Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch...

11
Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen. Wenn das soziale Umfeld fremd ist, kommt der Mensch in eine Krise, weil seine Identität in Frage gestellt wird. Viele Auswanderer reagieren auf diese Situation, indem sie versuchen, ihresgleichen und einen Ort, der ihnen zumindest einen Teil der verlorenen Gesellschaft ersetzt, zu finden. In den Jahren der Emigration, nach Kriegsende bis in die achtziger Jahre, kamen italienische Restaurants in Zürich Oerlikon diesem Bedürfnis entgegen. Es folgen eine Liste, eine Serie von Fotografien und ein paar Geschichten: 1 Amaducci 2 Heimat 3 Rosengarten 4 Flora Nachstehend der Quartierplan von Zürich-Oerlikon mit dem Bahnhof und den mit Nummern markierten Restaurants, wo sich die Italiener trafen. 1

Transcript of Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch...

Page 1: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)

Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen. Wenn das soziale Umfeld fremd ist, kommt der Mensch in eine Krise, weil seine Identität in Frage gestellt wird. Viele Auswanderer reagieren auf diese Situation, indem sie versuchen, ihresgleichen und einen Ort, der ihnen zumindest einen Teil der verlorenen Gesellschaft ersetzt, zu finden.

In den Jahren der Emigration, nach Kriegsende bis in die achtziger Jahre, kamen italienische Restaurants in Zürich Oerlikon diesem Bedürfnis entgegen. Es folgen eine Liste, eine Serie von Fotografien und ein paar Geschichten:

1 Amaducci2 Heimat3 Rosengarten4 Flora

Nachstehend der Quartierplan von Zürich-Oerlikon mit dem Bahnhof und den mit Nummern markierten Restaurants, wo sich die Italiener trafen.

1

Page 2: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

AMADUCCI

Das Haus an der Binzmühlestrasse 28 in Zürich-Oerlikon war seit 1930 im Besitz der Familie Amaducci und wurde 1959 abgebrochen.

2

Page 3: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

Erzählung von Libero V.

Geboren 1937 in Mirandola Modena (Italien), in der Schweiz seit 1955

Beruf: anfangs arbeitete ich als Dreher in der Maschinenfabrik Oerlikon, dann in der Firma Contraves AG in Seebach als Einkäufer.

In der 50-er Jahren lebte ich bei meinen Eltern in Glattbrugg. In der MFO lernte ich neue Freunde kennen, kaufte mir dann ein Fahrrad, und nach der Arbeit ging ich öfter ins Restaurant Amaducci in Oerlikon.

Amaducci war der traditionelle, beinahe zwingende Treffpunkt der Italiener in Oerlikon. Man sprach fast ausschiesslich italienisch und italienische Dialekte, je nach Personen-Gruppe. Die Tische waren ohne Tischdecke. Man wurde von einem kaum zu verstehenden Stimmengemisch begrüsst, der Rauch füllte den ganzen Raum. Manchmal fühlte ich mich wie in meiner Heimat im Süden von Modena, wo man bei Nebel nur 2 Meter weit sehen kann, Amaducci war nicht nur ein Restaurant, sondern ein Ort, wo man sich für Arbeitsmöglichkeiten informieren konnte, ebenso überWohnungsunterkünfte, Kauf und Verkauf verschiedener Gegenstände, wo getanzt wurde - kurz gesagt, ein Treffpunkt wie der Dorfplatz einer Gemeinde.

Damals hatte ich nicht das Geld, um die Zeitung “la Gazzetta dello Sport” zu kaufen, deshalb las ich aus den Zeitschriften, die auf den Tischen des Restaurant lagen. Die Freizeitmöglichkeiten waren nicht gross, und mit wenig Geld in der Tasche noch geringer. Wir spielten stundenlang Karten, Schach und Dame und diskutierten stundenlang über Fussball. Im Sommer konnten wir draussen Boccia spielen.

Hinter dem Restaurant war eine Abstell-Baracke, deren Tür oft halb offen stand. Man sah Personengruppen schreien, fluchen und gestikulieren, und bei genauem Hinsehen sah man wie Banknoten von Hand zu Hand wechselten. Ich wollte das Morra-Spiel weder lernen noch spielen. Das Spiel war offiziell verboten. Einige Male sah ich Personen, die ein wenig bedrückt den Raum verliessen.

Nachdem das alte Restaurant 1959 geschlossen wurde, ging ich eine Zeitlang ins Restaurant Heimat, aber es gefiel mich nicht.

Libero V.Glattbrugg, Sept. 2014

3

Page 4: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

1960 entstand an der Kreuzung Binzmühlestrasse/Friesstrasse ein Neubau, wo das neue Restaurant Amaducci wieder eröffnet wurde. Während vielen Jahren wurde es weiterhin von den in Zürich-Nord lebenden Italienern besucht.

In den 60er Jahren konnte die Einwanderung von qualifizierterem Personal festgestellt werden. Viele Italiener waren in der Lage, sich auf Deutsch zu verständigen und waren somit besser in die Gesellschaft integriert.

4

Page 5: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

Erzählung von Michele F.

Geboren 1940 in Rom, in der Schweiz von 1961 bis 1965

Beruf: Technischer Sachbearbeiter bei der Firma Contraves in Seebach.

Ich wohnte an der Andreas-Strasse, eine Querstrasse der Ohmstrasse, unweit vom Restaurant Amaducci, das ich “little Italy” nennen möchte, da wir Italiener vom Quartier Oerlikon dort zusammenkamen.

Man konnte die Bestellung in italienischer Sprache machen, was für jene die erst seit kurzem in Zürich lebten angenehm war. Man konnte italienisch essen, obwohl wir die schweizerische Gewohnheit (d.h. ein einziger Teller mit Fleisch und Spaghetti) nicht verstanden.

Ich erinnere mich, wie theatralisch es beim Zahlen zuging: die Kellnerin (Fräulein) machte schnellstens ihre Rechnung auf “Schweizerdeutsch”, danach „feuerte“ sie die Summe auf italienisch.

Ausser einem Restaurant war Amaducci ein Treffpunkt, wo wir die ersten Erfahrungen wie auch nützliche Informationen über Arbeit und Unterkunft austauschten, man fühlte sich wie auf einem Dorfplatz in Italien.

Am Samstag spielte man Karten. Am Sonntag aber haben ich und meine Freunde das Restaurant Amaducci übergangen, indem wir in's Restaurant “Ciro” gingen. Dieses war bekannt für seine Bandnudeln mit Sauce und dafür, dass für jede Brotscheibe zusätzlich 10 Rappen verlangt wurden.

Neue Freunde und die Erlernung der deutschen Sprache führten dazu, dass wir uns nach und nach vom Restaurant Amaducci entfernten, aber für uns Italiener blieb es ein Rettungsanker, speziell in den ersten Jahren der Einwanderung.

Michele F.Milano, Okt. 2014

5

Page 6: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

HEIMAT

Affolternstrasse 9, Zürich-Oerlikon, von 1945 bis 19751975 wurde das Gebäude von den SBB erworben und abgebrochen.

Erzählung von Antonio D.

Geboren 1934 in Rom, seit 1960 in der Schweiz

Beruf: Werkzeugmacher bei SRO in Zürich Oerlikon.

Das Restaurant Heimat befand sich an der Affolternstrasse 9, nahe dem Bahnhof Oerlikon. Der Name des Gastwirtes italienischer Abstammung war Carlo.

Der Restaurant Heimat war ein Treffpunkt von Einwanderern, die im Quartier Oerlikon lebten und arbeiteten. Es wurde von Personen aller Altersgruppen – vorwiegend Italienern, einige Spaniern undwenigen Schweizern besucht. Das Lokal war täglich bis Mitternacht geöffnet, und am Sonntag war es voll besetzt.

Die Heimat war mein bevorzugter Treffpunkt. Zum Essen ging ich in's Restaurant Rosengarten. In die Heimat ging ich von 1960 bis 1980, ein Ort mit freundlicher Atmosphäre, und um Freunde zu treffen. Niemals habe ich Streit erlebt, und niemand trank übermässig. Beim Eintreten wurde man von einem vertrauten Redeschwall und einer Rauchwolke empfangen. Man sprach italienisch und begegnete Personen der verschiedensten Regionen Italien's. Zu jener Zeit war ich ein starker Raucher, hatte gerne Gesellschaft, spielte Karten (briscola, tresette) und liebte gemeinsame Gespräche.

Die Heimat war für mich der ideale Ort, wo ich mich frei, gut aufgehoben, mit anderen gleichwertig fühlte und wo ich einige unbeschwerte Stunden geniessen konnte, um die harte Realität der ersten Jahre der Einwanderung zu vergessen.

Antonio D.Zürich, Sept. 2014

6

Page 7: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

2014 Bahnhof Oerlikon (Gleis 9) mit Affolternstrasse. Das Gebäude rechts wurde dort erstellt, wo sich bis 1975 das Restaurant Heimat befand.

7

Page 8: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

ROSENGARTEN CASA ITALIA

Restaurant Rosengarten an der Schaffhauserstrasse 337, Zürich-Oerlikonvon 1950 bis 1960

8

Page 9: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

Das neue Gebäude an der Kreuzung Schaffhauserstrasse/Franklinstrasse, wo sich bis 1960 das Restaurant Rosengarten befand.

Restaurant Rosengarten, Franklinstrasse 4, von 1960 bis 2006.

Das Restaurant Rosengarten war bekannt für seine gute italienische Küche und seine günstigen Preise. Zum Mittag- und Abendessen war es immer vollbesetzt.

9

Page 10: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

FLORA

Das Gebäude Ecke Schaffhauserstrasse/Schwamendingenstrasse, wo sich bis 1983 das Restaurant Flora befand und dann abgebrochen wurde.

Das Restaurnt Flora wurde vorwiegend von Schweizern und Italienern besucht. Die Atmosphäre war gemütlich, und man traf sich, um etwas zu trinken und Karten zu spielen. Nach der Schliessungdes Restaurants Heimat im Jahr 1975 wechselten viele Italiener zum Flora.

10

Page 11: Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon)...Italienische Restaurants (Zürich-Oerlikon) Der Mensch braucht Beziehungen zu Mitmenschen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen.

Das neue Gebäude an der Kreuzung Schaffhauserstrasse/Schwamendingenstrasse, wo sich bis 1984 das Restaurant Flora befand. Heute gibt es kein Restaurant mehr. Die einzige Erinnerung an das frühere Gebäude ist der Brunnen an der Ecke.

Autor:Sandro B.Zürich, 25. Sept. 2014

Aktuelle Fotografien:Sandro B.Archiv-Fotografien vom Quartierverein Zürich-Oerlikon

11