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Jo Reichertz · Nadia Zaboura (Hrsg.)

Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des handelnden Subjekts

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Akteur Gehirn –oder dasvermeintliche Endedes handelndenSubjektsEine Kontroverse

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1. Auflage August 2006

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Frank Engelhardt

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ISBN-10 3-531-14930-XISBN-13 978-3-531-14930-1

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Inhaltsverzeichnis

Jo Reichertz Akteur Gehirn - oder das vermeintliche Ende des sinnhaft handelnden und

............................................................................... kommunizierenden Subjekts 7

I Neurowissenschaftliche Positionen

Georg Northoffund Kristina Musholt Konnen wir unser eigenes Gehirn als Gehirn erkennen? .................................... 19

Hans J. Markowitsch Gene, Meme, ,,freier Wille": Personlichkeit als Produkt von

................................................................................. Nervensystem und Umwelt 3 1

I1 Die Frage nach der Willensfreiheit - Konsequenzen fiir die Sozialwissenschaften

Bettina Walde ............................ Die kausale Relevanz des Mentalen - Illusion oder Realitat? 47

Gerd Nollmann Das neuronale Korrelat und Max Webers Konzept der soziologischen Kausalerklarung - Warum die Neurowissenschaft keine Konkurrentin der Soziologie ist ....................................................................................................... 61

Martin Engelbrecht ............................... Wie vie1 Freiheit braucht die sinnverstehende Soziologie? 79

I11 Soziales Handeln und Intentionalitat

Peter Stegmaier Die Bedeutung des Handelns - Zum Verhaltnis von Wissenssoziologie und neuropsychologischer Hirnforschung ................... .... ..................................... 101

Jurgen Kluver Sinnverstehende Soziologie, Neurobiologie und die Mathematik des Gehirns ........................................................................................................ 12 1

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6 Inhaltsverzeichnis

Werner Vogd Wer entscheidet, wer entscheidet? Fragen zur Theorie und Empirie mgerechneter Intentionalitat ............................................................................. 137

IV Soziale Phanomene auBerhalb kognitiver Kontrolle: Emotion, intuitives Verstehen und Kreativitat

Rainer Schiitzeichel ................................... Emotionen zwischen Amygdala und sozialer Semantik 159

Naziker Bayram und Nadia Zaboura ................................................. Sichern Spiegelneurone die Intersubjektivitat? 173

Jo Reichertz Was bleibt vom gottlichen Funken? ~ b e r die Logik menschlicher

.......................................................................................................... Kreativitat 189

V Das Ich in Psychologie und Psychoanalyse

Simone Reinders ...................................... The Psychobiology of Dissociative Identity Disorder 207

Giinther Bittner ES-1ch- ber rich oder entzweites Ich?

............ Eine Kontroverse, die neurowissenschaftlich nicht zu entscheiden ist. 227

Joachim Renn und Barbara Zielke Das Trauma der Hirnforschung - Der Einzug der Neurobiologie in die psychoanalytische Traumatologie als Symptom der gesellschaftlichen Naturalisierung des Subjektiven ....................................................................... 239

VI Die Neurowissenschaften als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse

Gesa Lindemann Die Du-Perspektive in der Himforschung ........................................................ 263

Sabine Maasen Himforscher als Neurosoziologen? Eine Debatte zum Freien Willen im Feuilleton ....................................................................................................... 287

Autorinnen und Autoren ..................... ... ..................................................... 305

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Akteur Gehirn - oder das vermeintliche Ende des sinnhaft handelnden und kommunizierenden Subjekts

Jo Reichertz

Ein Mann liegt seit Wochen im Koma. Urn ihn herum stehen sein Bruder, eine Kollegin und ein Professor der Psychologie und Neurowissenschaften, sinniger Weise mit dem Namen Pawlow. Alle wollen wissen, was der Komatose als letz- tes gedacht oder gesagt hat. Dazu haben sie sein Gehirn verdrahtet und die Kabel an einen leistungsfdhigen Rechner angeschlossen. Der Professor erklart, dass die Drahte an den Teil des motorischen Kortex angeschlossen seien, der die Bewe- gungen der Zunge, des Unterkiefers, der Lippen, der Lunge und der Stimmban- der kontrolliert und dass der Rechner in der Lage sei, die Gedanken des Komato- sen aufgmnd des Bereitschaftspotentials der einzelnen Muskeln zu lesen. Der Computer ermittelt die Daten, und der Rechner druckt dann aus, was der Koma- tose als Letztes nicht nur dachte, sondern auch sagen wollte, aber nicht mehr konnte: ,,Vorsicht auf dem Reissnerschen Faden" (Nyary 1999: 107).

Uns muss nicht interessieren, was der Komatose mit der Warnung vor dem Reissner'schen Faden sagen wollte, und natiirlich handelt es sich bei den erzahl- ten Ereignissen um Fiktionen eines Romanautors. Dennoch: Science Fiction nahm schon oft etwas vonveg, was spater Wirklichkeit wurde. Hier in dem Ro- man ,Die Psychonauten', der 1999 erschien, ist nun das bereits moglich, was sich die Zunft der Gehirnforscher erh-aumt, namlich dass man mit Hilfe der Mes- sung von Gehirnstromen Gedanken lesen oder voraussagen kann, was jemand gleich laut sagen, aussprechen wird. Dieser Traum der Gehirnforscher ist selbst eine Stellungnahme zu einem alten Problem, das in allen Gesellschaften bearbei- tet werden muss und das im Zentrum einer Tagung an der Universitat Duisburg- Essen (November 2005) stand - namlich der Frage nach der Instanz im mensch- lichen Organismus, die letztlich sinnhaft handelt und kommuniziert.

Lassen Sie mich aus wissenssoziologischer Sicht das hier angesprochene Problem noch einmal kurz in Erinnemng mfen: Eine der ganz wenigen basalen Unterscheidungen im Wissensbestand der Gattung Mensch, die man fast iiberall antreffen kann, ist die Unterscheidung zwischen der ,sozialen Welt' und der ,naturlichen Welt'. Zur ersten Welt zahlen die Menschen all jene, von denen sie glauben, dass sie in wesentlichen Punkten so sind wie sie selbst (also andere Menschen und solche Wesen, von denen sie glauben, dass sie im Kern wie Men-

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schen agieren, also Gotter, Geister und manchmal auch Tiere oder Pflanzen), zur anderen Welt gehoren all jene, von denen sie glauben, dass sie in wesentlichen Punkten nicht so sind wie sie selbst, also Berge, Meere und das Wetter, meist auch Pflanzen und Tiere.

Was auf dieser Welt der einen Gruppe oder der anderen Gruppe angehort, das ist jeweils das Ergebnis historischer Verstandigungsprozesse - genauer: also solcher Prozesse, die sich in historisch gewachsenen Formen, mit historisch relevanten Argumenten, validiert und gestiitzt von gesellschaftlicher Macht und immer mittels Kommunikation sich vollziehender Aushandlungsprozesse (all- gemein hierzu Berger und Luckmann 1969 und Soeffner 2000) vollziehen.

Auch uber das wesentliche Merkmal, aufgrund dessen etwas der einen oder der anderen Gruppe zugeordnet werden kann oder werden soll, wurde m allen Zeiten verhandelt. Einig war und ist man sich lediglich dariiber, dass die Mog- lichkeit und der Wille, den Lauf der Welt durch eigene Entscheidung undioder bewusstes Handeln zu andem oder doch zumindest zu dem Lauf der sozialen und natiirlichen Welt Stellung zu nehmen, ein zentrales Kriterium sein soll. Die Ent- scheidung oder (wenn man nur ganz defensiv argumentieren will) die Stellung- nahme selbst kann in dieser Weltsicht auf verschiedene mentale Operationen zuriickgehen, (die naturlich alle auf envorbenem Wissen basieren): entweder auf ,rationales' Denken, bewahrte Routinen, nicht-rationales Fuhlen oder intuitive ,Korperprozesse'.

Das ,rationale' Denken gilt meist als der Paradefall der Sozialwissenschaf- ten: Hier fiihlt sich ein Subjekt, ein Ich, als Entscheider, weil es selbst entschei- det, weil es will und sich in diesem Wollen sicher verspurt. Routinen werden gem als unproblematische Varianten des ,rationalen' Denkens angesehen: ,Rati- onales' Denken, das sich bewahrt hat, wird demnach aus arbeitsokonomischen Griinden ins Unterbewusstsein verlagert und bei Bedarf immer wieder (bewusst- seinslos) hervorgerufen, konnte aber jeder Zeit gestoppt und revidiert werden - im Ubrigen eine Einschatmng, die ubersieht, dass ein GroBteil der Routinen nicht den Weg vom Bewussten zum Unterbewussten gegangen sind. Emotionen nehmen ohne Zweifel Stellung zu dem Lauf der Welt, indem sie vor allem be- werten und auf Handeln drangen. Aber fiir die Sozialwissenschaften sind sie weitgehend terra incognita, was dazu gefiihrt hat, dass ihre Bedeutung massiv unterschatzt wird. Noch schwieriger ist der Begriff der ,intuitiven Korperprozes- se' zu fassen. Also solche Prozesse des Handelns, Kommunizierens und Deutens (besonders gut sichtbar bei weiten Teilen der nonverbalen Kommunikation), die vollig ohne unser Wissen stattfmden und somit nicht unter unserer Kontrolle sind. Auch sind hier die oft und verlasslich beschriebenen Prozesse gemeint, die spontan und ebenfalls ohne bewusste Kontrolle zur Findung neuer Erkenntnisse fiihren (Abduktion).

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Sehr gebrauchliche Begriffe fiir diese Instanz der aufgrund von Kognition, Routinen, Emotionen und Korperprozessen ,handelnden Stellungnahme' (= Ent- scheidung) sind ,Seele' (auch ,Psyche') oder auch ,Ich' (auch: das Selbst, das Ego oder die Identitat). ~ b e r die Substantialitat und die Qualitaten dieser Instanz ratselt man (trotz alltagsweltlicher Gewissheit, dass sie existiert und was sie ist) schon seit ~ahrhunderten' - nicht nur in den durch die europaische Philosophie beeinflussten Regionen, aber hier besonders intensiv. Das hat gewiss auch mit der westlichen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, und hier vor allem mit der Religions- und Philosophiegeschichte zu tun, ist doch diese Instanz der han- delnden Stellungnahme Gegenstand und Zielpunkt all dieser Wissensgebiete.

Georg Buchner, der 1836 uber die Hirnnerven von Fischen und Menschen in Zurich promovierte und dann als Erstes , ~ b e r Schadelnerven' las, fiagte auch in seinen literarischen Arbeiten immer wieder nach der Natur des Inneren: ,,Was ist das, was in uns lugt, hurt, stiehlt und mordet?" (Buchner 1965: 33 - Dantons Tod). Oder anders: Wer oder was ist das, das denkt, das hhlt , das Entscheidun- gen trifft? Wer spricht, wer kommuniziert? Was ist das, was einen Anderen liebt und noch arger die Frage: Was ist das eigentlich, das vom Anderen geliebt wird?

Zur Zeit ist die Diskussion uber diese Instanz, deren Sitz im Laufe der Ge- schichte im Inneren des menschlichen Kdrpers, wenn auch in unterschiedlichen Regionen (Gehirn, Herz, Magen etc.) vermutet wurde und wird, ma1 wieder in einer heirjen Phase. Einig ist man sich - zumindest in der wissenssoziologisch informierten Diskussion -, dass die Vorstellungen uber diese Instanz selbst sozi- alen Urspmngs sind und damit abhangig von Zeit und Kultur variieren. Dies zeigt auch eine kurze Skizze der Historie dieser Vorstellung.

Homer sang fast ein Jahrtausend vor der christlichen Zeitenwende zwei be- riihmte Lieder: das erste uber den Abstieg einer seinen Gefiihlen vertrauenden, jahzornigen und ehrlichen mannlichen Identitat (Achill) und das zweite uber den Aufstieg der kalkulierenden, kuhl denkenden, lugenden und geziigelten Identitat (Odysseus), und manche sehen in der Figur des Odysseus bereits die Aufklarung (und deren Dialektik) gmndgelegt (Horkheimer und Adorno 197 1, kritisch dazu: Oevermann 1998). Hier im klassischen Griechenland entsteht die Vorstellung eines geistigen rationalen Selbst, das in der Lage ist, den auch unwilligen Korper zu binden und zu bandigen (Beispiel: Odysseus, der sich an den Mast seines Schiffes binden lasst, um einerseits den Gesang der Sirenen zu horen, ihm aber nicht zu verfallen).

Das Christentum brachte (durchaus von der platonischen Philosophie inspi- riert) mit der Zeitenwende auch den Glauben in die Welt, dass das Besondere des

1 Auf den Urnstand, dass die Debatte urn die Materialisierung des Ich schon weit zuriickreicht und dass sie sich verschlungen entwickelt hat, weist Olaf Breidbach in seiner schbnen Studie hin (Breidbach 1997).

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Menschen seine Seele ist, die wiederum gottliches Geschenk und somit ein Teil Gottes im Menschen sei, den er jedem Menschen eingehaucht habe. Noch im Mittelalter stritt man uber die Frage, wann genau und auf welchem Wege die gottliche Seele in den Korper des Menschen findet und wann und wie sie den Korper wieder verlasst. Und so kam es iiber hunderte von Generationen zu dem Kampf zwischen der guten Seele und dem sundigen, weil menschlichem Fleisch. Gerade wenn das Fleisch schwach war, war es stark, da es den Geist besiegen konnte. Jener konnte allerdings durch besondere asketische ijbungen gestarkt werden, was dazu fiihrte, dass die Seele den Korper nicht nur ziigeln, sondern auch veredeln konnte. Nicht jeder konnte diesen Kampf gewinnen. Und die 0.a. Frage Dantons, von Buchner ihm in den Mund gelegt, was in uns stiehlt, hurt und mordet, ist noch spater Ausdruck dieser inneren Selbstaufklarung (welche die Psychoanalyse spater aufgreifen und systematisieren wird), und sie zeigt, wie langlebig das christliche Muster der Selbstdeutung war.

Das Zerbrechen einer festen Gesellschaftsordnung und die Erfahrungen mit der Macht des Einzelnen in der abwechslungsreichen Geschichte der italieni- schen Stadte des 15. Jahrhunderts, die Wiederentdeckung der alten Schriften und Kulturen durch Kaufleute und die europaischen Humanisten, die Aufklarung und der proklamierte Tod Gottes fiihrten dam im Europa des 18. Jahrhunderts m r Geburt einer Vorstellung, die, nachdem sie etwa drei Jahrhunderte dominant war, auch heute noch, wenn auch nicht mehr konkurrenzlos, die sozial- und kommu- nikationswissenschaftlichen Ideen von der Besonderheit der Instanz der han- delnden Stellungnahrne beeinflusst. Gemeint ist die wesentlich von Descartes in die Welt gebrachte Vorstellung eines im Inneren des Menschen (vornehmlich im Kopf oder Gehirn) platzierten ,Ich', das als einheitliche, unteilbare, lebendige, geistige Substanz den Kern des Menschen bildet. Dieser Kern ist (so die heute noch gangige Vorstellung) bereits mit der Geburt vorhanden, entfaltet sich Laufe der Ontogenese (bei manchen Theoretikern nach einem biologisch vorgegebenen Reifungsprogramm), bleibt aber im Kern mit sich selbst identisch. Diese geistige Substanz ist der wirkliche Herr uber den Korper, sie ist sogar in der Lage, gegen den Korper und sein Gefiihle zu entscheiden. Dieses Ich ist das Zentrum des Menschen, sein eigentliches ,Wesen', es tragt die Verantwortung fiir das Tun seines Korpers.

Mit dem Aufkommen der Sozialwissenschaften zum Ende des 20. Jahrhun- derts erodierte allerdings die Vorstellung vom zentrierten Subjekt als geistige Substanz allmahlich. Insbesondere anthropologische und soziologische Theorien wiesen die dualistische Vorstellung eines geistigen Ich, das sich substantiell vom Korper unterscheidet, zuriick, kritisierten sie als im Kern religios und machten das Argument stark, dass ein menschliches Ich keineswegs eine eigene Substanz ist, sondern ,natiirliches' Ergebnis gesellschaftlicher Interaktion. Marx und

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Durkheim und natiirlich die amerikanischen Pragmatisten und hier vor allem George Herbert Mead betonten immer wieder die monistische Sicht, nach der die Identitat des einzelnen Menschen ein Interaktionsprodukt ist, das im Laufe der Ontogenese erst entsteht und auch durch Interaktionsprozesse dort erst seine konkrete Form annimmt. Dennoch herrscht auch hier die Idee einer einheitlichen, wenn auch prekaren Identitat vor (siehe auch Hall 1994). Prekar ist diese Identi- tat, weil sie durch Interaktion gefahrdet werden kann, sie kann sich entwickeln, sich aber auch sprunghaft verandern oder massiv geschadigt werden. Dennoch bleibt in dieser Sicht die Identitat der Mittelpunkt des Menschen, seine verant- wortliche Instanz (siehe hierzu z.B. die Arbeiten Strauss 1974 und Goffman 1977 und 2005).

Schon in diesen interaktionistischen Theorien wird gelegentlich davon ge- sprochen, dass Menschen je nach Situation und Sozialisation mehrere Identitaten ,besitzen' k6nnen. In neueren, durch den Poststrukturalismus beeinflussten An- satzen spricht man gar von Identitaten ohne echten Kern (Laclau 1990). Hier ist die Identitat nicht mehr urn einen Kern zentriert, sondern in mehrere Teile ,zer- streut'. Diese Flexibilisierung und Dezentrierung der Instanz handelnder Stel- lungnahme (Castells 2002) beschleunigt sich einerseits durch die rasante Bedeu- tungszunahme neuer Medien (insbesondere des Internet) erheblich und anderer- seits durch die von allgemeinen Globalisierungsprozessen in Gang gebrachte Erosion von Landes-, Sprach- und Kulturgrenzen. Wenn es namlich die Einheit kulturell gebundener Interaktion ist, die eine einheitliche Identitat schafft, so das Argument, dann fragt sich, was passiert, wenn in globalisierten Gesellschaften die Einheit von Kultur de facto nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt gegeben ist. Sind dam individuelle Identitaten nur noch (wie Flusser formuliert) ,,Ver- knotungen im energetischen Raum" (Flusser 1993: 77). Mussen wit- also davon ausgehen, dass ,,wir nicht etwas sind, sondern ein Wie-sich-in-Beziehungen- verknoten. . . . Das ,ich' ist jenes Wort, wozu ,Du' gesagt wird. . . . ,ich' ist das ,du' des Gegenubers" (ebd.: 76).

Eine Vielzahl von Neurowissenschaftlern/innen geht seit gut einem Jahr- zehnt noch weiter: Sie verkunden in und mit den Medien lautstark das endgultige Ende des Subjekts (Prinz 2004aIb; Roth 1998 und 2004; Singer 2002, 2003, 2004alb). Sie stellen dabei das Gehirn b m . die Gehirnschaltungen als Urgrund und Ursprung menschlichen Tuns vor. Die Vorstellung eines ,Ich' ist demnach eine vom Gehirn selbst geschaffene Illusion, die dem Organismus lediglich die falsche Gewissheit liefert, er selbst bzw. eine besondere Inneninstanz sei der Urheber und Autor jeglichen bewussten sinnhaften Handelns und Kommunizie- rens. Pikantenveise stammt eine der schtirfsten Formulierungen hierzu nicht von einem Neurobiologen, sondern von einem Philosophen: ,,Die naturalistische Antwort auf das Problem der individuellen Subjektivitat lautet: Die ,Perspektive

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der ersten Person' ist ausschliefilich ein Darstellungsphanomen, dem nichts in der objektiven Struktur der Welt entspricht. Wir sind nicht auf mysteriose Weise mit einer besonderen innerweltlichen Person und ihrem Standpunkt identisch, sondern wir besitzen in diesem Sinne iiberhaupt keine Identitat: Wir sind eine intern mehr oder weniger stark korrelierte Menge aus physischen und psycholo- gischen Eigenschaften, die sich durch die Zeit bewegt. Die Einheit des Selbstbe- wufitseins ist eine reprasentationale Fiktion" (Metzinger 1996: S. 151, auch: Metzinger 2005 - Sihnlich scharf aus Sicht der Gehimforschung auch Roth 1998 und 2004).

Da die Zeichen fur die Gehimforschung gut stehen, nicht nur, weil sie es auch mittels guter Offentlichkeitsarbeit erfolgreich geschafft haben2, dass For- schungsgelder fur solche Untersuchungen iippig fliefien, sondem auch, weil die Neurowissenschaften (in Politik, Medien und Offentlichkeit) oft als abschliefien- de natunvissenschaftlich gesicherte Beseitigung des Subjektivitatsproblems ge- handelt werden, sind sie nach dem Poststrukturalismus eine ernstzunehmende Herausforderung fiir jede Soziologie und Kommunikationsforschung, die nicht in der Systemtheorie aufgeht, sondem weiter darauf besteht, dass Konstitution, Bestand und Entwicklung von Gesellschaft an sinnhaftes Handeln und Kommu- nizieren gebunden ist.

Auf der Tagung ,Akteur Gehirn - oder das vermeintliche Ende des sinnhaji handelnden und kommunizierenden Subjekts', die im November 2005 an der Universitat Duisburg-Essen, Campus Essen, stattfand3, wurde das Gesprach mit Vertretem der Gehirnforschung, der Philosophie, der Psychologie und der Kom- munikationswissenschaft gesucht - dies mit folgenden Zielen:

Zum Ersten sollte die Position der Neurowissenschaft in Form prominenter Ansatze dargestellt und erfasst werden, um so die Plausibilitat ihrer Argumente

2 Beispielhaft fur die gute Offentlichkeitsarbeit ist das auch an allen Bahnhbfen und Flughafen verfigbare Magazin Gehirn & Geist. Ein besonders gelungener Coup war (aus Sicht der PR) die Publikation des ,Das Manifest - Was ist, Was sein wird, Was sein kbnnte' in Gehirn & Geist in Heft 612004 und die defensive Reaktion der Psychologen in Heft 7-8/2005. Der Auf- stieg der Gehirnforschung scheint mir historisch der erste Fall zu sein, in dem dass sich eine Gruppe von Wissenschaftlern direkt an die interessierte Offentlichkeit und die Medien wandte - und damit Erfolg hatte: Erst ventilierte das Feuilleton der gehobenen E-Presse uber Monate das Problem der Willensfreiheit (siehe hierzu auch Geyer 2004, siehe auch den Beitrag von Maasen in diesem Band), dann diskutierte man auch bffentlich in anderen geistes- und kultur- wissenschaftlichen Disziplinen die Konsequenzen der Gehirnforschung (z.B. Grundmann & Beer 2004; Hemnann et al. 2005; Schnell2005 und der vorliegende Band).

3 Der hier vorliegende Band versammelt die iiberarbeiteten Fassungen der dort gehaltenen Vomage. Hinzugekommen sind noch Beitrage von Kliiver, Nollmann und Reichertz, die aus Sicht der Herausgeber das Themenspektmm enveitern. Allein Albert Newen, der unter dem Ti- tel ,Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung' den freien Willen des Menschen problematisier- te, konnte leider kein Manuskript einreichen.

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besser einschatzen zu konnen. (Georg Northoff und Kristina Musholt sowie Hans Markowitsch).

Zum Zweiten sollte auch die Frage nach der Willensfi-eiheit erortert werden (Bettina Walde). Hierzu gehorte auch die Frage, ob die Soziologie gut beraten ist, den fi-eien Willen anzunehmen und fiir sich zu reklamieren (Nollmann, En- gelbrecht).

Zum Dritten sollten die Argumente und Positionen der Sozialwissenschaf- ten im Licht der neurowissenschaftlichen Kritik gepriift und gegebenenfalls er- weitert werden. Hier ging es vor allem um die Frage, was in den Sozialwissen- schaften als ,soziales Handeln' (Peter Stegmeier, Jiirgen Kluver) oder Jntentio- nalitat' (Werner Vogd) gefasst wird und inwieweit Neurowissenschaften und Sozialwissenschaften uber das Gleiche sprechen.

Zum Vierten sollten soziale Phanomene untersucht werden, die sich aus- driicklich der kognitiven Kontrolle des (autonom) entscheidenden Subjekts ent- ziehen: Emotion (Rainer Schutzeichel), intuitives Verstehen (Naziker Bayram und Nadia Zaboura) und Kreativitat (Jo Reichertz). Dabei ging es darum zu prii- fen, ob die Neurowissenschaften die Ergebnisse der Sozialwissenschaften anrei- chern konnen oder ersetzen.

Zum Vierten sollte dargestellt und erortert werden, wie bislang in der Psy- chologie und Psychoanalyse mit dem Problem der vermeintlichen Einheit des Ich umgegangen wurde. Dies wurde einerseits empirisch am Fall der Dissociative Identity Disorder (Simone Reinders) und theoretisch mit der Kritik der Psycho- analyse geleistet (Gunther Bittner sowie Barbara Zielke und Joachim Renn).

Zum Funften sollten die Neurowissenschaften selbst zum Gegenstand der Untersuchung werden. Einerseits wurde der Forschungsprozess der Gehirnfor- scher ethnographisch ausgeleuchtet (Gesa Lindemann), zum anderen der Diskurs uber die Gehirnforschung diskursanalytisch ausgedeutet (Sabine Maasen).

Die Diskussion irn Verlauf der Tagung zeigte, dass man trotz unterschiedli- cher Ansatze und Ansichten durchaus bereit war, zuzuhoren und aufeinander einzugehen. Und oft zeigte sich, dass die Positionen nicht so unvereinbar sind wie angenommen. Unter den anwesenden Soziologenlinnen bestand Einigkeit dariiber, dass mindestens drei Punkte in der zukunftigen Debatte Beriicksichti- gung fmden sollten: (a,) die soziologische Relevanz der Ergebnisse der Neuro- wissenschaften sollte ernsthaft gepriift werden, (b.) der Diskurs der Neurowis- senschaften und der Diskurs uber die Neurowissenschaft sollte auch als soziolo- gisch zu verstehendeslerklarendes Phanomen betrachtet werden und (c) es sollte ernsthaft gepriift werden, ob und inwieweit die Soziologie professions- und ge- sellschaftspolitisch durch die Neurowissenschaften herausgefordert ist.

Eine weitere, stark diskutierte Frage war, ob die Ergebnisse der Gehirnfor- schung die gesamte Soziologie oder doch vor allem handlungstheoretische, also

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vor allem die interpretativen Ansatze und solche, die dem ,Koper7 oder dem ,Korpenvissen' eine wichtige Rolle einraumen, treffen. Einig war man sich auch, dass die Begriffe ,Handlung', ,Akteur', ,Sinn', ,Emergem', 'Kausalitat', ,Frei- heit' und ,Entscheidung' vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Neurowis- senschaften neu zu diskutieren sind.

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I Neurowissenschaftliche Positionen

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Konnen wir unser eigenes Gehirn als Gehirn erkennen?

Georg Northoffund Kristina Musholt

,,Strange coincidence, that all persons, whose skull was opened, had a brain." (Wittgenstein, On certainty)

1 Einleitung: Epistemische Limitation -Was ist das?

Wahrscheinlich werden Sie geneigt sein, auf die Frage ,Konnen wir unser Ge- hirn als Gehirn erkennen?' zu antworten: Natiirlich! Wir wissen doch alle, dass wir ein Gehirn haben, und die Neurowissenschaften versprechen uns auch zuneh- mende Aualarung dariiber, wie es funktioniert. Nicht zuletzt diese Tatsache war schlieBlich auch einer der Griinde dafir, den Workshop ,,Akteur Gehirn", auf dem dieses Manuskript urspriinglich vorgestellt wurde, iiberhaupt erst zu organi- sieren. Doch die Betonung der Frage liegt auf dem ,, eigenes ". Und hier beginnt die Sache etwas komplizierter zu werden.

Betrachten wir obiges Wittgenstein-Zitat: Ausgehend von diesem Zitat scheint es alles andere als selbstverstandlich oder gar notwendig zu sein, dass wir beim Ofken eines Schadels stets ein Gehirn vorfmden. Ganz im Gegenteil, scheint dies sogar eine ijberraschung hervorzurufen. Die These, die wir im Fol- genden vertreten werden, lautet, dass wir unser eigenes Gehirn nicht als Gehirn erkennen konnen. Der Gmnd dafir ist, dass wir diesbeziiglich unter einer ,, au- toepistemischen Limitation" leiden. Wir hoffen, dass unter Annahme dieser These im Laufe des Textes verstandlich werden wird, warum Wittgenstein von der Tatsache, dass wir beim Offnen des Schadels stets ein Gehirn vorfinden, so uberrascht war.

Was ist nun aber unter ,,autoepistemischer Limitation" zu verstehen? Nun, ,,autoepistemischG bezieht sich zunachst auf unseren eigenen, also den mensch- lichen epistemischen Apparat. Der Ausdruck ,,LimitationL' sol1 hier zwei Aspek- te reprasentieren: erstens die Eigenschaften unseres epistemischen Apparates und zweitens die Defizite beziiglich eines bestimmten Typs von Wissen uber uns und die Welt.

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20 Georg Northoff und Kristina Musholt

Konkret ist damit Folgendes gemeint: niemand hat je die neuronalen Zu- stande in seinem Gehirn als solche erfahren. Was wir erfahren, sind Dinge au- Rerhalb unseres Gehirns, Ereignisse in der AuDenwelt, Zustande unseres Korpers oder auch psychische Zustande. Wir erfahren keine sensorischen oder motori- schen Stimuli als solche (d.h. als elektrische Nervenimpulse), sondern z.B, eine Fliege auf unserem Arm, die wir mit einer entsprechenden Bewegung abzuweh- ren versuchen. Unsere neuronalen Zustande bilden das Vehikel dieser Erfahrun- gen, konnen aber als solche selbst nicht aus der Ersten-Person-Perspektive erfah- ren werden.'

Aus der Erste-Person-Perspektive erfahren wir also stets mentale Zustande, die einen phanomenal-qualitativen Gehalt haben. Wenn wir von unserem Gehirn und unseren neuronalen Aktivitaten sprechen, dann tun wir dies aufgrund unse- res Wissens, das wir durch Beobachtungen aus der Dritte-Person-Perspektive bekommen, indem wir z.B. einen Scan unseres Gehirns betrachten und logisch folgern, dass dies unser eigenes Gehirn ist. Unsere Wahmehmung allein aber sagt uns nichts dariiber, ob wir in dem Scan, den wir vor uns haben, unser eige- nes oder ein fi-emdes Gehirn zu erkennen haben. Wir haben bei der Betrachtung eines solchen Scans kein Gefiihl der ,,MeinigkeitC' (,,minenessa). Wir werden auf dieses Gefiihl weiter unten noch ausfiihrlich zu sprechen kommen. Das eigene Gehirn ist sozusagen der ,,blinde Fleck" jeglicher Wahmehmung und ~ r f a h r u n ~ . '

Ein Autor, der aus diesen ~berlegungen die Schlussfolgerung gezogen hat, dass wir beziiglich unseres Gehirns und unserer neuronalen Zustande, genauer gesagt beziiglich des Verhaltnisses zwischen diesen und unseren mentalen Zu- standen, unter einer epistemischen Limitation leiden, ist Colin McGinn. Er spricht von einer kognitiven Geschlossenheit beziiglich der Eigenschaft ,,P", die ihrerseits essentiell fiir die Generierung von mentalen Zustanden aus neuronalen Zustanden ist. Diese Eigenschaft sei aber unzuganglich f i r Introspektion und bleibe daher auRerhalb unserer auf die Erste-Person-Perspektive zuriickgehen- den Konzepte:

1 Genau genommen ist es tautologisch, von ,,subjektiver Erfahrung" oder "Erfahrung aus der Ersten- Person-Perspektive" zu sprechen, da Erfahrung per se notwendig subjektiv ist.

2 Bereits Spinoza und Schopenhauer formulierten ahnliche Ideen. So stellt Schopenhauer fest: ,,But in so far as the brain knows, it is not itself known, but it is the knower, the subject of all knowledge. . . . On the other hand, what knows, what has that representation, is the brain; yet this brain does not know itself, but becomes conscious of itself only as intellect, in other words as knower, and thus only subjectively" (Schopenhauer 1966 Vol. 11: 259). Und Spinoza au!3ert sich ahnlich: ,,The human mind does not know the human body itself, nor does it know that the body exists, except through ideas of affections by which the body is affected (Spinoza 1985 part 11: 19-29).

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Konnen wir unser eieenes Gehim als Gehim erkennen? 2 1

,,P has to lie outside the field of the introspectable, and it is not implicitly contained in the concepts we bring to bear in our first-person ascriptions. Thus the faculty of introspection as concept forming capacity is cognitively closed with respect to P . . ." (McGinn 1989: 355).

McGinn unterscheidet zwischen phanomenalen und physikalischen Eigenschaf- ten und geht davon aus, dass wir uber Introspektion Zugang zu den phanomena- len und uber Perzeption Zugang zu den physikalischen Eigenschaften haben. Was wir nicht wissen, ist wie die physikalischen Eigenschaften unseres Gehirns in phanomenale Eigenschaften transformiert werden. McGinn postuliert daher eine ,,Zwischenschicht", in der sich eben die unbekannte ,,Eigenschaft P" befin- det, die diese Transformation ermoglicht.

Hingegen glauben wir, dass dies der falsche Ansatzpunkt ist. Zwar ist es richtig, dass ein Unterschied zwischen physikalischen und phanomenalen Eigen- schaften besteht, jedoch beruht dieser nicht (notwendig) auf ontologischen Un- terschieden, sondem venveist zunachst auf die Bedingungen der Moglichkeit unserer Erkenntnis, auf die Moglichkeiten unseres epistemischen Apparates also. Aus den unterschiedlichen Zugangsweisen zu neuronalen (,,physikalischenU in McGinns Terminologie) Eigenschaften einerseits und mentalen (,,phanomena- len" in McGinns Terminologie) ~igenschaften~ andererseits folgt nicht, dass es so etwas wie eine ,,versteckte Eigenschaft P" geben muss, die fiir die Transfor- mation der einen Eigenschaft in die andere verantwortlich ist. Stattdessen sollten wir fragen, warum wir die eine Eigenschaft so und die andere anders wahmeh- men und konzeptualisieren. Man sollte also zunachst Epistemologie und Ontolo- gie auseinander halten. Andemfalls lauft man Gefahr, das Problem von der Ebe- ne des Beobachters auf die des Beobachteten zu verschieben, ohne dass es dafir eine Berechtigung gabe.

Ein anderer Autor, der sich mit diesem Problem auseinandersetzt, ist Tho- mas Metzinger. Er vertritt die These, dass wir keinen Zugang zu Prozessen der Informationsverarbeitung, die auf einer sehr friihen Stufe ablaufen, haben und spricht diesbeziiglich von einer ,,autoepistemischen Geschlossenheit":

,,It is important to understand that autoepistemic closure as used in this book does not refer to cognitive closure or epistemic "boundedness" in terms of the perhaps principled unavailability of theoretical, propositionally structured self-knowledge. Rather, it refers to closure or boundedness of attentional processing with regard to one's own representational dynamics" (Metzinger 2003: 564).

3 Beachten Sie, dass sich McGinns physikalische und phwomenale Eigenschaften nicht voll- stilndig mit unseren neuronalen und mentalen Eigenschaften/Zustanden decken. Fiir den aktuel- len Kontext konnen wir diese Differenz aber vernachlSissigen, da sie den grundsatzlichen Punkt nicht beruhrt.

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Metzinger flihrt die fehlende Information also auf eine Begrenzung der zur Ver- fiigung stehenden Aufmerksamkeitskapazitaten zuriick. Aufgrund dieser Begren- zung ist es uns nicht moglich, auf unsere eigenen reprasentationalen Dynamiken zurtickzugreifen. Diese Begrenzung stellt aber keine prinzipielle Limitation des- sen dar, was wir uber uns selbst erfahren konnen, sondern ist eher auf kontingen- te empirische Voraussetzungen zuriickzufiihren, die unter bestimmten Bedin- gungen zumindest theoretisch auch ubenvunden werden konnten.

Im Gegensatz dam sol1 die ,,autoepistemische Limitation" in unserem Sinne auf die Organisation der sensorischen Kodierung und neuronalen Prozessierung unseres Gehirns bzw. auf dessen Design zuriickgeflihrt werden. Dieses Design ist von so grundsatzlicher Art, dass ein anderes Design gar nicht sinnvoll und somit denkbar ware; d.h. die autoepistemische Limitation muss irn Umkehr- schluss als notwendig f i r das Design unseres Gehirns betrachtet werden, die daher auch durch empirische Mafinahmen nicht aufgehoben werden kann. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu Metzingers Theorie, der postuliert, dass die ,,autoepistemische Geschlossenheit" letztlich iibenvunden werden kann und so- mit lediglich kontingent mit dem Design des Gehirns zusammenhangt.

Das im Folgenden von uns vertretene Konzept der ,,autoepistemischen Li- mitation" ist demnach grundlegender und weitreichender, als das von Metzinger vertretene, da wir von einer prinzipiellen Uniibenvindbarkeit dieser Limitation ausgehen. Diese musste ihrerseits in der funktionellen Charakterisierung des Gehirns reflektiert werden und ist moglichenveise essentiell fiir die Funktionali- t%t des 0rganismus4.

Da es uns hier primk um epistemische Fragen geht, brauchen wir zunachst keine weiteren ontologischen Annahmen zu machen (oder jedenfalls nur Mini- malannahmen). Wir mussen also weder, wie McGinn, eine ,,geheimnisvolle Ei- genschaft P" postulieren, noch mussen wir uns, wie von Metzinger impliziert, auf ein reduktionistisches Programm einschworen lassen. Wir gehen allerdings davon aus, dass unsere epistemischen Fahigkeiten nicht losgelost von unserem

4 Gleichzeitig beeinflusst diese Limitation ihrerseits unsere epistemischen Konzepte, so dass man mit guten Griinden von einem epistemischen Zirkel sprechen kann. Mit anderen Worten: Unsere epistemischen Konzepte kdnnen sich schlieblich nur auf der Grundlage unserer biologi- schen Ausstattung entwickeln. Zwar ist es sinnvoll, empirische zunachst von logischen Bedin- gungen zu trennen, da diese nicht deckungsgleich sind. Dennoch flieben, da wir ja unbestreit- bar auch biologische Wesen sind, die empirischen Bedingungen unseres Seins notwenig in un- sere epistemischen Rahmenbedingungen mit ein. Dieser Zirkel ist prinzipiell nicht hintergeh- bar, so dass wir uns letztlich stets und notwendig auf der Ebene von Hypothesen bewegen. Wenn dies zutrifft, ktinnen wir die Existenz der ,,autoepistemischen Limitation" nicht bewei- sen. Wir kdnnen aber sowohl konzeptuelle als auch empirische Evidenzen daftir vorbringen, dass die Annahme einer solchen Limitation uns hilft, sowohl die unterschiediichen Zugangs- weisen zu subjektiven Erfahrungen einerseits und objektivem Wissen andererseits, als auch das Auftreten bestimmter Phmomene besser zu verstehen.

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Konnen wir unser eigenes Gehirn als Gehirn erkennen? 23

biologischen Design zu verstehen sind, sondern dass beide vielmehr in einem Zusammenhang miteinander stehen und auch nur so zu verstehen sind.

Im Folgenden mochten wir zwei verschiedene Formen der autoepistemi- schen Limitation unterscheiden, um dann anschlieRend eine neurophilosophische Hypothese iiber die empirischen Grundlagen derselben zu entwickeln. Es muss darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei um eine Hypothese, nicht aber um einen Beweis oder eine logische Ableitung handelt; inwieweit der hypothe- tische Charakter notwendig oder kontingent ist, ist Gegenstand einer weiteren Untersuchung.

2 Phanomenale autoepistemische Limitation

Im Gegensatz zu anderen Organen konnen wir das Gehirn nicht in unser Korper- Schema integrieren. Zwar konnen wir auch die physikalischen Zustande unseres Korpers, wie die elektrischen Ereignisse in unserem Herzen oder die metaboli- schen Prozesse in unseren Muskeln, nicht wahrnehmen, aber wir haben doch eine phanomenale Wahrnehmung unseres Korpers insgesamt. Diese wird haufig auch als ,,Body Image" oder ,,Korper-Schema" bezeichnet:

,,The final result, a mental construct that comprises the sense impressions, percep- tions, and ideas about the dynamic organisation of one's own body and ist relation to that of other bodies, is variously termed body schemata, body image and corporal awareness" (Berlucchi und Agliotti 1997; siehe auch Melzack 1990; Gallagher 2005).

Dieses Schema reprbentiert den Korper so, wie wir ihn subjektiv wahrnehmen. Es &llt jedoch auf, dass unser Gehirn nicht in diese Reprasentation integ-

riert werden kann. Daher sprechen wir z.B. auch nicht davon, dass unser Gehim wehtut, sondern stets von ,Kopfschmerz'. Wir haben aus der Erste-Person-Per- spektive keinen Zugang zu unserem eigenen Gehirn. Um mit Feinbergs Worten zu sprechen: ,,The conscious brain has no sensation of itself. . . . Conscious neural activity refers to things, not to the brain itself. Conscious neural states are about things, not about the neurons themselves" (Feinberg 2001: 147). Auch Thomas Metzinger weist darauf hin, dass das Gehirn keine auf sich selbst gerichteten sensorischen Mechanismen besitzt und wir daher keine Reprbentation des Ge- hirns selbst besitzen. Das Gehirn kann sich selbst nicht ftihlen:

,, ... it is also interesting to note that there is one decisive part of our bodies that is self-representationally blind. This part is the brain itself. It possesses no self-directed sensory mechanisms at all. . . . The body can feel itself with the help of the brain, but the brain itself is unable to directly feel itself ' (Metzinger 2003: 294).

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Dies liegt daran, dass es kein interozeptives sensorisches System ftir das Gehirn gibt. Es fehlen uns schlicht die entsprechenden Rezeptoren, die es uns erlauben wurden, unser Gehirn wahrzunehmen, wahrend wir unseren Korper uber das interozeptive sensorische System wahrnehmen konnen. Die interozeptiven Sti- muli unseres Korpers werden dam von einem speziellen neuronalen Netzwerk in die subjektive Korpererfahrung transformiert (Critchely et al. 2004: Nagai et al. 2004; Craig 2002, 2003, 2004). Beziiglich der neuronalen Zustande fehlen uns aber sowohl das sensorische System als auch das entsprechende neuronale Netzwerk.

Man kbnnte sich nun fragen, ob es nicht doch Moglichkeiten gibt, diese Li- mitation zu umgehen. Bieten nicht neue technische Errungenschaften wie die sogenannten Brain-Computer-Interfaces die Moglichkeiten hierzu? Mit Hilfe dieser Interfaces k m e n z.B. Probanden lernen, ihre eigenen fMRI-Signale zu modulieren, indem sie eine mentale Aufgabe losen (Birbaumer et al. 2003). Auf ahnliche Weise konnen Patienten mir ALS (amyotroper Lateralsklerose) oder Locked-In-Syndrom lernen, ihre eigenen neuronalen Zustande, die ihnen mittels on-line Prasentation von Imaging-Signalen (EEG, fMRI) sichtbar gemacht wer- den, zu ,lesen' und zu modulieren. In der Zukunft konnten diese technischen Mittel es solchen Patienten sogar ermoglichen, mit anderen zu kommunizieren (Neumann et al. 2003) oder neuroelektrische Prothesen mit Hilfe ihrer Gedanken zu bewegen (Nicolelis 2003).

Was hierbei geschieht ist Folgendes: An der Kopfhaut angebrachte Elektro- den messen die hirnelektrischen Signale. Diese werden verstarkt und an einen Computer iibermittelt, der sie in technische Steuersignale umwandelt. Die Pati- enten nehmen dabei ihre eigenen neuronalen Zustande wahr, so wie sie ihnen auf einem Bildschirm prasentiert werden. Sie erfahren sie auch in einer gewissen Weise, denn dies ist die Voraussetzung dafiir, dass sie sie ,lesen' und modulieren konnen. Das andert jedoch nichts an der Tatsache, dass dieser Zugang indirekt bleibt. Sie konnen ihre neuronalen Zustande nach wie vor nicht direkt, also un- vermittelt erfahren. Genau genommen, erfahren sie auch nicht die Gehirnakti- vitaten selbst, sondern ein Bild dieser Aktivitaten. Man kann sich dies anhand folgender Situation verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, sie kommen in ein Muse- um, in dessen Eingangshalle eine Videoaufhahme eines bertihmten Picasso- Gemaldes, das sich im Original in einem anderen Museum befmdet, an die Wand projiziert wird. Genauso wie die Wahmehmung dieser Videoprojektion nicht exakt der Wahrnehmung des eigentlichen Bildes entspricht, ist die Wahrneh- mung der on-line Visualisierung Ihrer Gehirnaktivitat nicht mit der Wahmeh- mung der Aktivitat selbst zu venvechseln.

Weiterhin werden die auf den Monitor projizierten Gehirnaktivitaten von den Probanden selbst zunachst nicht als ihre eigenen wahrgenommen. Erst durch

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die Erfahrung der zeitlichen Koinzidenz zwischen den Veranderungen der men- talen Zustande und den Veranderungen der auf dem B i l d s c h h beobachteten Aktivitaten kann darauf geschlossen werden, dass diese die eigenen neuronalen Aktivitaten reprbentieren. Es fehlt bei dieser Wahmehmung das bereits oben envahnte subjektive GefLihl der ,,Meinigkeitfi (,,mineness"), auf das wir weiter unten erneut zu sprechen kommen werde.

Folglich kann man nicht davon sprechen, dass Brain-Computer-Interfaces ein geeignetes Mittel zur ~benvindung der ,,phanomenalen autoepistemischen Limitation" darstellen.

3 Physikalische autoepistemische Limitation

Dariiber hinaus, und dies ist von besonderer Bedeutung, ist es aber f i r uns gene- re11 unmoglich, physikalische Stimuli als solche wahrzunehmen. Wir hatten bereits envahnt, dass wir weder die metabolischen Prozesse in unseren Muskeln, noch die elektrischen Vorgange in unserem Herzen oder die Entgiftungsprozesse in unserer Leber wahmehmen konnen. Und ebenso wenig konnen wir die neuro- nale Aktivitat unseres Gehirns aus der Ersten-Person-Perspektive wahmehmen. Wie bereits gesagt nehmen wir niemals Nervenzellen oder neuronale Aktivitaten wahr, sondern Dinge, Ereignisse, Bewegungen, Beriihrungen oder Emotionen. Die einzige Moglichkeit physikalische Stimuli wahrzunehmen, scheint darin zu bestehen, sie mithilfe technischer Mittel aus der Dritten-Person-Perspektive zu beobachten. Diese ,,physikalische autoepistemische Limitation" scheint charakte- ristisch f i r unser biologisches Design und unsere Art der sensorischen Verarbei- tung zu sein.

Warum ist dies so, und warum ist es so wichtig? Unsere Hypothese lautet, dass es sich bei den Mechanismen, die verhindern, dass wir direkten Zugang zu den physikalischen Zustiinden unseres Gehirns und unseres Korpers erhalten, um genau dieselben Mechanismen handelt, die es uns allererst ermoglichen, subjek- tive Erfahmngen in der Ersten-Person-Perspektive zu machen. Die Idee hierbei ist, dass die Erfahrung von mentalen Zustanden deshalb subjektiv ist, weil die in ihr enthaltene Information in einer direkten Beziehung zu der Person steht, die diese Erfahrung macht (mit anderen Worten: zu ihrem ,,SelbstU). Dies ware bei der Wahmehmung der rein physikalischen Zustande unseres Korpers nicht der Fall.

Wir mochten an dieser Stelle noch einmal betonen, dass die hier postulierte ,,autoepistemische Limitation" auf unseren epistemischen Apparat sowie eine bestimmte Art von Wissen venveist. Dabei bezieht die ,,phanomenale autoepiste- mische Limitation" sich auf die Unfahigkeit, phanomenale Eigenschaften unse-

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res Gehirns aus der Ersten-Person-Perspektive zu erfahren, wahrend die ,,physi- kalische autoepistemische Limitation" sich auf die Unfahigkeit bezieht, physika- lische Stimuli im Allgemeinen aus der Ersten-Person-Perspektive zu erfahren. Aus der Tatsache allerdings, dass wir epistemisch nicht dazu in der Lage sind, dies zu tun, durfen keine ontologischen Schlusse gezogen werden. Die Feststel- lung einer solchen Limitation impliziert also als solche noch keine Argumente f i r eine bestimmte ontologische Position - weder fi einen Idealismus, noch flir einen Materialismus, noch flir einen Dualismus oder Pluralismus.

Zusammenfassend lautet unsere Hypothese daher, dass die hier relevante epistemische Differenz zwischen physikalischen und mentalen Zustanden in der Relation zum Selbst besteht. Konkret heiBt das, sobald physikalische Zustande in eine Beziehung zum Selbst geraten, werden sie automatisch subjektiv als mentale Zustande erlebt. Demnach bildet die Selbstbeziiglichkeit von Stimuli die Grund- lage f i r subjektive Erfahrungen und zugleich f i r die physikalische autoepiste- mische Limitation (vgl. Musholt und Northoff 2005, im Druck).

4 Self-related processing

Welches konnten nun die dieser Beziehung zugrunde liegenden empirischen Prozesse sein? Wir denken, dass das, was in der neueren Literatur in den kogniti- ven Neurowissenschaften als ,,self-related-processing" bezeichnet wird (Northoff und Bermpohl2004), eben dieser gesuchte empirische Mechanismus sein konn- te.

,,Self-related-processing" betrifft sowohl interozeptive Stimuli des eigenen Korpers (mit Ausnahme von denen des Gehirns, da es flir das Gehirn ja kein interozeptives sensorisches System gibt), als auch exterozeptive Stimuli der AuBenwelt. Es ermoglicht die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden sensorischen Stimuli und bildet die Basis f i r subjektive Erfahrung. Die Relevanz des Stimulus ist dabei nicht eine dem Stimulus intrinsische Eigenschaft, sondern abhangig von dem individuellen Gehirn, Korper und dem jeweiligen Kontext. Das ,,self-related processing" resultiert in der Erfahrung des Stimulus aus der Ersten-Person-Perspektive. Der Stimulus wird in der Folge als ,,eigenU erlebt. Diese Art von Stimuli wird auch als ,,selbst-referentiell" oder ,,selbst-relevant" bezeichnet (Craik 1999; Kelley et al. 2002; Turk et al. 2003; Shore 2003; Phan et al. 2004; Northoff und Bermpohl2004). Wir nehmen an, dass das damit verbun- dene Geflihl der ,,Meinigkeit " (mineness) essentiell f i r die Generierung subjek- tiver Erfahrung ist, oder, wie Marcel und Lambie sich ausdriicken, f i r ,,what makes something informational or neurophysiological into something phenome- nal" (Marcel und Lambie 2002). Man kann also sagen, dass das Gefiihl der ,,mi-

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neness" die Beziehung zum Selbst reflektiert, die die Transformation von physi- kalischen Zustanden in mentale Zustande mit sich fihrt und so in subjektiver Erfahrung resultiert.

,,Self-related processing" fihrt also dam, dass Stimuli subjektiv aus der Ersten-Person-Perspektive erlebt werden. Gleichzeitig verhindert es, dass wir die physikalischen Zustande unseres Korpers und unseres Gehirns als solche wahr- nehmen. Sowohl die ,,autoepistemische Limitation" als auch subjektive Erfah- rung iiberhaupt konnen folglich auf dasselbe epistemische Konzept, die Bezie- hung zum Selbst, und denselben empirischen Mechanismus, das ,,self-related processing", zuriickgefihrt werden.

Eine groRe Zahl von PET und fMRI-Studien, die selbst-referentielle mit nicht-selbst-referentiellen Aufgaben verglichen haben, haben Regionen in der Mittellinie des menschlichen cerebralen Kortex identifiziert, die bei diesen Auf- gaben aktiviert werden.

Northoff und Bermpohl (2004) unterscheiden vier unterschiedliche Regi- onen, die jeweils eine unterschiedliche Funktion im Rahmen des self-related- Processing erfillen. Der orbitomediale grafrontale Kortex zeigt im Rahmen meh- rerer Studien eine erhohte Aktivierung bei der Reprasentation von selbst- referentiellen Stimuli im Vergleich zu nicht-selbst-referentiellen. Er wird auch mit der Verarbeitung emotionaler Stimuli assoziiert, wobei eine nahe liegende Argumentation lauten konnte, dass emotionale Stimuli notwendig auch selbst- referentiell sind. Der dorsomediale prafrontale Kortex wird mit der Evaluation von selbst-referentiellen Stimuli in Verbindung gebracht. So wird er aktiviert, wenn man 2.B. das Zutreffen einer selbst-beziiglichen Aussage beurteilen soll. Der anteriore cingulare Kortex wird mit dem ,,Monitoringu und der Kontrolle von Funktionen im Zusammenhang mit selbst-referentiellen Stimuli assoziiert. So ist er bei der Antwort-Auswahl und -Unterdriickung, sowie bei der Fehler- Detektion und dem ,,Monitoring" der eigenen Leistung beteiligt. Dabei zeigt er eine klare ,Praferenz' f i r selbst-refentielle Stimuli. Der posteriore cingulare Kortex wird mit der Integration der Stimuli in den Kontext der eigenen Persona- litat in Verbindung gebracht (Northoff und Bermpohl2004).

Bezeichnendenveise weisen diese ,,cortical midline structures" eine hohe Grundaktivierung im Ruhemstand auf. Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass sie im Ruhezustand vor allem interozeptive Stimuli verarbeiten, welche einen hohen Grad an Selbstbeziiglichkeit aufweisen. Im Gegensatz dam fmdet man eine Deaktivierung in diesen Strukturen, wenn der Proband mit exterozepti- ven Stimuli konfrontiert wird, die einen niedrigen Grad an Selbstrelevanz auf- weisen.

Wenn man annimmt, dass ,,autoepistemische Limitation" und ,,self-referen- tial processing" zwei Seiten ein- und derselben Medaille sind, folgt daraus, dass

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ein Organismus ohne autoepistemische Limitation hochst wahrscheinlich auch nicht die Fahigkeit besaDe, Stimuli mit dem eigenen Selbst in Beziehung zu bringen. Ein solcher Organismus konnte dann auch gar nicht zwischen sich selbst und der Welt differenzieren - er wiirde stets lediglich physikalische Stimu- li prozessieren. Es gabe f i r einen solchen Organismus keine phanomenale Erfah- rung. Es wiirde weder Sinn machen, hier von mentalen Zustanden zu sprechen, noch von einem Selbst. Letztlich wiirde man in einem solchen Fall wohl auch gar nicht mehr sinnvoll von einem Organismus sprechen, sondern eher von ei- nem computationalen System.

,,Autoepistemische Limitation", als uniibenvindbarer ,Mangel' unseres selbstbeziiglichen Wissens, und die Erfahrung von mentalen Zustuden in der Ersten-Person-Perspektive, letztlich die Erfahrung eines ,,Selbst", gehen somit Hand in Hand.

5 Abschliellende Bemerkungen

Im Gegensatz zu vielen anderen Arbeiten, haben wir uns in der vorliegenden Arbeit nicht mit unseren Fahigkeiten beschaftigt, sondern unsere Aulinerksam- keit auf das gerichtet, was wir nicht konnen. Warum sind wir so verfahren? Ers- tens postulieren wir, dass unsere epistemischen Fahigkeiten nicht nur kontin- gent, sondern auch notwendig mit epistemischen Limitationen einhergehen. Da- bei gehen wir sogar noch einen Schritt weiter und postulieren, dass letztere eine notwendige Bedingung f i r die Mbglichkeit der ersteren sind (Northoff 2004). Zum anderen haben diese ijberlegungen wichtige Konsequenzen fiir die Geist- Gehirn-Diskussion. Denn mit der Untersuchung dieser grundlegenden Prozesse bewegen wir uns gleichsam auf dem Boden, auf dem sich die ganze Debatte um Geist und Gehirn, Selbst, und Erster- und Dritter-Person-Perspektive iiberhaupt erst entwickeln kann. Denn bestimmte Probleme, wie z.B. das Problem des Be- wusstseins, ergeben sich allererst aus unseren epistemischen Rahmenbedingun- gen, die ihrerseits wiederum das biologische Design unseres Organismus reflek- tieren. Damit bewegen wir uns allerdings auch, wie bereits oben envahnt, in einem epistemisch-empirischen Zirkel. Diese Tatsache erlaubt es uns nicht, be- weisbare Thesen iiber unseren epistemischen Apparat aufzustellen. Vielrnehr be- wegen wir uns stets im Rahmen von Hypothesen. Wir konnen daher nie einen so groBen Grad an Gewissheit erlangen, dass wir uns vor der ,,Wittgenstein'schen iiberraschung" vollkommen absichern konnten. Im Gegenzug konnen wir aber vielleicht unsere Limitationen genau markieren und zeigen, warum wir in gewis- sen Hinsichten prinzipiell epistemisch limitiert sind.

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30 Georg Northoff und Kristina Musholt

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Gene, Meme, ,,freier Wille": Personlichkeit als Produkt von Nervensystem und Umwelt

Hans J. Markowitsch

Das Sein bestimmt das Bewusstsein - Das Bewusstsein bestimmt das Sein

,,I know that I exist, the question is what is this 'I' that I know?" (Descartes 164111985)

,,Die Vernunft ist dem Menschen Natur." (Thomas von Aquin)

Was macht den Menschen aus? Auf diese Frage lassen sich eine Reihe von Ant- worten geben - beginnend mit Ansichten aus Philosophie und Religion (,,Eben- bild Gottes"), weitergefiihrt durch solche aus den Bereichen der Physik oder Biochemie (,,75% Wasser") und endend mit Erkenntnissen aus der Evolution (,,ein Primat, der mit dem Schimpansen 99% seines Gencodes teilt"). Aus neu- rowissenschaftlicher Sicht wird der Mensch naturgemafi in erster Linie als durch sein Gehirn gepragt betrachtet, weswegen seit Beginn der modernen Hirnfor- schung Messungen von Hirnvolumen, Schadelausmafien und bestimmten Struk- turen vorgenommen wurden (Markowitsch 1990). Dabei fie1 zum einen auf, was Hitzig so formulierte: ,,Es fehlt wenig am menschlichen Gehirn, wenn man sich unsere nachste Cousine, den Schimpansen, ansieht" (1874: 47). Zum anderen zeigten Messungen innerhalb der menschlichen Spezies (Benedikt 1879; Mey- nert 1867; Hansemann 1907) eine grofie Divergenz und forderten insgesamt kaum Beachtenswertes zu Tage (Markowitsch 1992). Gleichwohl wurden sie nie vollig aufgegeben. Das Gehim von Albert Einstein ist dabei immer aufs Neue herangezogen worden (Anderson und Harvey 1996; Diamond et al. 1985; Witel- son et al. 1999), und der ansonsten in seinem wissenschaftlichen Wirken durch- aus renommierte Oskar Vogt (1 929) bezeichnete Lenin wegen der in der dritten Rindenschicht seines Gehims vorgefundenen ,,riesigenCL Pyramidenzellen als ,,Assoziationsathleten".

Heutzutage finden sich dank der verfeinerten Untersuchungsmoglichkeiten der Hirnforschung, mit denen man nicht nur sehr exakte Volumenmessungen und Zellzahlungen einzelner Strukturen machen kann, sondern auch - iiber die Tech- niken der funktionellen Bildgebung (Positronen-Emissions-Tomographie [PET],

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3 2 Hans J. Markowitsch

funktionelle Kernspintomographie [fMRT]) vielfaltige Hinweise dafir, dass un- ser Gehirn sich abhangig von Umwelteinflussen bei jungen wie bei envachse- nen Menschen verandert. Stresszustande, Depressionen, Belastungsstorungen u.a. konnen die Arbeitsweise von Hirnstrukturen blockieren (Markowitsch 2001; Markowitsch et al. 2000) und zu deren Schrumpfung (,,Degenerationu) fiihren (Elzinga und Bremner 2002; Minhas et al. 2004; Winter und Irle 2004). Bei Soziopathen, 2.B. bei Mordern, finden sich Veranderungen im Bereich des Stirn- hirns (Raine et al. 1998, 2000; Markowitsch und Kalbe 2006) und des Balkens, der grol3ten Faserverbindung zwischen den beiden Grofihirnhalften (Raine et al. 2003).

Die Schlussfolgemng aus derartigen Ergebnissen hatte Ewald Hering schon 1870 vonveggenommen, indem er schrieb: ,,dass diese gegenseitige Abhangig- keit zwischen Geistigem und Materiellem gleichfalls eine gesetzmaBige sei" (1870: 5) und ,,[s]o betrachtet, .. . die Phanomene des Bewusstseins als Funkti- onen der materiellen Veranderungen der organisierten Substanz [erscheinen]" (1870: 6). Heutige Philosophen, wie beispielsweise Dennett, gelangten zu analo- gen Aussagen mit Satzen wie ,,Bewusstsein ist unser Korper und Gehirn, nicht eine res cogitans aunerhalb davon" (1999: 186).

Die materielle Basis unseres Geistes

Man muss also festhalten, dass es eineindeutige Beziehungen zwischen Korper und Geist dergestalt gibt, dass mit einem sich andernden Korper und Gehirn sich auch der Geist und unser Bewusstsein andern. Wir konnen diese Interdependenz problemlos nachvollziehen, wenn wir uns im Bereich der Pathologie bewegen.

Ein i%ihes Beispiel lieferten Harlows (1848, 1869) detaillierte Beschreibun- gen eines amerikanischen Eisenbahnvorarbeiters mit Namen Phineas Gage, der alle damals favorisierten Eigenschaften eines Vorarbeiters verkorperte: Ordent- lichkeit, Zuverlassigkeit, Punktlichkeit, Verlasslichkeit. Harlow beschrieb ihn so: ,,Phineas P. Gage, a foreman, engaged in building the road, 25 years of age, of middle stature, vigorous physical organization, temperate habits, and ... of consi- derable energy of character" (1 848: 20). Auf der Arbeitsstelle bei Boston schoss ihm, als er sich nach seinen Mannern umsah, eine sechs Kilogramm schwere Brechstange durch sein Stirnhirn. Betroffen war insbesondere der Bereich, der heute als zentral f i r die Steuerung von Personlichkeitsdimensionen, f i r voraus- schauendes Denken, f i r Altruismus, Mitleid, Empathie und die Moglichkeit, sich in andere hineinzuversetzen (,,Theory of mind"-Funktion), gilt (Brand und Mar- kowitsch 2006; Markowitsch 2003). Phineas Gage uberlebte den Unfall, war aber bis zu seinem Tod charakterlich verandert, unstet und rastlos. Er wechselte

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Gene, Meme, ,,freier Wille": Persilnlichkeit als ProduM von Newensystem und Umwelt 3 3

seine Arbeitsstellen, fuhr zeitweise Guano in Chile, ging dam nach Kalifornien, seine ehemaligen Freunde konstatierten ,,He is no longer Gage" (Harlow 1869: 14). Die Tiefe seiner Charakterverandemng beschreibt Harlow mit folgenden Worten:

,,The equilibrium or balance, so to speak, between his intellectual faculties and ani- mal propensities, seems to have been destroyed. He is fitful, irreverent, indulging at times in the grossest profanity (which was not previously his custom), manifesting but little deference for his fellows, impatient of restraint or advice when it conflicts with his desires, at times pertinaciously obstinate, yet capricious and vacillating, de- vising many plans of future operation, which are no sooner arranged than they are abandoned in turn for others appearing more feasible. A child in his intellectual ca- pacity and manifestations, he has the animal passions of a strong man" (1 869: 13 f.).

Schon 1888 hatte Leonore Welt, eine der ersten ~rzt innen, eine Abhandlung mit dem Titel ,,Ueber Charakterveranderungen des Menschen infolge von Lasionen des Stirnhirns" verfasst, in der sie ahnliche Falle beschrieb, etwa den eines Zim- mermanns, der vor seiner unfallbedingten Schadelhirnverletzung ein humorvol- ler, entspannt wirkender Handwerker gewesen war, danach aber standig an allem hemmkritisierte und seinen Mitpatienten auf den Geist ging. Als der Klinikdirek- tor ihn darauf hinwies, dass er gutes Essen und den besten Wein des Spitals be- kame, antwortete er, dass er gewohnt sei, Ch2teau Laffite und andere franzosi- sche Weine zu trinken und nicht so saures Zeug wie in der Klinik.

Ein weiteres Beispiel, das diese Interdependenz zwischen Gehim und Ver- halten offenbart, lieferten Burns und Swerdlow (2003): Ein bislang unbescholte- ner Familienvater verging sich plotzlich an seinen Kindern. Hier wird man erst einmal ein derartiges Verhalten als kriminell beurteilen. Finden Arzte dam je- doch - wie in dem beschriebenen Fall - einen Stirnhirntumor, schreibt man sein Fehlverhalten seinem veranderten Gehirn zu. Genauso gelten (zumindest inmi- schen) Wahnvorstellungen Schizophrener als durch ihren Hirnstoffwechsel be- dingt und werden entsprechend mit Medikamenten behandelt, die den Hirnrneta- bolismus verandern. Und auch das ,,Gesprach" einer Dementen mit ihrem Spie- gelbild wird den demenzbedingten Hirnveranderungen attribuiert. Selbst auch die umgekehrte Situation, dass die primare Grundlage f i r gezeigtes Verhalten nicht im Korper (Gehim) liegen muss, sondern durch die Auaenwelt induziert sein kann, wird beispielsweise f i r den Bereich psychosomatischer Storungen akzeptiert. Sie wird weniger bereitwillig angenommen, wenn man Analogien zu ,,mikrochirurgischen Eingriffen" bildet. Der Himforscher Wolf Singer formulier- te etwa, dass es mikrochirurgischen Eingriffen gleich kornme, wenn man kleinen Kindem Wissen einfloae, weil sich dadurch ihre Hirnstruktur verandere. Und viele strauben sich dagegen, weitergehende Zusammenhange zu akzeptieren, wie