Joseph Roth aus Lemberg

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Beitrag für das legendäre »Prager Tagblatt«.1927

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JosephRoth:HeimwehnachPrag.Feuilletons–Glossen–Reportagenfürdas»PragerTagblatt«.

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Lemberg, die Stadt

EsisteinegroßeVermessenheit,Städtebeschreibenzuwol­len. Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausendRichtungen,bunteZiele,düstereGeheimnisse,heitereGe­heimnisse.Städteverbergenvielundoffenbarenviel,jedeisteineEinheit, jedeeineVielheit, jedehatmehrZeit,alseinBerichtersatter,alseinMensch,alseineGruppe,alseineNa­tion.DieStädteüberlebenVölker,denensieihreExistenzverdanken,undSprachen,indenenihreBaumeistersichver­ständigthaben.Geburt,LebenundTodeinerStadthängenvon vielen Gesetzen ab, die man in kein Schema bringenkann,diekeineRegelzulassen.EssindAusnahmsgesetze.

IchkönnteHäuserbeschreiben,Straßenzüge,Plätze,Kir­chen, Fassaden, Portale, Parkanlagen, Familien, Baustile,Einwohnergruppen,BehördenundDenkmäler.DasergäbeebensowenigdasWeseneinerStadt,wiedieAngabeeinerbestimmtenZahl vonCelsiusgradendieTemperatur einesLandstrichesvorstellbarmacht.(InBerlinfriertmanschonbeiplus15GradCelsius.)ManmüßtedieFähigkeithaben,dieFarbe,denDuft,dieDichtigkeit,dieFreundlichkeitderLuftmitWortenauszudrücken;das,wasmanausMangeleiner treffendenBezeichnung,mitdemwissenschaftlichenBegriff:»Atmosphäre«ausdrückenmuß.EsgibtStädte,indenenesnachSauerkrautriecht.DagegenhilftkeinBarock.IchkamaneinemSonntagabendineinekleineostgalizischeStadt. Sie hatte eine Hauptstraße mit ganz gleichgültigenHäusern.JüdischeHändlerwohnenindieserStadt,rutheni­scheHandwerkerundpolnischeBeamte.DerBürgersteigist holprig, der Fahrdamm wie die Nachbildung einerGebirgskette.DieKanalisationistmangelhaft.Indenklei­nenSeitengassentrocknetWäsche,rotgestreiftundblauka­riert.HiermüßteesdochnachZwiebelnduften,verstaubterHäuslichkeitundaltemModer?

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Nein! In der Hauptstraße dieser Stadt entwickelte sichderobligateKorso.DieKleidungderMännerwarvoneinerselbstverständlichen,sachlichenEleganz.DiejungenMäd­chen schwärmten aus wie Schwalben, mit hurtiger, ziel­sicherer Anmut. Ein heiterer Bettler bat mit vornehmemBedauernumeinAlmosen–undestatihmleid,daßerge­zwungenwar,michzubelästigen.Manhörterussisch,pol­nisch, rumänisch, deutsch und jiddisch. Es war wie einekleine Filiale der großen Welt. Dennoch gibt es in dieserStadtkeinMuseum,keinTheater,keineZeitung.Aberdafüreinejener»Talmud­Thora­Schulen«,ausdeneneuropäischeGelehrte,Schriftsteller,Religionsphilosophenhervorgehen;undMystiker,Rabbiner,Warenhausbesitzer.

IndieserStadtlernteichzufälligeinenGymnasiallehrerkennen.Ersagte:»SiesindausDeutschland?ErklärenSiemir,wasausderEntdeckungdesProfessorsgewordenist,derGoldausQuecksilbergewinnt.Wasbleibtdannnoch?WasistaußerdemimQuecksilberenthalten?Ichmußfort­währenddarübernachdenken.Siemüssenwissen,daß ichsehrvielZeithabe.WennichsovielGeldhätte,ichwürdenachDeutschlandfahrenundmichinformieren.EsläßtmirkeineRuhe!«SosprachderMann.ErwirdwiederzweiJahrewarten,bisjemandausDeutschlandkommt.

SolcheMenschengedeiheninkleinenostgalizischenStäd­ten. In den größeren würden sie wahrscheinlich auch ge­deihen.Aberesgibtkeinegrößeren.InOstgaliziengibtesnureine:dieStadtLemberg.

IndieseStadtbinichzweimalgewissermaßenalseinSiegereingezogen,unddaswarnichtganzungefährlich.LangeZeitwar sie eine »Etappe«, Sitz eines österreichischen Armee­kommandos,einerdeutschenFeldzeitung,vielerMilitäräm­ter,einerk.u.k.Personalsammelstelle,einer»Offiziersme­nage«.EsgabeineMilitärpolizei,eine»Kundschafter­undNachrichtenstelle«, einösterreichischesund eindeutsches

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Bahnhofskommando,Krankenhäuser,EpidemienundKriegs­berichterstatter. Hier hauste der Krieg, hier hausten seineBegleiterscheinungen, die schlimmer, weil sie dauerhafterwaren.UmdieseStadtkämpftennachdemZusammenbruchPolenundRuthenen,undhierereignetesichderNovember­pogrom.UndheutenochsiehtLembergwieeineEtappeaus.

Die Hauptstraße hieß einmal Karl­Ludwig­Straße, ausLoyalitätgegenüberdemHerrscherhause.Heuteheißtsie:»DieStraßederLegionen«.EssinddiepolnischenLegionengemeint. Hier war einmal der Korso der österreichischenOffiziere. Heute spazieren die polnischen Offiziere. Hierhörtemanimmerdeutsch,polnisch,ruthenisch.Mansprichtheute: polnisch, deutsch und ruthenisch. In der Nähe desTheaters, das am unteren Ende die Straße abgrenzt, spre­chendieMenschenjiddisch.ImmersprachensiesoindieserGegend.Siewerdenwahrscheinlichniemalsandersreden.

GegendieseVielsprachigkeitwehrtsichdasneugestärkte,durchdiejüngsteEntwicklungderGeschichtegewisserma­ßenbestätigtepolnischeNationalbewußtsein–mitUnrecht.JungeundkleineNationensindempfindlich.Großesindesmanchmalauch.NationaleundsprachlicheEinheitlichkeitkanneineStärkesein,nationaleundsprachlicheVielfältig­keitistesimmer.IndiesemSinnistLembergeineBereiche­rungdespolnischenStaates.EsisteinbunterFleckimOstenEuropas,dort,woesnochlangenichtanfängt,buntzuwer­den.DieStadtisteinbunterFleck:rot­weiß,blau­gelbundeinbißchenschwarz­gelb.Ichwüßtenicht,wemdasschadenkönnte.

Diese Buntheit schreit nicht, blendet nicht, macht keinAufsehen,istnichtumihrerselbstwillenda,wiedieBunt­heit balkanisch­orientalischer Städte, wie die BudapesterzumBeispiel,dasbalkanischeristalsderBalkan.Diepoly­glotteFarbigkeitderStadtLembergistwieamfrühenMor­gennochimHalbschlummer,schoninhalberWachheit.Es

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ist,wiedieerste JugendeinerBuntheit. JungeBäuerinnenmitKörbenfahrenimBauernwagendurchdieHauptstraße.Heuduftet.EinDrehorgelmannspielteinVolkslied.StrohundHäckselsindüberdenFahrdammgestreut.DieDamen,dieindieKonditoreigehen,tragendieletztenToilettenausParis,Kleider,diebereitsdenAnsprucherheben,»Schöp­fungen«zusein.IndenSeitenstraßenstaubtmanTeppiche.

AdamMickiewicz,dergroßepolnischeDichter,stehtinderStraßenmitte.KaftanjudenpatrouillierenzuseinenFü­ßen, die Wachtposten des Handels. Ein Mann mit einemSacküberderrechtenSchulterschreit»Handele!«mitmelo­discher Weinerlichkeit. Das hindert keinen einzigen derschlanken,sehrkriegerischenKavallerieoffiziere,mitseinemgroßen, gebogenen Säbel zu scheppern, mit den musika­lischenSporenzuklirren.Erklirrt,scheppert,schreitetmitanmutigerMännlichkeitineinerkleinenWolkeausKriegs­musikdahinundistdennocheinfriedlicherMensch–undalshätteerkeinengewaltigenSchleppsäbel, sondernnureinenRegenschirm, so zwängt er sich durch die dichtgeballtenGruppenderHändler,welchediePolitikderWeltbespre­chenundeinenHandelabschließenundbeidesgleichzeitig.SodemokratischisthierdasMilitär.IchsaheinenOberleut­nant mit vielen Kriegsauszeichnungen und bunten Bänd­chen an der Brust. In der Hand trug er ein Glas »Einge­machtes«. Seiner Frau hielt er den Marktkorb. DieserKopfsprunginsEwig­Menschliche,insPrivate,insHäusli­che versöhnt mit den kriegerischen Wolken aus Sporen­klangundOrdensglanz.InanderenStädtenträgtein»Bur­sche«dreiSchrittehinterdenHerrschaftenOberleutnantsdas Eingemachte. Manchmal ist es gut zu sehen, daß einOberleutnanteinMenschist.

DieStadtdemokratisiert,vereinfacht,vermenschlicht,undesscheint,daßdieseEigenschaftmitihrenkosmopolitischenNeigungenzusammenhängt.DieTendenzinsWeiteistim­

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mergleichzeitigeinWillezurselbstverständlichenSachlich­keit.Mankannnichtfeierlichsein,wennmanvielfältigist.Sakralesselbstwirdhierpopulär.Diegroßen,altenKirchentretenausderReserve ihresheiligenZwecksundmischensichunterdasVolk.UnddasVolkistgläubig.NebendergroßenSynagogeblühtderjüdischeStraßenhandel.Anih­renMauernlehnendieHändler.VordenKirchenportalenhocken die Bettler. Wenn der liebe Gott nach Lembergkäme,ergingezuFußdurchdie»StraßederLegionen«.

Straßen,Plätze,Häuser,dievornehmzuseindieBestim­mungunddiePflichthaben,SchlösserhinterGittern,öffent­liche Gebäude, zu denen man auf Stiegen emporschreitet –allesindpopulär.DiestrengeFormlockertsichvolkstümlich.DieMilderungderstrengenFormartetauchinUnordnungaus,inzerstörendeLangsamkeit,selbstmörderischeVerwir­rung.DieGesetzesindzahlreich.IhreÜbertretungoberstesGesetz,wennauchungeschriebenes.Deralte»österreichischeSchlendrian«findetseineadäquateFortsetzunginderLässig­keit,dieslawischistundeineBegleiterinderMelancholie.

EsgibteinLiteraten­Café,»Roma«heißtes.GuteBürgerbesuchenes.Auchhierverwischen sichdieGrenzenzwi­schenSesshaftigkeitundBohème.DerSohndesbekanntenRechtsanwaltsistStammgast,Regisseur,Literat.AmNeben­tisch könnten seine Angehörigen sitzen. Alle Trennungs­strichesindmitschwacher,kaumsichtbarerKreidegezogen.

EsistdieStadtderverwischtenGrenzen.DeröstlichsteAusläufer der alten kaiserlich und königlichen Welt. DasweitwestlichereKrakauistwenigerösterreichisch.EsbliebimmereinnationalesMuseum.ZwischenWienundLembergistheutenoch,wieimmer,derRadioaustauschderKultur.AberBukarestistnochdazugekommen.DerUmsturzhatnämlichallegalizischenStädteumeinigeMeilennachOstengerückt.VielleichtzumSegendesOstens…