Interdisziplinarität: Theorie, Praxis, Probleme · VIII Klaus Mainzer Der vorliegende Sammelband...

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Michael Jungert/Elsa Romfeld/Thomas Sukopp/Uwe Voigt (Hrsg.)

Interdisziplinarität

Theorie, Praxis, Probleme

2. Auflage

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Einbandgestaltung: Peter Lohse, HeppenheimEinbandabbildung: Additive Farbmischung der Grundfarben – © PROBilder – fotolia.com

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ISBN 978-3-534-26256-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-26287-8eBook (epub): 978-3-534-26288-5

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort von Klaus Mainzer: Interdisziplinarität und Schlüsselqualifikationen in der globalen Wissensgesellschaft......................................................................................... VI Vorwort zur zweiten Auflage......................................................................................... IX Vorwort zur ersten Auflage........................................................................................... XII

Theorie der Interdisziplinarität MICHAEL JUNGERT Was zwischen wem und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen der Interdisziplinarität ................................................................. 1 THOMAS SUKOPP Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. Definitionen und Konzepte ............................................................................................ 13 UWE VOIGT Interdisziplinarität: Ein Modell der Modelle ............................................ 31 GERHARD VOLLMER Interdisziplinarität – unerlässlich, aber leider unmöglich? .......... 47

Praxis der Interdisziplinarität ULRICH FREY Im Prinzip geht alles, ohne Empirie geht nichts – Interdisziplinarität in der Wissenschaftstheorie ............................................................. 77 HILARY KORNBLITH Erkenntnistheorie und Kognitive Ethologie ................................ 89 BERTOLD SCHWEITZER „Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“: Wissenschaftstheorie und interdisziplinäres Arbeiten ............ 109 BERNULF KANITSCHEIDER Epikur als Wegbereiter einer interdisziplinären Ethik ..... 129 ELSA ROMFELD Über die Rolle des Moralphilosophen in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien ....................................................... 143

Probleme interdisziplinärer Zusammenarbeit WINFRIED LÖFFLER Vom Schlechten des Guten: Gibt es schlechte Interdisziplinarität? ...................................................................................................... 157 THOMAS POTTHAST Epistemisch-moralische Hybride und das Problem interdisziplinärer Urteilsbildung .................................................................................. 173 IAN HACKING Verteidigung der Disziplin ................................................................... 193 Autorenverzeichnis ...................................................................................................... 207

Geleitwort:

Interdisziplinarität und Schlüsselqualifikationen in der globalen Wissensgesellschaft

Interdisziplinarität ist kein unverbindlicher Wunsch für akademische Festreden. Im weltweiten Wettbewerb globaler Märkte sind besonders hoch entwickelte Gesellschaf-ten wie diejenige der Bundesrepublik Deutschland auf die Innovationsdynamik ihrer Menschen angewiesen. Innovation setzt Kreativität voraus, die sich zunehmend in in-terdisziplinären Forschungsclustern bündelt. Innovationen entstehen heute vorwiegend fachübergreifend an den Schnittstellen traditioneller Fächergrenzen. Die Probleme die-ser Welt kümmern sich nämlich nicht um traditionelle Organisationsstrukturen von Disziplinen und Fakultäten. Umwelt, Klimawandel, Energie, Materialforschung, Life Science und Gesundheit, um nur einige zu nennen, sind problemorientierte Forschungs-gebiete, die viele Fächer interdisziplinär verbinden, über traditionelle Fächergrenzen hinausgehen und in neuen Forschungsclustern zusammenwachsen. Man spricht daher auch von transdisziplinärer Forschung. Damit erlebt der traditio-nelle Begriff der Interdisziplinarität einen Bedeutungswandel. In der Vergangenheit wurden Plattformen für interdisziplinäre Dialoge geschaffen, um den Erkenntnisgewinn durch den Austausch von Wissen zwischen den Disziplinen zu fördern. Heute zielt pro-blemorientierte („transdisziplinäre“) Forschung darauf ab, aus der Grundlagen- und angewandten Forschung zur Gestaltung neuer Produkte und neuer Handlungskompetenz zu kommen. Sie wird damit zu einem entscheidenden Faktor für die Sicherung zukünf-tiger Märkte und der Lebensqualität einer Gesellschaft. Diese Entwicklung hat wiederum Konsequenzen für unser Bildungssystem, für die Organisation der wissenschaftlichen Arbeit in Unternehmen wie auch für die öffentlich getragene Forschung. Kurzum: Inter- und transdisziplinäre Forschung führt heute zu Innovation und neuen Märkten. Ausbildung hat diesem Anforderungsprofil Rechnung zu tragen. Inter- und Transdisziplinarität werden zur Schlüsselqualifikation. In einer komplexen und globalen Welt reicht eine hoch spezialisierte Fachausbildung mit regionaler Orientierung nicht aus. Strategische Voraussetzung sind vielmehr Inter-disziplinarität und Interkulturalität. Im Rahmen der Bologna-Vorgaben sind in jedem Studiengang bestimmte Creditpoints für fachübergreifende Veranstaltungen vorgesehen. Hier muss sich die Philosophie neu aufstellen. Sie ist seit der Antike der Ursprung der Wissenschaften, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter spezialisiert haben. Noch Newton als Begründer der neuzeitlichen Physik hatte einen Lehrstuhl für Natur-philosophie (natural philosophy) inne, während sein Landsmann Adam Smith als Be-gründer der Wirtschaftswissenschaften einen Lehrstuhl für Moralphilosophie (moral

Geleitwort VII philosophy) besaß. Philosophie fragt auch heute noch nach den Prinzipien (Ursprüngen) unseres Wissens und seinen fachübergreifenden (interdisziplinären) Zusammenhängen in den verschiedenen Disziplinen, um so verantwortungsvoll entscheiden und handeln zu können. Daher gehören Logik, Grundlagen der Wissenschaften und Ethik seit der Antike in der Philosophie zusammen. Problem- und praxisorientierte interdisziplinäre Vernetzung mit den Wissenschaften macht das besondere Profil der Philosophie in der globalisierten Wissensgesellschaft aus. Entscheidend dabei ist, dass Philosophie und Wissenschaftstheorie in den einzelnen Fächern der Ingenieur-, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften verankert sind. Nur durch den ständigen Forschungs- und Lehrkontakt wird nämlich verhindert, dass Philosophen in den Wolken der Abstraktion abheben, sich in der Historie der Disziplin verkriechen und den Kontakt zur Wissenschaft verlieren. Nur so wird aber auch die notwendige Grundlagendiskussion in den Wissenschaften von Seiten der Philosophie angeregt. Das setzt allerdings in z.B. Mathematik, Informatik, Physik, Biologie, Sozio-logie und BWL entsprechend ausgebildete Philosophen voraus, die in diesen Diszipli-nen als kompetent akzeptiert werden (was in der deutschen Berufungspraxis der Philo-sophie leider zu wenig berücksichtigt wird). Ein aktuelles Beispiel für ein interdisziplinäres und interkulturelles Zentralinstitut ist die Carl von Linde-Akademie der Technischen Universität München, die in der For-schung eng mit dem Institute of Advanced Study (IAS) zusammenarbeitet. Dabei wer-den Philosophen mit methodisch-erkenntnistheoretischen und/oder ethischen Fragen in Exzellenzcluster der interdisziplinären Forschung eingebunden. Damit eröffnet sich eine neue Qualität der Kooperation von Philosophie und Wissenschaft. Traditionell arbeitete z.B. ein physikalisch kompetenter Philosoph über Interpretationen der Quantenmecha-nik oder Grundlagen der Mathematik. Diese Aufgaben bleiben natürlich auf hohem Niveau bestehen. In interdisziplinären Forschungsclustern der Medizin (z.B. Aging Society), Life Sciences (z.B. Systembiologie), Robotik (z.B. Cognition in Technical Systems), Neurowissenschaften (z.B. Theory of Mind), Umwelt- und Innovationsfor-schung (z.B. Innovation und Nachhaltigkeit), Risiko- und Komplexitätsforschung etc. sind Philosophen aber teilweise selber an der Theorieentwicklung oder an Strategiede-batten über Ausrichtung von Forschung beteiligt oder in Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz oder in der ethischen Beratung gefordert. In diesen interdisziplinären Forschungsclustern zeichnet sich die Universität von morgen ab. Sie liegen quer zu den traditionellen Fakultätsunterscheidungen von Tech-nik-, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Hinter diesen veralteten Fakultätsgren-zen stehen häufig überholte Begriffsunterscheidungen aus früheren Jahrhunderten wie z.B. „Geist“ und „Materie“, „Materialismus“ und „Idealismus“, die diffus und leer wur-den und den Kontakt zur Forschungsrealität längst verloren haben. Weder ist „Materie“ ein Grundbegriff z.B. der Physik (bestenfalls „Masse“), noch wird „Geist“ in den Neu-ro- und Kognitionswissenschaften untersucht (bestenfalls durch Beobachtung, Experi-ment und Messtechnik bestimmte kognitive Prozesse). Zudem entstammt diese meta-physische Unterscheidung der abendländischen Tradition und wurde in anderen Erdtei-len keineswegs geteilt. Hier kommt eine immense Arbeit auf Philosophie und Wissen-schaftstheorie zu, damit ihre Begriffsanalyse auch in der modernen Forschung greift.

VIII Klaus Mainzer

Der vorliegende Sammelband möchte Theorie, Praxis und Probleme der Interdiszip-linarität behandeln und sich dadurch dieser Herausforderung auf angemessene Weise stellen: Er beschäftigt sich mit grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Themen, der Bedeutung unterschiedlicher Interdisziplinaritätsbegriffe oder adäquaten Modellen in-terdisziplinärer Beziehungen. Zudem greift er konkrete interdisziplinäre Forschungsfra-gen auf, etwa nach der Rolle der Philosophie in interdisziplinären ethischen Beratungs-gremien oder nach Möglichkeiten und Limitationen einer naturalistischen Wissen-schaftstheorie. Im „Problemteil“ gilt es, die spezifischen Schwierigkeiten und Grenzen interdisziplinärer Kooperation zu beleuchten und dadurch zu einer Sensibilisierung für entsprechende Probleme beizutragen. All dies findet in der bisherigen wissenschaftsthe-oretischen Literatur vergleichsweise wenig Berücksichtigung; die folgenden Beiträge sind Schritte auf dem Weg, diese Lücke zu schließen. München im November 2009 Klaus Mainzer

Vorwort zur zweiten Auflage Als vor gut drei Jahren die erste Auflage dieses Sammelbandes erschien, war es das Anliegen der Herausgeber1, eine Forschungslücke zu schließen. Dass diese Lücke tat-sächlich bestand und der Band eine rege Forschungsdiskussion in Gang gesetzt hat, zeigt neben mehreren Rezensionen und der Rezeption in zahlreichen Veröffentlichun-gen auch die Notwendigkeit einer zweiten Auflage nach so kurzer Zeit. Mit diesem Vorwort möchten wir die Relevanz und Aktualität der vielfältigen Debatten im Kontext von Interdisziplinarität vor dem Hintergrund der neuesten Entwicklungen im Fachdis-kurs und in öffentlichen Diskussionen noch einmal verdeutlichen. Nach wie vor stellt sich die Aufgabe, neu und gründlich über Interdisziplinarität nachzudenken;2 sie steht unvermindert im Zentrum kontroverser Debatten, und dies aus mehreren Gründen: Zum einen wächst das Bewusstsein dafür, dass mit der immer stär-ker werdenden Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen und Teildisziplinen auch deren wechselseitige Abhängigkeit zunimmt, wodurch die einzelnen Fächer ge-zwungen werden, ihre Identität innerhalb eines komplexen und dynamischen wissen-schaftlichen Beziehungsnetzes zu überdenken. Eine solche Reflexion möglichst aller Disziplinen kann dazu beitragen, den immer wieder von einzelnen Wissenschaften for-mulierten Anspruch auf eine Führungs- und Leitbildrolle zu relativieren. Dies wirkt nicht zuletzt der Gefahr vorschnell ausgerufener „science wars“3 entgegen. Die Kandi-daten für Wissenschaften, denen intern oder extern eine Führungsrolle zugetraut wird, sind nach wie vor zahlreich: Gegenwärtig werden etwa Neurowissenschaften, Nanowis-senschaften, die Genetik im Speziellen oder die Biologie im Allgemeinen genannt. Die Ökonomie wird gelegentlich als „imperialistische Sozialwissenschaft“4 bezeichnet, der Physik im Vergleich zur Chemie eine hierarchische Überlegenheit zugeschrieben.5 Nur eine unaufgeregte und sachliche Diskussion der wechselseitigen methodischen und inhaltlichen Beziehungen zwischen den Wissenschaften vermag dieser Tendenz entge-genzuwirken und die tatsächliche oder vermeintliche Kluft zwischen vor allem den

1 Wenn hier und in der Folge gelegentlich ein Ausdruck im Maskulinum verwendet wird,

wo auch ein Femininum oder eine neutrale Form stehen könnte (oder umgekehrt), geschieht dies ausschließlich um der sprachlichen Ökonomie willen.

2 Vgl. Gloria Origgi / Fréderic Darbellay (Hg.) (2010): Repenser l’interdisciplinarité. Genf: Editions Slatkine.

3 Siehe etwa Keith M. Parsons (Hg.) (2003): The Science Wars. Debating Scientific Knowledge and Technology. Amherst: Prometheus Books.

4 Gerhard Kirchgässner (2009): „Ökonomie: Die imperialistische Sozialwissenschaft“. In: Peter Rusterholz / Rut Meyer Schweizer / Sara Margarita Zwahlen (Hg.): Aktualität und Vergänglichkeit der Leitwissenschaften. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 59-95; hier S. 59ff.

5 Carsten Reinhardt (2011): „Habitus, Hierarchien und Methoden: ‚Feine Unterschiede‘ zwischen Physik und Chemie“. In: N.T.M 19/ 2, S. 125-146; hier S. 136f. und S. 142.

X Michael Jungert, Elsa Romfeld, Thomas Sukopp, Uwe Voigt

Geistes- und Naturwissenschaften zu überwinden.6 Ein erster Schritt in diese Richtung kann sein, auch in den sich als klassische Geisteswissenschaften verstehenden Fächern eine Vielfalt an Methoden und Modellbildungen zu erkennen, die nicht als exklusiv „geisteswissenschaftlich“ erachtet werden können. Die Geschichtswissenschaften etwa greifen auf Methoden und Ergebnisse der Archäologie und der Ökonomie zurück. Lite-raturwissenschaftler verwenden nicht nur Erkenntnisse und Theorien der Geschichts-wissenschaften und der Philosophie, sondern nutzen beispielsweise für die Analyse der Beziehung von Erinnerung und Identität in literarischen Werken oder für die Fundie-rung von Narrativitätskonzepten auch naturwissenschaftliche, speziell kognitionspsy-chologische Befunde.7 Zudem überschreiten einige Disziplinen die alten Grenzen zwi-schen Natur-, Geistes- und Sozial- bzw. Kulturwissenschaften. Ein Beispiel dafür ist die Psychologie, die als Hybrid aus Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften angesehen werden kann. Da Wissenschaftler oft an gemeinsamen Problemen arbeiten, stellt sich insbesondere bei sehr komplexen Themen die fächerübergreifende Kooperation als wichtige Voraussetzung für Interdisziplinarität dar. Prominente Beispiele sind etwa Kognitionswissenschaften, Nachhaltigkeitsforschung und Nanowissenschaften, bei de-nen die Frage nach den Unterschieden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften – wenigstens idealiter – zum Wohle einer gemeinsamen Problemlösung zurücktritt. Zum anderen besteht noch immer die Gefahr, dass Interdisziplinarität nur als äußerli-cher, rein wissenschaftspolitischer Anspruch – als „Interdisziplinierung“8 – für For-schung und Lehre erscheint. Hier ist es nach wie vor wichtig, zwischen Lippenbekennt-nissen und tatsächlich angestrebter oder gar erfolgreich umgesetzter Interdisziplinarität zu unterscheiden. Es mag zwar richtig sein, dass Interdisziplinarität oft gefördert und noch öfter gefordert wird. Allein die Verwendung des schmückenden Beiworts interdis-ziplinäre Forschung macht Forschung aber noch nicht besser. Daran ändern auch die Impulse aus dem im weitesten Sinne (wissenschafts-)politischen Bereich wenig, die Interdisziplinarität als unverzichtbar, ja geradezu als überlebensnotwendig darstellen. Der Sonntagsreden wahrer Kern: Die gemeinsame Gestaltung einer globalen Weltge-sellschaft in einer fragilen Umwelt kann nur interdisziplinär geleistet werden, und zwar gerade so, dass dies auch die Reflexion über die Komplexität nicht zuletzt der interdis-ziplinären Beziehungen selbst mit umfasst. Das Desiderat einer grundsätzlichen, philo-sophischen Beschäftigung mit Interdisziplinarität scheint daher zunehmend stärker zu werden: Immer wenn sich Disziplinen im Dialog befinden, wenn sie wechselseitig ihre Theorien und Modelle diskutieren, wenn Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen kooperieren möchten, dann ist das Nachdenken über die Kooperationsbedingungen als Voraussetzung für interdisziplinäre Zusammenarbeit essenziell. Dabei geht es um grundlegende Aspekte: etwa um die Frage, wo sich Theorie- und Modellbildungen in-

6 Siehe Edward Slingerland / Mark Collard (Hg.) (2012): Creating Consilience. Integrat-ing the Sciences and the Humanities. Oxford: Oxford University Press.

7 Siehe etwa Birgit Neumann (2005): „Literatur, Erinnerung, Identität“. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grund- lagen und Anwendungsperspektiven. Berlin: De Gruyter, S.149-178.

8 Siehe Jutta Weber (Hg.) (2010): Interdisziplinierung? Zum Wissenstransfer zwischen den Geistes-, Sozial- und Technowissenschaften. Bielefeld: transcript.

Vorwort XI nerhalb der Disziplinen unterscheiden, wie Begriffe möglichst verlustfrei übersetzt wer-den können und ob die Beteiligten jeweils über gleiche oder mindestens über ähnliche Gegenstände sprechen. Diverse Anregungen für eine solche Reflexion, welche die viel-fältigen Chancen der Interdisziplinarität ergreift, ohne blind für ihre Risiken zu sein, finden sich im vorliegenden Band. Die Herausgeber möchten noch einmal allen Autoren danken, deren facettenreiche Beiträge den Erfolg des Bandes ermöglicht haben. Den Rezensenten der ersten Auflage ist für die positive Resonanz ebenso zu danken wie den vielen Kolleginnen und Kolle-gen, die, trotz mancher kritischer Kommentare, die Herausgeber insgesamt in ihrer Ein-schätzung der Notwendigkeit und Bedeutung des Bandes bestärkt haben. Frau Cana Nurtsch von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft gebührt unser herzlicher Dank für ihr Engagement bei der Gestaltung dieser zweiten Auflage. Bonn, Mannheim, Siegen und Augsburg im April 2013 Die Herausgeber

Vorwort zur ersten Auflage Die gegenwärtige Wissenschaftstheorie gilt weithin als eine Disziplin, deren Anliegen es ist, die Verfahrensweisen der Wissenschaften philosophisch zu reflektieren und dabei insbesondere auf ungelöste Fragen und kritische Punkte der Wissenschaftsentwicklung einzugehen. So verstandene Wissenschaftstheorie sollte sich auch und gerade mit den grundlegenden Problemen beschäftigen, die sich den Wissenschaften in ihrem aktuellen Vollzug stellen. Zu diesen Problemen zählt offenkundig die Interdisziplinarität: Obwohl Interdiszipli-narität seit einigen Jahrzehnten von vielen Seiten gefordert, gefördert und – zumindest dem Anspruch nach – auch praktiziert wird, bleibt es nach wie vor notorisch unklar, was darunter überhaupt zu verstehen ist (vgl. dazu die Beiträge von Michael Jungert, Thomas Sukopp und Uwe Voigt). Diese Unklarheit bewegt sich nicht in dem für ein-zelwissenschaftliche Begriffe üblichen Rahmen, der einen pragmatischen Umgang mit nicht restlos geklärten Begriffen duldet und vielleicht sogar ratsam erscheinen lässt. Im Fall der Interdisziplinarität verhält es sich anders: Fehlende Klärung dessen, was unter Interdisziplinarität zu verstehen ist, behindert den Prozess wissenschaftlicher For-schung: Angefangen von trivialen Missverständnissen – ein lehrreiches Beispiel dafür ist die Darstellung naturwissenschaftlicher Sachverhalte durch einen dezidiert geistes-wissenschaftlichen Theoretiker (siehe den Beitrag von Gerhard Vollmer) – über massi-ve Konflikte in Forschungsgruppen bis hin zum Scheitern ganzer Sonderforschungsbe-reiche. Angesichts solcher Misslichkeiten gerät der Begriff der Interdisziplinarität selbst unter den Verdacht, ein bloßes Werkzeug wissenschaftspolitischer Rhetorik zu sein, das der Wissenschaft keinen Nutzen bringt, sondern sie nur belastet. Zur Bewältigung derartiger prinzipieller begrifflicher Schwierigkeiten beizutragen, ist seit jeher eine Aufgabe der Philosophie. Dies trifft insbesondere im Fall der Interdis-ziplinarität zu, in dem ja explizit nicht nur eine einzelne Disziplin betroffen ist und der daher eine Meta-Disziplin erfordert, die über die üblichen disziplinären Grenzen hin-auszuschauen vermag. Mit dem Anspruch, dies leisten zu können, tritt Philosophie für gewöhnlich auf. Und da es sich beim Problemfeld um die Wissenschaften handelt, steht hier eindeutig die Wissenschaftstheorie als philosophische Disziplin in der Pflicht. Eine klärende Antwort auf die Frage, was Interdisziplinarität ist, wäre demnach eine ebenso dringend erforderliche wie geschuldete Dienstleistung der Wissenschaftstheorie für die Einzelwissenschaften. Dieser Aufgabe kommt die Wissenschaftstheorie jedoch allem Anschein nach kaum nach. Diesen Befund bestätigt ein Blick in beliebige wissen-schaftstheoretische Werke neueren Datums, in denen Interdisziplinarität meistens über-haupt nicht oder nur am Rande erwähnt wird. Die ausdrückliche Auseinandersetzung mit Interdisziplinarität geschieht gegenwärtig weitgehend in den verschiedenen Einzelwissenschaften, etwa in der Literaturwissen-

Vorwort XIII schaft, Mentalitätsgeschichte, Physik, Politologie oder Soziologie. Dabei kommen zwar immer wieder auch wissenschaftstheoretische Ansätze zur Anwendung; die einzelnen Standpunkte sind aber – völlig legitimerweise – von den jeweiligen einzelwissenschaft-lichen Perspektiven geprägt, daher aber auch der Gefahr ausgesetzt, diese je eigenen Vorgaben gegeneinander durchsetzen zu wollen. Das Fehlen eines allgemeinen, zu bestmöglicher Reflexion verpflichtenden Forums, wie es ein philosophischer bzw. wis-senschaftstheoretischer Diskurs über Interdisziplinarität sein könnte und sollte, macht sich dabei bemerkbar. Wie aus den Autoreninformationen hervorgeht, sind die Herausgeber dieses Bandes auf den Arbeitsfeldern der Philosophie tätig, und zwar auch und gerade so, dass sie dabei aktiv interdisziplinäre Beziehungen pflegen. Daher haben sie dieses Desiderat bemerkt und versuchen, ihm mit vorliegendem Band zu begegnen. Zwar liegt damit nicht die zunehmend als längst überfällig geforderte wissenschaftstheoretische Mono-graphie zur Interdisziplinarität vor. Es wird aber stattdessen weniger und mehr geboten: Weniger, insofern mit diesem Band nicht der Anspruch verbunden ist, einen einzigen oder vielleicht sogar den einzigen wissenschaftstheoretischen Standpunkt zu bieten, was Interdisziplinarität betrifft. Mehr, da gerade dadurch eine Vielfalt von Positionen zur Sprache kommt. Wer auch immer die dringend erforderliche Monographie zur Wissen-schaftstheorie der Interdisziplinarität schreibt, wird sich mit diesen Positionen auseinan-dersetzen müssen und kann von ihnen Anregungen beziehen. Es liegen hier Beiträge vor, die sich entweder unmittelbar aus wissenschaftstheoreti-scher Perspektive auf ihren Gegenstand richten, oder diese Perspektive doch wenigstens implizit berücksichtigen. Dabei ergibt sich folgende Gliederung, wobei die Beiträge innerhalb der Sektionen nach systematischen Kriterien sortiert sind: Theorie – Praxis – Probleme: Im ersten Teil (mit den Beiträgen von Michael Jungert, Thomas Sukopp, Uwe Voigt und Gerhard Vollmer) geht es um philosophisch-wissenschaftstheoretische Vorklärungen. Ist Interdisziplinarität überhaupt möglich? Was wird in verschiedenen Kontexten unter diesem Begriff verstanden? Warum wird er nicht auf die eigentlich erforderliche Weise geklärt, wie könnte es zu einer derartigen Klärung kommen, und was wäre deren mögliches Ergebnis? Die Theorie muss, wie immer in der Wissen-schaftstheorie, von einem kundigen Blick auf die Praxis begleitet und mit geleitet wer-den. Diesen Blick an Beispielen zu schärfen, ist Anliegen des zweiten Teils (mit den Beiträgen von Ulrich Frey, Hilary Kornblith, Bertold Schweitzer, Bernulf Kanitscheider und Elsa Romfeld), der zugleich Fragen der Beziehungen zwischen konkreten Einzel-disziplinen behandelt und insbesondere auch die Philosophie in diesem Zusammenhang zu positionieren sucht. Ein wichtiges Anliegen war den Herausgebern nicht zuletzt der dritte Teil zu den Problemen der Interdisziplinarität (mit den Beiträgen von Ian Ha-cking, Winfried Löffler und Thomas Potthast), da es in dieser Publikation auf keinen Fall zu einer unkritischen Verherrlichung von Interdisziplinarität kommen sollte. Auch die Schwierigkeiten dieser Konzeption – wenn es denn eine Konzeption bzw. eine Kon-zeption ist – sowie ihre möglichen Grenzen gilt es zu erkunden und zur Diskussion zu stellen. Wenn diese Beiträge dabei helfen, Interdisziplinarität als ein wichtiges Forschungs-objekt innerhalb der Wissenschaftstheorie zu verankern, dann hat dieser Band sein Ziel

XIV Michael Jungert, Elsa Romfeld, Thomas Sukopp, Uwe Voigt

erreicht. Dass an verschiedenen Orten bereits auf dieses Ziel hin gearbeitet wird, geht auch aus dem Geleitwort von Klaus Mainzer hervor. Ihm gilt unser herzlicher Dank ebenso wie den folgenden beteiligten Personen und Institutionen: Die Herausgeber danken E. Ribes-Iñesta, J. Burgos und der University of Guadalajara Press für die Genehmigung der deutschen Erstübersetzung von Hilary Kornbliths Epistemology and Cognitive Ethology. (Alle anderen hier versammelten Aufsätze sind Originalbeiträge.) Herrn Dr. Bernd Villhauer gebührt Dank dafür, dass er als zuständiger Lektor diesen Band in das Programm der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft aufgenommen und sein Entstehen umsichtig begleitet hat. Dem Metanexus Institute danken die Herausgeber für die finanzielle Unterstützung bei der Publikation des Bandes. Für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts danken wir Sebastian Schleidgen, Izabela Zerebjatjew, Maurizio Spada, Nikolai Roskinski und Alexander Klimo sowie Torben Quasdorf und Hannes Rusch für die Übersetzung der Beiträge von Ian Hacking und Hilary Kornblith. Cambridge (Mass.), Mannheim, Braunschweig und Augsburg im November 2009 Die Herausgeber

MICHAEL JUNGERT

Was zwischen wem und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen der Interdisziplinarität

1. Vorbemerkungen

Es gibt nur wenige Begriffe in der aktuellen Wissenschaftsdiskussion, bei denen die Diskrepanz zwischen Verwendungshäufigkeit und theoretischer Reflexion so groß ist wie im Fall der Interdisziplinarität. Kaum ein Kontext, in dem sie nicht als förderlich erachtet, kaum ein Tag, an dem sie nicht in wissenschaftspolitischen Debatten als un-verzichtbare Schlüsselkompetenz1 postuliert wird. Angesichts dieser Fülle alltäglicher Verwendungen und Forderungen erstaunt die starke „wissenschaftsphilosophische Zu-rückhaltung“ (Schmidt 2005, S. 12) in Sachen Interdisziplinarität: In vielen wissen-schaftstheoretischen Werken wird sie gar nicht oder nur knapp und häufig implizit be-handelt (vgl. den Beitrag von Uwe Voigt in diesem Band), ihr begrifflicher Gehalt so-wie die unterschiedlichen Dimensionen, in denen ihr Bedeutung zukommen kann, blei-ben oft unscharf. Dieser Beitrag hat das Ziel, einige Bedeutungsfacetten und grundsätzliche Problem-dimensionen des Interdisziplinaritätsbegriffs zu skizzieren. Dazu gehören die Analyse verschiedener Interdisziplinaritätsbegriffe und -auffassungen sowie Fragen nach Art, Gegenstand und Motiven interdisziplinärer Zusammenarbeit. Dadurch soll ein begriffli-cher Rahmen für den vorliegenden Band geschaffen und ein Überblick über einige „Baustellen“ im Kontext von Interdisziplinarität gegeben werden.

2. Was? Multi-, Pluri-, Cross-, Inter- und Transdisziplinarität – die verwirrende Vielfalt von Interdisziplinaritätsbegriffen

Die Unschärfe des Interdisziplinaritätsbegriffs beginnt schon damit, dass neben ihm zahlreiche „konkurrierende“ Begriffe existieren, die ebenfalls in irgendeiner Weise mit dem Verhältnis wissenschaftlicher Disziplinen zueinander zu tun haben, sich in ihrer Bedeutung teilweise überschneiden und sehr uneinheitlich gebraucht werden: „The literature on interdisciplinarity issues is often confusing. One reason is that the authors who concern themselves with interdisciplinarity do not use a uniform terminology“ (Kockelmans 1979, S. 123). Zwar stammt dieses Zitat von Joseph Kockelmans aus dem

1 Natürlich ist die Interdisziplinarität selbst keine Kompetenz, sondern vielmehr die Fähigkeit

zum interdisziplinären Arbeiten, die in wissenschaftspolitischen Debatten häufig für „zukunfts-weisende“ Forschung gefordert wird.

2 Michael Jungert

Jahr 1979, die Problematik terminologischer Konfusionen besteht jedoch bis heute. Neben die Vielfalt verschiedener Begriffe im Kontext „disziplinenübergreifende[r] Wissenschaftspraxis“ (Balsiger 2005, S. 142) treten zudem unterschiedliche Verwen-dungsweisen des Begriffs der Interdisziplinarität. Wir beginnen daher mit der Charakte-risierung und Klassifizierung von Begriffen, die (im weiteren und engeren Sinne) mit disziplinübergreifender Zusammenarbeit zu tun haben.2 Der Begriff der Multidisziplinarität findet sich bereits seit den 1950er Jahren in der Literatur (vgl. Luszki 1958 und Balsiger 2005). In der Mehrheit seiner Verwendungs-weisen impliziert er ein disziplinäres Nebeneinander auf demselben bzw. einem ähnli-chen Themengebiet ohne (strukturierte) Zusammenarbeit oder fachübergreifende Syn-thesebemühungen der einzelwissenschaftlichen Ergebnisse. Die beteiligten Disziplinen widmen sich zwar dem gleichen Thema, jede Disziplin für sich jedoch nur jenen Teilas-pekten des Problems, die sich in ihrem genuinen Gegenstandsbereich befinden, ohne dabei von fachübergreifenden forschungsleitenden Fragestellungen auszugehen. Die Einzelergebnisse solcher Forschung können zwar wichtige Beiträge zur Erhellung be-stimmter Aspekte liefern, gleichwohl fehlen Motiv und Methodik, um diese aufeinander zu beziehen und nach der wechselseitigen Bedeutsamkeit disziplinärer Erkenntnisse zu fragen (vgl. Balsiger 2005, S. 152–156). Der Unterschied zu rein disziplinärer For-schung liegt jedoch darin, dass zumindest eine minimale Kenntnisnahme der For-schungsbemühungen anderer Fächer erfolgt,3 wie sie sich etwa häufig in gerne mit „in-terdisziplinär“ betitelten Sammelbänden findet, in denen die Vertreter verschiedener Disziplinen ihre Ergebnisse zwar mit dem Bewusstsein um die Existenz andersartiger Annäherungen an den Forschungsgegenstand aneinanderreihen, ohne dabei jedoch ernsthafte Versuche der Bezugnahme oder gar Integration zu unternehmen. Natürlich kann auch diese vergleichsweise schwache Form der Kooperation zu guten Ergebnissen führen, indem sie zur Perspektivenerweiterung der beteiligten Wissenschaftler beiträgt oder – etwa im Fall multidisziplinärer Expertengremien – praktische Entscheidungsfin-dung ermöglicht. Pluridisziplinarität wird häufig synonym mit Multidisziplinarität verwendet. Einige Autoren grenzen jedoch beide voneinander ab und bezeichnen Pluridisziplinarität als „die erste Stufe eigentlicher Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen“ (Balsiger 2005, S. 147). Als Unterscheidungsmerkmal dient dabei, dass das bloße Ne-beneinander von Disziplinen im Sinne von Multidisziplinarität um die Absicht ergänzt wird, „to enhance the relationship between them“ (Jantsch 1970, S. 411). Diese Art der Kooperation beinhaltet keine speziellen Koordinationsbemühungen und findet zumeist zwischen „verwandten“ Fächern auf gleicher hierarchischer Ebene statt. Als Beispiel lassen sich disziplinär jeweils homogene Forschergruppen aus unterschiedlichen Fä-chern anführen, die innerhalb ihres Fach- und Methodenspektrums an gemeinsamen Themen arbeiten und zwischen denen ein loser, nicht koordinierter oder strukturierter

2 Dieser Überblick ist freilich nicht vollständig. Für eine ausführlichere Analyse von Interdiszi-plinaritätsbegriffen vgl. Balsiger 2005, S. 133-188 sowie, speziell für den Begriff der Trans-disziplinarität, Pohl/Hirsch Hadorn 2008.

3 Man könnte hier jedoch auch einwenden, dass diese reine Wahrnehmung anderer Disziplinen bereits im Fall disziplinärer Forschung zutrifft.