Ist die Wurzelkanal- Desinfektion mit ChKM -...

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endo Was stechend riecht, hilft auch nicht besser. Die Zeit von 1880 bis 1910 war die hohe Zeit der Mikrobiologie. In seinem „wissenschaftsge- schichtlichen Tatsachenroman“ stellt de Kruif (1926) dar, dass die „Mikrobenjäger“ in den Bazillen die grimmigsten Feinde des Menschengeschlechts erblickten. Den damaligen Forschern war eine gewisse Besessenheit wohl nicht abzusprechen. Louis Pasteur witterte Mik- roben wo es keine gab und konnte es beim Essen nicht unterlassen, Teller und Löffel dicht an die Nase zu führen, sie mit kurzsichtigen Augen zu inspizieren und mit der Serviette abzuwischen. Gleichzeitig aber verstand er es, jedermann mit- zureißen; und alle Welt regte sich über Mikroben auf. Allgemein wurde die Notwendigkeit gese- hen, Bakterien, Pilzen und dergleichen außerhalb und innerhalb des menschlichen Organismus zu bekämpfen. Das Interesse an Desinfektions- Methoden wuchs. Der Glasgower Chirurgie- professor Lister propagierte 1867 das „antisepti- sche Prinzip“, also die Hemmung oder Vernichtung von Wundinfektionserregern, und empfahl dazu das Antiseptikum Phenol. Bis 1915 wurden Jod, Jodoform, verschiedene Kresol- mischungen, Lysol, Xylenol, Thymol, Naphtol, Benzoesäure und Formaldehyd erprobt und ein- geführt (Müller-Jahncke und Friedrich 1996). Auch in der Zahnmedizin begann eine Ära der Antisepsis. Prof. Otto Walkhoff stellte 1891 eine stechend riechende antibakterielle Substanz, die Phenolverbindung kampferisiertes Chlorphenol (ChKM), zur Wurzelkanalbehandlung vor (Ingle et al. 2002). Pettenkofer wiederum hielt das Gerede von den Bazillen für Schwindel und Unsinn. Er schluckte zum Entsetzen von Robert Koch ein ganzes Glas von dessen Cholerabazillen, verdarb sich daran aber nicht einmal den Magen, was er für einen Beweis seiner Ansicht hielt. So ging es offen- sichtlich zu „in jenen aufgeregten achtziger Jahren, als die Männer der Wissenschaft bereit waren, ihr Leben zu wagen, um zu beweisen, dass sie Recht hatten” (de Kruif 1980). Ein später Widerschein der damaligen Mikrobenbegeisterung bei gleichzeitiger hoch gesteigerter Mikrobenfurcht scheint im Beitrag von Dr. Rüdiger Osswald in dieser Ausgabe des „DAZ-Forums“ vernehmbar zu sein. Kollege Osswald spricht sich für Wurzelkanal-Einlagen mit besagtem ChKM aus und rühmt dessen Eigenschaften. Auch propagiert er eine weite Aufbereitung des Wurzelkanals in der Absicht, das Mittel bis in den Knochen vordringen zu las- sen. Was ist dran an ChKM-Wurzelkanal- einlagen? Dr. Osswald verbreitet viele theoretische Annahmen, berichtet aber über nur wenige expe- rimentelle Befunde. Nichts gegen Theorien: Aristoteles beispielsweise formulierte die Theorie „Männer haben mehr Zähne als Frauen“, was der Zahnmedizin-Historiker Strübig (1989) damit kommentierte, auch Aristoteles sei fehlbar. Nur kann man die Theorie ja überprüfen. Vielleicht überrascht das Ergebnis: Männer mittleren Alters haben tatsächlich knapp einen Zahn mehr als Frauen... (Lenz 1999). Man sollte also Hypothesen aufstellen, die mög- lichst widerlegbar sind, und diese methodisch sauber untersuchen und ggf. experimentell auf die Probe stellen. Der Verfasser dieser Zeilen ist der Ansicht, dass sich das am ehesten mit den Methoden der evidenzbasierten Medizin – die im übrigen ohnehin gerade das erkenntnisleitende Paradigma ist – bewerkstelligen lässt. Dr. Harald Strippel, medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen Essen, Fachgebiet Zahnmedizinische Versorgung Ist die Wurzelkanal- Desinfektion mit ChKM wirklich überlegen? Dr . Osswalds T ext lassen sich folgende Hypothesen entnehmen: 1. Die Ausschaltung der Bakterienbesiedelung inner- und außerhalb des Wurzelkanals ist entscheidend für den Heilerfolg der Wurzel- kanalbehandlung 2. ChKM beseitigt die Bakterienpopulation 3. Die Anwendung von ChKM führt zu besseren Überlebensraten der wurzelkanalbehandelten Zähne 4. „Geduldige“ Desinfektion ist nötig: eine größere Zahl an Zwischeneinlagen 5. ChKM ist unschädlich DAZ FORUM 86 4. Quartal 2005 14

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endoWas stechend riecht,hilft auch nicht besser.Die Zeit von 1880 bis 1910 war die hohe Zeit derMikrobiologie. In seinem „wissenschaftsge-schichtlichen Tatsachenroman“ stellt de Kruif(1926) dar, dass die „Mikrobenjäger“ in denBazillen die grimmigsten Feinde desMenschengeschlechts erblickten. Den damaligenForschern war eine gewisse Besessenheit wohlnicht abzusprechen. Louis Pasteur witterte Mik-roben wo es keine gab und konnte es beim Essennicht unterlassen, Teller und Löffel dicht an dieNase zu führen, sie mit kurzsichtigen Augen zuinspizieren und mit der Serviette abzuwischen.Gleichzeitig aber verstand er es, jedermann mit-zureißen; und alle Welt regte sich über Mikrobenauf. Allgemein wurde die Notwendigkeit gese-hen, Bakterien, Pilzen und dergleichen außerhalbund innerhalb des menschlichen Organismus zubekämpfen. Das Interesse an Desinfektions-Methoden wuchs. Der Glasgower Chirurgie-professor Lister propagierte 1867 das „antisepti-sche Prinzip“, also die Hemmung oderVernichtung von Wundinfektionserregern, undempfahl dazu das Antiseptikum Phenol. Bis 1915wurden Jod, Jodoform, verschiedene Kresol-mischungen, Lysol, Xylenol, Thymol, Naphtol,Benzoesäure und Formaldehyd erprobt und ein-geführt (Müller-Jahncke und Friedrich 1996).Auch in der Zahnmedizin begann eine Ära derAntisepsis. Prof. Otto Walkhoff stellte 1891 einestechend riechende antibakterielle Substanz, diePhenolverbindung kampferisiertes Chlorphenol(ChKM), zur Wurzelkanalbehandlung vor (Ingleet al. 2002).Pettenkofer wiederum hielt das Gerede von denBazillen für Schwindel und Unsinn. Er schlucktezum Entsetzen von Robert Koch ein ganzes Glasvon dessen Cholerabazillen, verdarb sich daranaber nicht einmal den Magen, was er für einen

Beweis seiner Ansicht hielt. So ging es offen-sichtlich zu „in jenen aufgeregten achtzigerJahren, als die Männer der Wissenschaft bereitwaren, ihr Leben zu wagen, um zu beweisen, dasssie Recht hatten” (de Kruif 1980).Ein später Widerschein der damaligenMikrobenbegeisterung bei gleichzeitiger hochgesteigerter Mikrobenfurcht scheint im Beitragvon Dr. Rüdiger Osswald in dieser Ausgabe des„DAZ-Forums“ vernehmbar zu sein. KollegeOsswald spricht sich für Wurzelkanal-Einlagenmit besagtem ChKM aus und rühmt dessenEigenschaften. Auch propagiert er eine weiteAufbereitung des Wurzelkanals in der Absicht,das Mittel bis in den Knochen vordringen zu las-sen.

Was ist dran anChKM-Wurzelkanal-einlagen?Dr. Osswald verbreitet viele theoretischeAnnahmen, berichtet aber über nur wenige expe-rimentelle Befunde. Nichts gegen Theorien:Aristoteles beispielsweise formulierte die Theorie„Männer haben mehr Zähne als Frauen“, was derZahnmedizin-Historiker Strübig (1989) damitkommentierte, auch Aristoteles sei fehlbar. Nurkann man die Theorie ja überprüfen. Vielleichtüberrascht das Ergebnis: Männer mittleren Altershaben tatsächlich knapp einen Zahn mehr alsFrauen... (Lenz 1999).Man sollte also Hypothesen aufstellen, die mög-lichst widerlegbar sind, und diese methodischsauber untersuchen und ggf. experimentell aufdie Probe stellen. Der Verfasser dieser Zeilen istder Ansicht, dass sich das am ehesten mit denMethoden der evidenzbasierten Medizin – die imübrigen ohnehin gerade das erkenntnisleitendeParadigma ist – bewerkstelligen lässt.

Dr. Harald Strippel, medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen Essen,Fachgebiet Zahnmedizinische Versorgung

Ist die Wurzelkanal-Desinfektion mit ChKM wirklich überlegen?

Dr. Osswalds Text lassen sich folgende Hypothesen entnehmen:

1. Die Ausschaltung der Bakterienbesiedelung inner- und außerhalb des Wurzelkanals ist entscheidend für den Heilerfolg der Wurzel-kanalbehandlung

2. ChKM beseitigt die Bakterienpopulation

3. Die Anwendung von ChKM führt zu besseren Überlebensraten der wurzelkanalbehandelten Zähne

4. „Geduldige“ Desinfektion ist nötig: eine größere Zahl an Zwischeneinlagen

5. ChKM ist unschädlich

DAZ FORUM 86 4. Quartal 200514

Sind Bakterien überhaupt wichtig?Zur ersten These ist zu sagen: Vereinfachendkönnen zwei Zustände der Pulpa, also des„Zahnnervs“, unterschieden werden: Sie lebt,oder sie ist tot (vital oder devital). Bei vitaler,aber erkrankter Pulpa (irreversibler Pulpitis =Entzündung) ist eine Vitalextirpation und eineBehandlung in einer Sitzung indiziert.Antibakterielle Zwischeneinlagen erübrigen sinddann.

Bei devitalen Pulpen ist die Pulpa zerfallen. Dasist in den meisten Fällen relativ unproble-matisch, weil keine oder nur eine geringeBakterienbesiedelung erfolgte. Durch Infektionmit Mikroorganismen kann jedoch eine Gangränentstehen. Miller beschrieb den Vorgang schon1889 zutreffend: „Nach eingetretener Nekrose[...] findet [...] eine Einwanderung von Fäulnis-pilzen statt; die Pulpa, resp. deren Rest, wird ineine stinkende, breiige oder flüssige Masseumgewandelt (gangränös).“ Bakterielle Toxine,die aus dem Wurzelkanal diffundieren, führen zueiner periapikalen Läsion im Kieferknochen(Auflösung des Knochens rund um die Wurzel-spitze, was im Röntgenbild sichtbar ist). Ob dieMikroorganismen ebenfalls den WurzelkanalRichtung Knochen verlassen? Das dürftewesentlich von der Abwehrlage des Individuumsabhängen. Eine breite Erweiterung desWurzelkanals bis zur Wurzelspitze, wie sie Dr.Osswald propagiert („kontrollierte, forcierteAufbereitung über den Apex hinaus, in denEntzündungsherd im Knochen hinein“) trägt aufjeden Fall Bakterien in den Kieferknochen, fallsdort vorher noch keine waren.

Kein Zweifel: bei devitalen und insbesondere beigangränösen Zähnen ist die Keimbekämpfungwichtig. Aber ohne dass es an dieser Stelle wei-ter ausgeführt werden soll: Es müssen keines-wegs alle Mikroorganismen im umfangreichenWurzelkanalsystem beseitigt werden.

Beseitigt ChKMBakterien?Eine Einlage zwischen den Behandlungs-sitzungen soll dazu dienen, eine Re-Infektionoder eine Vermehrung verbliebener Mikroorga-nismen zu verhindern, Schmerzen zu lindern undEntzündungen zu vermindern (Jenkins et al.2001).

An devitalen, infizierten Zähnen wurde der Effektvon ChKM-Einlagen im Vergleich zu einerKontrollgruppe ohne Einlagen verglichen.Tatsächlich führte die ChKM-Einlage zu einerKeimzahlreduktion in den Kanälen. Allerdings –bereits die instrumentelle Aufbereitung desKanals und Spülung mit Wasserstoffperoxid undNatriumhypochlorid hatte vielfach zur Bakte-rienfreiheit geführt. Allein durch die Aufberei-

tung und Spülung reduzierten sich die bakterien-belasteten Kanäle um 38% (Koontongkaew et al.1988, Law und Messer 2004). Die Autorenmaßen daher dem zusätzlichen antimikrobiellenEffekt des ChKM keine hohe Bedeutung bei.

In einem anderen klinischen Versuch warensogar nur 25% der mit ChKM im Wattepelletversorgten Zähne bakterienfrei geworden (Chenund Messer 1988). Eine mögliche Erklärung lie-fern Laborstudien an extrahierten Zähnen. Siezeigten, dass ChKM nach kurzer Zeit zu 90%bzw. zu 76% gar nicht mehr im Wurzelkanal vor-handen ist (Messer und Chen 1984, Chen undMesser 1988). Die Flüssigkeit verlässt denWurzelkanal über das Dentin und dieWurzelspitze. Gulabivala (2005) weist daraufhin, dass die antibakterielle Wirkung deshalbnicht lange anhält. Ein anderes Lehrbuch führtaus: „Kontakt mit Gewebeflüssigkeit machtPhenolpräparate innerhalb kürzester Zeit wir-kungslos“. Es komme nur kurzfristig zu einemkeimreduzierenden Effekt (Beer et al. 2004).

ChKM wirkt demnach nur eine Weile. Deshalbeliminiert es Bakterien auch nur teilweise. Dr. Osswalds Annahme, ChKM sei in der Lage„alle bakteriell infizierten Bereiche zu desinfizie-ren“, trifft nach derzeitiger Datenlage nicht zu.

ChKM besser als Calciumhydroxid?Als Standardmedikament für Zwischeneinlagenwird heutzutage Calciumhydroxid verwendet;auch bei devitalen Zähnen. Es handelt sich umein basisches Salz, dessen Wirkung am besten ist,wenn es nicht als Fertigpräparat mitTrägersubstanzen angewandt, sondern schlichtmit Wasser zu einer Paste angerührt und in denWurzelkanal eingebracht wird. Der Apothekerstellt der Zahnarztpraxis das Pulver etwa alleacht Wochen frisch zur Verfügung, dieZahnärztliche Fachangestellte rührt es direkt vorder Verwendung an – das war‘s. Calciumhydroxid

ist ein sehr kostengünstiges und übrigens auchgeruchsfreies Medikament. Die meisten – nichtalle – Keime werden vernichtet. Der gute anti-bakterielle Effekt von Calciumhydroxid ist vorallem darauf zurückzuführen, dass das Salz lang-fristig wirkt. Es setzt über eine lange Zeit in aus-reichender Menge Ionen frei. Calciumhydroxidhat überdies den Vorteil, bakterielle Toxine(Giftstoffe von Mikroorganismen) auch von„Problemkeimen“ wie E. Coli zu neutralisieren(Barthel 1997, Gulabivala 2005). BakterielleToxine spielen eine große Rolle bei derEntstehung einer periapikalen Entzündung(Torabinejad und Walton 2002). Außerdem löstCalciumhydroxid zerfallenes Pulpagewebe auf. In der klassischen Studie von Byström et al.(1985) wurden bei infizierten Zähnen mit peria-pikaler Läsion Einlagen mit Calciumhydroxid mitsolchen aus ChKM verglichen. Nach einmonati-ger Calciumhydroxideinlage fanden sich nurnoch in 3% der Wurzelkanäle Bakterien, wäh-rend nach ChKM-Einlage noch in einem Drittelder Kanäle Bakterien vorhanden waren.Verglichen mit dem Effekt der Spülung undAufbereitung des Kanals, die laut dieser Auto-rengruppe bereits aus 50% der Kanäle alleBakterien eliminierte, seien die klinischen Ergeb-nisse von ChKM „nicht sehr eindrucksvoll.“ Barbosa et al. (1997) fanden dagegen im klini-schen Versuch keine Unterschiede in der anti-mikrobiellen Wirkung von ChKM, Calcium-hydroxid und Chlorhexidin.Eine aktuelle systematische Übersicht zurEffektivität der verschiedenen Einlagemedika-mente im Hinblick auf die Bakterienreduktionergab, dass Kanalaufbereitung und -spülung amstärksten zur Keimreduktion führt undCalciumhydroxid geeignet ist, die Keimbelastungweiter zu reduzieren. Nach Ansicht dieserForschungsgruppe lagen keine Studien mit aus-reichender Qualität zu ChKM vor, die Aussagenzu dessen Wirksamkeit erlaubt hätten (Law undMesser 2004).Im Laborversuch verhinderte Calciumhydroxiderheblich besser als ChKM die Rekontamination(bakterielle Wiederbesiedelung) von Wurzel-kanälen (Siqueia Junior et al. 1998). Menezes etal. (2004) konnten dagegen im Laborversuch kei-nen Wirkungsunterschied der beiden Medika-mente feststellen. In einer Studie von Valera etal. (2001) erwies sich ChKM-Paste als effektiverals Calciumhydroxid im Hinblick auf dieVerhinderung der Anzüchtung eines bestimmtenKeimes im Wurzelkanal. Nicht bewiesen ist aller-dings die Relevanz des Keims für den klinischenErfolg.Versümer und Hülsmann (2003) kommen zurSchlussfolgerung, dass ChKM als Desinfektions-mittel für Wurzelkanäle nicht indiziert ist. Esstehe mit Calciumhydroxid ein effektiveres undMaterial zur Verfügung. Laut Arzneimittel-kommission Zahnärzte (BZÄK/KZBV/IDZ 2000)„gilt nurmehr das zeitweise Einbringen vonCalciumhydroxid als angebracht.“ Das Dentalva-demekum (BZÄK/KZBV/IDZ 2004) bezeichnet nurCalciumhydroxid-Pasten und Chlorhexidin als„unstrittig“. Die noch im Handel befindlichenMischungen mit Phenolderivaten (ChKM,Cresophene, ED 84, Endotine, Rockles Caustique)werden als nur „früher üblich“ bezeichnet.

Von Zahnärzten für Zahnärzte 15

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ChKM-Anwendung ist ineffizient Dr. Osswald berichtet, eine „sorgfältige undgeduldige“ Desinfektion sei erforderlich. Daskann interpretiert werden als eine größereHäufigkeit an Zwischeneinlagen. Der Patientmuss also häufiger in die Praxis kommen.Die Anzahl der Sitzungen und der Einlagewech-sel hat zumindest bei Verwendung von Calci-umhydroxid keinen Einfluss auf den Erfolg derWurzelkanalbehandlung (Basmadijotian-Charleset al. 2002, Kvist et al. 2004, Weiger et al. 2000).Diese Erkenntnis aufnehmend, hat der Bewer-tungsausschuss medikamentöse Einlagen gemäßBema-Nr. 34 grundsätzlich auf drei Sitzungenbeschränkt (begründete Ausnahmen sind mög-lich). Nach Ziffer 4 der Allgemeinen Behand-lungsrichtlinien des Bundesausschusses hat dieTherapie dem Gebot der Wirtschaftlichkeit zuentsprechen.Die Anwendung des weniger wirksamen Medi-kaments ChKM erfordert u. U. eine höhere Zahlan Einlagesitzungen und verletzt dann das Gebotder Wirtschaftlichkeit. Gleichzeitig kann dieChKM-Anwendung nicht als fachlich nachvoll-ziehbare Begründung für eine Überschreitungder Häufigkeitsbeschränkung von Zwischenein-lagen gelten. Den Patienten ist eine privatzahn-ärztliche Vereinbarung zusätzlicher ChKM-Einlagen nicht zu empfehlen.

ÜberlebensrateDie Erfolgsrate verschiedener Einlagen imHinblick auf die Überlebensdauer der Zähnekönnte überzeugend nur durch eine im vorhineingeplante, klinisch kontrollierte Vergleichsunter-suchung mit Zufallszuweisung verschiedenerMedikamente und Langzeitbeobachtungermittelt werden; eine solche Studie gibt esjedoch nach Kenntnis des Verfassers noch nicht. Nach Cheung (2002) haben der Zahntyp, dieWandständigkeit der Füllung im unteren Wur-zeldrittel und auch das EinlagemedikamentEinfluss auf den Erfolg der Wurzelkanalbehand-lung. Calciumhydroxid erwies sich als besser alseine corticoidhaltige Paste (Ledermix). Allerdingsist die Aussagekraft der Studie durch ein retro-spektives Studiendesign eingeschränkt.Insofern wundert es nicht, dass der Faktor „Artder medikamentösen Einlage“ kontrovers disku-tiert wird. Wahrscheinlich sind die Faktoren„Infektion“ und „periapikale Läsion“ bedeutsamfür die Prognose (Basmadijotian-Charles et al.2002, Friedman et al. 2003); aber eine abschlie-ßende Einschätzung dieser Faktoren und der„Überfüllung/Unterfüllung“ bei infizierter Pulpaist nach Auffassung von Weiger et al. (2000)gegenwärtig nicht möglich. Chong und Pitt Ford(1992) jedenfalls weisen der sorgfältigen undkompletten Aufbereitung der Hauptkanäle fürden Erfolg der Wurzelkanalbehandlung einehöhere Wichtigkeit als der Verwendung einesEinlagemedikaments zu. Vor diesem Hintergrundbestätigt sich eine altbekannte Grundregel derEndodontie: Es ist wichtiger, was man aus demKanal heraus holt, als was man hinein gibt.

Ist ChKM unschädlich?Toxizität und immuno-logische Aspekte

Antiseptische Einlagen sollen Mikroorganismenausschalten, aber gleichzeitig nicht das periapi-kale Gewebe schädigen (Nicholls 1984).Mögliche giftige, gesundheitsschädigende Wir-kungen – also die Toxizität – sind demnach auchbei Wurzelkanaleinlagen zu prüfen. Chang et al.(1999) wiesen nach Anwendung vonParachlorphenol eine Hemmung des Stoffwech-sels und der Vermehrung menschlicher Zellennach. Früher wurde angenommen, der in ChKMenthaltene Kampfer setze die toxische Wirkungherab. Neuere Studien zeigen das Gegenteil.Reiner Kampfer wirkt eindeutig zytotoxisch (aufSäugetierzellen toxisch), und kampferhaltigePhenolverbindungen wirken stärker toxisch aufPulpazellen als solche ohne Kampfer (Soekantoet al.1996). Die von Dr. Osswald zitierten anders-lautenden Angaben von Otto Walkhoff oder derHerstellerfirma lassen sich also nicht bestätigen.Cheng und Messer (1988) stellten im Labor-versuch fest, dass die Zytotoxizität des ChKMdessen antibakterielle Wirkung übertrifft undschlossen daraus, dass es immer schwierigerwerde, die fortgesetzte Anwendung desMedikaments bei der endodontischen Behand-lung zu rechtfertigen. Schäfer (2001) ist derAuffassung, die Anwendung von Einlagen aufChlorphenolbasis sei unter biologischenAspekten „strikt abzulehnen“.

ChKM ist demnach eine Substanz mit einerschlechten Biokompatibilität. Dass trotzdemkaum toxische Effekte am Menschen berichtetwerden lässt vermuten, dass Abwehr- undReparaturmechanismen die schädigendenEffekte des Medikaments übertreffen. Dennochsollte ein anderes antimikrobielles Wurzelkanal-medikament mit einem besseren Nutzen-Risiko-Verhältnis gewählt werden (Estler 1993, Messerund Feigal 1984). Versümer und Hülsmann(2003) verweisen auf Calciumhydroxid als bio-kompatibleres Material.

Einen weiteren Aspekt diskutieren europäischeEndodontie-Leitlinien. Sie besagen, dass wegender Vermeidung der Entwicklung von Allergienkeine immunologisch wirksamen Medikamentefür Einlagen, die auf organischem Materialbasieren, verwendet werden sollten (ESE 1994).Daher seien Desinfektionslösungen, die auf orga-nischen Bestandteilen basieren, wie Phenole –einschließlich ChKM – oder Aldehyde, nicht zuempfehlen. Vielmehr sollten anorganischeMaterialien verwendet werden.

Reste abgestorbener Bakterien sind ebenfallsimmunologisch wirksam und im Hinblick auf dasAbheilen von apikalen Läsionen möglicherweiseungünstig (Weiger et al. 2000). Dass ChKM der-artige Zellbestandteile auflöst ist nicht nachge-wiesen und aufgrund seiner chemischenZusammensetzung auch unwahrscheinlich. FürCalciumhydroxid ist dies jedoch nachgewiesen.

Wenn die Wurzelkanalbehandlungnicht in einer Sitzung abgeschlos-sen wird, ist nach dem derzeitigenStand der wissenschaftlichenErkenntnisse die Standardmetho-de Calciumhydroxid als Zwischen-einlage zu verwenden. ChKM istweder ausreichend antibakteriellwirksam noch ausreichend bio-kompatibel. Angeblich überlegeneEigenschaften des ChKM entspre-chen einem Wunschdenken.ChKM-Einlagen sind daher nichtzu empfehlen, auch wenn siemomentan nicht als definitivobsolet bezeichnet werden kön-nen.

Um nochmals auf die oben skiz-zierten Errungenschaften derhumanmedizinischen „Bakterien-jäger“ im 19. Jahrhundert zu-rückzukommen: Die Erkrankungs-rate an Diphterie, Tuberkulose,Masern, Keuchhusten etc. zeigtesich völlig unbeindruckt von derAufdeckung der bakteriellenErreger. Und selbst die viel spätereEntwicklung von wirksamenTherapien hat im Gegensatz zurlandläufigen Meinung fast nichtszum Erkrankungsrückgang undzur Verbesserung der Lebens-erwartung beigetragen. DerRückgang der Infektionskrank-heiten zwischen 1860 und 1965hatte sich zu 90% bereits vollzo-gen, bevor Antibiotika eingeführtwurden (Porter 1972, zit. n. Illich20). Die 1947 entwickelte Chemo-therapie der Tuberkulose warzweifellos segensreich für diedann noch Betroffenen, aber aufden Zeitraum zwischen 1848 und1971 bezogen verhinderte sie nur3,2% der Todesfälle (McKeown1979).

Das ist auch für zahnärztlicheBakterienjäger ernüchternd. Bei alldem Disput über die Feinheitender Wurzelkanalbehandlung solltedeshalb nicht aus dem Blick gera-ten: Wurzelfüllungen verhindernkeine Karies. Das geht nur miteiner Verbesserung der Bildungund der sozialen Verhältnisse, mithalbiertem Zuckerkonsum, mitFluoridanwendung und Mund-hygiene.

Dr. Harald Strippel M.Sc Literatur bei der Redaktion

FAZIT:

DAZ FORUM 86 4. Quartal 200516

S. 14 - 16 Strippel neu 21.11.2005 15:42 Uhr Seite 3