Sprachsensibler Mathema kunterricht -‐ Ansätze und … · 2014. 10. 20. · Sprachsensibler...
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Susanne Prediger
Sprachsensibler Mathema�kunterricht -‐ Ansätze und Herausforderungen
Gliederung
1. Relevanz der Sprachkompetenz für Mathema�kleistung
2. Sprachlich bedingte Hürden und ihre Hintergründe in Prüfungssitua�onen
3. Textaufgaben bewäl�gen Lernen – Hilfreiche und nicht hilfreiche Ansätze
Ausgangspunkt: Zunehmende Mehrsprachigkeit
Zunehmende Anteile an Mehrsprachigen in Deutschland: 30 % der Schülerinnen und Schüler bundesweit mehrsprachig
40 % der Erstklässlerinnen und Erstklässler in NRW Regionale Klumpungen
50 % mehrsprachige Einwohner in allen NRW-‐Städten > 100 000 EW (30 % in NRW-‐Landkreisen)
60 % in Großstädten wie Hamburg oder Berlin
3
Zur Relevanz des Sprachen-‐Problems
Ist Mehrsprachigkeit überhaupt ein Problem? Ja, erhebliche Leistungsunterschiede und deutlich geringere Schulabschlüsse (z.B. Mikrozensus 2006)
Ist Mehrsprachigkeit ein Problem im Mathema�kunterricht? Ja, Leistungsunterschiede in Mathema�k fast ebenso hoch wie beim Lesen (Pisa 2006, OECD 2007)
Misserfolg von Lernenden oder von Schulen? Vom Schulsystem! Leistungsunterschiede in Deutschland deutlich höher als in vergleichbaren Einwanderungsländern (OECD 2007)
Liegt Problem tatsächlich an Mehrsprachigkeit?
(Prediger, Büchter, Renk, Benholz, Gürsoy 2013 in MuM-‐ZP)
4
MuM-‐ZP
MuM-‐ZP: Test und S�chprobe
44 % monolingual Deutsche in Ruhrgebiets-‐Gesamtschulen
Mathema�kleistung in Zentraler Prüfung 10 NRW mi�lerer Schulabschluss Lesekompetenz in der Zentralen Prüfung 10 NRW Deutsch Sprachkompetenz zusätzlich erhoben
MuM-‐ZP
Welche Faktoren haben stärksten Zusammenhang zur Mathema�kleistung?
Abweichungen vom Mi�elwert der M-‐Test-‐Gesamtpunkte, gruppenweise verglichen bzgl...
6
-4,9
0,8
3,5
≥ 1
7 J.
16 J
.
15 J
.
Alter
-2,2 -2,6
2,8
1. G
en
2. G
en
≥ 3
. Gen
Migra�ons-‐hintergrund
-1,6
-0,6
2,2
nied
rig
mitt
el
hoch
Sozio-‐ökon. Status
-4
-1,3
2,8
ab K
iGa
vor
KiG
a
nur
Dt.
Zeitpunkt Deutsch-‐ erwerb
-6,2
0,7
6,8
schw
ach
mitt
el
star
k
Bildungs-‐ sprachliche Kompetenz (gedri�elt)
-3,2
3,1
6,5
schw
ach
mitt
el
star
k
Leseleistung (gedri�elt)
43,5 Punkte
Mi�elwert
37 Punkte
Note 5
50 Punkte
Note 4
# Note 3
43,9 Punkte
Mi�elwert
45,4 Punkte
Mi�elwert
MuM-‐ZP
Zur Relevanz des Sprachen-‐Problems
Ist Mehrsprachigkeit überhaupt ein Problem? Ja, erhebliche Leistungsunterschiede und deutlich geringere Schulabschlüsse (z.B. Mikrozensus 2006)
Ist Mehrsprachigkeit ein Problem im Mathema�kunterricht? Ja, Leistungsunterschiede in Mathema�k fast ebenso hoch wie Lesen (Pisa 2006, OECD 2007)
Misserfolg von Lernenden oder von Schulen? Vom Schulsystem! Leistungsunterschiede in Deutschland deutlich höher als in vergleichbaren Einwanderungsländern (OECD 2007)
Liegt Problem an Mehrsprachigkeit? Nein, Sprachkompetenz Deutsch ist Faktor mit stärksten Zusammenhang zur Mathema�kleistung, stärker als Mehrsprachigkeit, SES, Lesekompetenz
(Prediger, Büchter, Renk, Benholz, Gürsoy 2013 in MuM-‐ZP)
7
MuM-‐ZP
Gliederung
1. Relevanz der Sprachkompetenz für Mathema�kleistung
2. Sprachlich bedingte Hürden und ihre Hintergründe in Prüfungssitua�onen
3. Textaufgaben bewäl�gen lernen – Hilfreiche und nicht hilfreiche Ansätze
Wieso ist Sprache eigentlich so wich�g für Mathema�k?
9 (Zahlen und Größen 6, S. 40)
Sprachlich bedingte Lesehürden
10
Sprachliche Herausforderung: • was ist Subjekt, was ist Objekt? • nicht Satzreihenfolge entscheidet,
wer wem was schenkt, sondern Fälle (Da�v Nomina�v)
• Bedeutung der Fälle beherrscht man in Mu�ersprache intui�v, aber DaZ-‐Kinder nicht
à Erkan konstruiert abweichendes Situa�onsmodell
(Nathan und Erkan, Klasse 4, Video aus der Masterarbeit von Jana Po�hoff, 2014)
↔
↔
Gramma�sche Feinheiten: Ihrer kleinen Schwester Lisa schenkt sie eine Kiste. Ihre_ kleine_ Schwester Lisa schenkt sie eine Kiste. Ihre_ kleine_ Schwester Lisa schenkt ihr eine Kiste. Sie schenkt ihrer kleinen Schwester Lisa eine Kiste.
4 +1
4 ·∙ 6 + 6
5 ·∙ 6
Nach gramma�scher Klärung
• revidiert Erkan sein Situa�onsmodell
• kann er sofort die Lösung sagen
Zurück zur ZP10: Beispielaufgabe Verbrauch (ZP 2012)
Prüfungsteil 2: Aufgabe 2 Der Kra�stoffverbrauch wird für Fahrzeuge durch den durchschni�lichen Verbrauch in Litern (ℓ) auf einer Strecke von 100 Kilometern angegeben. Der Kra�stoffverbrauch eines Autos hängt vor allem von der gefahrenen Geschwindigkeit ab.
a) Das Diagramm zeigt den Kra�stoffverbrauch für ein Auto, das im höchsten Gang gefahren wird. Daher beginnt der Graph bei 70 km/h.
(ZPM 2012; Klasse 10; Mi�lerer Schulabschluss)
Lösungshäufigkeiten, Dri�el-‐Perzen�le nach C-‐Test
(1) 68 % von allen, 58 % der sprachlich Schwachen, 71 % der Starken
(2) 12 % von allen, 4 % der sprachlich Schwachen, 18 % der Starken
(1) Wie schnell fährt das Auto durchschni�lich, wenn es 11 ℓ auf 100 km verbraucht? (2) Um wie viel Prozent liegt der Verbrauch bei 180 km/h über dem Verbrauch bei 100 km/h? No�ere deine Rechnung.
MuM-‐ZP
Um wie viel Prozent liegt der Verbrauch bei 180 km/h über dem Verbrauch bei 100 km/h?
Vergleich der Bearbeitungsprozesse
erfolgreich:
• sukzessive Klärung der Gesamtstruktur
• Fokus auf Präposi�onen und ihre Zusammenhänge
• Planung der Mathema�sierung, dann erst losrechnen
Strategien im Umgang mit lexikalischen und syntak�schen Hürden:
nicht erfolgreich:
• Herauspicken von Teilen
• Fokus auf Hauptwörter
• letzte Re�ung: blindes Losrechnen
Morphologische Hürde: große Bedeutung der Präposi�onen
Syntak�sche Hürde: drei geschachtelte A�ribute
MuM-‐ZP
Beispielaufgabe Frauen-‐WM (ZP 2011)
13
Vom 26. Juni bis zum 17. Juli 2011 findet die Fußball-‐Weltmeisterscha� der Frauen in Deutschland sta�. Die 32 Spiele der WM finden in 9 verschiedenen Städten sta� (vgl. Tabelle):
a) Bes�mme für die neun WM-‐Stadien die Spann-‐ weite und den Median der Zuschauerplätze.
b) Zeige, dass zu den 32 WM-‐Spielen insgesamt maximal 1 037 251 in die Stadien kommen können.
c) In einer Pressemi�eilung steht:
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) als Veranstalter kalkuliert bei den 32 Spielen mit einer durchschnittlichen Auslastung von 80 Prozent, was einem Zuschauerschnitt pro Spiel von 25000 entspricht. Insgesamt rechnet der DFB mit Erlösen in Höhe von 27 Millionen Euro aus dem Verkauf der Eintrittskarten.
(1) Von welchem durchschni�lichen Preis pro Eintri�skarte geht die Pressemi�eilung aus? No�ere deine Rechnung.
(2) Überprüfe die Angabe zum Zuschauerschni� anhand der Daten aus der Tabelle. (ZPM 2011; Klasse 10; Mi�lerer Schulabschluss)
24 % durchschni�lich erreichte Punkte im NRW-‐Sample Textlinguis�sche Hürden: Referenzstrukturen
62 %
Zwischenbilanz: Was macht Aufgaben sprachlich schwierig?
Um wie viel Prozent liegt der Verbrauch bei 180 km/h über dem Verbrauch bei 100 km/h?
• Lexikalische Hürden: Fremde oder zusammengesetzte Wörter Beispiel Selma: Zuschauer|schni�
• Satz-‐ und Textlänge allein macht Texte nicht schwer! Beispiel: Verbrauchsaufgabe schwerer als WM
• Lexikalisch-‐morphologische Hürden: Hohe Bedeutung der Präposi�onen zum Ausdruck von Rela�onen Beispiel Lena & Melissa çè Eda: um, bei, über
Wortebene
Satzebene
• Syntak�sche Hürden: komplizierte und geschachtelte A�ribute Beispiel Lena & Melissa çè Eda beim Dreier-‐A�ribut
Textebene
• Textlinguis�sche Hürden: Referenzstrukturen undurchsich�ge Bezüge zwischen Sätzen und Teilaufgaben Beispiel Malika: mit was soll man rechnen? was gehört dazu?
MuM-‐ZP
Gliederung
1. Relevanz der Sprachkompetenz für Mathema�kleistung
2. Sprachlich bedingte Hürden und ihre Hintergründe in Prüfungssitua�onen
3. Textaufgaben bewäl�gen lernen -‐ Hilfreiche und nicht hilfreiche Ansätze
Leseförderung in allen Fächern
16 (Norvegian Framework for Basic Skills, 2012)
Reading
Was bedeutet das konkret für einen mathema�schen Text?
Beispiel Interpre�eren als Subkategorie von Lesen
Fachübergreifende Lesestrategien
Wie hilfreich???
Gängige Vorschläge für sprachliche Mi�el
Wortlisten für Fachvokabular
(Bezirksregierung Münster 2006/09) (B i k i Mü t 2006/09)
Gängige Vorschläge für sprachliche Mi�el
Wortlisten für Fachvokabular
oder Schlüsselwörter für Textaufgaben
(Bezirksregierung Münster 2006/09)
Auf dem Konto sind 20 €, es wurden 5 € abgebucht, wie viel ist es jetzt?
Von dem Konto wurden 5 € abgebucht, jetzt sind es 15 €, wie viel war drauf?
20 – 5 = ?
? – 5 = 15 oder 5 + 15 = ? aber nicht 15-‐5 = ?
Schlüsselwort-‐Verha�ung eher schädlich!
Empirische Studie von Boonen et al. (2013)
wer zu eng an Schlüsselwörtern klebt, löst Textaufgaben deutlich schlechter
wich�g dagegen „rela�onal processing“, also Rela�onen aus dem Text herausholen, auch bei erwartungswidrigen Schlüsselwörtern
Im Kaufland kostet eine Flasche Olivenöl 4 Euro. Im Rewe kostet sie 3 Euro mehr als im Kaufland. Wenn du fünf Flaschen kaufst, wie viel zahlst du im Rewe?
Im Kaufland kostet eine Flasche Olivenöl 4 Euro. Dort kostet sie 3 Euro mehr als im Rewe. Wenn du fünf Flaschen kaufst, wie viel zahlst du im Rewe?
(4+3) ·∙ 5 (4-‐3) ·∙ 5
Lernwirksame Übung: Aufgabentexte vergleichen und variieren
Im Kaufland kostet eine Flasche Olivenöl 4 Euro. Im Rewe kostet sie 3 Euro mehr als im Kaufland. Wenn du fünf Flaschen kaufst, wie viel zahlst du im Rewe?
Im Kaufland kostet eine Flasche Olivenöl 4 Euro. Dort kostet sie 3 Euro mehr als im Rewe. Wenn du fünf Flaschen kaufst, wie viel zahlst du im Rewe?
Klasse 5 Grundrechenarten
Klasse 7 Prozentrechnung
Der Pullover wurde um 40 % reduziert, jetzt kostet er 30 €. Wie viel kostete er vorher?
(reduziert auf)
(Frage nach Prozentwert)
Was unterscheidet die beiden Aufgaben? Formuliere die nächste Aufgabe auch so um, dass minus gerechnet werden muss
Fazit
Sprachförderung muss im Fach erfolgen, weil die Herausforderungen fachspezifisch sind
allgemeine Lesestrategien sind wenig hilfreich
Schlüsselwörtererkennung ist sogar gefährlich, weil Erziehung zur Oberflächlichkeit
wich�g für den Umgang mit Textaufgaben ist dagegen der konsequente Fokus auf die Rela�onen im Text
Ausblick:
noch gravierender sind die Sprachprobleme im Lernprozess, wenn sie Verstehenau�au behindern
dazu Scaffolding à z.B. Vortrag auf der Tagung Mathe für alle am 27.9. (Anmeldung bis zum 8.9. unter h�p://www.mathema�k.uni-‐dortmund.de/mathefueralle/)
Mehr zur Praxis der Sprachförderung:
• *Meyer, Michael & Prediger, Susanne (2012): Sprachenvielfalt im Mathema�kunterricht – Herausforderungen, Chancen und Förderansätze. In: Praxis der Mathema�k in der Schule 54(45), 2-‐9.
• *Prediger, Susanne & Wessel, Lena (2012): Darstellungen vernetzen – Ansatz zur integrierten Entwicklung von Konzepten und Sprachmi�eln. In: Praxis der Mathema�k in der Schule 54(45), 29–34.
• Leisen, Josef (2010): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis, varus, Bonn
• Ahrenholz, Bernt (2010) (Hrsg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache, Narr, Tübingen.
Mehr zu Forschung und Hintergrund:
• Michael Becker-‐Mrotzek, Karen Schramm, Eike Thürmann & Helmut Johannes Vollmer (2013) (Hrsg.): Sprache im Fach – Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster u.a., Waxmann.
• Prediger, Susanne & Özdil, Erkan (2011) (Hrsg.): Mathema�klernen unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit – Stand und Perspek�ven der Forschung und Entwicklung, Münster et al.: Waxmann.
Zum Weiterlesen
23
(viele Texte im Literaturapparat, mit * gekennzeichnete auch auf Homepage von S. Prediger zum freien Download)
Speziellere Literatur zu den Beispielen
Zur Prüfung
*Gürsoy, Erkan; Benholz, Claudia; Renk, Nadine; Prediger, Susanne; Büchter, Andreas (2013): Erlös = Erlösung? – Sprachliche und konzeptuelle Hürden in Prüfungsaufgaben. In: Deutsch als Zweitsprache 1, 14-‐24.
*Prediger, Susanne; Renk, Nadine; Büchter, Andreas; Gürsoy, Erkan; Benholz, Claudia (2013): Family background or language disadvantages? Factors for underachievement in high stakes tests. In: Lindmeier, Anke M. & Heinze, Aiso (Hrsg.): Proceedings of the 37th Conference of the Interna�onal Group for the Psychology of Mathema�cs Educa�on, Vol. 4. Kiel: PME, 49-‐56.
Zu Hürden in Lernsitua�onen
*Prediger, Susanne (2013): Darstellungen, Register und mentale Konstruk�on von Bedeutungen und Beziehungen – Mathema�kspezifische sprachliche Herausforderungen iden�fizieren und überwinden. In: Michael Becker-‐Mrotzek, Karen Schramm, Eike Thürmann & Helmut Johannes Vollmer (Hrsg.): Sprache im Fach – Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster et al.: Waxmann, 167-‐183.
(viele Texte im Literaturapparat, mit * gekennzeichnete auch auf Homepage von S. Prediger zum freien Download)