Joseph Roth aus Lemberg
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262 lemberg, die sta dt
JosephRoth:HeimwehnachPrag.Feuilletons–Glossen–Reportagenfürdas»PragerTagblatt«.
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Lemberg, die Stadt
EsisteinegroßeVermessenheit,Städtebeschreibenzuwollen. Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausendRichtungen,bunteZiele,düstereGeheimnisse,heitereGeheimnisse.Städteverbergenvielundoffenbarenviel,jedeisteineEinheit, jedeeineVielheit, jedehatmehrZeit,alseinBerichtersatter,alseinMensch,alseineGruppe,alseineNation.DieStädteüberlebenVölker,denensieihreExistenzverdanken,undSprachen,indenenihreBaumeistersichverständigthaben.Geburt,LebenundTodeinerStadthängenvon vielen Gesetzen ab, die man in kein Schema bringenkann,diekeineRegelzulassen.EssindAusnahmsgesetze.
IchkönnteHäuserbeschreiben,Straßenzüge,Plätze,Kirchen, Fassaden, Portale, Parkanlagen, Familien, Baustile,Einwohnergruppen,BehördenundDenkmäler.DasergäbeebensowenigdasWeseneinerStadt,wiedieAngabeeinerbestimmtenZahl vonCelsiusgradendieTemperatur einesLandstrichesvorstellbarmacht.(InBerlinfriertmanschonbeiplus15GradCelsius.)ManmüßtedieFähigkeithaben,dieFarbe,denDuft,dieDichtigkeit,dieFreundlichkeitderLuftmitWortenauszudrücken;das,wasmanausMangeleiner treffendenBezeichnung,mitdemwissenschaftlichenBegriff:»Atmosphäre«ausdrückenmuß.EsgibtStädte,indenenesnachSauerkrautriecht.DagegenhilftkeinBarock.IchkamaneinemSonntagabendineinekleineostgalizischeStadt. Sie hatte eine Hauptstraße mit ganz gleichgültigenHäusern.JüdischeHändlerwohnenindieserStadt,ruthenischeHandwerkerundpolnischeBeamte.DerBürgersteigist holprig, der Fahrdamm wie die Nachbildung einerGebirgskette.DieKanalisationistmangelhaft.IndenkleinenSeitengassentrocknetWäsche,rotgestreiftundblaukariert.HiermüßteesdochnachZwiebelnduften,verstaubterHäuslichkeitundaltemModer?
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pr ager tagblat t (dezember 1927) 263
Nein! In der Hauptstraße dieser Stadt entwickelte sichderobligateKorso.DieKleidungderMännerwarvoneinerselbstverständlichen,sachlichenEleganz.DiejungenMädchen schwärmten aus wie Schwalben, mit hurtiger, zielsicherer Anmut. Ein heiterer Bettler bat mit vornehmemBedauernumeinAlmosen–undestatihmleid,daßergezwungenwar,michzubelästigen.Manhörterussisch,polnisch, rumänisch, deutsch und jiddisch. Es war wie einekleine Filiale der großen Welt. Dennoch gibt es in dieserStadtkeinMuseum,keinTheater,keineZeitung.Aberdafüreinejener»TalmudThoraSchulen«,ausdeneneuropäischeGelehrte,Schriftsteller,Religionsphilosophenhervorgehen;undMystiker,Rabbiner,Warenhausbesitzer.
IndieserStadtlernteichzufälligeinenGymnasiallehrerkennen.Ersagte:»SiesindausDeutschland?ErklärenSiemir,wasausderEntdeckungdesProfessorsgewordenist,derGoldausQuecksilbergewinnt.Wasbleibtdannnoch?WasistaußerdemimQuecksilberenthalten?Ichmußfortwährenddarübernachdenken.Siemüssenwissen,daß ichsehrvielZeithabe.WennichsovielGeldhätte,ichwürdenachDeutschlandfahrenundmichinformieren.EsläßtmirkeineRuhe!«SosprachderMann.ErwirdwiederzweiJahrewarten,bisjemandausDeutschlandkommt.
SolcheMenschengedeiheninkleinenostgalizischenStädten. In den größeren würden sie wahrscheinlich auch gedeihen.Aberesgibtkeinegrößeren.InOstgaliziengibtesnureine:dieStadtLemberg.
IndieseStadtbinichzweimalgewissermaßenalseinSiegereingezogen,unddaswarnichtganzungefährlich.LangeZeitwar sie eine »Etappe«, Sitz eines österreichischen Armeekommandos,einerdeutschenFeldzeitung,vielerMilitärämter,einerk.u.k.Personalsammelstelle,einer»Offiziersmenage«.EsgabeineMilitärpolizei,eine»KundschafterundNachrichtenstelle«, einösterreichischesund eindeutsches
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Bahnhofskommando,Krankenhäuser,EpidemienundKriegsberichterstatter. Hier hauste der Krieg, hier hausten seineBegleiterscheinungen, die schlimmer, weil sie dauerhafterwaren.UmdieseStadtkämpftennachdemZusammenbruchPolenundRuthenen,undhierereignetesichderNovemberpogrom.UndheutenochsiehtLembergwieeineEtappeaus.
Die Hauptstraße hieß einmal KarlLudwigStraße, ausLoyalitätgegenüberdemHerrscherhause.Heuteheißtsie:»DieStraßederLegionen«.EssinddiepolnischenLegionengemeint. Hier war einmal der Korso der österreichischenOffiziere. Heute spazieren die polnischen Offiziere. Hierhörtemanimmerdeutsch,polnisch,ruthenisch.Mansprichtheute: polnisch, deutsch und ruthenisch. In der Nähe desTheaters, das am unteren Ende die Straße abgrenzt, sprechendieMenschenjiddisch.ImmersprachensiesoindieserGegend.Siewerdenwahrscheinlichniemalsandersreden.
GegendieseVielsprachigkeitwehrtsichdasneugestärkte,durchdiejüngsteEntwicklungderGeschichtegewissermaßenbestätigtepolnischeNationalbewußtsein–mitUnrecht.JungeundkleineNationensindempfindlich.Großesindesmanchmalauch.NationaleundsprachlicheEinheitlichkeitkanneineStärkesein,nationaleundsprachlicheVielfältigkeitistesimmer.IndiesemSinnistLembergeineBereicherungdespolnischenStaates.EsisteinbunterFleckimOstenEuropas,dort,woesnochlangenichtanfängt,buntzuwerden.DieStadtisteinbunterFleck:rotweiß,blaugelbundeinbißchenschwarzgelb.Ichwüßtenicht,wemdasschadenkönnte.
Diese Buntheit schreit nicht, blendet nicht, macht keinAufsehen,istnichtumihrerselbstwillenda,wiedieBuntheit balkanischorientalischer Städte, wie die BudapesterzumBeispiel,dasbalkanischeristalsderBalkan.DiepolyglotteFarbigkeitderStadtLembergistwieamfrühenMorgennochimHalbschlummer,schoninhalberWachheit.Es
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ist,wiedieerste JugendeinerBuntheit. JungeBäuerinnenmitKörbenfahrenimBauernwagendurchdieHauptstraße.Heuduftet.EinDrehorgelmannspielteinVolkslied.StrohundHäckselsindüberdenFahrdammgestreut.DieDamen,dieindieKonditoreigehen,tragendieletztenToilettenausParis,Kleider,diebereitsdenAnsprucherheben,»Schöpfungen«zusein.IndenSeitenstraßenstaubtmanTeppiche.
AdamMickiewicz,dergroßepolnischeDichter,stehtinderStraßenmitte.KaftanjudenpatrouillierenzuseinenFüßen, die Wachtposten des Handels. Ein Mann mit einemSacküberderrechtenSchulterschreit»Handele!«mitmelodischer Weinerlichkeit. Das hindert keinen einzigen derschlanken,sehrkriegerischenKavallerieoffiziere,mitseinemgroßen, gebogenen Säbel zu scheppern, mit den musikalischenSporenzuklirren.Erklirrt,scheppert,schreitetmitanmutigerMännlichkeitineinerkleinenWolkeausKriegsmusikdahinundistdennocheinfriedlicherMensch–undalshätteerkeinengewaltigenSchleppsäbel, sondernnureinenRegenschirm, so zwängt er sich durch die dichtgeballtenGruppenderHändler,welchediePolitikderWeltbesprechenundeinenHandelabschließenundbeidesgleichzeitig.SodemokratischisthierdasMilitär.IchsaheinenOberleutnant mit vielen Kriegsauszeichnungen und bunten Bändchen an der Brust. In der Hand trug er ein Glas »Eingemachtes«. Seiner Frau hielt er den Marktkorb. DieserKopfsprunginsEwigMenschliche,insPrivate,insHäusliche versöhnt mit den kriegerischen Wolken aus SporenklangundOrdensglanz.InanderenStädtenträgtein»Bursche«dreiSchrittehinterdenHerrschaftenOberleutnantsdas Eingemachte. Manchmal ist es gut zu sehen, daß einOberleutnanteinMenschist.
DieStadtdemokratisiert,vereinfacht,vermenschlicht,undesscheint,daßdieseEigenschaftmitihrenkosmopolitischenNeigungenzusammenhängt.DieTendenzinsWeiteistim
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mergleichzeitigeinWillezurselbstverständlichenSachlichkeit.Mankannnichtfeierlichsein,wennmanvielfältigist.Sakralesselbstwirdhierpopulär.Diegroßen,altenKirchentretenausderReserve ihresheiligenZwecksundmischensichunterdasVolk.UnddasVolkistgläubig.NebendergroßenSynagogeblühtderjüdischeStraßenhandel.AnihrenMauernlehnendieHändler.VordenKirchenportalenhocken die Bettler. Wenn der liebe Gott nach Lembergkäme,ergingezuFußdurchdie»StraßederLegionen«.
Straßen,Plätze,Häuser,dievornehmzuseindieBestimmungunddiePflichthaben,SchlösserhinterGittern,öffentliche Gebäude, zu denen man auf Stiegen emporschreitet –allesindpopulär.DiestrengeFormlockertsichvolkstümlich.DieMilderungderstrengenFormartetauchinUnordnungaus,inzerstörendeLangsamkeit,selbstmörderischeVerwirrung.DieGesetzesindzahlreich.IhreÜbertretungoberstesGesetz,wennauchungeschriebenes.Deralte»österreichischeSchlendrian«findetseineadäquateFortsetzunginderLässigkeit,dieslawischistundeineBegleiterinderMelancholie.
EsgibteinLiteratenCafé,»Roma«heißtes.GuteBürgerbesuchenes.Auchhierverwischen sichdieGrenzenzwischenSesshaftigkeitundBohème.DerSohndesbekanntenRechtsanwaltsistStammgast,Regisseur,Literat.AmNebentisch könnten seine Angehörigen sitzen. Alle Trennungsstrichesindmitschwacher,kaumsichtbarerKreidegezogen.
EsistdieStadtderverwischtenGrenzen.DeröstlichsteAusläufer der alten kaiserlich und königlichen Welt. DasweitwestlichereKrakauistwenigerösterreichisch.EsbliebimmereinnationalesMuseum.ZwischenWienundLembergistheutenoch,wieimmer,derRadioaustauschderKultur.AberBukarestistnochdazugekommen.DerUmsturzhatnämlichallegalizischenStädteumeinigeMeilennachOstengerückt.VielleichtzumSegendesOstens…