr müsst ihn in eine psychiatrische Klinik bringen!“ Ungefähr eine Woche nach der Auflösung des Geschäftes wurde mein Vater in eine Klinik eingeliefert, die rund fünf Stunden von zu Hause entfernt war.Zu diesem Zeitpunkt stand meine Mutter kurz vor der Entbindung ihres zweiten Kindes. Da es während ihrer ersten Schwangerschaft solche Schwierigkeiten mit meinem Vater gegeben hatte, zog sie diesmal, als der Geburtstermin näher rückte, nicht zu ihrer Familie, sondern blieb daheim. Als ihre Wehen einsetzten, war sie mit dem zweijährigen James allein zu Hause und gebar das Kind ganz alleine auf ihrem Bett. Gleichzeitig versuchte sie,

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den kleinen James zu beruhigen, der wie am Spieß schrie. Und so erblickte ich im Juli 1969 das Licht der Welt. Zwei Stunden später kam meine Großmutter nach Hause, wo sie meine Mutter, James und mich weinend in einem Bett liegend fand. Die Nabelschnur war noch nicht durchtrennt, da sich meine Mutter mit solchen Dingen nicht auskannte. Meine Großmutter, die damit auch nicht klarkam, rannte in ihrer Hilflosigkeit einen Kilometer zum Haus ihres ältesten Sohnes, um ihre Schwiegertochter Saramma zu Hilfe zu holen. Nachdem sie alles gereinigt hatte, machte Saramma sich auf die Suche nach einer richtigen Hebamme. Bis heute sagt meine Mutter, dass es ein Wunder ist, dass ich überhaupt lebe.Eine Woche nach meiner Geburt brachten sie meinen Vater aus der Klinik heim, um ihm seinen zweiten Sohn zu zeigen. Da er immer noch depressiv war, führte mein Großvater mit einigen Pastoren eine Gebets- und Fastenwoche für seine Heilung durch. Sogar meine Mutter nahm daran teil, obwohl sie sich immer noch von der Geburt erholen musste. Zu ihrer großen Freude ging es meinem Vater zusehends besser. Daraus zogen sie den Schluss, dass das Problem geistlicher Natur gewesen sein musste. Nach und nach übernahm mein Vater wieder Verantwortung für Haus und Familie. Schon bald machte ihn mein Großvater zum Aufseher einer seiner Teeplantagen. Mein Vater leistete gute Arbeit – wenn er gesund war, hatte er Kraft wie vier Männer. Durch die Fortschritte ermutigt, ging mein Großvater noch einmal das Risiko ein, ihn ins Geschäft einzubinden. Weil in der Umgebung gerade einiges im Aufbruch war, beschloss er, auf der Landstraße in der Nähe der Farm einen Drei-Raum-Laden zu eröffnen.Als das Gebäude fast fertig war, mussten jedoch einer seiner Neffen samt Frau und sechs Kindern plötzlich ihr Haus räumen. Mein Großvater dachte sich, dass mein Vater auf der Farm genug zu tun hatte und übergab das Geschäft deshalb an seinen Neffen.Das brachte meinen Vater wieder einmal in Rage. Er schnappte sich alles Bargeld, das er finden konnte – das Geld meines Großvaters – und verschwand. Zehn Tage später spürte ihn jemand 150 Kilometer entfernt auf, wo er bei einem Cousin untergeschlüpft war. Sie überredeten ihn, zurück nach Hause zu kommen, wo er wieder in seine unruhige Launenhaftigkeit zurückfiel.

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Nach dieser Phase veränderte sich mein Vater noch mehr. Nachts fand er keine Ruhe und schlich ums Haus. Er verlor schnell die Beherrschung und begann, Gegenstände umher zu schmeißen und zu zerschlagen. Wenn mein Großvater anderen half, indem er ihnen zum Beispiel Geld gab oder ein Haus baute, stachelte das die Wut meines Vaters erst recht an.Ein Ereignis ist mir besonders lebhaft in Erinnerung, obwohl ich zu dem Zeitpunkt, als es passierte, noch ein kleines Kind war. Aus irgendeinem Grund war mein Vater sehr gewalttätig. Er hatte damals einige Monate auf einer Maniok-Plantage gearbeitet und für hunderte von Dollar Maniok angepflanzt. In einem Wutanfall riss er jedoch alle Pflanzen wieder aus und stapelte sie auf einen großen Haufen. Dann kam er mit Stöcken nach Hause und schlug meine Mutter. Noch immer höre ich ihre Schreie, wie sie damals durchs Haus rannte.Wenn er einen Wutanfall hatte, brüllte ich ihn manchmal an und versuchte ihn aufzuhalten. Einmal, als ich vier Jahre alt war, packte ich ihn, sah ihm in die Augen und sagte: „Hör auf damit, Papa! Mach das nicht!“ Die Wirkung war erstaunlich: Er legte sich aufs Gras, setzte mich auf seine Brust und zog eine Zigarette aus der Tasche. „Du musst lernen, wie man raucht!“, sagte er. So verhielt er sich mir gegenüber immer. Obwohl er meine Mutter verletzte, tat er mir nie etwas zuleide.In dieser Zeit beteten und fasteten Familie und Freunde noch mehr, denn sie hofften auf Heilung. Viele Pastoren kamen, um für ihn zu beten, und sieben Mal berief meine Familie eine 40-tägige Fastenzeit ein und nahm nur noch flüssige Nahrung zu sich. Auch meine Großeltern und meine Mutter schlossen sich an, manchmal sogar mein Vater und hin und wieder auch meine Brüder und ich. Dennoch tat sich nur wenig.Schließlich brachte die Familie meinen Vater in die psychiatrische Klinik zurück. Die Ärzte führten Elektroschocktherapien durch und verabreichten ihm starke Medikamente.Als ich etwa vier Jahre alt war, kam mein jüngerer Bruder Biju auf die Welt und wieder einmal ging es auch meinem Vater besser. In den nächsten sechs Jahren war er ein liebevoller Ehemann, fantastischer Vater, guter Geschäftsmann und ausgezeichneter Farmer. Meine Mutter nennt diese Zeit die „Goldenen Jahre“ ihrer Ehe.An diese Jahre habe ich lauter gute Erinnerungen.

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Wenn es meinem Vater gut ging, war er ein sehr umgänglicher und angenehmer Mensch. Er war wie ein Clown und liebte es, Witze zu reißen. So war er in der Kirche stets auf der Suche nach den ernsthaftesten Leuten und wollte sie zum Lachen bringen. Manchmal predigte er auch, und er hatte ein bemerkenswert scharfes Gedächtnis für die kleinsten Details.Leider dauerte dieser Zustand nicht lange an. An einem Morgen im Jahr 1979, ich war gerade zehn Jahre alt, wachte er auf und wollte mit niemandem sprechen. Er war wieder krank. Von diesem Zeitpunkt an entwickelte sich eine Art Verhaltensmuster: Der Gemütszustand meines Vater wechselte zwischen Zeiten relativer Normalität und Zeiten des Wahnsinns. Alle paar Monate erlebte er wieder einen Zusammenbruch. Dann kehrten Wut und Aggressivität zurück, meist schlimmer als zuvor. In manchen Nächten bewahrte er ein Messer unter seinem Kopfkissen auf. Dann konnte niemand mehr schlafen: Alle lauschten ängstlich auf das kleinste Geräusch. Unzählige Male brachte meine Mutter uns drei Kinder nach draußen, wo wir unter einem Baum übernachteten, während sie die ganze Nacht auf uns aufpasste. Und es musste jedes Mal ein anderer Baum sein für den Fall, dass mein Vater herausfand, was wir taten. Zwischen vier und fünf Uhr weckte uns meine Mutter und wir schlichen zurück in unsere Betten.Gewaltausbrüche konnten jederzeit auftreten: tagsüber oder nachts. Die einzige Möglichkeit, meinen Vater unter Kontrolle zu halten, war ihn festzubinden. Dafür brauchte man jedoch mehr als 20 Leute, denn mein Vater hatte sehr viel Kraft. Meine Brüder und ich hatten also die Aufgabe, loszulaufen und unsere Onkel und Nachbarn herbeizurufen. Geheimhaltung war dabei oberstes Gebot, denn sonst hätte sich mein Vater sofort in seinem Schlafzimmer verbarrikadiert oder wäre davongerannt. Ihn zu fangen, erforderte eine gute Planung und Strategie. Die Männer versteckten sich im Gebüsch oder hinter dem Haus und warteten auf eine Gelegenheit, um sich auf ihn zu stürzen. Das konnte mehrere Stunden dauern und oft wurde dabei jemand verletzt.Wenn sie ihn eingefangen hatten, fesselten sie für gewöhnlich seinen ganzen Körper mit Seilen und banden ihn aufs Bett. Manchmal bluteten seine Hände und Füße, weil sich die Seile so sehr in die Haut einschnitten. Dann schrie

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und heulte er und flehte uns an, ihn loszubinden. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn füttern musste, weil seine Hände gefesselt waren.Sobald er ruhig gestellt war und seine Medikamente bekommen hatte, benahm er sich wie ein kleines Kind. Es brach mir jedes Mal das Herz, ihn so sehen zu müssen. Einmal erweichte er mich mit seinem Flehen und ich nahm ein Messer, um ihn von den Fesseln zu befreien. Für ein oder zwei Tage ging es ihm gut, doch dann weigerte er sich, seine Medikamente zu nehmen. Und drei Tage später lief er wieder Amok. Nach jedem seiner Tobsuchtsanfälle musste die Familie entscheiden, was zu tun war. Wenn genug Medizin im Haus war, warteten wir gewöhnlich ein paar Tage ab, um zu sehen, ob eine Veränderung eintrat. Wenn es nicht besser wurde, brachten wir ihn in die Klinik zurück.Die Klinik war ein brutaler, von Flöhen übersäter Ort – sie glich mehr einem Kerker als einem Krankenhaus. Mein Großvater wollte nicht, dass sein Sohn dort leben musste und mietete deshalb stets eine Privatunterkunft in der Nähe. Von dort aus konnte mein Vater täglich ins Krankenhaus gehen. Diese Regelung zog jedoch horrende Kosten nach sich, denn die Behandlungen erstreckten sich oft über mehrere Monate. Abgesehen von der medikamentösen Behandlung, mussten auch die Reise, das Essen und die Unterkunft bezahlt werden – und das nicht nur für meinen Vater, sondern auch noch für zwei oder drei andere Leute, die sich um ihn kümmerten. Letztendlich verschlang das Ganze einen Großteil des Vermögens meines Großvaters.In dieser Zeit stellte mein Großvater K.T. seine Geschäfte hintan, um sich stärker auf die Familie konzentrieren zu können. Doch er kümmerte sich nicht nur um meinen Vater, sondern stellte auch die finanzielle Absicherung meiner Mutter sicher und war für uns Jungen wie ein Vater. Auf meinen Vater war ich nie böse, denn ich wusste, dass er krank war. Wenn es ihm gut ging, gab es keinen besseren Vater auf der Welt als ihn. An das, was er tat, konnte er sich nie erinnern. Unzählige Male redete ich mit ihm und versuchte, ihm alles zu erklären, doch er blieb immer uneinsichtig und beteuerte, dass er so etwas niemals tun würde.Warum mein Vater nicht geheilt wurde? Ich weiß es nicht. Trotzdem glaube ich fest daran, dass Gott Gebete erhört und ich weiß, dass er allmächtig ist. Ich glaube, dass Gott für jeden von uns einen Plan und ein Ziel hat und dass

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uns am Ende alle Dinge zum Besten dienen werden (Römer 8,28-29). Ich verstehe zwar nicht ganz wie, aber im Rückblick erkenne ich, dass mein Leben ein Zeugnis für diese Bibelstelle ist.Da ich zu meinem Vater keine enge Beziehung hatte, weiß ich auch nicht, wie eine liebevolle Beziehung zu einem menschlichen Vater aussieht. Gott ist der einzige fürsorgliche, beschützende Vater, den ich kenne. Wenn ich sage: „Mein himmlischer Vater“, hat dies für mein Leben eine große Bedeutung und einen persönlichen Bezug.Nach 1979 wurde mein Vater nie wieder zu dem Mann, der er einmal war. Die Medikamente raubten ihm all seine Energie. Aber er behielt einige seiner praktischen Fähigkeiten und erledigte einfache Arbeiten. Auch größere Dinge unternahm er sehr gern. So baute er beispielsweise eins unserer Lagerhäuser zu einem riesigen Stall für 200 Hasen um. Er züchtete Bienen und hatte viele Haustiere, darunter Vögel, denen er das Sprechen beibrachte und Eichhörnchen, die um das Haus herumflitzten. Einmal brachte ich gemeinsam mit ein paar Freunden drei Papageien mit nach Hause, die wir im Wald gefangen hatten. Mein Vater machte sich sofort an die Arbeit und baute ihnen einen riesigen Käfig. Das sind wirklich schöne Erinnerungen an ihn.Und natürlich war da noch die Zeit, in der er mir beibrachte, wie man Fische mit Elektrokabeln fängt. Dies ruft bei mir wiederum Erinnerungen an andere Erlebnisse aus meiner Kindheit wach – bei einigen davon bin ich froh, sie nicht nur erlebt, sondern auch überlebt zu haben.

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Großvater K.T., schon immer Visionär, wusste, dass wir Jungs eine gute Ausbildung brauchten, um überhaupt eine Zukunft zu haben. Deshalb finanzierte er uns von klein auf den Unterricht an privaten christlichen Schulen.Das Erste, was ich dort lernte, war, mir nicht die Zunge abzubeißen. Die Vorschulklasse fand auf einer Plattform im Freien ohne Geländer statt, etwa zwei Meter über dem Boden. Einmal ahmte ich einen Jungen nach, der Purzelbäume schlug, und fiel dabei über die Kante. Als ich auf dem Boden aufkam, schlugen Ober- und Unterkiefer fest zusammen – und meine Zunge steckte genau zwischen den Zahnreihen. Während der Lehrer mich auf schnellstem Wege zurück zur Farm brachte, strömte das Blut nur so aus meinem Mund. Da keiner zu Hause war, nahm mich Pachu, einer unserer Feldarbeiter, auf die Schultern und rannte mit mir zu dem kleinen örtlichen Krankenhaus. Es war fünf oder sechs Kilometer entfernt, trotzdem rannte er die ganze Strecke. Die Krankenschwestern hielten mich an Händen und Füßen fest und sperrten meinen Mund auf. Dann nähten sie meine Zunge, ohne mich vorher zu betäuben. Noch heute kann ich den Einstich der Nadel spüren.Eigentlich war ich noch gar nicht alt genug, um zur Schule zu gehen. Doch eine christliche Einrichtung vor Ort stand in Gefahr, die finanzielle Unterstützung seitens der Regierung zu verlieren, weil es nicht genug Schüler gab. Deshalb gingen die Lehrer von Haus zu Haus, um Schüler zu rekrutieren. Ich war einen Monat unter der Altersgrenze, doch die Lehrer

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waren so besorgt um ihre Jobs, dass sie einfach mein Geburtsdatum änderten und ich eingeschult werden konnte.Vor 30 Jahren war die schulische Ausbildung in Kerala auf praktische Fächer wie Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften fokussiert. Dinge wie Kunst, Musik oder Tanz standen nicht auf dem Lehrplan und auch Sport spielte keine große Rolle. Wir haben drei Sprachen gelernt: Malayalam, unsere Muttersprache; Hindi, die Nationalsprache des Landes, und Englisch. Malayalam und Englisch waren OK, doch Hindi bekam ich einfach nicht in meinen Kopf.Die Grundschule besuchte ich nur vier Jahre lang, bis ich acht war. Während dieser Zeit hatte ich Kontakt zu einem wilden Jungen, Onni Krishnan. Ständig machte er verrückte Sachen, zum Beispiel zerschlug er Glas und aß es. Wir versuchten alle, ihn nachzuahmen, doch egal, wie sehr ich das Glas auch zerkleinerte, ich bekam es nicht hinunter. Die Schule wurde aus einem tiefen Brunnen mit Wasser versorgt und eines Tages, während der Pause, rannte Onni darauf zu und sprang hinein. Die anderen Kinder schrieen, die Lehrer kamen angerannt und irgendwie schafften sie es, ihn wieder herauszuziehen. Dann wurde er von der Schule verwiesen.Ich ging gerne zur Schule, weil ich dort meine Freunde traf, aber ich war nie ein guter Schüler. Am liebsten war ich draußen. Die schönste Zeit des Tages war für mich der Weg zur Schule mit einer Horde anderer Jungen. Wir stapften durch den Wald, wateten durch den Fluss oder jagten Hunde und Hasen.In der weiterführenden Schule wurde Biologie zu meinem Lieblingsfach, als uns die Lehrerin aus persönlichem Interesse ihren Garten zeigte. Auch mein Mathelehrer war großartig – Schüler, die wie ich Probleme hatten, lud er zu sich nach Hause ein und gab ihnen kostenlosen Nachhilfeunterricht. Meinem Großvater war es besonders wichtig, dass wir Mathematik beherrschten. Er selbst war unglaublich gut im Kopfrechnen. Er rechnete alles im Kopf aus, bis in die Hunderttausende.Ich bestand alle Fächer, bis auf Hindi. Meine Lehrerin war eines Tages so frustriert, dass sie mich auf das Lehrerpult vorn im Klassenzimmer stellte und mich vor der ganzen Klasse als hoffnungslosen Versager lächerlich machte. Sie sagte, dass ich in meinem Leben nie etwas erreichen würde und zwang mich schließlich dazu, den Rest der Stunde unter dem Tisch zu sitzen.

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Wie falsch sie damit lag! In der Bibel steht, dass Gott für jeden von uns einen Plan und ein Ziel hat. Deshalb sollte man seine Zukunft nicht von den Worten der Lehrer oder sonst irgendeines Menschen bestimmen lassen, sondern von Gott.Gott sei Dank spürte ich immer, dass mein Großvater hinter mir stand, egal wie sehr ich in der Schule zu kämpfen hatte. Er arrangierte für uns Extraunterricht zu Hause und jedes Mal, wenn ein Elternteil in die Schule kommen sollte, war er derjenige, der dort erschien. Als mich eines Tages ein anderer Lehrer auf den Tisch stellte und meine Beine mit einem Lineal schlug, bis das Fleisch aufplatzte, ging ich auch sofort zu ihm. Einige von uns Jungen hatten im hinteren Teil des Klassenzimmers mit einem Papierbällchen und einem Stift Tischkricket gespielt und die anderen Jungen hatten mich als Anführer verpetzt. Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob ich es tatsächlich war oder nicht, aber meinem Großvater erzählte ich, dass ich unschuldig sei. Daraufhin versetzte er mich sofort auf eine andere Schule und sorgte dafür, dass der Lehrer entlassen wurde.Als Kind hatte ich viele Freunde, aber auch einige Kämpfe auszufechten. Jeder, der mich in der Schule ärgern wollte, brauchte einfach nur auf den labilen Gesundheitszustand meines Vaters anzuspielen und zu sagen: „Du bist verrückt, genau wie dein Vater!“ Ein Junge in der Grundschule war besonders nervig. Er nannte mich immer nur „vattan“, das auf Malayalam „wahnsinnig“ bedeutet.Ich forderte ihn nach der Schule in einer Kautschukplantage zum Kampf heraus. Er versuchte mit einem Bleistift auf mich einzustechen, doch ich schlug ihm meine mit Steinen gefüllte, metallene Brotdose auf den Kopf. Als ich das viele Blut sah, bekam ich es mit der Angst zu tun und schlug ihm einen Deal vor: Wenn er behauptete, er sei beim Spielen im Fluss auf den Steinen ausgerutscht und hätte sich an den Steinen den Kopf aufgeschlagen, würde ich ihm zwei Hasen schenken. Die klaute ich von unserer Farm. Der Plan ging auf, bis sein Vater eines Tages zu meinem Vater kam, um sich für die Hasen zu bedanken.Auch meine Brüder und ich kämpften viel, manchmal auch sehr heftig und brutal. Einmal, als wir mit der Familie ein Lagerfeuer machten, stach ich James mit einem brennenden Stock ins Auge. Ein anderes Mal stritten wir darüber, wie man am besten Grashüpfer fängt. Als ich dann am Boden

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hockte und nach einem Ausschau hielt, schlich er sich, mit einer Machete in der Hand, von hinten an. Danach musste mein Kopf mit acht oder neun Stichen genäht werden.Als ich mit neun Jahren an Typhus erkrankte, kam ich dem Tod wieder einmal sehr nahe. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mich zusammenrollte, weil ich so fror, und im nächsten Moment meinen ganzen Körper in Eis einpackte, weil mir so heiß war. Zwei Monate war ich im Krankenhaus und einmal sagte der Arzt zu meiner Mutter, sie solle auf das Schlimmste gefasst sein. Durch Gottes Gnade kam ich irgendwie durch. Von Wahnvorstellungen geplagt, brabbelte ich wirres Zeug und Gerüchte gingen um, dass ich wie mein Vater wahnsinnig geworden sei. Als ich schließlich wieder zur Schule ging, war ich nicht mehr nur der Sohn des Verrückten – ich war selbst verrückt.Neben meinem Leben auf der Farm und dem Alltag in der Schule war die Brüdergemeinde ein wichtiger Teil meiner Kindheit. Mein Großvater hatte einen leidenschaftlichen Glauben und verpasste keinen einzigen der Sonntagsgottesdienste, keine Bibelstunde und kein Gebetstreffen. Auch wir hüteten uns zu fehlen, denn wenn wir nicht in die Sonntagsschule und Kirche gingen, gab es kein Mittag- oder Abendessen.Jeden Abend rief er uns zum Familiengebet zusammen. Und wehe, wenn man nicht um Punkt 21.30 Uhr da war! Eines Abends beschloss ich, lieber ins Bett zu gehen. Da kam er in mein Zimmer und kippte mir einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf. Als meine Mutter nach dem Gebetstreffen in mein Zimmer kam, um die Bettwäsche zu wechseln, sagte mein Großvater zu ihr: „Nein, er muss heute Nacht darin schlafen!“ Diese eine Nacht in einem nassen, kalten Bett vollbrachte Wunder, was meine Pünktlichkeit anging.Die Brüdergemeinde, zu der wir gehörten, war überaus konservativ. Unser Versammlungssaal befand sich auf einem Gelände, das von drei Meter hohen Mauern und einem geschlossenen Tor umgeben war. Die meisten Gemeindemitglieder gehörten der gehobenen Mittel- bzw. Oberschicht an. Die Männer saßen auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen, entsprechend ihres Alters aufgereiht: Die Ältesten saßen ganz vorne, ganz hinten saßen Kinder und Unberührbare.Wir saßen immer (und standen nie), um alte Hymnen zu singen und die Predigt und Gebete der Ältesten zu hören. Musik gab es nicht. Die Frauen sagten kein Wort und mussten immer eine Kopfbedeckung tragen. Jede

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Woche wurde Abendmahl gefeiert, an dem jedoch nur von der Kirche zugelassene Mitglieder teilnehmen durften. Jeder Nichtchrist, der bei einem Treffen erschien, wurde höflich gebeten zu gehen.Bis auf eine Handvoll Lieder und Sonntagsschulgeschichten kann ich mich kaum daran erinnern, was dort gepredigt wurde. Leider erinnere ich mich hauptsächlich an die starre Gesetzlichkeit und an die Integritätsprobleme einiger Ältester. Sie waren unglaublich schnell dabei, Dinge zu verurteilen. Und doch sahen wir jungen Leute sie im Schutz der Dunkelheit manchmal Dinge tun, die sie nicht tun sollten, wie Rauchen oder Tabak kauen. Ihre Heuchelei stumpfte uns gegenüber der Wahrheit ab. Manchmal schien es mir, als ob Religion nur ein Spiel sei. Christ zu sein bedeutete, bestimmte Rituale zu befolgen, genauso wie die Hindus und Muslime das taten. Gute Christen lasen in der Bibel, beteten und lobten Gott – das war alles. Halte dich daran und du wirst in den Himmel kommen.Mir fiel erst viel später auf, dass uns damals etwas fehlte: der Impuls, die Gute Nachricht auch an Nachbarn, die keine Christen waren, weiterzugeben. Die weit verbreitete Einstellung war: „Leben und leben lassen“. Ich habe es nie erlebt, dass sich in unserer Kirche jemand bekehrt hat. In meiner Jugend hatte ich viele Freunde, die Hindus waren, aber ich kam nie auf die Idee, ihnen von Jesus zu erzählen. Heute bedauere ich das. Was wäre wohl passiert, wenn ich ihnen von Jesus erzählt hätte? Diese vertane Chance motiviert mich bis zum heutigen Tag. Heute glaube ich, dass es im Leben eines Menschen, der an Jesus glaubt, niemanden geben sollte, der noch nicht von ihm gehört hat.Ein anderer Teil meiner Kindheit, den ich heute mit anderen Augen sehe, war das Kastensystem. Offiziell wurde dieses System in Indien 1950 verboten, doch noch heute beherrscht es die sozialen Strukturen und das Verhalten der Menschen. Unter den Arbeitern auf unserer Farm waren Familien aus vier verschiedenen Kasten. Die unausgesprochenen Regeln, nach denen sie lebten, stellte ich nie in Frage. Die Kinder spielten alle zusammen, doch ihre Eltern hätten sich niemals gegenseitig zu Hause besucht oder gar dasselbe Geschirr benutzt.Diese Regeln schienen auch in unserer Familie zu herrschen, obwohl Christen eigentlich nicht Teil des Kastensystems sind. Täglich bereiteten unsere Köche das Essen für alle Arbeiter zu, bis auf das Abendessen. Unsere

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Familie aß immer am Esstisch, während die Arbeiter in einem abgetrennten Raum auf dem Boden aßen. Ihre und unsere Teller wurden nie vermischt. Sogar die Kochtöpfe wurden getrennt, und ihrem Essen fehlten oft die guten Zutaten, die wir genossen.All das war für mich, wie für alle anderen auch, völlig normal. Und die Arbeiter beklagten sich auch nie darüber. Es war ihr Leben, für unsere Familie zu arbeiten. Mein Großvater kümmerte sich, verglichen mit den damaligen Verhältnissen, sehr gut um sie: Sie hatten ein zu hause, Essen, medizinische Versorgung, Sicherheit und eine Arbeit auf Lebenszeit. Damit waren sie zufrieden.Auch über die Tatsache, dass ich zur Schule ging und die Kinder der Arbeiter auf der Farm zurückblieben, machte ich mir nie Gedanken. Wenn ich heute zurückblicke, frage ich mich, ob einige von ihnen nicht auch Ärzte, Ingenieure oder Richter hätten werden können. Sie hatten dasselbe Recht auf Bildung wie ich. Meine Familie hat nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, doch heute sehe ich die Welt mit anderen Augen.Ich habe noch nie jemanden über die Sicht der Bibel auf das Kastensystem predigen hören. Sogar in unserer Gemeinde bekamen Angehörige einer niedrigen Kaste das Abendmahl nicht aus demselben Kelch wie die anderen. Sie mussten auf den letzten Bänken ganz hinten im Saal sitzen. Seit dieser Zeit habe ich eine Sache gelernt: Wenn unberührbare Familien Christen werden, gründen sie oft lieber ihre eigenen Gemeinden, als in „etablierten“ Gemeinden als Menschen dritter oder vierter Klasse behandelt zu werden. Doch Jesus ist für alle Menschen gestorben. Wenn wir es nicht einmal schaffen, sechzig Jahre auf der Erde als Brüder zusammenzuleben, wie sollen wir dann die Ewigkeit gemeinsam verbringen?Nachdem mein Bruder James mich mit einer Machete angegriffen hatte, wollte ich lernen, wie man richtig kämpft. Also trat ich einem Karateverein bei. Natürlich tat ich das heimlich, denn meine Familie hätte es mir nie erlaubt. Südindische Christen tun solche Dinge nämlich nicht! In der Schule war ich einem freiwilligen Armee-Programm beigetreten, also erfand ich zusätzliche Trainingsstunden, die mein langes Fernbleiben nach der Schule erklärten. Außerdem stahl ich zu Hause Geld, um damit die Gebühren zu bezahlen.

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Mehr als drei Jahre lang nahm ich am Karateunterricht teil. Zusammen mit dem Armeetraining, das ich sehr genoss, gab mir das dummerweise das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Ich war an vielen Schlägereien beteiligt und hielt mich in schlechter Gesellschaft auf. Ich begann zu trinken, zu rauchen, zu klauen und auch das Eigentum anderer Leute zu beschädigen.Erst, als ich dem Tod erneut sehr nahe kam, brachte mich das zur Besinnung. Wieder einmal war mein Vater einen ganzen Nachmittag lang in einem ekstatischen Zustand und viele Verwandte und Nachbarn versuchten, ihn zu bändigen. Der Abend kam, sie versteckten sich vor dem Haus und warteten. Als sich mein Vater irgendwann ins Wohnzimmer setzte, um eine Tasse Tee zu trinken, sahen sie den richtigen Moment gekommen. Alle strömten in den Raum und versuchten, ihn festzuhalten.Plötzlich, ohne Vorwarnung, ging das Licht aus und es wurde stockdunkel im Raum. Keiner wusste, wen er gerade festhielt. Einer schrie: „Er hat ein Messer!“ und alle gerieten in Panik. Ich weiß nicht, warum sich ein 15 Pfund schwerer Hammer im Raum befand, aber irgendwer schnappte ihn sich, vermutlich zur Selbstverteidigung. Ich war mitten im Gewühl, als jemand im Dunkeln plötzlich den Hammer schwang und dieser mit einem kräftigen Schlag auf meinem Kopf landete. Ich konnte noch nicht einmal schreien. Ich fiel einfach bewusstlos zu Boden.Einen Monat lang blieb ich im Krankenhaus. Ich wurde mit 28 Stichen genäht und wieder einmal glaubten die Ärzte, dass ich nicht überleben würde. Noch lange danach plagten mich schlimme Kopfschmerzen. Eine leichte Beule oben auf meinem Kopf ist mir bis heute als Andenken geblieben.Glücklicherweise war dies wirklich das letzte meiner Kindheitstraumata. Eine schwierige Geburt, Typhus, ein Machetenschlag – bei all diesen Erlebnissen hätte ich leicht ums Leben kommen können. Doch irgendwie hat Gott mich jedes Mal beschützt.Nun war ich also fünfzehn Jahre alt und bereit, einen Schritt weiter zu gehen. Es wurde alles dahingehend arrangiert, dass ich die Schule verlassen und nach Andhra Pradesh gehen würde, wo mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, eine Bibelschule leitete. Dort sollte ich studieren. Als ich mich auf die lange Bahnreise quer durch Südindien begab, hatte ich noch keine Vorstellung davon, wie sehr ich auch in Zukunft auf Gottes Schutz angewiesen sein würde.

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