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Hier spielt die Zukunft Jugendhilfe aktuell 44 3/2004 „Hier spielt die Zukunft – Bildung im Kindergarten“ war der Titel einer Fachtagung des LWL-Landesjugend- amtes in Zusammenarbeit mit dem Jugendhof Vlotho. Sie richtete sich an Erzieher/innen, Fachberater/innen und Lehrende an Fachschulen für Sozialpädagogik sowie Grund- schulen. Bereits bei der Suche nach einem Titel der Veranstaltung schli- chen sich immer wieder ironisierende Untertöne ein wie „Phytagoras im Sandkasten“, oder „Ausgekuschelt“? Wir entschieden uns schließlich für die klar zukunftsorientierte Variante und betitelten das Projekt mit „Hier spielt die Zukunft – Bildung im Kindergarten“. Aber immerhin, ein Hauch von Doppelbödigkeit ist auch hier noch zu spüren. Bereits in früher Kindheit werden Weichen für die weitere Entwicklung gestellt – die emotionale, die soziale und die kognitive. Kinder verbringen im Alter zwischen 3 und 6 Jahren mehrere tausend Stunden im Kin- dergarten – Zeit, die viele Ent- wicklungs- und Lern-impulse mög- lich macht. Darin sind sich Eltern, Lehrer/innen, Erzieher/innen und Forscher/innen einig. Die Beiträge dieses Themenschwer- punktes sind zum Großteil Vorträge und Tagungsergebnisse der Fach- tagung: Sowohl die Bildungsvereinba- rung als auch das Schulfähig- keitsprofil geben Hinweise dar- auf, wie Begleitung und Förderung kindlicher Entwick- lungsprozesse in Tagesein- richtung und Schule sicherge- stellt werden können. Einen Überblick darüber verschafft der Beitrag „Fundament stärken und erfolgreich starten!“ von Bernt-Michael Breuksch. Um die individuellen Bildungs- potentiale auszuschöpfen kann ein Blick über den Tellerrand in die Neurobiologie nicht schädlich sein. Sie gibt Aufschluss über Aufbau, Funktion und Leistungs- fähigkeit unseres Gehirns, insbe- sondere im frühkindlichen Sta- dium. In seinem Beitrag „Grund- lagen kindlicher (Selbst-) Bil- dungsprozesse aus medizi- nisch/psychologischer Sicht“, zeigt Dr. med. Hans von Lüpke auch die Grenzen der Biologie auf. Diese zeigen sich spätestens dann, wenn es um die Bedeu- tung von Wahrnehmungs- und damit Lern- und Aneignungs- prozessen geht. Welchen Stellen- wert müssen hier den sozialen Beziehungen für die Ausbildung von Lernbereitschaft- und Lern- fähigkeit beigemessen werden? Und welche Rolle spielen alterna- tive Denk- und Handlungsmuster, mit denen Erzieherinnen die Kinder konfrontiert, die sie zu weiteren Anstrengungen heraus- fordern? Die Dokumentation von Bil- dungsprozessen ist eine zentrale Aufgabe der Erzieher/in, die bis- her in der Praxis je nach Ein- richtung unterschiedlich gehand- habt wurde. Mit der Formulierung dieser Aufgabe in der Bildungs- vereinbarung ist hier Klärungs- bedarf und eine Überprüfung der bisherigen Arbeit gefragt. Wer Anteil haben will an kindlichen Bildungsprozessen, muss versu- chen, Kinder in ihren Intentionen, Gedanken und Handlungen zu verstehen: Es geht darum zu erkennen, warum sie bestimmten Dingen Bedeutung zumessen und andere ignorieren. Die Beur- teilungsmaßstäbe der Kinder ge- ben der pädagogischen Arbeit Orientierung; diese müssen er- kannt und akzeptiert werden. Der Erziehende muss sich mit seinen Gedanken und Intentionen ge- wissermaßen an den passenden Stellen einklinken, um dem Kind Angebote zu machen, die wohl dosiert als Herausforderung er- lebt werden und die sich entwick- lungsfördernd auswirken. Wie dieses möglich sein kann, be- schreiben Rainer Strätz in seinem Beitrag „Bildungsarbeit auf neuen Grundlagen“ und Gerd E. Schäfer in seinem Artikel „Beobachten und Dokumen- tieren“. Es ist keine neue Erkenntnis, dass insbesondere die Spiel- Schwerpunkt 2 Bildung im Kindergarten Gerhard Matenaar, Susanne Schubert „Hier spielt die Zukunft…“

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Hier spielt die Zukunft Jugendhilfeaktuell

44 3/2004

„Hier spielt die Zukunft – Bildung imKindergarten“ war der Titel einerFachtagung des LWL-Landesjugend-amtes in Zusammenarbeit mit demJugendhof Vlotho. Sie richtete sichan Erzieher/innen, Fachberater/innenund Lehrende an Fachschulen fürSozialpädagogik sowie Grund-schulen. Bereits bei der Suche nacheinem Titel der Veranstaltung schli-chen sich immer wieder ironisierendeUntertöne ein wie „Phytagoras imSandkasten“, oder „Ausgekuschelt“?Wir entschieden uns schließlich fürdie klar zukunftsorientierte Varianteund betitelten das Projekt mit „Hierspielt die Zukunft – Bildung imKindergarten“. Aber immerhin, einHauch von Doppelbödigkeit ist auchhier noch zu spüren.

Bereits in früher Kindheit werdenWeichen für die weitere Entwicklunggestellt – die emotionale, die sozialeund die kognitive. Kinder verbringenim Alter zwischen 3 und 6 Jahrenmehrere tausend Stunden im Kin-dergarten – Zeit, die viele Ent-wicklungs- und Lern-impulse mög-lich macht. Darin sind sich Eltern,Lehrer/innen, Erzieher/innen undForscher/innen einig.

Die Beiträge dieses Themenschwer-punktes sind zum Großteil Vorträgeund Tagungsergebnisse der Fach-tagung:

● Sowohl die Bildungsvereinba-rung als auch das Schulfähig-

keitsprofil geben Hinweise dar-auf, wie Begleitung undFörderung kindlicher Entwick-lungsprozesse in Tagesein-richtung und Schule sicherge-stellt werden können. EinenÜberblick darüber verschafft derBeitrag „Fundament stärkenund erfolgreich starten!“ vonBernt-Michael Breuksch.

● Um die individuellen Bildungs-potentiale auszuschöpfen kannein Blick über den Tellerrand indie Neurobiologie nicht schädlichsein. Sie gibt Aufschluss überAufbau, Funktion und Leistungs-fähigkeit unseres Gehirns, insbe-sondere im frühkindlichen Sta-dium. In seinem Beitrag „Grund-lagen kindlicher (Selbst-) Bil-dungsprozesse aus medizi-nisch/psychologischer Sicht“,zeigt Dr. med. Hans von Lüpkeauch die Grenzen der Biologieauf. Diese zeigen sich spätestensdann, wenn es um die Bedeu-tung von Wahrnehmungs- unddamit Lern- und Aneignungs-prozessen geht. Welchen Stellen-wert müssen hier den sozialenBeziehungen für die Ausbildungvon Lernbereitschaft- und Lern-fähigkeit beigemessen werden?Und welche Rolle spielen alterna-tive Denk- und Handlungsmuster,mit denen Erzieherinnen dieKinder konfrontiert, die sie zuweiteren Anstrengungen heraus-fordern?

● Die Dokumentation von Bil-dungsprozessen ist eine zentraleAufgabe der Erzieher/in, die bis-her in der Praxis je nach Ein-richtung unterschiedlich gehand-habt wurde. Mit der Formulierungdieser Aufgabe in der Bildungs-vereinbarung ist hier Klärungs-bedarf und eine Überprüfung derbisherigen Arbeit gefragt. WerAnteil haben will an kindlichenBildungsprozessen, muss versu-chen, Kinder in ihren Intentionen,Gedanken und Handlungen zuverstehen: Es geht darum zuerkennen, warum sie bestimmtenDingen Bedeutung zumessenund andere ignorieren. Die Beur-teilungsmaßstäbe der Kinder ge-ben der pädagogischen ArbeitOrientierung; diese müssen er-kannt und akzeptiert werden. DerErziehende muss sich mit seinenGedanken und Intentionen ge-wissermaßen an den passendenStellen einklinken, um dem KindAngebote zu machen, die wohldosiert als Herausforderung er-lebt werden und die sich entwick-lungsfördernd auswirken. Wiedieses möglich sein kann, be-schreiben Rainer Strätz in seinemBeitrag „Bildungsarbeit aufneuen Grundlagen“ und Gerd E.Schäfer in seinem Artikel„Beobachten und Dokumen-tieren“.

● Es ist keine neue Erkenntnis,dass insbesondere die Spiel-

Schwerpunkt 2Bildung im Kindergarten

Gerhard Matenaar, Susanne Schubert

„Hier spielt die Zukunft…“

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Hier spielt die ZukunftJugendhilfeaktuell

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fähigkeit des Kindes Vorausset-zung und Grundlage für selbst-bestimmte Lern- und Aneig-nungsprozesse ist. Die Äuße-rung: „Die spielen ja nur“, ist eineunzulässige und unsinnigeDisqualifizierung, die ins Markfrühkindlicher Entwicklungs-leistungen zielt. Auf die Be-deutung des kindlichen Spielsgeht Holger Dehnert in seinemBeitrag „Das Spiel als Ausdruckund Form kindlicher Selbstbil-dungsprozesse“ ein.

● Sich bilden heißt auch „in Be-wegung bleiben“. Thomas Stei-mann macht dies in seinem Text„Bewegte Kinder, gebildeteKinder – die Psychomotorik alsganzheitliche Förderpraxis“deutlich.

● Kinder schulfähig machen, siemit 5 Jahren auf Schulfähigkeithin testen, die Zusammenarbeitim Sinne kontinuierlicher, gelin-gender Bildungsprozesse entwik-keln und gestalten – Tagesein-richtung und Schule im Dauer-stress? Der Kindergartenwünscht sich eine konzeptionelleÖffnung von Schule. Auf der an-deren Seite sind Schulen daraninteressiert, über Schwächen ein-zuschulender Kinder zu erfahren.Diese unterschiedlichen Interes-senlagen führen nicht selten zugegenseitigen Abgrenzungsten-denzen. Gertraud Greiling vomGrundschulverband und Bern-hard Eibeck von der GEW stellenin Ihren Beiträgen die unter-schiedlichen Perspektiven dar.Das Ziel ist: besseres Kennen-lernen und damit Verständnis fürdie Ausgangssituation des ande-ren.

● Auch die Tageseinrichtung ist aufPartner angewiesen, wenn es umdie Fortführung ihrer am Kind ori-entierten Sozialisierungs- undBildungsleistungen geht. Partner,die ihr auf gleicher Augenhöhebegegnen und bereit sind, me-thodisch und inhaltlich an demfür die Kinder Vertrauten anzuset-zen mit weiterführenden, dann

schulischen Lern- und Arbeits-formen. Es gibt gegenseitige Er-wartungen an die Zusammen-arbeit und es gibt wichtige,gemeinsame Erfahrungen vonGrundschule und Tageseinrich-tung, die Hoffnung machen undModelle liefern können, umBrüche im kindlichen Entwick-lungsprozess zu vermeiden. EinBeispiel, wo diese Zusammen-arbeit gut funktioniert, schildernFranka Stefanski u.a. in ihremBeitrag: „Kooperation zwischenKindergarten und Grundschuleam Beispiel ‚Abenteuerland’“.

● Dass Zusammenarbeit soschwierig ist, liegt weder amUnvermögen noch am Des-interesse der Beteiligten, sonderneher an den Kooperationsbe-dingungen und den bisherigen in-haltlichen und fachlichen Aus-richtungen von Jugendhilfe undSchule. Beide Systeme habenein völlig unterschiedliches pro-fessionelles Selbstverständnis.Daher ist es sinnvoll, dass sichdie für den kindlichen Entwick-lungsprozess Verantwortlichennicht erst als Erzieher/in undLehrer/in begegnen. Was liegtnäher als ein früh- und rechtzeiti-ger gemeinsamer Ausbildungs-und Qualifizierungsprozess, indem sich ein Verständnis entwik-keln kann für die gemeinsamen,aber auch unterschiedlichen An-forderungen, in den beiden Be-rufsfeldern? Eine Ausbildungs-form, für die es bereits guteErfahrungen gibt und die konse-quenterweise langfristig in eingemeinsames Grundstudiummünden könnte. Welche Vorteiledie Zusammenarbeit der Ausbil-dungsstandorte für Erzieher/in-nen und Lehramtsanwärter/innenbietet, zeigt der Beitrag von Dr.Rudolf Nottebaum „Das Aache-ner Modell: Kooperation zwi-schen ‚pädagogischen Nach-barn’“.

● Zielorientiert und konsequent denEntwicklungsweg des Kindes zubegleiten wird von den Profes-sionellen verlangt. Dies sollen

eigentlich auch Eltern leisten,was ihnen allerdings zunehmendschwer fällt. Die Ursachen sindvielfältig, beispielsweise wird dieWertevielfalt nicht als Be-reicherung erlebt, sondern verun-sichert Eltern in der Beziehung zuihren Kindern. Die Tagesein-richtungen begleiten die Kindernur für eine begrenzte Zeit. Gera-de in dieser Phase ist es abermöglich ein gutes Fundament fürdie Zusammenarbeit mit demElternhaus zu legen und zugleichdie Erziehungsfähigkeit der Elternzu stärken. Wie das in Tages-einrichtungen möglich ist zeigtder Beitrag der Stadt Gütersloh„Elternschule in Tageseinrich-tungen für Kinder“.

● Die Arbeit in den Einrichtungen istimmer auch von den Rahmenbe-dingungen abhängig. Wie starkKinder gefordert und gefördertwerden können, hängt von derQualität der Arbeit ab: Auswir-kungen darauf haben beispiels-weise die Gruppengröße, derBetreuungsschlüssel und diekonzeptionelle Arbeit vor Ort. DerBeitrag „Bildung in Tagesein-richtungen - Wie günstig darfes sein?“ von Kathrin Bock-Famulla macht deutlich, dass derKindergarten eine Einrichtung ist,die zwar Geld kostet, aber auchGeld erwirtschaftet. Muss undkann Bildung profitabel sein? Wieverhält es sich mit Investitionen indie frühkindliche Bildung? Sindsie gewinnträchtig oder ist derErlös eher gering einzuschätzen?Welchen Effekt hat es, wennElementar- und Primarbereichqualifiziert ausgebaut werdenund so Frauen (die Kinderwunschund berufliche Karriere oft nochals sich ausschließende Faktorenerleben) als qualifizierte Arbeits-kräfte dem Markt zur Verfügungstehen?

● Wie wäre es, wenn man – reinhypothetisch - einmal die Ausga-ben für den qualifizierten Ausbauvon Elementar- und Primar-bereich den volkswirtschaftlichenErträgen gegenüberstellte die

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Fundament stärken und erfolgreich starten! Jugendhilfeaktuell

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sich daraus ergäben, dass zu-nehmend Frauen als qualifizierteArbeitskräfte dem Arbeitsmarktzur Verfügung ständen und auchder Kindeswunsch wieder zu einerealistischen, demografisch wirk-samen Größe in unserer Ge-sellschaft würde? Eines ist klar:Die Tageseinrichtung ist eineZukunftsinvestition, wenn qualita-tiv gut gearbeitet wird.

Ansprechpartner/in:Gerhard Matenaar,LWL-Landesjugendamt,Tel. 0251 591 5612,[email protected]

Susanne Schubert,Jugendhof Vlotho –Bildungsstätte des LWL,Tel.: 05733 923-622,[email protected]

Mit dieser Fachtagung wollen wir zur weiteren Quali-fizierung der Bildungsarbeit in Tageseinrichtungen bei-tragen und an Initiativen auf Bundes- und Landesebeneanknüpfen. So wird die Bundesregierung im Frühjahr2005 den 12. Kinder- und Jugendbericht mit demSchwerpunktthema „Bildung und Erziehung außerhalbvon Schule" vorlegen. Im Mittelpunkt des Berichtessteht u.a. die Förderung des Elementarbereiches. FürNRW hat das SPI den Auftrag, die Umsetzung derBildungsvereinbarung exemplarisch auszuwerten undzu dokumentieren. In Ergänzung zu diesen Informa-tionen und Berichten wird die Tagung Zielsetzungen,Bedingungen und Erfahrungen aus der Bildungsarbeitmit und in der Praxis zur Diskussion stellen.

Geplant sind Beiträge zu Ergebnissen aus Modell- undForschungsprojekten zur frühkindlichen Bildung, Er-fahrungen aus der Beratungs- und Fortbildungsarbeitsowie Praxisbeispiele aus Kindertagesstätten. Themen

werden voraussichtlich unter anderem die Beobach-tungsverfahren, die Bildungsdokumentation und derÜbergang vom Kindergarten in die Grundschule sein.

Die Veranstaltung richtet sich an Erzieher/innen,Fachschullehrer/innen, Grundschullehrer/innen, Fach-berater/innen, Trägervertreter/innen und findet imJugendhof Vlotho, Oeynhausener Str. 1, 32602 Vlotho,Tel.: 05733 923-0 statt. Anmeldung erfolgt über denJugendhof Vlotho, Oeynhausenerstr. 1, 32602 Vlotho,Tel.: 05733 923-0. Die Kosten betragen: 35,00 EURTeilnehmerentgelt, ca. 47,00 EUR für Verpflegungzuzüglich ca. 20,00 EUR bei Übernachtung und 15,00EUR Einzelzimmerzuschlag

Ansprechpartnerinnen zu inhaltlichen Fragen: SusanneSchubert, Jugendhof Vlotho, Tel.: 05733 923-622 undGerhard Matenaar, LWL-Landesjugendamt, Tel.: 0251591-5612

Tagungshinweis: „Bildung in früher Kindheit“ 18. - 19.05.2005 im Jugenhof Vlotho

Bernt-Michael Breuksch

Fundament stärken und erfolgreich starten!

Das MSJK hat vor etwa einem Jahrmit den Spitzenverbänden deröffentlichen und freien Wohlfahrts-

pflege und die Kirchen eine Bil-dungsvereinbarung für den Elemen-tarbereich abgeschlossen sowie einSchulfähigkeitsprofil erarbeitet. Wol-len wir jetzt Pythagoras im Sand-kasten, wie der WDR gefragt hat? Esgeht heute darum, den Reform-prozess „Fundament stärken underfolgreich starten“ zu skizzieren.

Die frühe Bildung muss sich als einkohärenter Bildungsprozess verste-hen, der den Elementarbereich unddie Schuleingangsphase umfasst:

● Am 18. Juli 2003 wurde dieBildungsvereinbarung unter-zeichnet.

● Die Bildungsvereinbarung ist Teileines breiter angelegten Reform-prozesses. Dieser Reformpro-zess erfasst das Kindergarten-alter. Es geht aber auch um dieSchülerinnen und Schüler in derSchuleingangsphase. Alle Re-formprojekte stellen die individu-elle Förderung von Kindern in denMittelpunkt.

Bei der Eröffnung der Fachtagungdes LWL „Hier spielt die Zukunft –Bildung im Kindergarten“ am7./8. Juni 2004 in Vlotho fassteBernt-Michael Breuksch die zen-tralen Vorhaben des Ministeriumsfür Schule, Jugend und KinderNRW (MSJK) im Bereich derTageseinrichtungen zusammen:

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Grundlagen kindlicher (Selbst-)Bildungsprozesse aus medizinisch/psychologischer SichtJugendhilfeaktuell

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● Neben der Familie tragen Schulewie auch KindertageseinrichtungVerantwortung dafür, dass derÜbergang vom Kindergarten indie Grundschule vom Kind als einÜbergang ohne Bruch empfun-den wird.

● Das Schulrechtsänderungsge-setz 2003 hat für diesen Re-formprozess weitere vier Eck-punkte gesetzt: Informationsver-anstaltung für die Eltern Vier-jähriger; vorgezogene Anmel-dung zur Grundschule; in Ver-bindung damit auch Prüfung derSprachkenntnisse des Kindes.Das Schulpflichtgesetz sieht nun-mehr die Möglichkeit vor, dassdas Kind dann, wenn es nichtüber ausreichende Sprachkennt-nisse verfügt, verpflichtet werdenkann, an einer vorschulischenSprachfördermaßnahme teilzu-nehmen.

● Ziel ist es, die Fördermöglich-keiten, die vor dem Eintritt in dieSchule bestehen, intensiv zu nut-zen.

● In der neuen Schuleingangs-phase werden ab Schuljahr2005/6 die Schülerinnen undSchüler die ersten zwei Schul-jahre in einem, in zwei oder in dreiLernjahren durchlaufen. Einhergeht damit die Integration derSchulkindergärten in diese neueSchuleingangsphase.

● Derzeit wird der Erlass „Zusam-menarbeit von Tageseinrich-

tungen und Grundschule“ von1988 überarbeitet.

Schulfähigkeitsprofil und Bildungs-vereinbarung beschreiben aus derSicht der Schule einerseits und derKindertageseinrichtungen anderer-seits die Anforderungen an die Bil-dungsarbeit.● Adressat der Bildungsvereinba-

rung sind die Erzieherinnen undErzieher in den Kindertagesein-richtungen! Das Schulfähigkeits-profil richtet sich an die Lehrer-innen und Lehrer! Gleichwohl hates Auswirkungen auf die Arbeit inden Kindergärten. Es gibt denEltern eine Orientierung im Hin-blick auf die schulischen An-forderungen.

● Gemeinsamkeiten: keine Check-Listen, sondern Empfehlungen.Beide sollen Anregungen gebenfür die pädagogische Arbeit,auch in den Kindertageseinrich-tungen.

● Das Schulfähigkeitsprofil ist vorallem Hilfestellung für die Förde-rung in der neuen Schulein-gangsphase.

Weitere Qualifizierung der Erzie-herin/des Erziehers ist erforderlich.● Durch die Bildungsvereinbarung

ergeben sich eine Reihe vonNeuerungen für das pädagogi-sche Personal: - Bildungsarbeit systematischer

anlegen; Träger- und/oder ein-

richtungsspezifische Bildungs-pläne erstellen.

- Bildungsdokumentation für je-des einzelne Kind, wenn die El-tern dazu vorher ihre Einwilli-gung gegeben haben.

- Verfahren entwickeln, wie diepädagogische Arbeit qualitativweiterentwickelt und wie diesesintern überprüft werden kann.

● Neue Anforderungen bedingenneue Ausbildungsinhalte. DerLehrplan für die Fachschule istdaher überarbeitet und vorläufigin Kraft gesetzt. Speziell für dieSprachförderung ist ein berufs-begleitender Aufbaubildungs-gang entwickelt worden. Weiterezu einzelnen Themen der Bil-dungsvereinbarung sind in Vor-bereitung.

● Projekt „Professionalisierungfrühkindlicher Bildungsprozesse“des SPI/Prof. G. Schäfer zur Im-plementation, Überprüfung undWeiterentwicklung der Bildungs-vereinbarung.

Der Autor: Bernt-MichaelBreuksch,Gruppenleiter imMinisterium für Schule,Jugend und Kinder,Leiter des ReferatesTageseinrichtungen fürKinder

Hans von Lüpke

Grundlagen kindlicher (Selbst-)Bildungsprozesse ausmedizinisch/psychologischer Sicht - Anmerkungen

Verstärkter Druck auf die Vorschul-erziehung gibt den Grundlagen vonLernprozessen unter neurobiologi-schen und entwicklungspsychologi-schen Aspekten eine neue Ak-tualität. Nicht selten werden veralte-

te Konzepte implizit und unreflektiertweiter verwendet. Diese sind teilwei-se von genetisch-biologischen Ge-sichtspunkten geprägt - so die Be-gabungstheorie mit ihren Konse-quenzen für Ausleseprozesse -, teil-

weise eher durch ausschließlich um-welt-orientierte pädagogische Ge-sichtspunkte mit der Vorstellung vonKindern als "formbarer Masse", dieerst durch Pädagogenhände gestal-tet werden muss. Biologie und

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Grundlagen kindlicher (Selbst-)Bildungsprozesse aus medizinisch/psychologischer Sicht Jugendhilfeaktuell

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Pädagogik geraten dabei in unüber-brückbare Gegensätze.

Neuere wissenschaftliche Erkennt-nisse zeigen jedoch, dass biologi-sche und entwicklungspsychologi-sche und damit letztlich auch päd-agogische Aspekte heute eherdabei sind, sich einander anzunä-hern.

Umwelterfahrungen beeinflussenGehirnaufbau und Gehirnfunktion

Wichtige Korrekturen haben sich zu-nächst auf dem Gebiet der Genetikergeben. An Stelle der alten Vor-stellung, dass in den Genen das wei-tere Schicksal eines Menschen -auch im Hinblick auf seine Lern-fähigkeit - bereits vorprogrammiertsei, geht man heute davon aus, dassauch die genetische Information, umwirksam zu werden, einer Aktuali-sierung durch Umwelteinflüsse be-darf (Bauer 2002). Im Widerspruchzu traditionellen Vorstellungen wer-den genetische Einflüsse auch nachder Geburt noch wirksam, währendUmwelteinflüsse bereits pränatal dieEntwicklung beeinflussen und Erfah-rungen hinterlassen (von Lüpke2003).

Auch das Gehirn selbst ist nach denneueren Vorstellungen der Hirnfor-schung nicht wie ein Computer be-reits fertig vernetzt, sondern wirdebenfalls durch Umwelteinflüsse auseiner unendlichen Vielfalt von Mög-lichkeiten bis in die funktionellen undmorphologischen Strukturen hineinständig neu gestaltet. Dieser Pro-zess setzt sich lebenslang fort, istjedoch in der frühen Kindheit beson-ders intensiv (Spitzer 1996, 2002;Deneke 1999; Roth 1999, 2001;Hüther 2001).

Dass es dabei nicht um dieBesonderheit einer Hirnregion vonKaninchen geht, sondern um eingrundlegend neues Konzept vonHirnfunktion, zeigt die übereinstim-mende Vorstellung zahlreicher Hirn-forscher (Roth 1999, 2001; Hüther2001, Thelen & Smith 1998) die aufder Grundlage einer Vielzahl vonUntersuchungen zu der Einschät-zung gekommen sind, dass dieArbeitsweise des Gehirns nicht hier-archisch über Zentren organisiert ist,

sondern alle dort ablaufendenProzesse durch eine nahezu unend-liche Vielfalt von Verbindungsmög-lichkeiten mehr oder weniger dasganze Gehirn betreffen.

Wahrnehmung als KonstruktAuf der funktionellen Ebene entste-hen Wahrnehmungen durch die kon-tinuierliche Abgleichung von bereitsVorhandenem (Gedächtnis) und neuAufgenommenem. Roth (1999) gehtdavon aus, dass die aktuelle Wahr-nehmung zu weniger als 0,1 % ausneuen Informationen entsteht unddamit zum überwiegenden Teil durchBezugnahme auf bereits bestehendeErfahrungen. Daraus kann niemalsein "richtiges" Abbild der Umweltentstehen, wie es traditionellen Kon-zepten von Hirnfunktion entspricht.Statt dessen wird Wahrnehmungselbst zum kreativen Prozess, zu"Hypothesen über die Umwelt", wieRoth (1999, 86) es formuliert.Physikalisch nicht messbare Phäno-mene werden wahrgenommen, wieFarben und räumliches Sehen -"Objekte in unserer Umwelt sindnicht farbig; unsere Umwelt ist nichtperspektivisch aufgebaut, d.h. ent-fernte Objekte sind nicht klein" (Roth1999, 253) - ; die Wahrnehmung vonBewegung wird korrigiert - etwa dieaus den Augenbewegungen resultie-rende Bewegung der wahrgenom-menen Umwelt - ; physikalisch vonden Wellenlängen her unterschiedli-che Farben erscheinen einheitlich,beispielsweise als das Blau desHimmels. Ohne Korrektur der Au-genbewegung würden wir die Um-welt wie durch eine Handkamerasehen, bei Wahrnehmung der unter-schiedlichen Wellenlängen hätten wirkeine Farbkonstanz. Es geht also umKohärenz in der Wahrnehmung. Aufder funktionellen Ebene ist auch beiden Versuchstieren von Freemananzunehmen, dass die verändertenMuster im EEG mit anderen Wahr-nehmungen einhergehen.

Auf neue Umwelteinflüsse reagiertalso immer das ganze Gehirn.Hirnfunktion wird dabei nicht als blo-ßes Reagieren im Sinne vonAbbilden der Umwelt vorgestellt,sondern als Neukonstruktion, diestark von Erfahrungen und Bedürf-

Um die neueren Vorstellungenvon Aufbau und Funktion desGehirns zu verdeutlichen, eignensich die Experimente des Hirn-forschers Freeman (1995). ImGegensatz zu den meisten Hirn-forschern ging es ihm nicht da-rum, in immer kleinere (zelluläre,molekulare) Funktionszusammen-hänge vorzudringen. Er leitete miteiner EEG-Technik Erregungs-muster über ganzen Hirnarealenab und wollte auf diese Weisegrößere Funktionszusammen-hänge verstehen. Dazu machte erKaninchen zunächst mit einerAuswahl an Gerüchen vertraut.Es zeigte sich in der bei Verar-beitung von Gerüchen aktiviertenHirnregion - der Regio olfactoria -zu jedem Geruch ein charakteri-stisches Muster. Eine neu hinzu-kommende Geruchsqualität führ-te jedoch nicht - wie man zu-nächst erwarten könnte - lediglichzur Entwicklung eines zusätzli-chen Musters, sondern veränder-te auch die bereits bestehenden.Darüber hinaus zeigte sich, dassdie neuen Muster nicht alleindurch die chemischen Eigen-schaften der Gerüche bestimmtwaren, sondern auch von derjeweilige Verfassung des Tieresabhingen. Bei Hunger odererhöhtem Erregungszustand ver-änderten sich die räumlichenMuster, obwohl die Gerüchegleich blieben. Die verändertenRepräsentanzen von vorher be-reits bekannten Gerüchen stelltendabei Modifikationen des frühe-ren Musters dar, es gab also eine"Erinnerung".

(Foto: sxc.hn: daddy tool)

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Grundlagen kindlicher (Selbst-)Bildungsprozesse aus medizinisch/psychologischer SichtJugendhilfeaktuell

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nissen des Einzelnen geprägt wird.Für die Problematik von „Wahr-nehmungsstörungen“ hat dies weit-reichende Konsequenzen. Bei Lern-prozessen ist die Integration derWahrnehmung aus den verschiede-nen Sinneskanälen von besondererBedeutung.

Bedeutung von Beziehungen fürLernprozesseEntscheidend für Lernprozesse istdie Vorstellung, dass all dieseStrukturierungsprozesse sich daranorientieren, welche Bedeutung ihnenfür den einzelnen Menschen zukom-men. Informationen, die keine oderverwirrende Bedeutung haben, wer-den gar nicht erst aufgenommen.Die Frage nach der Bedeutung istjedoch von der Hirnforschung alleinnicht mehr zu beantworten - sie führtzur Entwicklungspsychologie. Diesegeht heute davon aus, dass esBeziehungserfahrungen sind, dieüber Bedeutungen entscheiden.Damit bestätigt sich die uralte päd-agogische Erfahrung, dass Lernenmaßgeblich durch die Qualität derBeziehung bestimmt wird. Von gro-ßer Bedeutung ist dabei dieTatsache, dass auch der Lernendeschon in den frühesten Lebens-phasen sich in einer zeitlichen Kon-tinuität als Handelnder erlebt. JedemLernen, das zum Aufbau von Iden-tität wirksam werden soll, geht einePhase des "kreativen Probierens"voraus. Diese hat Schutz undGeborgenheit zur Voraussetzung.Anspannung und Angst verhindernderartige Lernprozesse.

Für Beziehungserfahrungen, dieLernprozesse begünstigen, ist eineWiderspiegelung der emotionalenMitteilungen des Kindes durch denErwachsenen von besonderer Be-deutung. Diese Widerspiegelung istjedoch nur dann hilfreich, wenn siedas Verhalten des Kindes nicht imi-tiert, sondern in dem Sinne modifi-ziert, dass dem Kind alternativeVarianten zum eigenen Verhaltengeboten werden. Gerade dieseDifferenz zum Verhalten des Kindes

ist entwicklungsfördernd. Sie schafftdie Voraussetzungen für die Regu-lation eigener Gefühle (Affektre-gulation: Fonagy et al.) und ermög-licht so jenes „kreative Probieren“ alsGrundlage von Lernprozessen. Da-bei geht es noch nicht um „richtig“oder „falsch“, sondern um das Spielmit unterschiedlichen Möglichkeiten.„Fehler“ sind keine Schande, son-dern können über gemeinsamesLachen zu neuen Hypothesen füh-ren.

Strategien, die durch "gezieltesÜben" Lernerfahrungen vermittelnwollen, ohne deren Bedeutung fürdas Kind im Kontext von Bezieh-ungserfahrungen zu berücksichti-gen, gehen mit dem Risiko einher,dass das Kind diese Erfahrungennicht zum Aufbau der eigenen Per-sönlichkeit nutzen kann.

KonsequenzenWo liegen die Grenzen der Aussage-kraft von Ergebnissen der Hirn-forschung? Neuere bildgebendenVerfahren ermöglichen zwar interes-sante Einblicke in Hirnprozesse beiLernvorgängen, sie "erklären" jedochnichts. Hirnforschungsbefunde kön-nen höchstens dazu anregen, eige-ne Erfahrungen neu zu beleuchtenund modifizierte Modelle zu entwik-keln. Pädagogische Strategien las-sen sich nur mit pädagogischenMitteln überprüfen. Hirnforschungs-befunden den Stellenwert einerübergeordneten Erklärung zu geben,würde bedeuten, durch die Hintertürerneut einen Biologismus einzufüh-ren. Die neueren Forschungsergeb-nisse stützen und ermutigen einepädagogische Arbeit, die Bezie-hungserfahrungen einen bevorzug-ten Stellenwert für Lernprozessegibt.

Der Autor:Dr. med. Hans vonLüpke, Kinderarzt undPsychotherapeut mitPraxis in Frankfurt amMain, bietet auch Fort-bildungen und Bera-tungen für sozialpäd-agogische Fachkräftean.

Literatur

Bauer, J.: Das Gedächtnis des Körpers. WieBeziehungen und Lebensstile unsere Genesteuern. Frankfurt/M., Eichborn 2002

Deneke, F.-W. (1999) : Psychische Strukturund Gehirn. Die Gestaltung subjektiverWirklichkeiten. Schattauer, Stuttgart/NewYork

Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E.L., Target,M.: Affektregulierung, Mentalisierung und dieEntwicklung des Selbst. Stuttgart 2004

Freeman, W.J. (1995): Societies of Brains. AStudy in the Neuroscience of Love and Hate.New York

Hüther, G (2001): Bedienungsanleitung für einmenschliches Gehirn. Göttingen

Lüpke, H. von (2003): VorgeburtlicheBindungserfahrungen - Konsequenzen für dieInterpretation und Begleitung von Kindern mitVerhaltensauffälligkeiten. In: Finger-Trescher,U. & Krebs, H. (Hg.): Bindungsstörungen undEntwicklungschancen. Gießen, 133-144

Roth, G. (1999) : Das Gehirn und seineWirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihrephilosophischen Konsequenzen. 3. Aufl.Suhrkamp (TB), Frankfurt/M.

Roth, G. (2001): Fühlen, Denken, Handeln.Wie das Gehirn unser Verhalten steuert.Suhrkamp, Frankfurt/M.

Spitzer, M. (1996) : Geist im Netz. SpektrumHeidelberg, Berlin, Oxford

Spitzer, M. (2002): Lernen: Gehirnforschungund die Schule des Lebens. SpektrumHeidelberg, Berlin, Oxfort

Thelen, E. & Smith, L.(1998): A DynamicSystems Approach to the Development ofCognition and Action. CambridgeMassachusetts, 3. Aufl.

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Bildungsarbeit auf neuen Grundlagen Jugendhilfeaktuell

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In letzter Zeit haben sich die rechtli-chen Grundlagen für die Bildungs-arbeit in Tageseinrichtungen fürKinder massiv verändert. Die PISA-Studie hatte dazu geführt, dass dieBedeutung der frühkindlichen Bil-dung auch der breiten Öffentlichkeitbewusst geworden ist. Entspre-chend stark ist jetzt der Erwartungs-druck.Die rechtlichen Veränderungen inNRW wurden durch die Tatsacheerleichtert und beschleunigt, dass ineinem neu geschaffenen Ministeriumfür Schule, Jugend und Kinder dieZuständigkeiten für die Schulen unddie Tageseinrichtungen unter einemDach zusammengeführt wurden. Beiden neu erlassenen bzw. vereinbar-ten Regelungen zur Bildungsarbeitmuss sich jetzt herausstellen, wie siein der Praxis konkret umgesetzt wer-den, wie sie in der konzeptionellenAusrichtung und der praktischenAnwendung zusammenpassen undwas sie in der Praxis tatsächlich ver-ändern werden.

Die Inhalte der Bildungsvereinba-rungTageseinrichtungen für Kinder sindlängst Bildungseinrichtungen, auchwenn es der breiten Öffentlichkeitbisher vielleicht noch nicht bewusstwar. In der Vereinbarung wird daherzunächst festgehalten, dass aufeinem Bildungsangebot aufgebautwerden kann, „das in vielen Tages-einrichtungen erfolgreiche alltäglichePraxis und ein Hauptbestandteil derArbeit ist.“ Es geht also um dieVerdeutlichung, um eine Stärkungund die Weiterentwicklung diesesBildungsangebots.

Die Bildungsziele sind in der Verein-barung weit gefasst. Unter Anderemwerden die Persönlichkeitsentwick-lung und die Förderung von Selbst-bewusstsein und Identität genannt.Die Vereinbarung orientiert sich hierzunächst am „Forum Bildung“, weist

darüber hinaus auf das Gebot derChancengleichheit und die Not-wendigkeit des Ausgleichs individu-eller und sozialer Benachteiligungenhin. Als weiteres zentrales Ziel wirdformuliert, dass jedes Kind seineindividuellen Entwicklungspotentialeausschöpfen können soll. All diesbedeutet, dass Bildungsarbeit nichtnach festen Standardprogrammen(geschlossenen „Curricula“) ablaufenkann, sondern vom einzelnen Kind,seinen individuellen Voraussetzun-gen, seinem persönlichen Lebens-umfeld und seiner einzigartigen Bio-graphie ausgehen muss. Folglichwurde in NRW auch kein „Bildungs-plan“ vereinbart, der jeder Einrich-tung und jeder Fachkraft vorschreibt,was sie wann wie zu tun hat; son-dern die Einrichtungen sollen ein trä-ger- und einrichtungsspezifischesBildungskonzept erarbeiten undumsetzen, bei dessen Entwicklungsie sich an der Vereinbarung und derihr beigefügten „Handreichung“ ori-entieren.

Mehrfach wird auf die Kontinuitätdes Bildungsprozesses hingewie-sen. Das bedeutet, dass dieBildungsarbeit gleichermaßen die

gesamte Zeit in der Tageseinrichtungumfasst. Die Betonung des letztenJahres vor der Einschulung beziehtsich auf die Gestaltung des Über-gangs und nicht auf die Bedeutungder Bildungsarbeit.

Kinder betreiben aktiv ihre eigeneEntwicklungBei der Beschreibung der Bildungs-bereiche nimmt die VereinbarungBezug auf ein Konzept frühkindlicherBildung, das von Prof. Dr. Gerd E.Schäfer (Universität zu Köln) auf derGrundlage langjähriger Forschungs-arbeiten entwickelt wurde und das erim Auftrag des früheren Ministeriumsfür Frauen, Jugend, Familie undGesundheit mit einer „ArbeitsgruppeBildungsvereinbarung“ (A. von derBeek, R. Fuchs, G.E. Schäfer und R.Strätz) für die Bildungsarbeit in Ta-geseinrichtungen für Kinder konkre-tisiert hat.1 Damit macht sich die Ver-einbarung ein Konzept zu eigen, dasstark auf die „Selbstbildungs-potentiale“ jedes Kindes setzt:Kinder betreiben aktiv ihre eigeneEntwicklung - das ist eine inzwi-schen auch neurobiologisch gut fun-dierte Tatsache. Gerade in denersten Lebensjahren lernen Kinderviel bereitwilliger, aktiver, schnellerund umfassender als wir Erwach-senen. Sobald wir uns das eingeste-hen, müssen wir uns fragen: Mit wel-chem Recht wollen wir Kindern vor-schreiben, was sie wann lernen sol-len? Und ist es nicht unverfroren zubehaupten, dass Kinder erst „lernen

Rainer Strätz

Bildungsarbeit auf neuen Grundlagen

Bildungspläne für Kindertageseinrichtungen der Länder Länderspezifische Dokumente zur Bildungsarbeit in Kindertagesstättenhat die Fachgruppe Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe der Gewerkschaft„ver.di“ auf einer Internet-Seite zusammengetragen. Auf der Internet-Seitesind Empfehlungen, Rahmenpläne und Hilfestellungen zur Bildungsarbeitmit Vorschulkindern als PDF-Dateien herunterladbar. EntsprechendeDokumente gibt es dort für die Bundesländer Bayern, Berlin, Brandenburg,Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz,Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und NRW (Bildungs-vereinbarung).

Internet: www.verdi.de/0x0ac80f2b_0x01223832#

„Bildung zielt gleichzeitig auf1. die Entwicklung der gesamten

Persönlichkeit,2. die Teilhabe an der Gesellschaft,3. die Vorbereitung auf künftige

Lebensabschnitte.“

(Forum Bildung)

1 Gerd E. Schäfer (Hrsg.): Bildung beginnt mit der Geburt - Förderung von Bildungsprozessen in den ersten sechs Lebensjahren. Weinheim, Beltz, 2003

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Bildungsarbeit auf neuen GrundlagenJugendhilfeaktuell

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sollen, wie man lernt“? „Lernme-thodische Kompetenz“ ist in man-chen anderen Bildungspapieren2 dieeinschlägige Überschrift.

In verschiedenen anderen Bundes-ländern werden ebenfalls Papiere zurfrühkindlichen Bildung entwickeltund erprobt3. Neben Gemeinsam-keiten finden sich auch bedeutsameUnterschiede, die ausdiskutiert wer-den müssen. Sie beziehen sich nichtnur auf Details, sondern betreffen diegrundsätzliche Frage, welche Rollewir bei der Gestaltung von Bildungs-prozessen dem Kind und welcheRolle wir dem Erwachsenen zu-schreiben. Dieselbe Frage steht übri-gens auch an, wenn Gemeinsam-keiten und Unterschiede von Ele-mentar- und Schulpädagogik zu dis-kutieren sind. Ein gemeinsamerBezugspunkt dabei könnte das inder schulpädagogischen Literaturweit verbreitete „didaktische Drei-eck“ sein. Es betont erstens dieBedeutung der Beziehung zwischenKind und Erziehendem. Außerdemgeht es um „die“ Sache - wobei dieErziehende sich immer wieder klar-machen muss, dass „die“ Sache fürdie Kinder eine andere Bedeutunghat (haben kann) als für sie selbst.Ute Andresen erläutert dies amBeispiel der Katze4:

Ute Andresen ist sicher, dass einUnterricht nur gelingen kann, wenndie Lehrerin die Sichtweise der Kin-der nicht nur akzeptiert, sondern vonihr ausgeht und erst dann versucht,auch ihre eigene Sichtweise zumThema zu machen.Auf dieser allgemeinen Ebene ist dasModell wohl unstrittig. Interessantund kontrovers wird es jedoch beiden beiden entscheidenden Fragen:Welches Gewicht soll die Sicht desKindes gegenüber der Sicht derErwachsenen haben? Und: Wer be-stimmt, um welche Sache es geradegehen soll?Die Betonung der aktiven Rolle desKindes bei Selbst-Bildungsprozes-sen macht die Erzieherin nicht über-flüssig - im Gegenteil. Deshalb isteine wichtige anstehende Aufgabe,zusätzlich zu den Selbstbildungs-potenzialen des Kindes die Aufga-ben der Erzieherin und die „Grund-orientierungen“, auf denen ihre Ar-beit basiert, differenziert und an-schaulich zu beschreiben.

Als Bildungsbereiche werden Be-wegung, Spielen und Gestalten,Medien, Sprache(n) sowie Natur und

kulturelle Umwelt(en) aufgeführt.Diese Aufzählung ist nicht abschlie-ßend, beispielsweise fehlt Musik.Auch trägerspezifische Bildungs-bereiche wie religiöse Bildung sollenzusätzlich in die einrichtungsspezifi-schen Bildungskonzepte einfließen.In diesen umfassenden Bildungs-konzepten werden auch die Ansätzeder Sprachförderung aufgehen, dieviele Einrichtungen im Zusammen-hang mit den „Richtlinien zurSprachförderung“ entwickelt haben,so dass der Bereich der Sprach-förderung konzeptionell - nicht finan-ziell - seine Sonderrolle verlierenwird.

Bildung dokumentierenDie Vereinbarung fordert von jederErzieherin nicht nur eine fortlaufende„beobachtende Wahrnehmung“ je-des Kindes, sondern auch „Bil-dungsdokumentationen“ als „Nie-derschrift des Bildungsprozessesdes einzelnen Kindes“. Auch dieserPunkt wird noch zu manchen Dis-kussionen führen: Wie können sol-che Dokumentationen konkret aus-sehen, was ist sinnvoll, was istmachbar? An verschiedenen Ortenwerden neuerdings standardisierteBögen diskutiert, die keine Beob-achtungsaufzeichnungen, sondernEinschätzskalen darstellen, mit de-ren Hilfe die Erzieherin den Ent-wicklungsstand eines Kindes zu-sammenfassend beurteilen können

2 Besonders deutlich im bayerischen “Bildungs- und Erziehungsplan”.3 Beispiele in alphabetischer Reihenfolge:

Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Staatsinstitut für Frühpädagogik München: Der BayerischeBildungs- und Erziehungsplan für Kinder bis zur Einschulung in Tageseinrichtungen - 1. Entwurf - http://www.stmas.bayern.de/familien/kinder-betreuung/Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hg.): Das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, erziehung und Betreuung vonKindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt. Entwurf Juni 2003 erarbeitet von: INA gemeinnützige Gesellschaft für innovativePädagogik, Psychologie und Ökonomie an der Freien Universität Berlin (http://www.senbjs.berlin.de)Brandenburg: Entwurf “Bildungsstandards für Kindertagesstätten” - Fassung August 2003 (http://www. mbjs.brandenburg.de)Rheinland-Pfalz: Ministerium für Bildung, Frauen udn Jugend (Hg.): Bildungs- und Erziehungsempfehlungen für Kindertagesstätten in Rheinland-Pfalz. Diskussionsentwurf Juli 2003. (http://www.mbfj.rlp.de/jugend/)Sonstiges: GEW-Diskussionssvorschlag: Rahmenplan frühkindliche Bildung, Hinweis und Bezugsadresse in KiTa aktuell NW 6/2003, S. 126

4 Ute Andresen: Ausflüge in die Wirklichkeit. Grundschulkinder lernen im Dreifachen Dialog. Weinheim, 2000

„Bildung ist immer langfristig an-gelegt. Sie braucht Zeit. Manmuss sich diese Zeit auch neh-men und geben. Für Bildung amBeginn des Lebens gilt das ganzbesonders.“

(Ex-Bundespräsident JohannesRau in seiner „Bildungsrede“ am10. Januar 2002)

Für eine Lehrerin ist „Katze“ viel-leicht ein kleines vierbeinigesSäugetier mit bestimmten anato-mischen Eigenschaften und einerbestimmten Ernährungsweise.Das ist dann gleichzeitig das, wassie den Kindern nahe bringenmöchte. Für ein Kind ist „Katze“aber vielleicht das, was es sichsehnlichst wünscht, aber nichtbekommt. Für ein anderes Kindvielleicht das, was es gerade amvorhergehenden Tag überfahrenauf der Straße hat liegen sehen.

Das didaktische Dreieck

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soll. Auch solche Beurteilungsbögenkönnen die Erzieherin nicht von derPflicht entbinden, durch Dokumentezu belegen, auf welcher Grundlagedie Einschätzung beruht. Bildungs-dokumentationen brauchen sichnicht auf schriftliche Aufzeichnungenzu beschränken; mindestens eben-so aufschlussreich - und wahr-scheinlich anschaulicher - könnenzum Beispiel kommentierte Bilderoder Videoaufzeichnungen sein.Viele Erzieherinnen verwenden seitjeher viel Mühe darauf, Bilder, diedas Kind gemalt hat, ihre Auf-zeichnungen zum Kind oder Anek-doten in „Mappen“ zu sammeln.Wenn solche Materialien kommen-tiert werden, wenn also festgehaltenwird, was dem Kind dabei wichtigwar, wie es vorgegangen ist und wiees sein Werk selbst beschrieben undkommentiert hat, dann können siewichtige Bestandteile von Bildungs-dokumentationen werden.Beobachtungen und ihre Auswer-tungen können sich nicht daraufbeschränken, zu erfassen und fest-zuhalten, was die Kinder tun undwas wir davon halten. Eine der wich-tigsten Fragen ist stattdessen, wel-che Bedeutungen ein Kind mit demverbindet, was es sagt, tut oder tunwill. Wer sich eine solche Sichtweisenicht angewöhnt hat, steht sichständig selbst im Weg:

Im Abschnitt über die Gestaltungdes Übergangs in die Grundschu-le wird zunächst nochmals auf die„Kontinuität längst begonnenerBildungsprozesse“ und die gemein-same Verantwortung von Tagesein-richtungen und Grundschulen füreine „beständige Bildungsentwick-lung“ und den Übergang in derGrundschule hingewiesen. Als Maß-nahmen, die einer gleichberechtigtenZusammenarbeit von Lehrkräftenund sozialpädagogischen Fachkräf-ten dienlich sind, werden „regelmäßi-ge gegenseitige Besuche und Hos-pitationen“, „gemeinsame Weiterbil-dungen“ und „gemeinsame Einschu-lungskonferenzen“ genannt. Dasgeht weit über die im Schulrechts-änderungsgesetz festgeschriebenegemeinsame Informationsveranstal-tung für die Eltern von Vierjährigenhinaus.Was die Zusammenarbeit mit denEltern betrifft, wird ausdrücklich„Erziehungspartnerschaft“ als Zielformuliert. Und es ist von der not-wendigen Stärkung und Stützungder elterlichen Erziehungskompe-tenz die Rede. Das ist ebenso ein-deutig wie ehrgeizig und es wird vielZeit und Mühe kosten zu erkunden,wie dieser Anspruch durch dieFachkräfte in den Einrichtungen sogut wie möglich eingelöst werdenkann.

Zusammenführung war überfällig!Unter dem Stichwort „Evaluation“werden die beiden Themen „Bil-dung“ und „Qualitätsmanagement“zusammengeführt - ein längst über-fälliger Schritt. Viele Qualitätsmana-gementverfahren - insbesondere sol-che betriebswirtschaftlicher Herkunft- tendieren dazu, nicht die pädagogi-schen Kernaufgaben von Bildung,Erziehung und Betreuung ins Zen-trum zu rücken, sondern andereProzesse oder strukturelle Gegeben-heiten. Die Träger werden also in Zu-kunft die Bildungsarbeit in ihren Ein-richtungen intern evaluieren unddazu Instrumente entwickeln oderadaptieren müssen. Und die Verein-barung fordert ein Rückmeldever-fahren, eine Evaluation der Bildungs-vereinbarung selbst mit dem Hin-weis, dass die Evaluationen in denEinrichtungen auch zu einer Ver-änderung bzw. Weiterentwicklungder vereinbarten Grundsätze derBildungsarbeit führen können.

Ein Fazit: Die Bildungsvereinbarungenthält viele wichtige und begrü-ßenswerte Neuerungen, deren prak-tische Umsetzung aber noch intensiverprobt werden muss. Vielleichtkann das Projekt „Professionali-sierung frühkindlicher Bildung“ (s.dazu Heft 9/2003 von KiTa aktuellNW) Beiträge dazu leisten.

5 Dieses Zitat ist der Titel eines Beitrags über das Pen Green Centre in dem Video: Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Das Rad erfinden. Kinder aufdem Weg in die Wissensgesellschaft. DJI München 1999

"An der Ampel steht eine jungeMutter und erklärt ihrem Söhnchen,dass es nicht mit dem Fahrradlebensfroh durch Pfützen fahren soll-te; da würden die Hosen vollge-spritzt. Auf dem Schulhof scheuchtder Hausmeister gemütlich hoch sit-zende Kinder vom Kartenspiel auf;das sei ein Tisch zum Tischtennis-spielen, nicht zum Draufsitzen. Vordem Schulhaus pflückt eine Lehrerinkletternde Kinder vom Gitter; dasGitter sei zu ihrer Sicherheit dort auf-gerichtet und kein Turngerät. Dannschickt man die Kinder in Kurse zurKreativitätsförderung oder in dieSpieltherapie, um die Verstörungihres Weltbezugs zu heilen." (Andre-sen, S. 327)

Eine Möglichkeit zeigt das Beispiel„Pen Green Centre“ in Corby (Eng-land): Wenn Fachkräfte es schaffen,Eltern durch Gespräche (auf der Grund-lage von Beobachtungen, Video-aufnahmen oder Bildern) auf die Bil-dungsprozesse und Entwicklungs-schritte ihres Kindes aufmerksam zumachen, dann können sie auch beiEltern aus sogenannten „bildungsfer-nen Schichten“ (das ist die wichtigsteZielgruppe in Corby), eine der be-deutsamsten Grundlagen für Er-ziehungskompetenz schaffen, die eineMutter dort so ausgedrückt hat: „Hierhabe ich gelernt, meine Kinder nicht zuunterschätzen - und mich selbst.“5 Dasist das notwendige Gegenteil von defi-zitorientierter Wahrnehmung vonKindern, die auch bei Eltern ziemlichverbreitet zu sein scheint.

Der Autor: Rainer Strätz, Stellver-tretender Leiter desSozialpädagogischenInstituts Köln (SPI),unter anderemMitarbeiter im Projektes„Professionalisierungder frühkindlichenBildung in NRW“.

Erstabdruck des Beitrages in KiTaaktuell NW 10/03, S. 200-202

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Beobachten und DokumentierenJugendhilfeaktuell

533/2004

„Ist Bildung in der Tagesbetreuung eine Aufgabe derKinder- und Jugendhilfe oder der Schule?“ Dies ist diezentrale Frage, wenn im Rahmen der Bildungsdebatteund der Föderalismusreform über das Thema „Bildungin der Tagesbetreuung“ diskutiert wird. Erneut ange-regt wurde die Diskussion durch das Gesetz zum qua-litätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau derTagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kin-der- und Jugendhilfe (Tagesbetreuungsausbaugesetz-TAG)“. Hier werden die §§ 22 – 24 a SGB VIII unterder Überschrift „Förderung von Kindern in Tages-einrichtungen und in Tagespflege“ neu gefasst. DerAuftrag zur Förderung wird in den neuen Vorschriftennäher als bisher konkretisiert, um dem Bildungsauftragdie notwendige Aufmerksamkeit zu widmen. Läßt sichdies mit der Gesetzgebungskompetenz der Länder fürden schulischen Bereich vereinbaren?

Mit diesen Gesetzgebungskompetenzen „zwischen“Jugendhilfe und Schule hat sich die StändigeFachkonferenz 1 „Grund- und Strukturfragen des

Jugendrechts“ des Deutschen Instituts für Jugendhilfeund Familienrecht in mehreren Arbeitssitzungen be-fasst. Unter der Leitung von Dr. Dr. h.c. ReinhardWiesner haben sich renommierte Fachvertreter ausWissenschaft, Praxis und Verwaltung der Jugendhilfezu diesen Fragen ausgetauscht und abschließend eineStellungnahme erarbeitet. Diese kommt zu dem Er-gebnis, dass Jugendhilfe und Schule voneinanderunabhängige Aufträge bezüglich Erziehung undBildung erfüllen und zeigt auf, wie sich die gesetzge-berischen Kompetenzen voneinander abgrenzen las-sen. In jedem Fall sollte im Interesse der betroffenenKinder eine Kooperation von Schule und Jugendhilfegesucht werden, um als Verantwortungsgemeinschaftbei der staatlichen Bildung und Erziehung miteinanderund nicht gegeneinander zu wirken.Die ausführliche Stellungnahme finden Sie auf derHomepage des Deutschen Instituts für Jugendhilfeund Familienrecht

www.dijuf.de/german/Fachkonferenzen.html.

Bildung in der Tagesbetreuung - Gesetzgebungskompetenzen „zwischen“ Jugendhilfe und Schule

Gerd E. Schäfer

Beobachten und Dokumentieren

Professionelle Instrumente,Lern- und Forschungspro-zesse des Kindes herauszu-fordern und mitzugestaltenEs ist klar, dass Beobachtung undDokumentation einen für sie günsti-gen zeitlichen und organisatorischenRahmen brauchen. Ohne dass hierim Detail auf Rahmenbedingungeneingegangen werden kann, soll aberdarauf hingewiesen werden, dassbeides nicht einfach Anforderungensind, welche die Erzieherinnen zu-sätzlich zu ihrem Arbeitspensum be-wältigen müssen. Vielmehr solltenBeobachtung und Dokumentationunterstützen, dass Kinder ihren for-schenden Lernprozess zunehmendeigenständiger voranbringen kön-nen. Sie sind also ein professionellesMittel, das Tun der Erzieherin voneiner Orientierung an Angeboten zueiner Orientierung an den Themender Kinder umzugestalten, von einer

Person, die sich vorwiegend alsgebende und lehrende sieht, zueinem Menschen, der die Lern- undForschungsprozesse des Kindesherausfordert und mitgestaltet. Zuden dazu gehörigen institutionellenRahmenbedingungen gehören auchdidaktische Rahmenbedingungen,welche die Eigeninitiativen der Kin-der stärken und dadurch Zeit freige-ben, in der die Erzieherin sich auf-merksam darauf einstellen kann, zuentdecken, was Kinder tun und den-ken.

VorbemerkungDie nahezu gleichzeitige Veröffent-lichung von Bildungsvereinbarungund Schulfähigkeitsprofil hat zurFolge, dass die Praxis zum jetzigenZeitpunkt Handlungshilfen erwartet,die helfen, den Anspruch der beidenPapiere zu erfüllen. Hinzu kommt,dass die Erwartungen, die aus dem

Schulfähigkeitsprofil abgeleitet wer-den, kaum mit den Erwartungen,welche aus der Bildungsvereinba-rung entspringen, in Einklang ge-bracht werden können. Insbeson-dere sind die Vorstellungen von Be-obachtung, Einschätzung und Doku-mentation, die von beiden Papierenausgehen, unterschiedlich, wennnicht gegensätzlich. Durch die unge-klärten Widersprüche verunsichert,greifen viele PraktikerInnen nun zuEinschätzskalen, Tests, Beobach-tungsbögen und dergleichen Verfah-ren, um den Ansprüchen der Bil-dungsvereinbarung gerecht zu wer-den. Vor diesem Hintergrund ist esnotwenig geworden, zu erläutern,was mit Beobachten und Dokumen-tieren in der Bildungsvereinbarungim Sinne der Autoren von „Bildungbeginnt mit der Geburt“, der wissen-schaftlichen Vorarbeit für die Bil-dungsvereinbarung, gemeint ist.

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Beobachten und Dokumentieren Jugendhilfeaktuell

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Wozu Beobachten? Der Stellenwert von Beobachten undDokumentieren in der Bildungsver-einbarung„Die Grundlage für eine zielgerichte-te Beobachtung ist die beobachten-de Wahrnehmung des Kindes, ge-richtet auf seine Möglichkeiten unddie individuelle Vielfalt seiner Hand-lungen, Vorstellungen, Ideen, Werke,Problemlösungen u.ä.“, so lautet einAuszug aus der Vereinbarung überdie Grundsätze der Bildungsarbeitder Tageseinrichtung für Kinder. Die-ser Bestandteil der Vereinbarungund die Verunsicherung darüber,welche Form der beobachtendenWahrnehmung zur „zielgerichtetenBildungsarbeit“ führen könnte, trägtzur Zeit zur explosionsartigen Ent-wicklung von Beobachtungsbögenin der Trägerlandschaft bei. Darüberhinaus verlangt die Vereinbarung,„dass Beobachtung und Auswer-tung von der pädagogischen Fach-kraft notiert und als Niederschrift desBildungsprozesses des einzelnenKindes dokumentiert werden ...“.

Die Qualität von Beobachtungsver-fahren wird sich daran messen las-sen müssen, ob sie geeignet sind,die Komplexität von Bildungspro-zessen bzw. wie sich die Bildungs-vereinbarung ausdrückt: „die indivi-duelle Vielfalt ... [der] Handlungen,Vorstellungen, Ideen und Problem-lösungen“ von Kindern festzuhalten.Die Versuchung ist groß, angesichtsdes Handlungsdrucks seitens derTräger, der Schule und der Politik aufBeobachtungsbögen oder Ein-schätzskalen zurückzugreifen, diesich nur auf Ausschnitte kindlicherEntwicklungslinien konzentrieren, diejedoch die eigentliche Bildungs-leistung des Kindes nicht beschrei-ben können.

Was heißt Beobachten?Erkennen beginnt mit der Frage:Was nehme ich wahr?Um zu erfassen, was Kinder zurUnterstützung ihrer Bildungspro-zesse brauchen, müssen Pädago-gen/innen die Kinder kennen lernen.Dies geschieht dadurch, dass siediese in ihrem Alltag aufmerksamwahrnehmen und sich auf das ein-lassen, was sie tun und möglicher-weise denken. Diesem Ziel dientBeobachten im hier verstandenenSinn.

Zwei Formen der Beobachtung Dabei müssen zwei Formen vonBeobachtung unterschieden wer-den, eine mit gerichteter und einemit ungerichteter Aufmerksamkeit.

Beobachtung mit gerichteter Auf-merksamkeitDie gerichtete Beobachtung zielt aufVerhaltensweisen und Verhaltensbe-reiche, die bereits bekannt sind. Ihrentsprechen die meisten Frage-bögen oder Einschätzskalen. Mitihrer Durchführung soll die Qualitätdieser Verhaltensweisen einge-schätzt und beurteilt werden. Sierichtet sich daher auf etwas, wasman von Kindern weiß, oder besser,zu wissen glaubt. Im besten Fall istdieses ein wissenschaftlich konstru-iertes “Modellkind” und das Instru-mentarium überprüft, inwieweit die-ses oder jenes konkrete Kind hin-sichtlich eines bestimmten Ver-haltens dem “Modellkind” entspricht.

Beobachtung mit ungerichteterAufmerksamkeitZum Erfassen kindlicher Bildungs-prozesse hingegen wird ein unge-richtetes Beobachten benötigt. DerBeobachter will nichts Bestimmteswissen, sondern er ist bereit wahrzu-nehmen, was Kinder indirekt oderdirekt über sich, ihre Erlebnisse undGedanken mitteilen. UngerichtetesBeobachten versucht all das zuerfassen, was die Aufmerksamkeitdes Wahrnehmenden erregt. Es istoffen für Überraschungen. Überra-schungen in den Wahrnehmungensind ein wichtiges Ziel dieser Formder Beobachtung. Man ist über-rascht, wenn ein Verhalten von denErwartungen abweicht. Diese Formder Beobachtung sucht nicht nachÜbereinstimmungen des individuel-len Kindes mit einem wissenschaftli-chen oder privaten “Modellkind”,sondern nach Besonderheiten indivi-dueller Kinder. Insofern ist dieseForm der Beobachtung auch keinErgebnis der Anwendung von vorge-fertigten Instrumentarien, Einschätz-skalen oder Tests, sondern einGewahrwerden mit den sinnlichenund emotionalen Möglichkeiten derWahrnehmung, die der jeweiligenErzieher/in zur Verfügung stehen.Deshalb wird von einem wahrneh-menden Beobachten gesprochen.Aus einem wahrnehmenden kannein entdeckendes Beobachten wer-den, wenn es mit Nachdenken ver-bunden wird.

Ein wahrnehmendes, entdeckendesBeobachten kann gezielt eingesetztwerden. Dafür nimmt man sich Zeit,um sich in einem kleinen Zeitab-schnitt – das können fünf, zehn oderzwanzig Minuten sein – aus dem all-gemeinen Gruppengeschehen zu-rückzunehmen und aufmerksam ein-zelne oder mehrere Kinder bei ihrerTätigkeit auf sich wirken zu lassen.

Es ereignet sich aber auch spontan,wenn irgend etwas im alltäglichenAblauf die Aufmerksamkeit der Er-zieherin auf sich zieht und sie auf dasneugierig wird, was sich gerade ab-spielt.

In den meisten Fällen wissen wirnicht, wie Kinder denken, was sie

Die Überlegungen zu Beobachtenund Dokumentieren erfolgen zueinem Zeitpunkt, zu dem dasLandesprojekt, das die Materia-lien zur Umsetzung der Bil-dungsvereinbarung erarbeitensollte, gerade erst angelaufen ist.D.h., es werden Ergebnisse er-wartet, noch bevor sie durch dasProjekt gesichert werden konn-ten. Diesem Widerspruch solldadurch begegnet werden, dassdieser Artikel als „Arbeitspapier“zu betrachten ist, das in all seinenPunkten erst noch erprobt undpräzisiert werden muss. Er istAusgangspunkt, nicht Endpunkteiner Diskussion. Insofern müs-sen seine Aussagen aus der Sichtdes Projekts als vorläufig be-trachtet werden. Gleichwohl ent-halten sie eine Zusammenstellungvon Gedanken der Diskussionenin diesem Projekt aus der Sichtdes wissenschaftlichen Projekt-leiters. Der Artikel will daher aus-drücklich dazu einladen, Überle-gungen und und Erfahrungen zu-rückzumelden, die sich aus ihmergeben.

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Beobachten und DokumentierenJugendhilfeaktuell

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sich vorstellen, welche Bilder undTheorien sie verwenden, um sichihre Wirklichkeit verständlich zu ma-chen. Um daher etwas von ihren in-dividuellen Bildungsprozessen zu er-fassen, um zu entdecken, was dieAusgangspunkte und Verarbeitungs-wege der Kinder sind, benötigen wiroffene Formen der Wahrnehmungund Beobachtung.

Beobachten, damit man mehr sieht– damit man sieht, was man nochnicht kennt. Man kann diese Art derBeobachtung unterstützen, indemman durch Beobachtungshilfen ei-nerseits auf mögliche Wahrneh-mungsbereiche aufmerksam macht,die aus der Beobachtung nicht aus-geschlossen werden sollten. Ande-rerseits sollen diese Hinweise ganzausdrücklich allzu feste Vorstellun-gen von gerichteter Beobachtung“sprengen” helfen. In diesem Sinnesind die folgenden Vorschläge zuverstehen.

Wie Beobachten?

(Foto: Kita Abenteuerland.jpg)

Die Aufmerksamkeit liegt zunächsteinmal auf den unterschiedlichenSinnesbereichen, mit deren Hilfewahrgenommen wird. Dabei solltekein Sinnesbereich von vornehereinaus der Wahrnehmung ausge-schlossen werden. Jeder dieserWahrnehmungsbereiche trägt unter-schiedliche Information über daswahrgenommene Geschehen bei.

Die Informationen sind am umfang-reichsten und vollständigsten, wennalle Wahrnehmungsbereiche darauf-hin befragt werden können, welcheInformationen sie über das Gesamt-geschehen ausgewählt und beige-tragen haben. Wenn dabei auch dieemotionale Wahrnehmung berück-sichtigt wird, dann bedeutet dieszunächst einmal nur, sich darüberklar zu werden, welche Gefühle mitim Spiel waren. Gefühle enthaltenwichtige Informationen über dieBeziehungen, die das beobachteteGeschehen prägen. Dabei sind dieseBeziehungen und ihre Gefühlsqua-lität erst einmal bewusst zu bemer-ken, bevor daraus wertende Urteilegezogen werden.

Orientierungsfragen könnten lau-ten:● Was sehe ich?● Was höre ich?● Was empfinde ich über meine

Körperwahrnehmungen?● Was fühle ich (Emotionen)?

Wer oder was wird beobachtet?Beobachtet wird in Alltagssitua-tionen, wie sie sich in einer mehroder weniger pädagogisch vorwegstrukturierten Umgebung abspielen.Dabei richtet sich die Aufmerk-samkeit auf:● einzelne Kinder● Kindergruppen● die eigene Beteiligung der Erzie-

herin oder anderer Erwachsener;● die Rahmenbedingungen, in die

das beobachtete Geschehen ein-gebettet ist.

Was bringt wahrnehmendes,entdeckendes Beobachtender Erzieher/in?

Wahrnehmendes Beobachtensensibilisiert die Erzieher/in für dieProzesse der eigenen Wahrneh-mung und ihrer emotionalen Ein-ordnung.Wahrnehmendes, entdeckendesBeobachten bedeutet, in das Ge-schehen mit einzutauchen undempathisch mit dabei zu sein.„Empathisch mit dabei sein“ ver-langt, sich selbst mit wahrzuneh-men. Wahrnehmen geschieht über

alle Sinnesbereiche (Fernsinne,Körpersinne, Gefühle) gleichzeitig.Man nimmt wahr, was man alsbedeutungsvoll erlebt.

Dabei sind es die Gefühle, welchedie Aufmerksamkeitsrichtung derBeobachterin und des Beobachterslenken. Diese Gefühle hängen engmit den Lebenserfahrungen der ei-genen Biografie zusammen. Die Be-obachter/in sollte sich daher immerwieder ins Bewusstsein rufen, inwie-fern ihre Aufmerksamkeitsrichtungetwas mit ihren eigenen Lebens-erfahrungen zu tun hat. Deshalb hilftes der pädagogischen Arbeit, wennman sich klar werden kann, wo eige-ne Stärken und Schwächen liegen.

Wahrnehmendes, entdeckendesBeobachten sensibilisiert die Er-zieher/in für die Erzieher/innen-Kind-Interaktion.Wahrnehmendes, entdeckendesBeobachten nimmt nicht isolierteDinge oder Ereignisse wahr, sondernZusammenhänge und Beziehungen.Dieses können verschiedene For-men von Beziehungen sein:● Beziehungen der Kinder unterein-

ander;● Beziehungen der Kinder zu ihren

Tätigkeiten und den damit ver-bundenen Materialien oder Ge-genständen;

● Beziehungen von Kindern zu Er-wachsenen und umgekehrt vonErwachsenen zu Kindern;

● Beziehungen der Beobachterinzu Kindern, Gegenständen, Pro-zessen, die beobachtet werden,wie auch zu anderen Erwach-senen, die sich an den Szenenbeteiligen.

Klar sein sollte, dass auch Beob-achten eine Form der Beziehung ist,die zu den Kindern aufgenommenwird. Deshalb kann man Beob-achten nicht in eine Technik verwan-deln und die möglichen Fragen undProbleme nur als methodisch-tech-nische Probleme ansehen. Beob-achtendes Wahrnehmen bedeutetalso nicht, eine distanzierte Haltungzum Kind aufzubauen. Zwar verlangtdie Durchführung geplanter Beob-achtungen, dass die Erzieher/in nicht

Die folgenden Fragen undStichworte sind als vorläufig undkeineswegs erschöpfend anzuse-hen. Sie dienen als Anhaltspunktedafür, worauf sich ein offenesBeobachten richten kann.

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Beobachten und Dokumentieren Jugendhilfeaktuell

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von anderen Aufgaben absorbiertoder abgelenkt wird. Doch ist damitnicht gemeint, dass sie sich demon-strativ als außenstehend und uner-reichbar darstellt. Die Frage, ob siedurch eine teilnehmende Haltung dieSituation nicht zu sehr beeinflusst,muss mit der Gegenfrage beantwor-tet werden, ob sich durch bewussteDistanzierung die Situation nichtebenso und zudem in pädagogischunerwünschter Weise verändernwürde.

Beobachtungen reflektieren –oder: Vom wahrnehmendemzum entdeckenden Beobach-tenDamit aus einem wahrnehmendenein entdeckendes Beobachten wird,muss man seinen WahrnehmungenAufmerksamkeit schenken. Auf sieaufmerksam werden heißt nichtgleich, sie zu beurteilen. Zu einer Be-wertung gelangt man oftmals erst,wenn man die eigenen Wahrneh-mungen anderen mitgeteilt und vondiesen eine Resonanz erfahren hat.Für sich selbst über die eigenenBeobachtungen nachdenken, mitden anderen im Team oder mit eineraußenstehenden, fachlichen Bera-tung, das sind einige Wege, wie ausWahrnehmungen Entdeckungenwerden können. Man kann die fol-genden Fragen als eine Art Weg-weiser für die Reflexion einer Beob-achtung betrachten. Wegweiser wei-sen den Weg in unterschiedlicheRichtungen, die man aber nichtgleichzeitig gehen kann.

Anregungen zum wahrnehmen-den, entdeckenden Beobachtendes Kindes / der Kinder

Welche Sinneserfahrungen werdenangesprochen?● Was nehmen die Kinder mit

ihrem Körper wahr?● Was sehen sie?● Was hören sie?● Welche Gefühle drücken sie aus?

Welche Wege innerer Verarbeitungkönnen wahrgenommen werden?● Welche Vorstellungen, Interessen

oder Themen beschäftigen dieKinder?

● Welche Vorstellungen, Bilder ent-wickeln die Kinder zu ihren The-men?

● Wie stark lassen sie sich auf ihreTätigkeit ein und bleiben bei derSache?

● Welche Handlungsformen undwelches Können setzen die Kin-der ein?

● Werden neue Ideen entwickelt,besprochen, ausprobiert?

● Welche Theorien äußern die Kin-der zu ihren Themen?

● Welche Fantasien werden weiter-gesponnen?

● Wie gehen sie mit Unsicherheitenund Schwierigkeiten um?

● Welchen Sinn geben die Kinderihrem Tun?

● Was wird gesprochen/ in Wortegefasst?

● Gibt es Ansätze für ein Denken inQuantitäten oder mathemati-schen Vorformen?

Welche Formen sozialer Beziehun-gen können wahrgenommen wer-den?● Wie verständigen sich die Kinder

untereinander, mit oder ohneWorte?

● Wie verständigen sich die Kindermit Erwachsenen?

● Worüber wird gesprochen? ● Werden Wahrnehmungen, Emp-

findungen, Gefühle ausgespro-chen?

● Gehen die Kinder einfühlsam mit-einander um?

● Tauschen Kinder ihre Ideen aus?

Lernen in komplexen Situationenund Sinnzusammenhängen● Ergibt sich die Lern- oder Bil-

dungssituation aus dem Alltags-zusammenhang?

● Ist der beobachtete Prozess auseiner für das Kind nachvollzieh-baren und sinnvollen Situationhervorgegangen?

● Ist ein Zusammenhang mit voran-gegangen Erfahrungssituationenerkennbar?

● Gibt es in der beobachtetenSituation mehrere Handlungs-möglichkeiten und Handlungs-alternativen, die auch von den Er-wachsenen akzeptiert werdenkönnen?

Forschendes Lernen● Welchen Herausforderungen

stellt/en sich das/die Kind/er?● Probieren die Kinder etwas aus,

was sie noch nicht kennen/kön-nen?

● Was fragen die Kinder?● Welche Überlegungen (Theorien)

stecken hinter ihren Fragen?

Was wurde über Material/Raum-bedingungen erfahren?Bildungsprozesse spielen sich nichtim luftleeren Raum ab. Sie sind aufAnregungen von außen angewiesen.Es macht wenig Sinn, nach selb-ständigen Bildungsprozessen derKinder zu forschen, wenn das Um-feld, in dem sie sich befinden, keineAnregungen und Herausforderungenenthält, wenn der Neugier und demkindlichen Können keine adäquateNahrung geboten wird. Deshalbmuss jede Beobachtung die situati-ven Umstände, die personellen undräumlichen Bedingungen, sowie dieRessourcen an Material, das dieKinder benutzen können, mit be-rücksichtigen. Sie sind also einwesentlicher Teil der Reflexion.

Fragen könnten sein:● Standen dem Kind Personen zur

Verfügung, mit welchen es seineTätigkeit teilen konnte?

● Welche Materialien wurden ge-nutzt?

● Wie haben sich die räumlichenGegebenheiten auf die Kinderausgewirkt?

● Wie haben die Kinder die struktu-rellen Gegebenheiten genutzt?

Ergeben sich Folgerungen aus derBeobachtung?Schließlich wird man sich fragenmüssen, was man aus den Beob-achtungen schließen kann. Mankönnte z.B. fragen:● Eröffnen sie Anregungen für die

weitere Arbeit mit den Kindern?● Deuten sie Hindernisse oder

Irrwege an?

Die folgenden Fragen sind vorläu-fige Versuche, das zu konkretisie-ren, was zu den jeweiligen Selbst-bildungspotenzialen beobachtetwerden kann.

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Beobachten und DokumentierenJugendhilfeaktuell

573/2004

● Welche materiellen oder struktu-rellen Ressourcen werden benö-tigt?

● Wie kann die Erzieherin durch ei-gene Beteiligung den Prozessvoranbringen?

Dokumentieren

Dokumentation / Bildungsbe-richteDie Ergebnisse dieser wahrnehmen-den und entdeckenden Beobach-tung sollen in einer Art Bildungs-bericht für die einzelnen Kinder nie-dergelegt werden. Er dient dazu,über die Zeit des Besuchs einer Kin-dertageseinrichtung vor der Schule,all das zu sammeln, zu dokumentie-ren, zu berichten und zu beschrei-ben, was für den Bildungsweg desKindes bemerkenswert ist und wel-che Anregungen sich daraus für wei-tere Bildungsprozesse ergeben.

Was wird dokumentiert?z.B.:● Die Ergebnisse der wahrnehmen-

den und entdeckenden Beob-achtung sind das wichtigsteMaterial für ihre Dokumentatio-nen. Die Erzieherinnen notierendazu alles, was sie an ihrenBeobachtungen und Überlegun-gen bemerkenswert finden. Jevertrauter Erzieher/innen mit demregelmäßigen, wahrnehmendenund entdeckenden Beobachtenwerden, desto reichhaltiger wirddas Material für Dokumentatio-nen werden.

● Erzeugnisse, Einfälle, Ideen vonKindern, nach Möglichkeit miteinem erläuternden Kommentar,der sie auch Außenstehendenverständlich macht;

● Ereignisse, die bemerkenswert,aber unverstanden sind;

● Individuell unterschiedliche Wei-sen, bestimmte Fragen anzuge-hen oder Probleme zu lösen.

Wie wird dokumentiert?In vielen Kitas gibt es bereits Ansätzefür Dokumentationen, die hier aufge-griffen werden. Ein wichtiger Grund-satz dürfte sein: Dokumentiert wirdnicht – wenigstens nicht in ersterLinie - um Ergebnisse zur Schau zustellen, sondern um Bildungs-

prozesse, Bildungswege und -um-wege festzuhalten. Dokumentatio-nen sollen diese für die Erzie-her/innen wie für Außenstehendenachvollziehbar, vielleicht durchsich-tig und verständlich machen. Dazudienen u.a. durchaus bereits be-währte Dokumentationsverfahren,wenn man sie nach den neuen Zie-len anwendet. Z.B.:● Aufschreiben und über das er-

zählen, was man wahrgenom-men und erlebt hat;

● Fotos und/oder Videos, die nachMöglichkeit so kommentiert wer-den sollten, damit an der Situa-tion unbeteiligte begreifen kön-nen, was sich da abspielt;

● Sammlungen, in denen die Er-gebnisse vieler Kinder zu einemThema zusammengestellt wer-den und der jeweils individuelleBetrag sich dadurch nachvollzie-hen lässst.

● Szenische Aufführungen, Thea-terstücke zu einem Thema, dieauch im Bild festgehalten wer-den.

Wozu brauchen wir Dokumenta-tionen?● Dokumentationen sind ein exter-

nes Gedächtnis für die Kinder● Dokumentationen sind das pro-

fessionelle Werkzeug der Erzie-herin um ihre Arbeit zu überden-ken und um daraus neue Vor-schläge zu entwickeln – alleinoder im Team.

● Dokumentationen sind dasSchaufenster, in dem die Arbeits-ergebnisse der Kinder anderenKindern und den Erwachse-nen/Eltern gezeigt werden.

● Dokumentationen sind die Basisder Informationen, die für denÜbergang in die Schule benötigtwerden. Als solche enthalten sie– mit Zustimmung der Eltern -einen für die Schule bedeutsa-men Auszug aus dem Bildungs-weg des Kindes in der Kinder-tageseinrichtung.

FazitBeobachtung und Dokumentation,so wie sie hier verstanden werden,dienen als Werkzeuge zu einersystematischen Erforschung der

individuellen und sozialen Ressour-cen oder Potenziale, die den Kindernfür Aufgabenstellungen zur Ver-fügung stehen. Sie ermöglichen Vor-schläge, die auf diese Ressourcensituativ, individuell oder gruppenori-entiert eingehen und daraus Per-spektiven für die pädagogische Wei-terarbeit entwickeln. Sie halten, wieein Gedächtnis, die Ergebnisse die-ser Bildungsprozesse fest und ma-chen sie dem Nach-Denken zugäng-lich. In ihrer offenen Form sind sindsie sensibel für Unerwartetes, rea-gieren auf Differenz und bereitengleichwertige Kooperation vor. Sub-jektive Wahrnehmungen gehen in siegenauso ein wie objektivierbare.Subjektivität kann man nicht weglas-sen, sondern muss mit ihr umgehen.Das bedeutet, Subjektivität gehörtzur Beobachtung, aber möglichst invollem Bewusstsein.

Der Autor: Prof. Dr. Gerd E. Schäfer ist Inhaber desLehrstuhls für Pädagogik der frühen Kindheit,Familie und Jugend an der Universität zuKöln. Unter anderem leitet er das Projekt„Professionalisierung der frühkindlichenBildung in NRW“.

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Das Spiel als Ausdruck und Form kindlicher Selbstbildungsprozesse Jugendhilfeaktuell

58 3/2004

Die Bildungsvereinbarung in NRWgeht von einem kindorientierten Bil-dungsverständnis aus, das den Ei-genanteil der Kinder am Bildungs-prozess stärken will. Grundlagedafür ist die Annahme, dass Kindervon Anfang an geborene Lernersind, die ihre Umwelt aktiv und kom-petent erforschen und erschließen.Dieses Bildungsverständnis beziehtsich demzufolge auf das, was dieKinder können und nicht auf das,was die Kinder lernen sollen. Bildungbeschreibt dann die Prozesse, die anden Erfahrungen der Kinder anset-zen: Kinder nehmen aktiv wahr, ord-nen ihre Erfahrungen und entwickelndabei ein neues Verständnis von derWelt.

Im Bildungsprozess geht es dem-nach gerade nicht darum, etwas zulernen, was andere vermitteln. Viel-mehr umfasst Bildung die Prozesse,in denen Kinder ihren Wahrneh-mungen einen eigenen Sinn undeigene Bedeutung verleihen. Päda-gogisches Handeln versucht, dieEinzigartigkeit jedes Kindes zu be-rücksichtigen und dem Kind emotio-nal bedeutsame und sinnstiftendeErfahrungen zu ermöglichen. Ausgangspunkt für das pädagogi-sche Handeln ist demzufolge das,was das Kind tut und sagt. An zen-traler Stelle steht dabei das kindlicheSpiel – das Spielen ist in den erstenLebensjahren die wichtigste Hand-lungsform. Demzufolge muss eineBildungstheorie, die von der Ei-genaktivität des Kindes ausgeht, anden Prozessen ansetzen, die im

Spiel des Kindes ablaufen. Als Kon-sequenz ergibt sich daraus für daspädagogische Handeln, zunächstein Verständnis für Bildungsprozesseim kindlichen Spiel zu entwickeln.Dabei geht es gerade nicht darum,das Spiel als Mittel zur Vermittlungvon Bildungsinhalten zu nutzen.Vielmehr erwächst die Aufgabe, daskindliche Spiel selbst als Bildungs-prozess zu verstehen und den Bei-trag des Spiels für die Selbst-bildungsprozesse des Kindes zuerfassen. Indem Spielen als elemen-tare Form verstanden wird, mit dersich das Kind seine Welt erschließenkann, wird die Frage nach denVoraussetzungen und Bedingungenwichtig, die die bildenden Momentedes Spiels ausmachen.

Funktionsorientierte und struk-turdynamische Zugänge zumSpielDer Spiel-Begriff lässt sich als Sam-melbegriff für eine Vielzahl an Tätig-keiten beschreiben. Forschungenzum Thema Spiel lassen sich grund-sätzlich dahingehend unterscheiden,ob sie eher funktionsorientiert odereher strukturdynamisch angelegtsind. Beide sollen im Folgenden kurzvorgestellt werden. Untersuchungen zum Kinderspielbeziehen sich häufig auf die Funk-tionen, die durch das kindliche Spie-len aktiviert werden. Als zentrale Fra-gestellung wird dabei erforscht, wasdas Spiel und das Spielen für dieeinzelnen Bereiche der kindlichenEntwicklung leistet. Dabei lässt sichzeigen, dass die gesamte Band-breite kindlicher Fähigkeiten im Spie-len auftaucht und gefördert werdenkann. Eine besondere Rolle in denpsychologischen Untersuchungenkommt dem Beitrag des Spielens fürdie sensomotorische, kognitive,emotionale, soziale und moralischeEntwicklung zu. Die Idee, die diesenUntersuchungen zugrunde liegt,bezieht sich demnach auf das Spielals Entwicklungsfunktion. In diesem

Zusammenhang kann bspw. dieÜbung der Körpergeschicklichkeitim Objektspiel, die Entwicklung kog-nitiver Fähigkeiten im Symbolspieloder die Entfaltung von Beziehungenim Sozialspiel aufgezeigt werden.Häufig bleibt bei dieser Vorge-hensweise aber die Frage unreflek-tiert, ob die Aufgabe des Spielensdarin besteht, entsprechende Kom-petenzen zu erwerben. Zur Bear-beitung dieser Frage ist es notwen-dig, zu klären, was das kindlicheSpielen eigentlich ist und warumKinder spielen. Genau diese Fragensind Gegenstand von strukturdyna-misch orientierten Untersuchungen.Schwerpunkte dieses Zugangs zumSpiel sind die Merkmale und dieBedeutung des Kinderspiels. DieIdee derartiger Studien bezieht sichauf die Analyse einer ‚Grammatikdes Spielens’, auf den grundlegen-den Sinn des Spielens für das Kind.Entscheidend sind dabei in ersterLinie nicht die Funktionen und Fähig-keiten, die das Kind im Rahmen sei-ner Spiele schult, sondern die be-sondere Art der Welterfahrung, dieim Spielen möglich ist. Als wesentli-che Leistung des Spiels kann seineverbindende Kraft beschrieben wer-den. Dies lässt sich erkennen, wenndie spezifischen Merkmale desSpiels berücksichtigt werden. Dabeikann dann auch der Zusammen-hang von Spiel und (Selbst-)Bildungdeutlich werden.

Merkmale und Bedeutung desKinderspielsDas besondere Kennzeichen desSpiels liegt in seiner Zweckfreiheit.Gegenüber anderen Tätigkeits-formen (wie bspw. dem Lernen oderder Arbeit) gilt für das Spiel, dass esvon äußeren Zwecken frei ist undkein bestimmtes Ziel hat. Die Zu-wendung zur Umwelt geschieht imSpiel freiwillig und selbstgesteuert.Wesentlich für das Spiel ist, das sichdarin das Kind und die Wirklichkeitauf eine besondere Art und Weise

Holger Dehnert

Das Spiel als Ausdruck und Form kindlicherSelbstbildungsprozesse

Das Konzept der Selbstbildung,das diesen Annahmen zugrundeliegt, geht auf die vielfältigenArbeiten von Gerd E. Schäfer zu-rück. Auch in den Arbeiten desInstitutes für angewandte Sozia-lisationsforschung Berlin (infans)finden sich ähnliche Vorstel-lungen.

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Das Spiel als Ausdruck und Form kindlicher SelbstbildungsprozesseJugendhilfeaktuell

593/2004

begegnen können. Dies ist vor allemdadurch gekennzeichnet, dass dasSpiel einen Zwischenbereich zwi-schen dem Kind und der Welt dar-stellt. Im Spiel verbinden die Kinderdie Realität mit ihrer Fantasie.Dadurch können die Erfahrungender äußeren Welt mit den innerenErfahrungen verbunden werden. DasBesondere dabei ist es, dass dies imRahmen eines Als-ob passiert. Hierkönnen die Kinder vieles ausprobie-ren, ohne dass dies entsprechend‚reale’ Konsequenzen nach sichzieht. Im Spiel erfahren die Kinder dieWelt als einen Ort, den sie selbstgestalten und nach eigenen Vor-stellungen verarbeiten können. Sieentwickeln neue Zusammenhängeund Möglichkeiten: Spielen istzugleich produktiv schöpferisch undforschend. Dabei verbinden Kinderimmer einen Sinn mit dem, was siespielen. Sie lernen dabei nicht nuretwas über die Welt, sondern ent-wickeln ein eigenes Verständnis vonder Welt. Sie setzen sich nach eige-nen Maßstäben und eigenen Vor-stellungen in ein Verhältnis zur Wirk-lichkeit. Im Spiel kann das Kind alsosubjektiven Sinn entwickeln. Es kannseinen Erfahrungen eine eigentätigeBedeutung verleihen. Es gebrauchtdabei seine Potenziale in zusam-menhängenden Prozessen. Spielenermöglicht dem Kind vielsinnlich-integrierte Erfahrungen in komplexenZusammenhängen. Gerade dieszeichnet Spielprozesse gegenüberfunktionsorientierten Übungen aus,in denen einzelne Kompetenzengefördert werden

Spiel und Selbstbildung Spielen ermöglicht also einebestimmte Art der Welterfahrung.Gerade diese besondere Art desTätigseins entspricht dem Verständ-nis von Bildung als Selbstbildung.Demzufolge ist es diese Perspektive– und nicht das Einüben bestimmterFunktionen oder Kompetenzen –,die das Spielen zum wichtigstenLernfeld in der frühen Kindheitmacht. Spielen gehört deswegenauch zu den zentralen Bildungs-bereichen, in denen Kinder ihreSelbstbildungspotenziale nutzen undweiterentwickeln. Die Aufgabe derErwachsenen in Kindertagesein-

richtungen orientiert sich daran, inwelcher Weise diese Potenziale auf-gegriffen und gefördert werden.Kindliches Spiel benötigt einen Spiel-raum, der durch Erwachsene abge-sichert und unterstützt werdenmuss. Es benötigt Wahlfreiheit – Kin-der müssen ihre Spielpartner/-innen,ihre Spielthemen, ihre Spielorte, ihreSpielmaterialien und die Spieldauerselbst bestimmen und entwickelnkönnen. Um dies zu gewährleistenund das kindliche Spiel zu unterstüt-zen, ist das wahrnehmende und ent-deckende Beobachten der Kinderder entscheidende Bezugspunkt fürdas pädagogische Denken undHandeln. Das Dokumentieren undReflektieren der Beobachtungen er-möglicht Schlussfolgerungen für dieGestaltung der pädagogischenPraxis.

Spiel und pädagogischePraxisOrientierungspunkte für die Gestal-tung der Einrichtung und das Deutender Beobachtungen können dieSelbstbildungspotenziale sein, die inder Bildungsvereinbarung benanntwerden; aus ihnen lassen sich kon-krete Hinweise für das pädagogi-sche Handeln und Bezugspunkte fürdie kritische Reflexion gewinnen: ● Differenzierung der Wahrneh-

mungserfahrungen im Spiel:Dies umfasst die Anforderung,(Raum-)Möglichkeiten zu schaf-fen, in denen Kinder im Spiel alleKörpersinne einsetzen können.Dafür müssen auch Materialienzur Verfügung stehen, die alleKörpersinne herausfordern. Inder Einrichtung kann geprüft wer-den, ob Spiele möglich sind, diealle Fernsinne der Kinder anregenund herausfordern und inwieferndie Akustik und Beleuchtung vonRäumen spielunterstützend undsinnesanregend gestaltet ist.Grundsätzlich notwendig ist esdazu, die Selbsttätigkeit und Un-abhängigkeitsbestrebungen derKinder im Spiel anzuerkennen.

● Innere Verarbeitung desWahrgenommenen im Spiel:Dieser Aspekt macht auch daraufaufmerksam, die kindlichen(Spiel-)konstruktionen zu halten

und auszuhalten. Im pädagogi-schen Handeln geht es danndarum, z.B. in Form der vorberei-teten Umgebung die Rahmen-bedingungen dafür zu schaffen,dass Kinder durch naturwissen-schaftlich / mathematisches Den-ken ihre Erfahrungen eigenstän-dig verarbeiten können oder daslustvolle und kreative Spiel mitder Sprache zuzulassen und her-auszufordern.

● Entwicklung der (sozialen undsachlichen) Beziehungen imSpiel: Die pädagogische Praxisist hierbei gefordert, im Spiel Er-fahrungen mit Differenz (ge-schlechtlich, kulturell, sozial …)zu ermöglichen. Dazu ist es ins-besondere notwendig, Wahl-möglichkeiten in der Spielwahl(wann, wo, mit wem, wie lange,was) zuzulassen und durch struk-turelle Rahmenbedingungen(Zeit, Raum) abzusichern. Aus-reichende Kontakte zu anderenSpielpartner/innen machen esmöglich, den Umgang mit demAnders-Sein als Bestandteil desAlltags zu erleben. Im gemeinsa-men Spiel entwickeln sich Pro-zesse des Verständigens, Aus-handelns und Kooperierens.

● Umgang mit Komplexität undLernen in Sinnzusammenhän-gen im Spiel: Gerade im Spielsind hochkomplexe Erfahrungenmöglich, die alle Sinne anspre-chen und verschiedene Heraus-forderungen beinhalten. Im Spielkönnen die Kinder die Kom-plexität von Situationen erlebenund werden ermutigt, für denUmgang damit eigene Strategienzu entwickeln. Dies gelingt dann,wenn die Spielerfahrungen in denAlltag integriert werden. Dadurchwerden sie für die Kinder als sinn-und bedeutungsvoll erlebt undkönnen mit den bisherigen Erfah-rungen verbunden werden.

● Forschendes Lernen im Spiel:Aus dem Spiel lassen sichProjekte mit den Kindern entwik-keln, in denen die Erwachsenenin der Einrichtung gemeinsam mitKindern Fragen bearbeiten undLösungen suchen. Dies kanneher dann gelingen, wenn in der

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Das Spiel als Ausdruck und Form kindlicher Selbstbildungsprozesse Jugendhilfeaktuell

60 3/2004

Einrichtung Mittel und Gelegen-heiten für eigene Forschungenzur Verfügungen stehen undwenn das szenische Umsetzender Spielphantasien der Kinderunterstützt wird.

Vor diesem Hintergrund stellt dasSpielen einen zentralen Bildungs-bereich in der Bildungsvereinbarungdar. In der Handreichung dazu findensich etliche Anregungen und Im-pulse, wie das Spielen des Kindeszur Entwicklung und Differenzierungder kindlichen Potenziale beitragenkann.

Der Autor:Holger Dehnert istFachberater beim Deut-schen ParitätischenWohlfahrtsverband, fürden Bereich Tagesein-richtungen für Kinderund Mitarbeiter imInstitut für frühkindlicheBildung (IffB), Köln.

(Foto: LWL)

Ausgewählte Literatur Flitner, A. (1996): Spielen – Lernen. Praxis undDeutung des Kinderspiels. 10. Aufl. München

Laewen, H.-J./Andres, B. (Hrsg.) (2002a):Bildung und Erziehung in früher Kindheit.Bausteine zum Bildungsauftrag inKindertageseinrichtungen. Weinheim, Berlin,Basel

Laewen, H.-J./Andres, B. (Hrsg.) (2002b):Forscher, Künstler, Konstrukteure.Werkstattbuch zum Bildungsauftrag vonKindertageseinrichtungen. Neuwied, Berlin

Schäfer, G.E. (1995): Bildungsprozesse imKindesalter. Selbstbildung, Erfahrung undLernen in der frühen Kindheit. Weinheim undMünchen

Schäfer, G.E. (Hrsg.) (2003): Bildung beginntmit der Geburt. Förderung vonBildungsprozessen in den ersten sechsLebensjahren. Weinheim, Basel, Berlin

Schäfer, G.E. (2004): Beobachten undDokumentieren als Aufgabe derBildungsvereinbarung. UnveröffentlichtesManuskript. Köln

BKJ-Sammelband betont Bedeutung von Spiel und Kunst inKindertagesstätten

Kinder entwickeln ihre eigene Persönlichkeit am besten, indem sie selbstetwas gestalten und ihre Fähigkeiten erproben. Das aktive, ganzheitlicheErleben von Musik, Spiel, Tanz, Medien und Literatur ist ein wichtigesElement in diesem Prozess. „Kinder brauchen Spiel und Kunst“ betontdie Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung – BKJ. Unter diesemTitel hat der Dachverband der kulturellen Kinder- und Jugendbildung inDeutschland einen Sammelband mit 20 Aufsätzen zur Bedeutung ästhe-tischen Lernens in Kindertagesstätten herausgegeben. Eingegangenwird auf Konzepte und auf Praxisbeispiele. Betont wird der Bildungs-auftrag der Kindertagesstätten, der durch Inhalte und Methoden der kul-turellen Bildung wirksam unterstützt werden kann.

Den Band „Kinder brauchen Spiel und Kunst – Bildungschancen vonAnfang an. Ästhetisches Lernen in Kindertagesstätten“ können Siegegen eine Schutzgebühr von 5,- EUR bestellen.

Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung (BKJ), Küppelstein 34,42857 Remscheid, Tel.: 02191 7943-90, Fax: 02191 7943-89, E-Mail:[email protected], Internet: www.bkj.de

In tiefe Konzentration versunkenes Kind beim Malen mit Wasserfarben. Die Technik: zuerstauf die Hand und von dort aufs Papier. (Quelle: www.pixelquelle.de)

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Bewegte Kinder, gebildete Kinder - die Psychomotorik als ganzheitliche FörderpraxisJugendhilfeaktuell

613/2004

Vorschulische Bildung, ganz imSinne der BildungsvereinbarungenNRW, bedeutet, dass Kinder han-delnd Erfahrungen machen undErkenntnisse durch aktives Begrei-fen und Erfassen sammeln müssen.Bildung und erfolgreiches Lernenheißt Lernen mit Kopf, Herz und Ver-stand, ein Lernen mit allen Sinnen.

Für viele TeilnehmerInnen der Ver-anstaltung war die Forderung nacheinem „Lernen mit allen Sinnen“nicht neu und der Einsatz von Spiel-und Bewegungsaufgaben vertrautesHandeln. Dabei wurde jedoch auchdeutlich, dass hierunter vornehmlichakustische, optische und taktileWahrnehmungsbereiche berück-sichtigt wurden, weniger der Gleich-gewichts- und der Bewegungssinn,die Voraussetzung für die Koor-dination des Körpers in Raum undZeit. So wurde an dieser Stelle dieBedeutung des Zusammenwirkensaller Sinne noch einmal herausge-stellt. In der „greifbaren“ und han-delnden Auseinandersetzung mit(Lern)Gegenständen werden überdie sinnliche Wahrnehmung undderen geistige und gefühlsmäßigeVerarbeitung wirklichkeitsnahe Le-benszusammenhänge selbst ent-deckt.

Bildungsprozesse wollen an-gestoßen werdenIm Gespräch wurde deutlich, dassdiese Bildungsprozesse sich nichtvon alleine einstellen, sondern sieerfordern eine Bereitstellung vonSpiel- und Lernsituationen, in denenjedes Kind seine eigene Lern-

strategie entwickeln, anwenden undüberprüfen kann. Traditionelle Infor-mationswege – Informationen undErklärungen durch ErzieherInnen,vorstrukturierte und lernzielorientier-te Angebote – machen ein individu-elles Lernen nur eingeschränkt mög-lich.Übereinkunft bestand darin, dass einLernen mit allen Sinnen bedeutsameBegleitaspekte für den kindlichenBildungsprozess beinhalten. Siewecken bzw. steigern die Lernfreudedes Kindes, sie machen das Übenabwechslungsreicher und interes-santer, sie führen zu einer Verrin-gerung der motorischen Unruhe undzu einem besseren Lernverhalten.Darüber hinaus, und auch dieswurde in Beiträgen deutlich, tragendiese Lernformen zur Motivation undEntlastung der ErzieherInnen bei.

Psychomotorik ist ganzheitli-che EntwicklungsförderungZu dieser Art der Bildungsarbeitkann die Psychomotorik einen we-sentlichen Beitrag leisten. Psycho-motorik im ursprünglichen Sinnebringt die enge Verknüpfung vonkörperlicher, seelischer und sozialerEntwicklung des Kindes zum Aus-druck. Psychomotorik (Motopäda-gogik) im landläufigen Verständnis istder Begriff für ein ganzheitlichesKonzept der Entwicklungsförderungüber das Medium der Bewegung,dem zentralen Motor frühkindlicherBildung.

Die psychomotorische Förderpraxisbietet den Kindern in spielerischenund lustbetonten Bewegungssitua-tionen Impulse zur Entwicklung undReifung ihrer Gesamtpersönlichkeit,u.a. in den Bereichen Wahrneh-mung, Bewegung, Sprache, Emotio-nalität, Kognition und Sozialverhal-ten. Dazu werden, je nach den indi-viduellen Bedürfnissen und Wün-schen der Kinder, anregende Geräte,psychomotorische Materialien undAlltagsgegenstände eingesetzt.

Diese werden gemeinsam mit denKindern so gestaltet, dass sie zuneuen Bewegungen, Sichtweisen,Ausdrucksformen und sozialen Ver-haltensweisen anregen. In diesemProzess werden die Kinder beob-achtet, ihre Ideen gefördert und dieSituationen so begleitet, dass viel-fältige neue Erfahrungen möglichwerden. Dies erfordert eine Be-gleitung, die die Prinzipien der Psy-chomotorik – Freiwilligkeit, Hand-lungs-, Gruppen-, Entwicklungs-und Funktionsorientierung – be-rücksichtigt und sich deutlich vomtraditionellen Bewegungs- undSportverständnis unterscheidet.Daher ist die Rolle der ErzieherIn impsychomotorischen Förderprozessgekoppelt mit einer besonders ho-hen Beziehungsbereitschaft undBeziehungsfähigkeit.

Wie kommt das Pferd aufsTrampolin?Auf Wunsch der TeilnehmerInnenwurde ein Beispiel aus einer psycho-motorischen Förderpraxis vorge-stellt. Eine Gruppe von 5 entwick-lungsauffälligen Jungen im Alter von5 und 6 Jahren hatte im Bewe-gungsraum ein großes Problem: Wiekommt das Pferd (Oberteil einesLangkastens) auf das Großtram-polin, um dort einen Ausritt zu ma-chen? Tragen, Heben, Stemmenerwiesen sich als überfordernd, umden Höhenunterschied zu überwin-den, gemeinsame Überlegungenund Versuche zum Bau einesAufzuges verliefen ergebnislos. Erstder Bau einer Schrägen mit einerLangbank, die Zuhilfenahme vonRollbrettern und die Arbeitsteilungzwischen unten Schiebenden undoben mit einem Seil Ziehenden führ-ten zum Ziel. Welch zeitraubendes,aber spannendes und befriedigen-des Ergebnis, gespickt mit vielenErfahrungen zu physikalischen Ge-setzmäßigkeiten und der Entwick-lung von gemeinsamen Arbeits-strategien.

Thomas Steimann

Bewegte Kinder, gebildete Kinder – die Psychomotorikals ganzheitliche Förderpraxis

In diesem Beitrag gibt ThomasSteimann die Ergebnisse undDiskussionen innerhalb seinesWorkshops während der Fach-tagung des LWL „Hier spielt dieZukunft – Bildung im Kinder-garten“ am 7./8. Juni 2004 wie-der.

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Bewegte Kinder, gebildete Kinder - die Psychomotorik als ganzheitliche Förderpraxis Jugendhilfeaktuell

62 3/2004

Entwicklungsprozesse drin-nen und draußen begleitenUm Lern- und Entwicklungspro-zesse initiieren und begleiten zu kön-nen, wurde, auf Wunsch der Teil-nehmerInnen, die Bedeutung vonmaterialen Rahmenbedingungenthematisiert und folgende Möglich-keiten zur Gestaltung von Außen-und Innenbereichen erörtert.

● Im Außenbereich sind folgendeAngebote überaus förderlich:Abenteuer- und Kombinations-spielgeräte mit integrierten Rut-schen, Treppen, Seilen, Brückenund Stegen, Kletterwänden undKletterstangen, Ein- und Mehr-personenschaukeln, Balancier-geräte (Wippen, Bretter undBalken) sowie Schaukelbrücken,horizontal und vertikal gespannteSeile und Taue, Geräte mit Rollenund Rädern (Rollbretter, Roller,Bobby-Car, etc), Steine, Stan-gen, Rundhölzer, Holzbretter,Kanthölzer etc.

● Für den Innenbereich empfehlensich folgende Möglichkeiten: Ein-bauten mit verschiedenen Ebe-nen, die über Treppen, Strick-leitern und Seile zu erreichensind; multifunktional einsetzbareMaterialien wie Kletterwände,Kurz- und Langbänke, Tischeund (Sicherheits)Matten, Schau-keln; Kleingeräte für die Schulung

der von Koordinations- undGleichgewichtsfähigkeit wir bei-spielsweise Pedalos, Rollbretter,Minitrampoline, Kippelbretter undTherapiekreisel; ein ausreichen-der Ballbestand, möglichst unter-schiedlich in Material, Größe undBeschaffenheit; Materialien wieKegel, Backsteine, Ringe,Schaumstoffteile, Tücher, Fah-nen, Tore, Seile, Holzer, Kreide,Heulschläuche und vieles anderezum Konstruieren und Experi-mentieren.

Ein besonderes Bedürfnis bei denTeilnehmerInnen bestand in der Be-reitstellung von Möglichkeiten derEntwicklungsbeurteilung, denn dieMotodiagnostik – bewegungsmes-sende und vor allem bewegungs-und verhaltensbeobachtende Ver-fahren – bietet ein gutes und verläss-liches Instrumentarium zur Erfassungund Dokumentation des kindlichenEntwicklungsstandes. Dies giltbesonders dann, wenn die kindlicheEntwicklung, wie vielfach berichtet,auffällig verläuft.

Psychomotorik gegen ver-schiedenste Entwicklungsbe-einträchtigungenDenn die Psychomotorik entfaltetgerade bei Kindern mit unterschied-lichsten Entwicklungsbeeinträchti-gungen ihre besondere Wirksamkeit,

wie in vielen Studien belegt. Dazugehören Entwicklungsprobleme, mitunterschiedlichster Genese, imWahrnehmungs-, Bewegungs- undVerhaltensbereich, die im Rahmenärztlicher Diagnostik u.a. als Teil-leistungsschwächen, Koordinations-störungen, ADH mit oder ohneHyperaktivität, Haltungsschwächen,psychosomatische Befindlichkeits-störungen bezeichnet werden. Regi-onale wie bundesweite Unter-suchungen besagen, dass zwischen15 – 25 % eines jeden Einschu-lungsjahres Entwicklungsauffällig-keiten zeigen und einer mehrdimen-sionalen Förderung bedürfen. DieseZahlen konnten die ZuhörerInnenauch aus den Erfahrungen ihrerPraxis nachvollziehen.

Angebot des Westf.Berufskolleg HammDa sowohl an Instrumenten derEntwicklungsdiagnostik als auch anweiteren Möglichkeiten der Ent-wicklungsförderung Interesse Be-stand, wurde zum Schluss – für dieeigene berufliche Entwicklung undfür die Profilbildung einer Kita – aufdie Fort- und Weiterbildungsmög-lichkeiten des Westf. Berufskollegs –Fachschulen Hamm hingewiesen.Das Westf. Berufskolleg in Hammbietet Zertifizierungskurse zur Psy-chomotorik (Motopädagogik) ansowie die berufliche Weiterbildungzur staatlich anerkannten Moto-päde/in.

Der Autor: Thomas Steimann ist Bildungsgangleiter,Westfälisches Berufskolleg – Fachschule fürMotopädie, Hamm.

(Foto: Kita Abenteuerland)

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Bildung im Übergang - vom Standpunkt der TageseinrichtungJugendhilfeaktuell

633/2004

Man misst der Einschulung hoheAufmerksamkeit bei, weil man dieBefürchtung hat, dass der Übergangvom Kindergarten zur Schule nichtgut gelingt, wenn er nicht pädago-gisch organisiert wird. Seit Jahr-zehnten wird darüber geforscht,nachgedacht und experimentiert,wie man ihn behutsam, gleitend,kindgemäß gestalten kann. DieMethoden sind Hospitationen, Be-suche, Gespräche und in den erstenWochen der Schule – so etwa bisWeihnachten – eine spielerischeEinführung. In vorschulischen Übun-gen versucht der Kindergarten, sei-nen Kindern zumindest für die ersteZeit schon einen gewissen Vor-sprung zu verschaffen. Und dasklappt auch. Man weiß, dass Kinder,die einen guten Kindergarten besu-chen, einen Vorsprung von bis zueinem Jahr haben können. Wer gutgerüstet ist, kann davon eine Weilezehren.

„Ich bin der Lehrer, ihr seiddie Schüler...“Der Übergang des Kindes vomKindergarten in die Schule ist derÜbergang des Kindes. Nicht derKindergarten geht in die Schule undnicht die Schule muss den Kin-dergarten aufnehmen, es geht umdas Kind. Wir wissen seit Jahr-hunderten, dass Bildung, Lernen,Persönlichkeitsentwicklung nirgend-wo anders geschieht als imMenschen. Kinder bereiten sich aufden Übergang vor. Schon Monatevor dem denkwürdigen Tag spielensie Schule. Sie greifen den Habitusder Schule, wie sie ihn aus Kin-derbüchern und Erzählungen, an-gereichert mit ihrer eigenen Phan-tasie, kennen, auf und machen dar-aus Szenen, die sie mit Eifer immerwieder spielen. „Ich wäre der Lehrerund Ihr seid die Schüler.“ Dann folgtdas ganze Repertoire schulischenHandelns wie man es sich nicht akti-ver ausdenken könnte. Mit Aufgabenerteilen, In-die-Ecke Stellen, Raus-

schicken, Hausaufgaben geben,Loben und Tadeln. Die Schülerrolleist meist ehrerbietig ergeben, seltenaufsässig, manchmal gibt einer auchden Klassenkasper. Kinder habeneine Vermutung davon, was auf siezukommt, spielen das – auch wennes von der Wirklichkeit meilenweitentfernt ist – mit großem Ernst undEifer. Es ist für sie aber nicht bedroh-lich, nicht ängstigend, ein Spieleben. Sie würden das Spiel nichtimmer wieder spielen, wenn ihnendie Situation „Schule“ dauerhaftAngst macht. So masochistisch sindKinder nicht. Sie sind erwartungsvoll,haben Vorfreude, eine innere Er-regung lädt den Energiespeicherimmer wieder auf.

Sie wissen, dass etwas auf sie zu-kommt, was sie auf eine höhereEbene hebt. Vom Kindergartenkindzum Schulkind, das ist ein Ent-wicklungssprung mit enormem Sta-tusgewinn. Man ist plötzlich wer,muss etwas ernsthaftes leisten sowie der Papa und die Mama auf derArbeit. Man gehört zu den Großenund das ist toll, auch wenn gesagtwird, dass es anstrengend ist. Wasder „Ernst des Lebens“ ist, von demsie die Erwachsenen reden hören,können sie nicht recht einordnen, esmuss aber etwas sehr großes undaufregendes sein. Angst löst das beiden allermeisten Kindern nicht aus,eher ein mulmiges Gefühl oderLampenfieber, ein Kribbeln imBauch. Kinder sehen, wie sie in ihrerEntwicklung einen Schritt machen,der Bedeutung hat, aber sie vertrau-en auf die Kontinuität der Ent-wicklung. So wie sie den ersten Tagim Kindergarten geschafft habenoder das erste Mal vor allen ein Liedsingen oder wie eine Krankheit vor-über gegangen ist. Sie vertrauendarauf, dass ihnen geholfen wird undihnen niemand etwas böses will.Sie vertrauen auf die Kontinuität derBeziehungen, die ihnen wichtig sindund von denen sie wissen, dass sie

von ihnen getragen werden. Da sindallen voran die Eltern: Auch wenn sienicht immer beide problemlos dasind, Mama und Papa waren bis jetztund sind auch beim Gang zur Schuledie verlässlichen Partner.

„Mein Kind muss es schaf-fen!“Doch die Erwachsenen haben ihreeigenen Vorstellungen, Phantasien,ja Ängste vor dem Schuleintritt ihresKindes. Sie fürchten eine Entfrem-dung, nur noch die zweite Geige zuspielen („Aber die Lehrerin hatgesagt, ... was weißt Du schon!“).Sie wissen, dass die Schulzeitennicht mit ihren Arbeitszeiten zusam-men passen, müssen den Tages-ablauf neu organisieren und befürch-ten den Super GAU, der eintritt,wenn einer – der Lehrer, das Kind,sie selber - krank wird und dasganze Zeit- und Versorgungsmana-gement zusammenbricht. Sie hoffeninständig, das ihr Kind den bestenLehrer erwischt und das ihr Kind „esschafft“. Eine repräsentative Studiedes Instituts für Schulentwicklungs-forschung der Universität Dortmund,die seit Jahrzehnten alle zwei Jahremit den gleichen Fragestellungendurchgeführt wird, kommt zu demErgebnis, dass 26 Prozent derGrundschuleltern im Westen Angsthaben, dass ihr Kind keinen Aus-bildungsplatz bekommt. Im Ostensind es 49 Prozent. Schaut man aufdie Werte für das Gymnasium sohaben 14 Prozent der Eltern imWesten Ausbildungsplatzsorgen, imOsten 28 Prozent. Eltern wissen dasgenau: nur wer die Grundschuleübersteht, die Eignung fürs Gym-nasium schafft, kann seiner Zukunftgelassen entgegen sehen. Grund-schuljahre sind Schicksalsjahre.Eltern haben Angst, dass ihr Kindnicht genügend gefördert wird,unter- oder überfordert wird, nichtmitkommt, den Anschluss verliert.Viele engagieren schon in den erstenGrundschuljahren teure Nachhilfe

Bernhard Eibeck

Bildung im Übergang – vom Standpunkt derTageseinrichtung

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Bildung im Übergang - vom Standpunkt der Grundschule Jugendhilfeaktuell

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oder machen ihre Kinder mit phar-mazeutischer Unterstützung fit.Wäre das Lernen in der Grundschuleolympische Disziplin, gäbe es zuTausenden Dopingsünder. Ebenso wenig wie Verniedlichung istKindern mit Dramatisierung gehol-fen. Der Übergang vom Kinder-garten in die Grundschule ist keinBalanceakt über dem Abgrund, er istein Entwicklungsschritt, den Kindergerne gehen wollen und den sieauch gut gehen können, wenn sieErwachsene haben, die ihnen aufdem Weg ihrer Bildung beistehen.

Kindergarten – nach mytholo-gischem Vorbild?Die zu Recht gesehenen Problemebeim Übergang sind nicht pädagogi-scher Natur, sondern Ergebnis politi-scher Entscheidungen. Es ist politi-sche Entscheidung, Kinder in einZeit- und Unterrichtskonzept zuzwängen, ihre Leistungen zu zensie-ren und sie sitzen zu lassen, statt siezu fördern, die Schule als Halbtags-schule zu halten. Es ist politischeEntscheidung, den Kindergarten alsSpiel- und Bastelstube auszustatten,als Notnagel für die Betreuung, Er-zieherinnen nicht wissenschaftlichauszubilden und ihnen gute Arbeits-

bedingungen für ihre verantwor-tungsvolle Aufgabe vorzuenthalten.

Schule, so scheint es, funktioniertnach einem alten, schon in der grie-chischen Mythologie zu findendemModell: Prokrustes, ein Unhold, derein Gasthaus betrieb, legte seinegroß gewachsenen Gästen in ein vielzu kleines Bett, während kleineLeute in ein übergroßes gebettetwurden. Weil dass aber alles nichtpasste, hieb er dem Langen dieBeine ab und der Kurze kam auf dieStreckbank. Die Kinder werden derSchule angepasst, sie müssen be-weisen, dass sie schulfähig sind. Hatschon mal jemand nach der Kin-derfähigkeit der Schule gefragt?Wäre es nicht angemessen, in regel-mäßigen Abständen Schulen daraufzu testen, ob sie ihren Auftrag, allenKindern die beste Bildung anzubie-ten, auch erfüllen?Statt dessen versucht man, mit päd-agogischen Maßnahmen den ärg-sten Stress abzumildern und mussdamit letztlich scheitern. Machen wiruns nichts vor: alle Eingangsstufen,gleitenden Übergänge, flexiblenSchulanfangsphasen sind Hilfs-krücken, mit denen man sich vor dereigentlichen Aufgabe herumdrückt,

der grundlegenden Neuorientierunginstitutionellen Lernens, das nicht dieSysteme Kindergarten und Schulemit ihren vielfältig verflochtenenInteressen von Trägerschaften, Zu-ständigkeiten und Regeln zum Aus-gangspunkt hat, sondern sich nureinem verpflichtet weiß: dem Kind.

Einige Politikerinnen haben erkannt,wie dringend es ist, über einenInstitutionen unabhängigen, zumin-dest aber –übergreifenden Bildungs-begriff für alle 0-12jährigen Kindernachzudenken. Man kann nur hof-fen, dass diese Anfänge des Um-denkens nicht den aktuellen, partei-übergreifenden Sparmaßnahmenzum Opfer fallen. Was haben unsereKinder davon, wenn der Staatirgendwann einmal schuldenfrei ist,in der Zeit bis dahin die Bildung, dereinzige Rohstoff den wir haben, ver-rottet?

Der Autor: Bernhard Eibeck,Referent für Jugendhilfebeim Hauptvorstandder Gewerkschaft fürErziehung undWissenschaft (GEW),Frankfurt.

Gertrud Greiling

Bildung im Übergang – vom Standpunkt derGrundschule

Das Verhältnis von Kinder-garten und Grundschule

Nicht die Kinder müssen schulfä-hig, sondern die Schule kindfähigsein.Die Grundschule hat die Aufgabe,jedes Kind mit seinen Bedürfnissen,Stärken und Handicaps dort abzu-holen, wo es sich in seiner Entwick-lung befindet. Sie kann nicht erwar-ten, dass ein „fertiges Schulkind“ am1. Schultag vor der Tafel sitzt, dassich konzentrieren kann, das sich ineine Gemeinschaft einfügt, über alle

feinmotorischen Fertigkeiten verfügt,die in der Schule gebraucht werden,sich sprachlich verständigen kannund Arbeitsanweisungen folgt. DenNormschüler, die Normschülerin gibtes nicht, jedes Kind ist anders (unddarf es auch sein). Es werden Ent-wicklungsunterschiede beim Schul-eintritt von zwei bis drei Jahren fest-gestellt. Individuell muss Grund-schule jedes Kind fördern und her-ausfordern und soziales Miteinandererlebbar machen und begleiten.Entwicklung von Schulfähigkeit istauch Aufgabe der Grundschule, sie

ist das Ergebnis vom Zusam-menspiel von Familie, Kindergartenund Schule.

Kindergarten und Grundschulehaben einen eigenständigen Bil-dungsauftrag.Der Kindergarten ist nicht Zuliefererfür die Grundschule, so wenig wiedie Grundschule sich als Zuliefererfür die weiterführende Schule ver-steht. Dass Grundschule eine Bil-dungseinrichtung ist, ist unbestritten.Sie ist auf Richtlinien und Lehrpläneder jeweiligen Länder verpflichtet.

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Bildung im Übergang - vom Standpunkt der GrundschuleJugendhilfeaktuell

653/2004

Der Bildungsauftrag des Kinder-gartens ist von den unterschiedli-chen Trägern der Einrichtung undden einzelnen Kindergärten bishersehr verschieden beschrieben wor-den. Nach den Ergebnissen derPisa-Studie wird der Bedeutung derkindlichen Bildung endlich mehrAufmerksamkeit geschenkt. Einerster Schritt, Konsens herzustellen,wurde durch das Ministerium fürSchule, Jugend und Kinder desLandes NRW durch die „Bildungs-vereinbarung NRW“ getan.

Die Entwicklung im Elemen-tar- und Primarbereich fandbisher getrennt statt.Bezeichnend ist, dass sich mit Ent-wicklung von Schule und Kinder-gärten bisher unterschiedliche Er-ziehungswissenschaftler beschäftig-ten. Gehört z.B.Wassilios E.Fthenakis zur Pflichtlektüre für denElementarbereich, so ist er imGrundschulbereich kaum bekannt,auch umgekehrt ließen sich Namennennen. „Eigenständiger Bildungs-auftrag“ kann nicht heißen, dass ver-zichtet wird auf den Blick auf dieKontinuität der kindlichen Entwick-lung. Abholen kann man nur voneinem Ort, den man kennt, anknüp-fen lässt sich nur an Voraus-setzungen, mit denen man vertrautist. Entwicklung darf nicht gesehenwerden ohne die Beschreibung vonZielen (z.B. ganz konkret: Wie lernenKinder lesen und schreiben?).

Kontinuität der Bildungspro-zesse

Kindergarten und Grundschulesollten sich besser kennen lernen. Es ist erschreckend, wie wenig diePädagogInnen von der jeweils ande-ren Einrichtung wissen. „Lernen ehernach Gelegenheiten“ wird missver-standen als „Die Kinder spielen nur“,mit „Stillsitzen und Zuhören“ wirdhäufig Schule beschrieben. Gegen-seitige Hospitationen sollten zumPflichtprogramm erhoben werden.

Beide Einrichtungen können voneinander lernen.Die altergemischte Gruppe mit denChancen des Voneinander- und Mit-einanderlernens kennzeichnet seit

langem die Arbeit des Kinder-gartens. Die Grundschule ist dabei,diese Möglichkeit für ihre Eingangs-stufe zu entdecken. Die besondereAufmerksamkeit für Gruppenpro-zesse kann ein weiteres Beispiel fürLernen vom Kindergarten sein. Hatsich in der Grundschule die Notwen-digkeit der Beobachtung der indivi-duellen Entwicklungsprozesse eta-bliert (Lernentwicklungsberichte) sofasst diese jetzt langsam in denKindergärten Fuß.

Wünschenswert wäre, dass dieseBerichte an die Lehrerinnen weiter-gegeben werden. Je mehr ich voneinem Kind weiß, um so leichterkann ich es fördern und herausfor-dern.

Gelungene Übergänge führen inder Regel zu Wachstumsschüben. Durch den Übergang zur Grund-schule verändert sich viel für dieKinder. Die Schulpflicht schreibt denpünktlichen und regelmäßigen Be-such vor, Räume bieten wenigerRückzugsmöglichkeiten, die Be-zugsperson Lehrerin unterscheidetsich von der Erzieherin. Erfolg undMisserfolg werden durch die sach-bezogenen Kriterien im Vergleich mitanderen deutlicher sichtbar. Die neuzusammengesetzte Gruppe setzthohe Anforderungen an die sozialeKompetenz und den Behauptungs-willen des Kindes. Gelingt es, jedesKind mit seinen Stärken anzuspre-chen, ihm Mut zu machen zu seinem“Das kann ich schon“ und „Das willich noch lernen“ zu finden, ist zubeobachten, dass es einen richtigenWachstumsschub erlebt.

Perspektiven der Vernetzung

ErzieherInnen und LehrerInnenarbeiten regelmäßig zusammen. Nur selten (am ehesten in ländlichenBereichen) ist es möglich, dass alleKinder eines Kindergartens die glei-che Schule besuchen. Grundschu-len übernehmen Kinder aus vielenKindergärten und –gruppen. Dasmacht eine Kooperation beschwer-lich. Trotzdem muss eine Koopera-tionsstruktur geschaffen werden(Kooperationsbeauftragte der Ein-richtungen?). Schnuppertage in der

Schule, Schulkinder informieren alsExperten aus der Schule, dieLehrerin besucht den Kindergarten,die Erzieherin begleitet die Schul-kinder in den ersten Wochen. Dassind erste Ansätze. Durch eine bes-sere Personalausstattung und eineveränderte Arbeitszeitbeschreibung(bei Lehrern) kann die Vernetzungerleichtert werden. Hier gibt es nochviel zu tun.

Die Ausbildungen werden in Teil-bereichen verzahnt.Der veränderte Qualitätsanspruch andie Kindergärten macht eine verän-derte Ausbildung und Aufwertungdes Erzieherinnenberufs notwendig.Die Verzahnung der Ausbildung inTeilbereichen ist sinnvoll. Hier wirdsich erweisen, wie weit die Ent-scheidungsträger in der Politik esErnst meinen, wenn sie die Wichtig-keit der Bildung in der Kindheitimmer wieder betonen.

ZusammenfassungEs gibt so wenig die Grundschulewie es den Kindergarten gibt. DieGrundschulen, die die Verschieden-heit der Kinder akzeptieren unddaran arbeiten, die Stärken der Kin-der zu stärken und die Schwächenzu schwächen wünschen sich neu-gierige, selbstbewusste Kinder.

Die Autorin: Gertrud Greiling, Schulleiterin a.D., Mitgliedund Mitarbeit im Grundschulverband,Beratung und Fortbildung für die Entwicklungder Zusammenarbeit von Tageseinrichtungund Grundschule, Münster

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Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule am Beispiel “Abenteuerland” Jugendhilfeaktuell

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Für alle Kinder stellt die Einschulungeinen bedeutungsvollen Einschnitt inihrem Leben dar. Viele neue struktu-relle und soziale Anforderungenkommen in der Schule auf sie zu.Damit die Kinder aus Niedernwöhrenim Landkreis Schaumburg/Nieder-sachsen diesen Übergang als har-monisch und möglichst nahtlos erle-ben, praktiziert das Team des inte-grativen Kindergartens „Abenteuer-land“ eine enge Zusammenarbeit mitder verlässlichen, integrativ arbeiten-den Grundschule, ganz in der Nähe.Dieser Kooperation kommt, geradenach dem Wegfall der Vorklassen imLand Niedersachsen und auch nachden Ergebnissen der Pisa-Studie,eine besondere Bedeutung zu.

Alle am Entwicklungsprozess derKinder beteiligten Lehrpersonen, ha-ben seit Eröffnung des Kinder-gartens im Jahr 2002 ein gemeinsa-mes Interesse daran, die starkeTrennung beider Institutionen zuüberwinden. Sie wirken als Partnerder Kinder und machen sich dafürstark, dass die im Elementarbereicheinsetzenden ganzheitlichen Lern-prozesse in der Grundschule konti-nuierlich fortgeführt werden. DieFortsetzung des Integrationspro-zesses in der Gemeinde Niedern-wöhren ist nicht nur auf Grund derregionalen Integrationskonzepte fürsie selbstverständlich, sondern zueiner Philosophie in beiden Häuserngeworden.Die Kooperation von Kindergartenund Grundschule basiert auf glei-chen Schwerpunkten. So fördern diepädagogischen Teams die Gesamt-persönlichkeit jedes Kindes, denAufbau von sozialen Beziehungen inder Gruppe und eine größtmöglicheSelbständigkeit und Selbsttätigkeitder Kinder.

KooperationsvereinbarungBereits im September 2003 wurdeeine gemeinsame Kooperationsver-einbarung verabschiedet, die die

Formen der Zusammenarbeit ver-bindlich festlegt und jährlich fortge-schrieben wird. Grundlage sind diepädagogischen Übereinstimmungenim Rahmen der integrativen Kon-zepte und der ganzheitliche Ansatzbeider Institutionen. Neben den übli-chen Formen der Zusammenarbeitzwischen den Pädagog/innen, wer-den besonders die regelmäßig statt-findenden gemeinsamen Angebotenvon Kindergartenkindern undGrundschülern darin berücksichtigt.

Formen der Kooperation zwi-schen den Lehrpersonen inNiedernwöhren:

Kooperation auf Leitungsebene:● wöchentlicher informeller und

fachlicher Austausch● Sicherstellung einer angemesse-

nen Repräsentation beider Insti-tutionen in der Öffentlichkeit so-wie Kontaktpflege zu anderenöffentlichen Institutionen und zuden Medien

● Präsentation des Kooperations-modells auf Fachtagungen undFortbildungsveranstaltungen

Kooperation der pädagogischenMitarbeitenden (u.a.):● gegenseitige Teilnahme an

Dienstbesprechungen und Leh-rerkonferenzen

● gegenseitige Vorstellung derpädagogischen Konzeption des

Kindergartens und des Schul-programms

● regelmäßiger Austausch überpädagogische Grundlagen, Er-ziehungsstile, Aufgaben, Arbeits-weisen und Organisationsformenbeider Institutionen

● Verständigung über elementareKenntnisse, Fähigkeiten und Fer-tigkeiten, die eine Grundlage fürdie Arbeit in der Grundschuledarstellen

● Abstimmung der Lehr- und Lern-methoden vor dem Hintergrunddes ganzheitlichen Ansatzes undder Integration

● gegenseitiger Austausch vonFachliteratur und methodisch-didaktischem Material

● Abstimmung über die Aus-stattung mit Spiel- und Lernma-terial

● gemeinsame Durchführung derSprachstandserhebung und re-gelmäßiger Austausch über dieeingeleiteten Unterstützungs-maßnahmen

● wechselseitige Hospitationen● mit dem Einverständnis der

Eltern ausführlicher Austauschüber den individuellen Entwick-lungsstand des Kindes

● Empfehlungen zur Zusammen-setzung der Klassen durch diePädagoginnen des Kindergar-tens

● gemeinsame Teilnahme an Fort-bildungsveranstaltungen

● Planung und Durchführung ge-meinsamer Veranstaltungen undProjekte

Kooperative Elternarbeit:● Planung und Durchführung ge-

meinsamer Elternabende● gemeinsame Beratungsgesprä-

che für Eltern von Kindergarten-kindern in Hinsicht auf derenSchulfähigkeit

● gemeinsame Gespräche fürEltern von Integrationskindern mitdem Ziel über die Fortsetzung

Franka Stefanski, Simone Föller, Heiko Biermann, Ulrich Kreutzaler

Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschuleam Beispiel „Abenteuerland“

Vertragsübergabe (Foto: Kita Abenteuerland)

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Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule am Beispiel “Abenteuerland”Jugendhilfeaktuell

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der Integration in der Part-nerschule, andere geeigneteSchulformen bzw. die Möglich-keit eines Rückstellungsantragesfür entwicklungsverzögerte Kin-der zu informieren und zu beraten

● Sicherstellung der Transparenzunseres Kooperationsmodellsgegenüber den Eltern

Konkrete Beispiele: gemein-same Angebote für Kinder-gartenkinder und SchülerDie pädagogischen Mitarbeitendenbeider Häuser legen großen Wertdarauf, dass sich verschiedene Kin-dergruppen regelmäßig und unge-zwungen begegnen können. Soladen sie sich gegenseitige zu be-sonderen Angeboten wie Autoren-lesungen, Musicals, Theaterauf-führungen, Festen, Präsentationenund Kinderflohmärkten ein. DieSpielplätze beider Häuser könnenjederzeit gegenseitig genutzt wer-den.

Folgende Angebote sind feste Be-standteile der Kooperation (in dernachfolgenden Darstellung werdendie ersten drei vorgestellt):● Gemeinsamer Sportunterricht, ● Teilnahme am offenen Unterricht● Lesekumpel – Patenschaften

Gemeinsamer SportunterrichtJeden Mittwoch sind die älteren derinsgesamt 61 Kindergartenkinderschon ganz aufgeregt. Denn danngeht es nach dem Frühstück zumgemeinsamen Sportunterricht in dieTurnhalle der Schule. Hier treffen sie

ihre ehemaligen Freunde, die jetztschon in der 1. Klasse lernen.

Nach dem Umziehen, kann es end-lich losgehen. Alle Kindergarten-kinder bauen gemeinsam mit ihrendrei Erzieherinnen, einer Heilpä-dagogin und der Motopädin sechsverschiedene Stationen zu einer gro-ßen Bewegungslandschaft auf.Hierfür nutzen sie die vorhandenenGroßgeräte der Turnhalle und Ele-mente der „Loquito- Bewegungs-baustelle“. Ab 10.00 Uhr kommendann, von den Kleinen schon sehn-süchtig erwartet, die etwa 22Schüler und Schülerinnen der 1.Klasse mit ihrer Lehrerin dazu. DieKinder freuen sich darauf, sich wie-der zu sehen und gemeinsam etwasmiteinander zu erleben. Die Lehrerinbegrüßt alle Kinder mit einem bewe-gungsintensiven Spiel. Es dient derErwärmung und soll gleichzeitig dieBewegungsfreude steigern undeinen spielerischen, ungezwunge-nen Kontakt der Kinder ermöglichen.Jetzt ordnen sich alle Kinder anhandvon Piktogrammkarten, die mitZiffern oder Buchstaben versehensind, den sechs Stationen zu. JedeKleingruppe mit maximal 8 Kindernwird individuell von einer Lehrpersonbegleitet. Alle Lehrpersonen arbeitenHand in Hand und vermitteln denKindern differenzierte, ganzheitlicheBewegungserfahrungen. Diese stei-gern nicht nur ihre motorischenFähigkeiten, sondern erhöhen ganzautomatisch ihre sozialen Kompe-tenzen, denn Kindergartenkinderund Schüler lernen voneinander,unterstützen sich gegenseitig undakzeptieren sich mit ihren individuel-len Stärken und kleinen Schwächen.In der freien Bewegungs- und Ex-perimentierphase im Anschluss nut-zen die Lehrpersonen die Mög-lichkeit, sich einzelnen Kindern oderKleingruppen intensiv zuzuwenden,den Integrationsprozess zu unter-stützen, sie intensiv zu beobachtenund sich über deren individuellenEntwicklungsstand auszutauschen.„Gemeinsamer Sportunterrichtmacht Spaß und bereitet alleKindergartenkinder optimal auf denÜbergang in die Schule vor“: dar-über sind sich Kinder, Eltern undPädagog/innen einig.

Teilnahme am offenen UnterrichtAb Februar werden einige Jungenund Mädchen immer ungeduldiger.Denn sie wissen ganz genau, dasses jetzt endlich an der Zeit ist, denUnterricht der GrundschuleNiedernwöhren hautnah zu erleben.Durch die wiederholte Teilnahme amUnterricht der offenen Türen erlebendie Niedernwöhrener Kindergarten-kinder Schule ganz anders. Nacheinem gemeinsamen Frühstück ma-chen sie sich ganz aufgeregt auf denWeg. Während der großen Pausetreffen sie ihre großen Freunde ausallen Klassen. Sie nutzen ausgelas-sen die Gelegenheit, auf dem natur-nah angelegten Schulhof zu spielenund Freundschaften zu schließenund zu pflegen. Um 10.00 Uhr ist diePause leider schon vorbei. Danngehen die Kids gemeinsam in dieKlassen, um ausgerüstet mit Feder-mappe und Zeichenblock, alles daszu zeigen, was sie im „Aben-teuerland“ gelernt haben. Voller Stolzbeteiligen sie sich aktiv am Unter-richtsgeschehen, denn der Ablauf istihnen bekannt. Sie fühlen sichzunehmend sicherer, denn dasSchulgebäude, der Schulhof und dieLehrpersonen werden mit der Zeitimmer vertrauter. Einem harmoni-schen Schulanfang steht nichtsmehr im Wege.

„Lesekumpel – Patenschaften“Ein im Februar 2004 neu gestartetesProjekt zwischen der verlässlichenGrundschule Niedernwöhren unddem integrativen Kindergarten„Abenteuerland“, ist die „Lesekum-pel-Patenschaft“. Am Freitag mor-gen fragen die Kinder der „6er-Bande“ schon ungeduldig: „Wannkommen endlich unsere Lese-kumpel?“ Gemeint sind damit, dieSchüler der Klasse 3b, die ihnen imzweiten Halbjahr jede Woche span-nende Geschichten vorlesen. An derTür werden die großen Vorbilderstürmisch begrüßt, bevor sich alle imBewegungsraum des Kindergartenszum Morgenkreis versammeln. DasLied „1,2,3 und 4 in die Schule kom-men wir...“ singen auch die Schülergern mit. Jetzt stellt sich die Frage,wer wem vorliest. Die kleinenGrüppchen sind schnell gebildet.Hierbei spielen bestehende Freund-(Foto: Kita Abenteuerland)

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Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule am Beispiel “Abenteuerland” Jugendhilfeaktuell

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schaften und Sympathien, das Ge-schlecht der Kinder, der Buchtiteloder die Vorlesequalität eine ent-scheidende Rolle. Schüler undKindergartenkinder tragen nun ihrenNamen in eine Patenliste ein. Esbesteht zwar jederzeit die Möglich-keit, die Paten zu wechseln, unsereErfahrungen zeigen jedoch, das dieKinder davon nur in der Kennen-lernphase Gebrauch machen. Be-reits nach wenigen Wochen habensich feste Patenschaften undFreundschaften gebildet.

Vorlesezeit: Wenn sich die Lese-partner in die Kuschelecken verkrü-meln, wird es plötzlich ungewöhnlichstill im Haus. Ca. 20 Minuten langsind nur die Lese Dialoge zu hören.Ganz gebannt lauschen die Kleinenihrem Vorleser und haben nur nochein Ziel: „ Wenn ich groß bin, will ichauch so gut lesen können, wie meinBücherkumpel.“

Auswahl neuer Bücher: Nach derVorlesezeit dürfen die Schüler ge-meinsam mit ihrem „Bücherkumpel“aus der Kindergartenbibliothek be-liebte Bilderbücher, oder Sach-bücher zu aktuellen Projektthemenauswählen. Sie tragen sich mit ihremNamen und dem Buchtitel in dieAusleihliste ein. Danach dürfen siedie Bücher für eine Woche mit nachHause nehmen, um sich mit denInhalten vertraut zu machen. Häufigjedoch bringen die Kindergarten-kinder ihr Lieblingsbuch von zuHause mit und bitten ihren „Bücher-Kumpel“, diese in der nächstenWoche vorzulesen.

Redezeit: Jetzt treffen sich alleKinder wieder im Bewegungsraumoder Klassenraum. Es findet einekurze Gesprächsrunde statt, in dersich die Kinder über das Geleseneund Gehörte austauschen. DieSchüler stellen nacheinander denTitel und den Autor des Buches vor,nennen den Namen ihres „Bücher-Kumpels“ und stellen ihm einigeFragen zum Inhalt der Geschichte.Hierbei halten sie sich an die verein-barten Gesprächsregeln, die inKindergarten und Schule gleicher-maßen gelten. Nach vorheriger Ab-sprache besuchen die Kindergar-tenkinder ihre „Lesekumpel“ auch in

der Schule. Dort erhalten sie dieMöglichkeit im Klassenraum, aufdem Schulflur und in der Schulbib-liothek vorgelesen zu bekommen.

Die Lesepatenschaft stellt somit fürsie eine weitere Möglichkeit dar,„Schulluft“ zu schnuppern und sichmit dem Schulalltag vertraut zumachen. Am Ende des Schuljahresbewegen sie sich in der Schule be-reits recht selbstsicher und kennensich aus. Im Laufe der Zeit entwik-keln sich zwischen den „6er-Ban-den“Kindern und ihren „Lesekum-peln“ richtige Freundschaften. Be-suchen die Kindergartenkinder danndie erste Klasse, sind die Drittklässlerin der Vierten. Die „Großen“ gehenaufgrund ihrer positiven Erfahrungenauf die Kleinen zu und haben gelernt,Verantwortung für sie zu überneh-men. Aber auch die „Klei-nen“ habenihre Berührungsängste verloren.Durch die regelmäßigen Besuche derSchule, den Kontakt zum Lehr-personal und den älteren Schülernhaben sie die ersten Hemmschwellenbereits abgebaut. Die Kinder ausdem „Abenteuerland“ haben Schulein angenehmer Atmosphäre kennengelernt und freuen sich darauf, end-lich eingeschult zu werden.

Grundschulerlass, Orientie-rungsplan und Konsultations-kitaAuf eine Bestätigung für dieRichtigkeit des Kooperationsmodellsmussten die Kollegien aus Nie-

dernwöhren nicht lange warten. DieMinisterkonferenz des Landes Nie-dersachsen verabschiedete am 3.Februar 2004 einen aktuellen Rund-erlass zur Arbeit in den Grund-schulen, welcher diese verpflichtet,mit den Kindergärten zusammen zuarbeiten, um die Kontinuität der Bil-dungs- und Erziehungsarbeit sicherzu stellen. Im April 2004 wurde alsDiskussionsentwurf der Orientie-rungsplan für Bildung und Erziehungim Elementarbereich niedersächsi-scher Tageseinrichtungen für Kinderveröffentlicht. Auch hier fanden dieKollegien beider Institutionen vieleFormen der Kooperation, die siebereits praktizieren.

Eine besondere Wertschätzung fürdas Kooperationsmodell erfuhr dasTeam des integrativen Kindergarten„Abenteuerland“ durch das Landes-jugendamt Niedersachsen. Am 1.Mai 2004 wurde es nach einem lan-gen Auswahlverfahren zur Konsulta-tionskindertagesstätte des LandesNiedersachsen ernannt.Sie erhielten den Auftrag, interessier-tes Fachpersonal zum Schwerpunkt„Kooperation zwischen Kindergartenund Grundschule“ zu beraten undHospitationen sowie Fortbildungenzu diesem Thema anzubieten.

Die Autorin: Franka Stefanski leitet den integrativenKindergarten „Abenteuerland“ der LebenshilfeNiederwöhren, Konsultationskita des LandesNiedersachsen, Tel.: 05721 995454. IhreMitautor/innen sind: Simone Föller, HeikoBiermann, Ulrich Kreutzaler

(Foto: Kita Abenteuerland)

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Das Aachener Modell: Kooperation zwischen “pädagogischen Nachbarn”Jugendhilfeaktuell

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Seit mehr als 10 Jahren findet inAachen modellhaft, weil in ganzNordrhein-Westfalen einzigartig, zwi-schen dem Staatlichen Studiense-minar für das Lehramt für die Grund-schule und der Bischöflichen Clara-Fey-Schule, einer Fachschule fürSozialpädagogik, eine erfolgreicheund zeitlich befristete, zielgerichtete,gleichwertige und konkurrenzarmeZusammenarbeit im Bereich derAusbildung der angehenden Primar-stufenlehrer/innen bzw. der ange-henden Erzieher/innen statt.

Reform von untenDiese Zusammenarbeit ist eineReform „von unten“, die von enga-gierten Praktikern beider Ausbil-dungseinrichtungen mit viel Idealis-mus durchgeführt wird, denn „vonoben“ kommt außer nicht immerpraxisnahen Forderungen und Richt-linien nichts für die erwünschteKooperation Förderliches – mit derFolge, dass Kontakte zwischenErzieher/innen und Grundschul-lehrer/innen nur vereinzelt (und dannauch in der Regel nur personenge-bunden) vorhanden sind.

Dass die Kooperation nicht so funk-tioniert, wie es sich die Theoretikererhoffen, hat verschiedene Ursa-chen, die hier nicht alle erörtert wer-den können. Mit Sicherheit liegt esu.a. an dem unterschiedlichenNiveau der Ausbildung, an der unter-schiedlichen Arbeitszeitverteilung, ander Unkenntnis der Ausbildung undder Berufsanforderungen der jeweilsanderen Gruppe oder ganz einfachauch an schwer ausrottbaren Vor-urteilen.

Frühzeitig ansetzenDeshalb muss man früher anfangen,diese Kooperation vorzubereiten,bevor sich nämlich gegenseitige Vor-urteile gebildet und festgesetzt ha-ben und der Alltagsstress eine denk-bare Zusammenarbeit erschwert,nämlich in der zweiten Phase der

Ausbildung, dem Berufspraktikumder angehenden Erzieher bzw. derSeminarausbildung der angehendenPrimarstufenlehrer. Nach demAbschluss der fachtheoretischenFachschul- bzw. Hochschulausbil-dung stehen Elementar- bzw. Schul-pädagog/innen vor dem Beginn ihrerfachpraktischen Ausbildung. Siehaben mehrere Dinge gemeinsam:

● sie haben noch keine Be-rufserfahrung

● sie unterscheiden sich altersmä-ßig nicht übermäßig

● sie sind der jeweils anderenGruppe gegenüber relativ aufge-schlossen.

Außerdem steht im Focus des beruf-lichen Interesses bei beiden Pä-dagog/innen das Kind, dem sie sichaber von unterschiedlichen Aspek-ten her nähern.

Die einen befassen sich als Genera-listen, denen es aufgrund ihrerhohen erziehungswissenschaftlichenKompetenz u.a. auf Vermittlungnicht-formalisierter Bildung und Er-ziehung ankommt, mit dem Kind,und die anderen tun dies alsSpezialisten mit einer hohen fach-wissenschaftlichen Kompetenz, dasie unter Schulaspekten eine ehrerformalisierte Bildung vermitteln müs-sen. Außerdem

● haben beide einen Erziehungs-und Bildungsauftrag

● bilden sie den Elementarbereichbzw. die Grundstufe des Bil-dungswesens

● wollen sie soziales Verhalten,Lernfreude und Persönlichkeits-entwicklung fördern

● zielen sie darauf ab, die Selbst-ständigkeit und Eigenverant-wortlichkeit des Kindes durchAnleitung zum Mitdenken, Mit-planen und Mitgestalten zu för-dern

Gleichzeitig und gleichwertigWichtig ist bei dieser Zusam-menarbeit, dass die am „AachenerModell“ beteiligten Elementar- bzw.Primarstufenpädagog/innen gleich-zeitig – und damit auch gleichwertig– Lehrende und Lernende sind. Nurhaben die einen sich bewusst füreine Arbeit mit Kindern ohne Lehr-plan- und Stundendiktat entschie-den, und die anderen für die Arbeitmit Kindern unter Berücksichtigungder Lehrplananforderungen und desStundendiktates. Auf jeden Fall sindBeschäftigungen und Unterrichts-stunden didaktisch und methodisch,egal in welcher Institution auch gear-beitet wird, zu begründen. Vor bzw.während der Hospitation stellenElementarerzieher bzw. Primarstu-fenlehrer in Theorie und Praxis demjeweils anderen Gruppenteil ihrepädagogische Institution vor. Aufdiese Weise lernen sie vorurteilsfreiund praxisnah Konzepte, Ziele,Inhalte, Methoden und Arbeit derjeweiligen Institution kennen underleben, unter welchen BedingungenErzieh/innen bzw. Lehrer/innenarbeiten. In der Reflexion des bei derHospitation in Kleingruppen Erlebtenerfahren sie etwas über die pädago-gischen Vorüberlegungen, nachdemsie deren praktische Umsetzung inKindergarten bzw. Schule miterlebenkonnten. Wenn Erzieher/innen undLehrer/innen auf diese Weise koope-rieren, kann sich die Zusammen-arbeit mit der Schule zu einemQualitätskriterium der Einrichtung(und damit zu deren Zukunftssi-cherung) entwickeln. Außerdemkönnte sich so eine Verzahnung bei-der Bildungseinrichtungen bis hin zueiner institutionsübergreifendenVerantwortung bei gleichzeitigerSystematisierung und einer entwick-lungspsychologisch begründeten,aufeinander aufbauenden Folge vonBildungsangeboten entwickeln. Diesdürfte z. B. mit eine der Grundideendes Schulfähigkeitsprofils bzw. derBildungsvereinbarung sein.

Rudolf Nottebaum

Das Aachener Modell: Kooperation zwischen„pädagogischen Nachbarn“

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Elternschule in Tageseinrichtungen für Kinder Jugendhilfeaktuell

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Pädagogische Nachbarn stattKonkurrentenErzieher/innen und Primarstufen-lehrer/innen sind keine pädagogi-schen Konkurrent/innen in Bezugauf das Kind, obwohl sie ein jeweilseigenes Arbeitsfeld haben, sie sindvielmehr pädagogische Nachbarnund sollen es auch bleiben, wobeiihnen jedoch die Bildungspolitik dieZusammenarbeit erleichtern sollte,zumal der 10. und 11. Kinder- undJugendhilfebericht dies ausdrücklichfordern. Nachfolgend werden mögli-che Perspektiven aufgezeigt.

● Ein erster Ansatz wäre schon ein-mal eine Angleichung der Er-zieherausbildung an das europäi-sche Hochschulniveau. Berlin,ein Bundesland das mindestensso verschuldet ist wie NRW,macht es uns mit dem grund-

ständigen Studium für Erzieheran der Alice-Salomon-Fach-hochschule vor.

● Warum sollten nicht der zukünfti-ge Klassenlehrer in der flexiblenSchuleingangsphase für 12 Mo-nate in der Vorschulgruppe mitarbeiten und die Leiterin der Vor-schulgruppe im Anschluss daran2 Jahre in der Schule den Lehrerunterstützen können? Auf dieseWeise wäre für das Kind derAspekt der Sicherheit und Kon-tinuität gewährleistet.

● Warum sollen beide nicht bei-spielsweise auch die Gelegenheitbekommen, ein gemeinsamesGrundstudium an einer Fach-hochschule zu absolvieren, wo-bei das Hauptstudium dannanschließend differenziert an derFachhochschule bzw. Universitätfortgesetzt würde?

Vielleicht hätten Erzieher/innen dannauch mehr Mut, weil sie nämlich als(Fach)-Hochschulabsolvent/innenauf gleicher Höhe mit den Lehrer/innen stehen, offensiv u.a. an dieSchule heranzutreten und die Zu-sammenarbeit einzufordern oderselbstbewusst gegenüber den Bil-dungspolitikern aufzutreten unddeutlich zu machen, dass inzwi-schen die Grenzen ihrer Belastbar-keit erreicht sind und sie nicht als„Allround-Experten fürs Soziale“ohne Gegenleistung der Politik derenVersäumnisse auszugleichen bereitsind.

Der Autor: Dr. Rudolf Nottebaum ist Leiter der Clara-Fey-Schule, dem Berufskolleg des BistumsAachen.

Andrea Monkenbusch u.a.

„Elternschule in Tageseinrichtungen für Kinder“ –Auszug aus dem Jahresbericht der Stadt Gütersloh

Der AnlassDer folgende Bericht beschreibt dieAktivitäten der Projektgruppe „El-ternschule“, die sich 2002 im Rah-men des Bündnisses für Erziehungzur Umsetzung der Maßnahme„Qualifizierung von Eltern an Kinder-tagesstätten im Sinne von „Eltern-schulen“, als Folge aus dem Berichtzur lokalen Erziehungskrise in Gü-tersloh (s. www.BFE.Guetersloh.de)gegründet hat. Darin heißt es aufSeite 31: „Ein erster Baustein in einerStrategie für Erziehung soll ein flä-chendeckendes Angebot von „El-

ternschulen“ an allen Kindertages-stätten in der Stadt Gütersloh sein.Dabei wird hier unter dem Begriff derElternschulen ein regelmäßiges undstandardisiertes Kursprogramm fürEltern verstanden, das in praktischerund anschaulicher Weise Ratschlägeund Informationen zur Entwicklungund Erziehung von Kindern im Alternvon zwei bis sechs Jahren und dar-über hinaus bereit hält.“ Die Projekt-gruppe hatte den Auftrag, die Hand-lungsempfehlungen und Ziele zukonkretisieren, sowie erforderlicheRessourcen zu benennen.

Die Projektgruppe „Eltern-schule“

Bildung im Kindergarten musssich nicht auf Kinder begrenzen.In der Stadt Gütersloh wird dieStärkung der Erziehungsfähigkeitder Eltern an die Tagesein-richtungen gekoppelt.

Die Projektgruppe Elternschulearbeitet seit November 2002zusammen und trifft sich seitdem

regelmäßig in 2 monatigen Ab-ständen.

Projektverantwortliche: AndreaMonkenbusch, Stadt Gütersloh,Fachbereich Jugend, AbteilungTagesbetreuung für Kinder undIngrid Kersting, Leiterin des Kath.Kindergartens St. Marien

Kooperationspartner u.a.:Michael Jacobi, StadtstiftungGütersloh; Stephan Polle, Katho-lische Familienbildungsstätte Gü-tersloh; Bettina Flohr, DeutscherKinderschutzbund e.V., Güters-loh; Sabine Kliem, Kinderschutz-zentrum Gütersloh e.V.; MargotWellhöner, Leiterin der städtischeKindertagesstätte Auerhahnstr.;Anja Boree, Elternvertreterin

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Elternschule in Tageseinrichtungen für KinderJugendhilfeaktuell

713/2004

In der Projektgruppe waren vonBeginn an Vertreterinnen aus denTageseinrichtungen für Kinder derkath. Kirche, von freien Trägern undaus städtischen Tageseinrichtungeneinbezogen. Daneben arbeiteten diegenannten Vertreterinnen und Ver-treter der Katholischen Familien-bildungsstätte Gütersloh, der Kin-derschutzzentrums Gütersloh e.V.und des Deutschen Kinderschutz-bundes Gütersloh e.V. mit. Die freienTräger verfügten bereits über Er-fahrung im Angebot von Eltern-schulen in Gütersloh. Die trägerübergreifende Zusammen-setzung der Projektgruppe garan-tierte, dass das bereits vorhandenKnow-how zu Angeboten von El-ternschulen in Gütersloh genutztwerden konnte. Der regelmäßigenund konstruktiven Zusammenarbeitder Projektgruppe ist es zu verdan-ken, dass das Projekt „Elternschule“innerhalb eines halben Jahres konzi-piert wurde und bereits die erstenKurse im 1. Halbjahr 2003 in Güters-loh begonnen haben.

Die Ziele Mit dem Angebot der Elternschulensoll die Erziehungsfähigkeit der El-tern gestärkt und unterstützt wer-den. Die Auswertung der Ergebnisseaus der Befragung von 144 Kin-dergärten, Schulen und Beratungs-stellen im Bericht zur lokalen Erzie-hungskrise zeigte insgesamt, dassdas System Familie überfordert istund es Eltern vielfach an erzieheri-scher Kompetenz fehlt. Eltern sinddurch ein verändertes Eltern – KindVerständnis unsicher im Umgang mitihrem Kind. Sich selbst und daseigene Verhalten zu überdenken, umdie komplexe Aufgabe der Erziehungzu meistern kann durch das präven-tive Angebot der Elternschule gelin-gen.

Ein Bedarf an Unterstützung in Er-ziehungsfragen machte eine Um-frage Ende 2002 in den Tages-einrichtungen deutlich. Daraus ginghervor, dass Eltern zu über 90 %„angebotene Gespräche mit Termin-vereinbarung“ wahrnehmen und dar-über hinaus zu 85 % die „Zusammenarbeit mitder Kindertagesstätte bei auftreten-den Problemen“ suchen. Auch wenndiese Zahlen lediglich eine Stich-probe darstellten, konnte daraussehr deutlich der Wunsch nach Be-ratung und Hilfe abgeleitete werden.

Für die Eltern sind die Leiterinnenund Leiter der Tageseinrichtungenvertraute Personen und bilden häufigdie erste Anlaufstelle bei Problemenmit den Kindern. Sie verfügen überaktuelle Kenntnisse in der Entwick-lungspsychologie von Kindern, ha-

ben ein breites Wissen über Hilfe-angebote in der Stadt Gütersloh undsind vernetzt mit Erziehungs-beratungsstellen und Grundschulen.Sie haben aufgrund ihrer langjähri-gen Berufserfahrung vielfältigeKenntnisse in der Erwachsenen-arbeit. Dieses zusammengenommenführte in der Projektgruppe zu derEntscheidung, den Leiterinnen undLeitern der Tageseinrichtungen dasAngebot zu machen, sich zu Kurs-leiterinnen und Kursleitern ausbildenzu lassen und die entsprechendenRahmenbedingungen dafür bereit zustellen.Durch das niederschwellige Angebotsollen frühzeitig und möglichst vieleEltern erreicht werden und insge-samt durch die Anbindung an dieTageseinrichtung ein gesellschaftli-cher Konsens über eine breiteselbstverständliche Akzeptanz desAngebots hergestellt werden.

Auswahl der Konzeptange-bote für ElternkurseDie Konzepte von „Elternschulen“betonen ausdrücklich den präventi-ven Charakter. Der Elternkurs istkeine Therapiegruppe. Sie leistenkeine intensive individuelle Erzie-hungsberatung, sondern sollen dieKompetenz der Eltern im Erzie-hungsverhalten steigern, ihr Selbst-vertrauen als verantwortliche Erzie-her stärken und im Umgang mit demVerhalten ihrer Kindern Sicherheitgewinnen und dadurch den Erzie-hungsalltag entspannen.

Die Projektgruppe hat sich mit dreiElternkurs Programmen inhaltlichund fachlich auseinandergesetzt. DieFragen: „Erreichen wir mit denProgrammen die gesetzten Ziele undwie können die Kursleiterinnen undKursleiter qualifiziert werden“, warenneben dem Aspekt der Kostenhandlungsleitend.

Die Entscheidung fiel auf das Kurs-konzept „Starke Eltern – StarkeKinder®“. Das Konzept ist ein bun-desweit einheitliches Angebot desDeutschen Kinderschutzbundes,entwickelt von Paula Honkanen-Schoberth, und wird auch in Koope-ration mit anderen Einrichtungenangeboten.

Zielformulierungen:● Das Angebot soll möglichst

alle Eltern erreichen, ähnlichwie die Teilnahme an Geburts-vorbereitungskursen, die vonca. 80% der Frauen und 60%der Männer wahrgenommenwerden

● Es soll ein evaluiertes Konzeptzugrunde liegen

● Die Eltern müssen Spaß ander Teilnahme haben und ei-nen Nutzen daraus ziehen

● Die Kurszeiten müssen mit El-tern abgestimmt werden kön-nen

● Die Kurse sollen flexibel in derDauer sein

● keine langen Wege für dieEltern

● Das Angebot der Kinder-betreuung soll bei Bedarf ein-gerichtet werden

● Das Personal / Leitungen derTageseinrichtungen soll aus-gebildet werden können

● Mittelfristig sollen „Eltern-schulen“ für MigrantInnen inder Muttersprache angebotenwerden

● Die bestehende Angebote sol-len an bildungsungewohnteEltern angepasst werden kön-nen.

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Elternschule in Tageseinrichtungen für Kinder Jugendhilfeaktuell

72 3/2004

Grundlage für die Durchführung derElternkurse ist das Kurshandbuch,das nur im Rahmen einer Schulungerworben werden kann. Grundorien-tierungen in der Umsetzung der El-ternkurse sind die Stärken der Elternzu fördern, den Lebenssituationenvon Familien Rechnung zu tragenund die Achtung der Kinderrechte. Infünf aufeinander aufbauendenStufen wird den Eltern das Modellder anleitenden Erziehung vermittelt,in dem sie lernen, ihre Rolle alsErziehende wahrzunehmen und ihreKinder zu leiten und zu begleiten.Dieser Prozess ist geprägt vonRespekt, Achtung und Anerkennunggegenüber den Eltern.

Umsetzung und Auswertungder PilotphaseIn einer Pilotphase im Laufe desJahres 2003 wurde u.a. die Prak-tikabilität des Angebotes „StarkeEltern – Starke Kinder®“ und dieeines Alternativkonzeptes getestet.Es war notwendig, den Arbeits –undZeitaufwand für die Leiterinnen undLeiter festzustellen, die Inhalte derElternkurse auf ihre Wirklichkeits-

nähe hin zu überprüfen und festzu-stellen, ob das Angebot in Tages-einrichtungen von Eltern angenom-men wird.

Von den fünf Elternkursen, die in derPilotphase geplant waren, haben vorden Sommerferien vier Kurse statt-gefunden. Der Kurs des Kinder-schutzzentrums Gütersloh in derstädtischen Tageseinrichtung Franz-Grochtmann-Str. konnte im 2.Halbjahr 2003 durchgeführt werden.

Erfahrungen:● Eltern entscheiden sich bewusst

dafür, den Kurs in der Tagesein-richtung zu machen, weil sie dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiterkennen. Der persönliche Bezugist ihnen wichtig

● Die Abendkurse sind stärkernachgefragt. Es besteht derWunsch, den geplanten näch-sten Kurs in der kath. Tages-einrichtung St. Marien evtl. amVormittag anzubieten

● Seitens der Eltern besteht einhoher Bedarf an Austausch, auchüber die Theorie. Sie schätzen essehr, Arbeitsmaterialien an dieHand zu bekommen und sindsehr gewissenhaft in der An-wendung und Umsetzung der„Hausaufgaben“

● 10 Kursabende sind zu wenig.Der Inhalt des Handbuchs ist soumfassend, dass 12 Sitzungendurchgeführt werden sollten. DieEltern haben in allen Kursen dieErweiterung um eine Sitzunggefordert, nachdem sie erfahrenhatten, dass noch ein Mottounbearbeitet war

● In der kath. Tageseinrichtung St.Marien hat sich die Co-Leitungbewährt. Je größer die Gruppe,umso besser für die Teilnehmer,wenn 2 Kursleitungen anwesendsind, die sich die Arbeit teilen. Siekönnen intensiver auf die Wün-sche und Bedürfnisse der Grup-pe eingehen

● Für die Leiterinnen der Tages-einrichtung ist die erstmaligeDurchführung der Kurse mit ei-nem hohen Arbeitsaufwand ver-bunden. Die Vor- und Nach-bereitung nimmt ca. 2 – 3

Stunden in Anspruch, die Durch-führung am Abend selber dauert2 - 2,5 Stunden. Diese Zeitenwerden sich eventuell minimie-ren, wenn ein gewisser Fundusan Wissen und Erfahrung in derKursleitung vorhanden ist

● Zukünftig ist eine breitere Infor-mations- und Öffentlichkeitsar-beit notwendig. Wichtig wirdsein, dass die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter in den Tagesein-richtungen intensiver über dieInhalte der Elternkurse informiertwerden müssen, um die Fragender Eltern beantworten zu kön-nen. Ausschlaggebend sind derpersönliche Kontakt und einepersönliche Ansprache

● Nur durch eine gleichbleibendehohe Qualität der Kurse wird dasZiel erreicht werden können,dass Elternschulen zukünftig ge-nauso selbstverständlich besuchtwerden, wie ein Geburtsvorbe-reitungskurs.

Inhalte: Definition und Reflexionvon Erziehungszielen, -wertenund –vorstellungen; Bedürfnisseund Rechte von Kindern undEltern; Kommunikation in derFamilie; Umgang mit Problemenund Konflikten

Gruppenstärke: 10 – 12Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Umfang: bis zu 12 Abende je 2Stunden (20 – 24 Stunden)

Kursleitung: 1 Trainer + wün-schenswert Co. Trainer

Voraussetzung: Erfahrung in derpädagogischen Arbeit, 3 TageBasisschulung in „Starke Eltern –Starke Kinder®“ beim Kinder-schutzbund e.V., anschließendevtl. regelmäßige Treffen in einemArbeitskreis

Kosten: Ausbildung kostet 275,-Euro incl. Übernachtung undVerpflegung + 65,- Euro für dasKurshandbuch, gesamt 340,-Euro.

Auswirkungen auf die Arbeitder Tageseinrichtungen:● In der Öffentlichkeit wird die

Qualität der Tageseinrichtungaufgewertet

● Die teilnehmenden Eltern er-kennen die Fachlichkeit derKursleiterin an. Diese guteBewertung wird auch auf diegesamte Arbeit der Einrich-tung übertragen

● Die Eltern werden offener undholen sich nach Beendigungdes Kurs in schwierigen Situa-tionen nochmals Hilfe bei derKursleiterin

● In Elterngesprächen verstehendie Eltern eher die Zusam-menhänge

● Kolleginnen erleben die päd-agogischen Fortschritte, diedie Eltern nach den Kursen imUmgang mit ihren Kindernmachen, als hilfreich für dieArbeit mit den Kindern in derGruppe

● Die Leiterin erwirbt durch dieAusbildung zur Kursleiterinund die Durchführung zusätz-liche Qualifikationen

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Bildung in Tageseinrichtungen - Wie günstig darf es sein?Jugendhilfeaktuell

733/2004

Ausbildung der Kursleiter-innen und KursleiterInsgesamt haben in Gütersloh 27Leiterinnen und Leiter (14 städt.Leitungen, 8 kath. Leitungen, 1 ev.Leiter, 3 Leitungen freier Träger und1 türkische Fachkraft) die Schulungzu Kursleiterinnen und Kursleitern in„Starke Eltern – Starke Kinder®“abgeschlossen.

Mit dem ausgebildeten Personen-kreis ist gewährleistet, dass das Zieleiner flächendeckenden Umsetzungdes Angebotes in Tageseinrich-tungen in Gütersloh zukünftig er-reicht wird. Eine Einschränkung er-folgt, weil aus den Reihen der evan-gelischen Tageseinrichtungen von10 Leiterinnen und Leitern 1 Leiterdie Ausbildung abgeschlossen hat.Trotzdem sind aus allen 12Sozialräumen in Gütersloh Leitungenvertreten, wodurch die flächendek-kende Umsetzung gesichert ist.

Elternschule im 2. Halbjahr2003Die Anfragen von Eltern nach weite-ren Kursen im Anschluss an diePilotphase haben die Erwartungender Projektgruppe bei weitem über-troffen. Es war angedacht, erst imFrühjahr 2004 weitere Elternkurse

anzubieten. Die Nachfrage in denTageseinrichtungen und der Wunschder ausgebildeten Kursleitungensofort mit einem Kurs zu beginnen,führte dazu, weitere 6 Kurse imHerbst 2003 anzubieten. Neu hinzugekommen sind die Kurse in denstädtischen Tageseinrichtungen Vo-gelsbergstr. und Englische Str.. AlleKurse waren voll belegt und es kambereits zu Anfragen von Eltern ausBielefeld und dem Kreis Gütersloh.

Institutionalisierung der „El-ternschule“Die „Elternschule“ ist aus demBündnis für Erziehung entstandenund kooperiert eng mit der Katho-lischen Familienbildungsstätte, demKinderschutzbund e.V., dem Kin-derschutzzentrum e.V. und den kon-fessionellen und freien Trägern derTageseinrichtungen. Diese ausge-sprochen konstruktive Zusammen-arbeit hat sich bestens bewährt undsoll zukünftig in Form einer „Interes-sengemeinschaft Elternschule Gü-tersloh“ fortgeführt werden. In derDarstellung nach außen müssen dieKooperationspartner gleichbedeu-tend eingebunden sein. Das Projekt „Elternschule“ wurde andie Bernard-Kaesler-Stíftung Güters-loh angebunden. Darüber besteht

die Möglichkeit, für interessierteBürger und Institutionen das Projektdurch Spenden zu unterstützen,über die entsprechendeSpendenbescheinigungen erstelltwerden können.

Weitere Aufgaben für dasProjekt:● Qualitätssicherung● Vernetzung● Weiterentwicklung des Elternkurs

Konzeptes● Aufbaukurs für Eltern von

Jugendlichen● Kursangebot für Eltern mit

Migrationshintergrund● Öffentlichkeitsarbeit

Die Autorin: Andrea Monkenbusch, Fachberaterin derStadt Gütersloh für den BereichTageseinrichtungen für Kinder, Verantwortlichfür das Projekt Elternschule

Der vollständige Text desJahresberichtes ist unter folgen-der Adresse zu beziehen:Stadt Gütersloh, FachbereichJugend, Abteilung Tagesbetreu-ung für Kinder, Schledebrückstr.5, 3332 Gütersloh

Kathrin Bock-Famulla

Bildung in Tageseinrichtungen - Wie günstig darf essein?

Der Volkswirtschaftliche Ertragvon Kindertagesstätten

Was bringen Kitas der Ge-sellschaft?Der sozial- und bildungspolitischeStellenwert von Kindertageseinrich-tungen (Kitas) gewinnt wachsendeAkzeptanz bei den verschiedenengesellschaftlichen Akteuren. Auch dieökonomische Bedeutung, die Kitaserfüllen, konnte in jüngster Zeit mitHilfe von volkswirtschaftlichen Kos-ten-Ertrags-Analysen belegt werden.

Warum diese Frage?Kitas sind öffentliche Einrichtungenund werden zu einem erheblichenTeil aus öffentlichen Mitteln finanziert.Im Zuge der gesamtgesellschaftli-chen Entwicklungen stehen alleöffentlichen Leistungsbereiche in derAufgabenkritik, i.d.R. mit der Ab-sicht, Ausgaben zu reduzieren. Not-wendig werden somit überzeugendeArgumente, warum in Kinderta-geseinrichtungen investiert werdensollte, um Ressourcen zu sichern.Die gesetzliche Verankerung des

Bildungs-, Erziehungs- und Betreu-ungsauftrags von Kindertagesein-richtungen erweckt den Eindruck,dass gesamtgesellschaftlich einGrundkonsens über die Aufgabenund Funktionen von Kindertagesein-richtungen und die von ihnen be-wirkten Effekte besteht.

Grundsätzlich wird somit angenom-men, dass Kindertageseinrichtungennicht nur für das einzelne Kind, son-dern darüber hinaus für die Gesell-schaft Wirkungen haben, d.h. öko-

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Bildung in Tageseinrichtungen - Wie günstig darf es sein? Jugendhilfeaktuell

74 3/2004

nomisch gesprochen externeEffekte. Mit diesem gesellschaftli-chen Nutzen für die Gesellschaftkann auch begründet werden, dassKindertageseinrichtungen öffentli-cher Finanzierung bedürfen.

Welche volkswirtschaftlichenErträge von Kitas könnenfestgestellt werden?Eine an der Universität Bielefeld imAuftrag der Max-Traeger-Stiftungdurchgeführte Untersuchung dervolkswirtschaftlichen Effekte vonKitas im Jahr 1999 zeigt, dass Aus-gaben für diese Einrichtungen ausvolkswirtschaftlicher Perspektive In-vestitionen darstellen. Für West-Deutschland wurde ermittelt, dasssich der volkswirtschaftliche Ertragder in Kitas investierten Betriebs-kosten auf bis zu 4 Euro für eineninvestierten Euro beläuft.

Eine durchschnittliche Investition von5.200 Euro für einen Kinder-tages-stättenplatz pro Jahr führt zu einemdurchschnittlichen Ertrag von20.000 Euro (Bock-Famulla 2002).

Mit diesem Nachweis des volkswirt-schaftlichen Ertrags von Kinder-tagesstätten in West-Deutschlandkönnen Kosten-Ertrags-Relationen,die das Sozialdepartement der StadtZürich im Jahr 2000 zur Messungdes volkswirtschaftlichen Ertragsvon Kindertagesstätten, ermittelthatte, bestätigt werden.

Die Bielefelder Untersuchung:Für die Untersuchung wurden aufder Investitionsseite die Betriebs-kosten von Kindertageseinrichtun-gen berechnet und den durch sieentstandenen volkswirtschaftlichenErträgen gegenübergestellt. Dievolkswirtschaftlichen Erträge errech-nen sich aus der Berufstätigkeit derMütter, der Beschäftigung desPersonals in den Kindertages-einrichtungen und der Vermeidungvon Arbeitslosigkeit von Alleiner-ziehenden und den somit gespartenAusgaben für Hilfen zum Lebens-unterhalt.

Für die Untersuchung des Ertragsvon Kindertageseinrichtungen wirdangenommen, dass insbesondere

den Müttern durch die Einrichtungenermöglicht wird, erwerbstätig zusein.

Die in den Einrichtungen durchge-führten Elternbefragungen bestäti-gen, dass das Erwerbsverhalten vonMännern unabhängig von derFamiliensituation ist, während sichdie Erwerbstätigkeit der Mütter inAbhängigkeit von der Zahl und demAlter der Kinder deutlich verändert.Deshalb wird für die Untersuchungangenommen, dass die Erwerbs-tätigkeit der Mütter erheblich vomverfügbaren Betreuungsangebotabhängig ist.

In der Studie wird untersucht, wel-che Wirkungen es hätte, wenn dieKindertageseinrichtungen geschlos-sen würden. Diese Auswirkungen füralle Betroffenen entsprechen demErtrag, den die Einrichtungen heutebewirken.

Datenmaterial: Das Gutachtenbasiert auf der Auswertung einerrepräsentativen Teilstichprobe desSozioökonomischen Panels (SOEP)für Westdeutschland für das Jahr

1999 und Elternbefragungen in zweiFallstudien in jeweils 10 Einrich-tungen in Niedersachsen und Nord-rhein-Westfalen. (Das Sozioökono-mische Panel (SOEP) ist eine reprä-sentative Wiederholungsbefragungprivater Haushalte, die seit 1984 inWestdeutschland und seit 1990 inOstdeutschland jährlich durchge-führt wird.)

Ausgewählte Ergebnisse derKosten-Ertrags-Analyse vonKitas in Westdeutschland:● Auf der Basis der repräsentativen

Teilstichprobe des SOEP zeigtsich, dass durch eine durch-schnittliche Investition von 5.200Euro für einen Kitaplatz pro Jahrein durchschnittlicher Ertrag von20.000 Euro bewirkt wird. Dervolkswirtschaftliche Ertrag fürjeden investierten Euro beläuftsich somit auf 3,8 Euro.

● Bezogen auf die Gruppe deralleinerziehenden Mütter ergibtsich ein noch höherer Ertrag undzwar werden für jeden investier-ten Euro fast sechs Euro Ertragerzielt.

Exemplarische Kosten-Ertrags-Analyse für eine typischeKindertagesstätte auf der Grundlage der repräsentativenTeilstichprobe des SOEP:

Modelleinrichtung:

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Bildung in Tageseinrichtungen - Wie günstig darf es sein?Jugendhilfeaktuell

753/2004

Risiken volkswirtschaftlicherErtragsrechnungen im Span-nungsfeld zwischen Ansprü-chen der Qualitätssicherungund effizientem Ressourcen-einsatzIn der aktuellen Finanzdebatte sindArgumentationen zum volkswirt-schaftlichen Ertrag von Investitionenin Kindertageseinrichtungen aufge-nommen worden und zwar vor allemum den Einsatz von Finanzmitteln zulegitimieren. Auf dem Hintergrundinsbesondere der westdeutschenSystemmängel im Hinblick auf dieVereinbarkeit von Familie und Berufist dies eine gesellschaftspolitischeNotwendigkeit.

Gleichzeitig haben die bildungspoliti-schen Debatten den entscheiden-den Stellenwert der frühkindlichenBildungsphase für den Verlauf dergesamten Bildungs- und Lebens-biographie verdeutlicht. Auch dieQualitätsdebatte hat den Bedarf derWeiterentwicklung des Systems auf-gezeigt. Beide Trends – sowohl dieBildungs- und Qualitätsdebatte –haben allerdings die nachhaltigeBereitstellung verbesserter und ver-bindlicher Rahmenbedingungendurchsetzen können. Zu befürchtenist vielmehr, dass Politik in einseitigerund reduzierter Weise auf dengesamtgesellschaftlich entstehen-den Druck für eine Veränderung derKinderbetreuung vor allem in West-deutschland dahin agiert, dass diequantitativen Kapazitäten ausgebautwerden. Vorliegende Studien zumvolkswirtschaftlichen Ertrag von Kin-dertageseinrichtungen haben mögli-cherweise politische Entschei-dungen sukzessive dahingehendverändern können, dass Ressour-cenallokationen für Leistungen zurUnterstützung der Erwerbstätigkeitvon Eltern forciert wurden. Die Ent-wicklungen in Hamburg sind ein Bei-spiel dafür, dass Betreuung zur Un-terstützung von Erwerbstätigkeitpolitisch durchsetzungsfähig ist. Hiersogar mit der Erwartung, dass beider überwiegenden Betreuung vonKindern erwerbstätiger Eltern dieEinnahmen durch Elternbeiträgesteigen und somit die Einnahmendes Systems erhöht werden könn-ten.

Gleichzeitig geben die Entwick-lungen in Hamburg und auch inNordrhein-Westfalen Hinweise dar-auf, dass der Ausbau der quantitati-ven Kapazitäten entweder durcheine Umschichtung der im Systemvorhandenen Ressourcen erfolgtoder aber die zusätzlichen Inves-titionen so minimal sind, dass durcheinen Ausbau der quantitativen Ka-pazitäten die Qualität der Betreu-ungsangebote schlechter wird, dazum Beispiel die Personalkapa-zitäten nicht äquivalent erhöht wer-den.

Im bildungsökonomischen Gesamt-blick zeigt sich somit, dass sich inAbhängigkeit von den Ressourcen-allokationen innerhalb des Systemsauch unterschiedliche Einzel-Er-tragswirkungen zeigen und zwar jenach Verteilung der Ressourcen.

Wenn zum Beispiel primär in denAusbau der Betreuungskapazitäteninvestiert wird, dann sind wachsen-de volkswirtschaftliche Erträge imBereich der Sozialversicherungs-bei-träge und der Erhöhung der Kauf-kraft zu erwarten. Damit sind stei-gende Erträge für die Kinder nur mit-telbar zu erwarten, beispielsweisewenn sich die soziale Situation derFamilie durch ein entsprechendesErwerbseinkommen verbessert unddamit auch die Lebensbedingungenfür die Kinder.

Gleichzeitig sind aber auch dieAuswirkungen auf die Entwicklungder Kinder durch qualitativ schlechteBetreuungsangebote wahrzuneh-men, wenn nicht entsprechendeMittel für den Ausbau der Qualitätbereitgestellt werden. Die Erkenn-tnis, dass Qualitätsunterschiede vonKindertageseinrichtungen mit Ent-wicklungsunterschieden von Kindernvon bis zu einem Jahr einhergehen(Tietze 1998), müssen als Impuls fürweiterreichende Untersuchungender Auswirkungen schlechter Quali-tät auf die Entwicklung und Bildungvon Kindern verstanden werden.

Denn aus ökonomischer Perspektivekann argumentiert werden, dassInterventions- oder Kompensations-maßnahmen für schlechte oder

unzureichende frühkindliche Ent-wicklungs- und Bildungsbedingun-gen zukünftig zu hohen sozialenKosten führen können und somitauch die kurzfristig entstandenenErträge aufgrund gestiegener Eltern-erwerbstätigkeit verringern könnten.Aus diesen Überlegungen könntegeschlussfolgert werden, dass Sys-teme, die primär in den Ausbau derBetreuung investieren und gleichzei-tig schlechte pädagogische Qualitätaufweisen, mittelfristig sinkende Er-träge zu erwarten haben. Die Emp-fehlung an die Politik muss deshalblauten, dass ein Ausbau von Kita-Plätzen immer auch begleitet seinmuss von Erfüllung entsprechenderBildungs- und Qualitätsstandards.

Diese Argumentation zeigt, dass fürdie deutsche Situation dringendLängsschnittstudien durchgeführtwerden müssen, die den Verlauf derBildungs- und Lebensbiographienvon Kindern in Abhängigkeit derQualität ihrer frühkindlichen Bil-dungserfahrungen untersuchen.Gleichzeitig müssen die Kosten-ein-flußgrößen von Bildungs- und Quali-tätskonzepten identifiziert und fach-lich begründet werden.

Die Autorin: Kathrin Bock-Famulla, Dipl. Pädagogin beider Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh.Projektmanagerin des Projektes „Kind & Ko.“

LiteraturBock-Famulla, Kathrin (2002): Der volkswirt-schaftliche Ertrag von Kindertagesstätten.Eine Studie im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung. Bielefeld.

Tietze, W. (Hrsg.), 1998: Wie gut sind unsereKindergärten? Eine Untersuchung zur päd-agogischen Qualität in deutschenKindergärten. Neuwied & Berlin: Luchterhand