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Dimitris Avgustis fährt seit sechzig Jahren zur See. Das Meer hält ihn gefangen, und trotz seines Alters weigert er sich beharrlich, das Kommando über sein Schiff abzugeben. In der Heimat warten zwei Frauen vergeblich auf seine Rückkehr: seine große Liebe Litsa, de­ren Liebesbriefe er alle auswendig kennt, und seine Ehefrau Flora. Auch Flora hadert mit dem Schicksal, war sie doch einst ebenfalls in einen anderen Mann verliebt und hat dieser Liebe entsagt. Als sie eines Tages zu handeln beschließt und überraschend an Bord kommt, um Dimitris nach Hause zu holen, macht sie eine Entdek­kung, die ihrer aller Leben von Grund auf verändern wird …Ioanna Karystiani, 1952 auf Kreta geboren, machte sich nach dem Jurastudium als Cartoonistin und Drehbuchautorin einen Namen. Bereits ihr erster Roman, Die Frauen von Andros, war in Deutsch­land ein großer Erfolg. Auf ihn folgte der Bestseller Schattenhoch-

zeit. Ioanna Karystiani lebt in Athen und auf Andros.

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insel taschenbuch 4029Ioanna Karystiani

Die Augen des Meeres

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Ioanna KarystianiDie Augen des Meeres

Roman

Aus dem Griechischen vonMichaela Prinzinger

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Swell bei Kastaniotis, Athen 2006.

© Ioanna Karystiani/Thanassis Kastaniotis 2006 Umschlagfotos: Kevin Arnold / Getty Images; Shutterstock.com

»Dieses Projekt wurde mit Unterstützung des Programms Kultur (2007-2013) der Europäischen Kommission finanziert.

Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin

enthaltenen Angaben.«

Programm »Kultur« (2007-2013)Förderbereich 1.2.2. Literarische Übersetzungen

insel taschenbuch 4029Erste Auflage 2011

Insel Verlag Berlin 2011© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlag: HildenDesign, München, www.hildendesign.deDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 978­3­458­35729­2

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Um fünf Uhr morgens tänzelte vor den vereinzelten, bereitsdrei Meilen entfernten Lichtern, die von Port Pirie über denHügel fielen, der weiße Kater, wie stets in den vergange-nen vier Jahren, akrobatisch die Reling entlang, auf rosafar-benen Tatzen einen Spitzentanz vollführend, den Schweifwie eine zitternde Balancestange hochgereckt. Er umrundetelangsam das ganze Schiff, zweihundertsiebzig Meter lang,hielt achtern inne und verneigte sich vor den beiden Män-nern, die breitbeinig und die Hände im Rücken verschränktdastanden.— Maritsa, sagte Kapitänleutnant Kleanthis Birbilis.Vor dieser Maritsa zeigte drei Jahre lang die KatzenmutterMaritsa dieselbe Choreografie, davor Maritsa, der Großva-ter, noch früher Maritsa, die Urgroßmutter, und davor nochder erste und unerreichte Lehrmeister, der feurige Kater vonweiblicher Eleganz mit dem Cha-Cha-Schritt, auch er frag-los aus dem Hause Maritsa. Alles Katzen, die zur See fuh-ren.— In Kuba haben die Spanier eine Katze der Eingeborenenvors Kriegsgericht gestellt, nachdem sie einen ihrer Papa-geien zerfetzt hatte, und sie hinrichten lassen, meinte dervierzigjährige Kapitänleutnant zu Maritsa. Die tägliche Vor-stellung des Katers brachte regelmäßig historische Einzel-heiten aus dem unerschöpflichen Fundus zum Thema Kat-zen zum Vorschein.— Nur an den Gurken konnten wir uns satt essen, der Gar-ten war spät dran.

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Endlich, als es tagte, sprach auch Kapitän Mitsos Avgoustis,mittelgroß, in frisch gebügelter Kleidung, mit weißem, schul-terlangem Haar und wallendem, bis zur Brust reichendemsilbergrauen Vollbart, wobei beides von seinen fünfundsieb-zig Lebensjahren und von seiner Leidenschaft für Haar-pflege und Eau de Cologne kündete.Gurken und Garten waren Worte, die er von seinem Vatergeliehen hatte und die sich auf den kleinen Gemüsegarten inAdzanos bezogen, vor langer Zeit, Anfang September 1922.Triantafyllos Avgoustis, ein dreißigjähriger Fischer damals,hatte seiner Frau, die den noch nicht vierzig Tage alten klei-nen Dimitris im Arm hielt, die dreijährige Tochter Mersinamit einem Seil auf den Rücken gebunden und brachte dieFamilie auf die zehn Meter lange rotblaue GARYFALLOS sei-nes Arbeitgebers, auf der auch Nachbarsfamilien noch ir-gendwie Platz fanden, und in mehrmaligen Fahrten wurdeganz Adzanos mithilfe der Besatzung dreier Fischkutter aufkleinen Passagierschiffen mit Mann und Maus ans gegen-überliegende Ufer geschafft.Und dann standen sie am Strand und blickten auf die Rauch-schwaden. Das Smyrna der Griechen gab es nicht mehr. Amnächsten Morgen waren Triantafyllos und die GARYFALLOS

verschwunden. Und am übernächsten Morgen waren sie im-mer noch nicht wieder da.Der kraushaarige Fischer mit den großen braunen Augen,deren Farbe an Mokkaschaum erinnerte, war todunglück-lich, weil er seine Katze in Kleinasien vergessen hatte. EinenMonat vor der Flucht hatte sich Maritsa, schwanger und miteiner Kreuzotter zweimal um den Bauch geringelt, halb totbis zur Mole geschleppt und stand, erschöpft miauend, vorder GARYFALLOS.

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Zwei Mann, die gerade die groben Schleppnetze und die Sar-dellennetze flickten, zerhackten eine Fischkiste, teilten sichdie Bretter und prügelten so lange auf die Schlange ein, bisihr Kopf zu Brei geschlagen war.Triantafyllos Avgoustis fuhr allein nach drüben, um Maritsaund ihre drei Jungen zu suchen.Sieben Tage später, während die Frau dem Ehemann und derChef dem Fischer und dem Kutter nachweinten, standenDutzende Einwohner von Adzanos da, stumm im dunkel-violetten Abendlicht, das auf die Felsen von Lesbos fiel, undblickten stolz auf Triantafyllos, der mit der GARYFALLOS

zurückkehrte, und sie vernahmen ein ohrenbetäubendesMiauen. Der Kutter drehte an der Küste bei und brachte dieletzte Flüchtlingswelle, die siebenundzwanzig Katzen vonAdzanos an Land, die der Fischer, nachdem er die Geister-stadt gründlich durchsucht hatte, noch auftreiben konnte.Er teilte sie auf ihre Herrchen und Frauchen auf, die Jatzog-lous nahmen Hanum, Jovanakis seine Kiki, die Chirimberisihre Athina, Eleni nahm ihre Eleni und Sotiris seinen Sotiris,doch keiner von ihnen, weder an jenem Tag noch später, ent-lockte dem waghalsigen Triantafyllos auch nur einen Tonüber das Zurückgelassene, das er erblickt hatte. Frag deineKatze, sie wird dir ihre Geschichte erzählen, entgegnete erstets und ging schnell weg.Seit 1922 hob er seinen Blick nicht mehr zum Sternenhim-mel. Er litt an Nervenschwäche und widmete sich ganz denKatzen, mästete sie mit zahllosen Stachel- und Fadenmakre-len, ließ die ursprüngliche und alle nachfolgenden Maritsassogar auf den Fangnetzen für Seezungen und Barben ihr La-ger aufschlagen, die sie, seine Nachsicht ausnutzend und wildumherspringend, mit ihren Krallen zerrissen.

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Triantafyllos Avgoustis’ Augen jedenfalls, größer denn je,erregten seine Eleftheria immer noch, gratis Mokkaschaumwar die einzige Freude in der Mittellosigkeit jener Jahre, alsdie Menschen immer nur auf der Flucht waren, immer nurVerluste machten.Doch zu einem weiteren Kind kam es nicht, die spinnweben-zarte Mersina verstarb mit sieben an Lungenentzündung.Und dem Ehepaar blieb der einzige Sohn, verzärtelt und ein-ziger Blauäugiger der Flüchtlingssiedlung, ein Schaumfisch-chen, das durch die Wellen Tausender gelber Margueritenpflügte. In Griechenland hatte die Fluchtwelle die Welt inHier und Dort geteilt, und das armselige Elefsina wurde ihrSchicksal.Auf dem Achterdeck des Frachters ATHOS III erinnerte sichnun jener Sohn, der heutige Kapitän, während er Maritsamit den halbzerfetzten Ohren streichelte, an die Geschichte,ohne sie nochmals zu erzählen, und der Kapitänleutnanterinnerte sich ebenso daran, ohne sie nochmals zu hören,denn sie war bekannt, der Satz von den Gurken genügte,führte eine Reihe andere Gedanken im Schlepptau hintersich her, um die Tragödie abzurunden.— Guten Morgen.Stamatis Vekrelis, der dicke Steward, brachte das Tablett,servierte dem Kater sein Schälchen Milch und Avgoustis dengewohnten Löffel Tequila gegen das Rheuma und den dop-pelten Mokka ohne Milch und Zucker und dann Birbilis dasKaffee-Frappe und ließ sie bei den ersten Schlucken wiederallein, damit die beiden guter Stimmung und mit der abge-klärten Zuneigung eines zwar alten, doch aufs neue verein-ten Ehepaars im Januar des Jahres 1997 und beim Film Die

Frau in Rot ankommen konnten.

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Das Paket der Wallport Transit Xpress enthielt irrtümlicher-weise dieselben Filme, die sie in den vergangenen sechs Mo-naten schon gesehen hatten, alle älteren Datums, Die Todes-

kralle schlägt wieder zu, Die Nackte Kanone 2½, Auf dem

Highway ist die Hölle los, ein panamerikanisches Festivalder Fausthiebe und Fußtritte, des In-die-Luft-Sprengens undDurch-die-Luft-Wirbelns, und Die Frau in Rot, von dessenNacktszenen die zwanzig Mann Besatzung bei den weih-nachtlichen Zusammenkünften nie hatten genug bekommenkönnen; ein paar würden den Film wahrscheinlich auch anden folgenden Tagen wieder gucken, während sie Seemeilefür Seemeile hinter sich brachten, Meere ohne eine Spurvon Festland an sich vorbeiziehen ließen, dann nacheinan-der Java, Sumatra, Singapur, um ein weiteres Mal an immerderselben Stelle auf Thailand zu treffen, in Bangkok die La-dung zu löschen und neue aufzunehmen.Mittagshitze, 3. Januar. Die See dürstete. Ein zweiminütigerplötzlicher Regenguß zerbarst wie Fensterglas an Deck derATHOS III, und unmittelbar danach wurden Avgoustis undBirbilis Augenzeugen eines mörderischen Sonnenaufgangs,der wie eine Bombe einschlug und alles in Brand setzte. Injenen Wassern kam der Tag üblicherweise so in Fahrt.Schweigend, mit dem Geruch der See in den Nüstern, mitseinen meerblauen Augen, die das stählerne Licht reflektier-ten, und mit seinen Wimpern, die im Widerhall der Dünungnach dem Regen bebten, reichte Avgoustis dem Kapitänleut-nant die leere Tasse, fuhr mit dem Aluminiumkamm durchseinen Bart, der an Agios Nikolaos erinnerte, den Schutzhei-ligen der Seeleute, und durch den dichten Haarschopf undwandte sich, gefolgt von Maritsa, zum Kartenraum, um denKurs zu kontrollieren.

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— Wie auf Bestellung. Miltos Lavdas, der Nautische Assi-stent, streckte ihm das Mobiltelefon entgegen. Die Reedereiist dran, meinte er.Avgoustis zog eine Zigarette hervor und verlangte nach Feu-er. Lavdas zündete sie ihm an, reichte ihm den Apparat in dieandere Hand und ließ ihn allein.— Chatzimanolis hier. Guten Tag. Wie spät ist es dort? SechsUhr morgens? Sieben?Freitag, 3. Januar, sechs Uhr morgens, der Anfang einesneuen Jahres und neuer Pläne für die Shipping Maritime

Company.Die Nummer eins der Reederei, die Lachnummer Chatzima-nolis, forderte Avgoustis auf, nach Griechenland zurückzu-kehren. Das geschah nicht zum ersten Mal, aber nun wurdeauch ein Köder ausgeworfen. Die Vereinigung GriechischerReeder plane Anfang Februar einen glanzvollen Empfang,um ihn mit einer Goldplakette und einem Geldpreis von dreiMillionen Drachmen als dienstältesten Kapitän der Handels-flotte mit achtundfünfzig Jahren auf See zu ehren.— ’n Dreck werd ich tun, war seine Antwort.— Zu deinen Ehren werden Regierungsvertreter und Fern-sehsender dasein.— Für die werd ich erst recht ’n Dreck tun.— Zwölf Jahre hat deine Familie dich nicht mehr gese-hen.— Sieh lieber zu, daß du deine eigene in den Griff kriegst.Der entnervte Chatzimanolis, den Tonfall des Bosses anneh-mend, der durch Macht und Geld anerzogen war, erklärtekühl und knapp, diesmal sei Schluß mit lustig, man habe be-reits einen Nachfolger bestellt und im nächsten Hafen werdeer ihn vorfinden.

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— Den ersäuf ich.— Käpt’n Avgoustis, als ich meinem Vater versprochen habe,dich zu respektieren, hatte ich nicht damit gerechnet, daßsich dein Abschied so lange hinziehen würde. Die Seefahrthat sich geändert, du dich aber nicht. Du bist mir zu langsamund fährst Verluste ein.— Beschaff mir Fracht nach Japan.— Es gibt keine.— Dann wird’s ’ne Leerfahrt.— Das geht nicht. Du mußt endlich zurückkommen.— Hör zu. Die Kanne vom guten Teeservice meiner Frau istzerbrochen. Ich fahr nach Kobe, um ’ne neue zu holen.

ATHOS III, ein Handysize-Frachter mit einer Tragfähigkeitvon 38000 Tonnen, Wassermarke schwarz, Rumpf rot, Ein-wohner zwanzig, ein Männerdorf, das auf keiner Landkartezu finden ist.Mitsos Avgoustis also, der angefaulte Kapitän, KleanthisBirbilis, Kapitänleutnant mit Vorfahren aus England undMykonos, der sich beim Thema Frauen die Finger verbrannthat, Nikos Jalouris mit Wurzeln auf Syros und Psara, ehe-mals Funker, nunmehr Kapitänleutnant, ein Beelzebub, derimstande ist, zu Weihnachten Eier zu färben und zu Osternden Baum zu schmücken, Pantelis Sigalas, Bootsmann ausTinos, genausogut ein Linker wie ein Rechter, Stamatis Ve-krelis, Steward mit Familie auf Tinos und Lesbos, Neffe desBootsmanns, der mit Zoi aus Petralona vereinbart hat, aufEnglisch zu korrespondieren, to my darling husband, your

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faithful wife Zoe, Miltos Lavdas, Nautischer Assistent ausChalkida, von Geburt an Zärtlichkeit entwöhnt, der Elek-trotechniker Valias Daniil, ein auf Grund einer gewissen Ma-raki trauriger Junge aus Andros, Makis Dachtylas, ErsterMaschinist mit drei Kindern, zwei kleinen Schwarzen undeinem kleinen Apachen, die er irgendwann einmal seinerMutter, Kirchendienerin im Heimatdörfchen auf Paros, vor-stellen wollte, Apostolos Michaloutsos aus Symi, ZweiterMaschinist mit rotem Gedankengut, Babis Dokos, träu-merisch veranlagter Kochmaat mit albanischen Vorfahren,Wohltäter einer kinderreichen Philippinin, und Takis Koro-nios, Schiffsjunge, der zehn Tassen Kaffee konsumiert, Ma-gengeschwür vorprogrammiert. Darüber hinaus ein bunterStrauß aus sechs Rumänen, zwei Nikolai, zwei Georgi, zweiSorin, vier davon Seeleute mit Diplom, zwei ohne, plus dierussischen Zwillingsbrüder, Sascha, Dritter Maschinist undAndrej, Elektrotechniker, blonde und zart gebaute Schönlin-ge, die auf den atomgetriebenen U-Booten der ehemaligen So-wjetunion gedient hatten und die in der vergangenen Nachtdas Schiff zum Wahnsinn trieben, als sie in hochhackigenPumps die Schiffsgänge auf und ab trippelten und die aus derMannschaftsunterkunft stürzenden Männer in Aufruhr ver-setzten. Die einen konnten sich gerade noch die Unterhose an-ziehen, und die anderen schafften es kaum, sie auszuziehen.Und last, but not least, der zwanzigste, der mit den großenFrühlingsaugen, die glänzten wie frische Weinblätter, Jerasi-mos Siakantaris, der fünfundfünzigjährige Schiffskoch, derdie Nöte und die Marotten aller mustergültig kannte undsich aufrichtig für die Steuererklärung des Fremdsprachen-instituts von Jalouris’ Nichte interessierte, für die gynäko-logischen Probleme von Michaloutsos’ Tochter, für die psy-

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chologischen Probleme der Frau des einen Sorin, für dasAsthma des Sohns des einen Nikolai, für die fehlenden Fort-schritte im Geigenspiel von Sigalas’ dreizehnjähriger Toch-ter, für jeden unvermeidlichen Familienzwist der Seeleute.— Ich hab gesehen, wie sich ihr Blick vor Kummer verdun-kelt hat, und zwar bei allen, auch bei den Blauäugigen derBesatzung, und da habe ich dran gedacht, ihnen Würste ausmeinem Dorf zu servieren, und beim zweiten Glas war alleswieder in Ordnung. Jetzt herrscht Hochstimmung, so lau-tete sein Bericht an den Kapitän in solchen Fällen. Auch dievereinzelten Mißmutigen, so ein bis drei Fälle pro Tag, wuß-te er auf seine Art zu besänftigen. Ein süßer Kringel oder einBratapfel, zusammen mit der anschaulichen Beschreibungeiner schattigen Schlucht, unter Hervorhebung des Nachti-gallengesangs, zauberten ein Lächeln auf die verbittertenLippen, vielleicht auch ein spöttisches Grinsen, denn immerwieder machte man sich über ihn lustig, doch sein Ziel hatteer erreicht.Sonntag abend, 5. Januar, Jerasimos Siakantaris zog geradedie beiden Bratenbleche aus dem Ofen. Avgoustis ließ seineBesatzung nicht darben und forderte von den Reedern bestesEssen für die Männer; wer mit ihm gereist war, erzählte Kol-legen und Verwandten, das Essen sei hervorragend gewesen,und ein paar neckten sogar ihre Frauen, ihre Moussakaskönne mit dem Essen auf dem Frachter nicht mithalten.Zwölf Jahre waren es nun schon auf diesem Dampfer, seitAvgoustis ihn von den holländischen Docks übernommenhatte, und vorher sieben Jahre auf der PINELOPI, vier auf derALFEIOS und zweieinhalb auf der KALYPSO, immer unterdemselben Kapitän, der seinen Smutje mitnahm, sooft er denLaden wechselte.

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Seit 1972 waren sie ein Paar, fünfundzwanzigeinhalb Jahreohne Seitensprung, im Grunde könnten sie ihre Silberhoch-zeit feiern. Die Monotonie der Reise forderte ab und zu ei-nen Scherz, um die Stimmung aufzuhellen.Gerade war das Essen in der Mannschaftsmesse serviert wor-den, und der Steward kam, um das Tablett mit dem leichtenAbendbrot des Kapitäns zu holen, zwei Scheiben Lamm-fleisch, zwei Gabeln Gemüse. Leg ihm noch ’ne Röstkartof-fel dazu, schlug er dem Koch vor, doch Siakantaris schickteihn zum Teufel, das Essen wollte er dem Kapitän in jedemFall selbst bringen, er mochte es, unter anderem auch denPflichten eines Butlers nachzukommen.Er fand ihn in seinem kleinen Apartment vor, die offen ste-hende Tür festgehakt, Maritsa kauerte in den Pantoffeln,die Moscholiou war beim Refrain, Denn die Arme sind wie

Taue und die Leiber wie ein Schiff, und der langhaarige Ka-pitän saß auf dem Doppelbett, festgemauert in seinem knit-terfreien Anzug, mit einem ins Leere gehenden Blick, in dielichtvolle Leere dieser dreißig Quadratmeter, die dem Be-wohner mit anderen zu eng wären, doch für ihn allein schie-nen sie die Ausmaße eines Dreschplatzes anzunehmen.So war es jeden Abend an diesem Ort mit den grauen undden petrolfarbenen Möbeln. Avgoustis, der sich tagsüber anvierzig verschiedenen Ecken des Dampfers gleichzeitig be-fand, wurde zum abendlichen Avgoustis, ohne Unvorher-sehbarkeiten, zum unnahbaren Mönch in seiner Zelle.Der Koch beugte sich vor, nicht um vor seinem Gott auf dieKnie zu fallen, sondern um dem Kapitän das Tablett auf dieKnie zu stellen, ihn im ganzen Gesicht zu beschnuppern, sichseinem Mund zu nähern, sich kerzengerade aufzurichtenund sich einzugestehen:

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— Du hast keinen Ouzo getrunken.Avgoustis trug das Tablett vorsichtig zum Bett, neigte sichvor zum Nachtkästchen, drehte die Musik leiser und ginglangsam zur Waschschüssel, um seine Hände zu waschen,ohne auch diesen Abend hungrig zu wirken, selbst ohneUngeduld vorzutäuschen, um den Aufwand des Kochs zubelohnen. Anstandshalber fragte er: Also, was gibt’s heutabend?— Das siehst du doch.— Ist es dir gelungen?— Spricht nicht der Duft für sich?— Lamm.— Im Weinbad. Probier und sag mir deine Meinung.— Das Fleisch ist für Maritsa.Der Koch führte den Befehl mißmutig aus, die beste Portionging wieder an die Mieze, die sich von all den Filetstückchenund Medaillons ernährte, die er liebevoll für Avgoustis zu-bereitete.Die Mißbilligung in seinem Gesicht durfte nicht deutlicherzum Ausdruck kommen als seine im Grunde zärtliche Mei-nung über die Beziehung des Kapitäns zu den Katzen. Ihretägliche Verständigung fußte auch auf einer Art von Nör-gelei, an die sie sich gewöhnt hatten, die sie brauchten, dienicht viel kostete, da sie wußten, daß Sorge wie Fürsorge invielfältiger Weise zum Ausdruck kamen und der vertrauteRhythmus des unschuldigen Nörgelns bisweilen zum stärk-sten Beweis für die Langlebigkeit einer Beziehung wurde.Jerasimos Siakantaris jedenfalls bereitete mit diesen alter-probten Finessen eine Atmosphäre der Vertrautheit auf Au-genhöhe vor, um all das, was längst kein Geheimnis mehrwar, stets aufs neue zu wiederholen.

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Jedesmal griff er zu einem Trick, um ein wenig Zeit zu schin-den, denn er wollte Avgoustis nicht so schnell allein lassen.Umso weniger an diesem Abend, da die Augen des Kapitänsdunkel und sorgenschwer waren. Sein Blick ging mehrmalszwischen Fußboden und Decke hin und her, auf der Suchenach einer Eingebung, um dem tausendmal aufgeführtenabendlichen Stück ohne viele Worte eine neue Wendung zugeben und das Schweigen zu brechen, das die vier Wändedurchdrang, die den Menschen einschlossen, der ihm amnächsten stand. Und da ihm bloß die Trübseligkeit der alleserdrückenden Schiffswände als Inspiration blieb, meldete ersich freiwillig zu einem kurzen Streifzug zu geschäftigen undoffenen Orten, der dem Kapitän guttäte, mit Zwischenhal-ten und einer Endstation, die auch ihm selbst guttäte.— In New York sind sechzig Zentimeter Schnee gefallen, inmeinem Dorf siebzig, begann er, während er das Eßgeschirrauf den Tisch stellte. Detroit hat 60% Arbeiter, mein Dorf95%. Paris ist die Heimat der teuersten Düfte, doch Kyriakiin Böotien riecht noch besser, dort stehen die Tannen desHelikon-Gebirges, fuhr er fort, während er darauf wartete,Maritsas Essensreste abzuservieren.— Sag’s geradeheraus, wenn du abmustern willst.— Ist es nicht Zeit?— Endgültig?— Für drei, vier Monate.— Und wer wartet auf dich?— Keiner mehr, mittlerweile. Ich hab einfach Sehnsucht,mir jeden Tag den kleinen Bach zwischen dem Kopaida-Seeund dem Yliki-See anzusehen.Kurz darauf bückte er sich und nahm den Teller des Katers,blickte auf Avgoustis, der erst spät nach seinem Abendessen

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