Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

17
Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum Von Erwin Kupfer Max Weltin gewidmet Die Diskussion über das Wesen der mittelalterlichen Grafschaften zählt seit Jahr- zehnten wohl zu den heikelsten, doch vielleicht gerade deswegen auch reizvollsten Pro- blemkreisen der verfassungsgeschichdichen Mediävistik. Wenn die dabei bestimmend gebliebenen Fragen nach dem personellen bzw. territorialen Charakter der mittelalter- lichen Grafschaften besonders im bayrischen und donauösterreichischen Raum in neue- rer Zeit mehrfach thematisiert und zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen geworden sind, so nicht zuletzt deshalb, weil das Bild vom Wesen der Graf- schaft, das vor nicht allzu langer Zeit außer Frage zu stehen schien, mittlerweile durch eine ganze Anzahl moderner Studien wieder ins Wanken geraten ist'. Hatte die ältere Forschung in der Grafschaft einen festumgrenzten Verwaltungsbezirk im Sinne der klas- sischen deutschen Rechtsgeschichte erblickt 2 , so wollte die bayrische Landes- 1 Nebst der noch zu nennenden Literatur vgl. Othmar H a g e n e d e r , Das Problem der „Drei Graf- schaften" von 1156 bei Otto von Freising. Ein Lösungsversuch. In: Regensburg, Bayern und Europa. FS Kurt Reindel. (Regensburg 1995) 229 ff., Ludwig H o l z f u r t n e r , Ebersberg - Dießen - Scheyern. Zur Entwicklung der oberbayerischen Grafschaft in der Salierzeit. In: Die Salier und das Reich 1, Herausg. v. Siefen Weinfurter (Sigmaringen 1991) 549ff., Ders., Die Grafschaft Dillingen. In: ZBLG 57 (1994) 321 ff, Alois S c h m i d , Comes und comitatus im süddeutschen Raum während des Hochmittelalters. In: Regensburg, Bayern und Europa. FS Kurt Reindel. Wie oben 189ff, Ders., Untersuchungen zu Gau, Grafschaft und Vogtei im Vorderen Bayerischen Wald. In: Aus Bayerns Geschichte. Festgabe An- dreas Kraus. (St. Ottilien 1992) 117 ff, Herwig Weigl, Bayrisch Waidhofen? Die freisingische Herr- schaft im Land Österreich. In: Die bayerischen Hochstifte und Klöster in der Geschichte Niederöster- reichs (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut fur Landeskunde 11. 1989) 31 ff, Max W e l t in, Die Grafschaft Pernegg-Drosendorf. In: Das Waldviertel NF 44 (1995) Iff, Ders., Böhmische Mark, Reichsgrafschaft Η ardegg und die Gründung der Stadt Ree. In: Rudolf Resch, Retzer Heimatbuch, Neuauflage des 1. Bandes (1984) 7ff, Ders., Die steirischen Otakare und das Land zwischen Donau, Enns und Hausruck. In: Das Werden der Steiermark (Veröffendichungen des Steiermärkischen Landesarchives 10, 1980) l63ff, Herwig W o l f r a m , Salzbure, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (MIÖG Erg. Bd. 3, 1995) 155ff, Roman Z e h e t m a y e r , Reichsunmittelbare Gebiete im Herzogtum Österreich (13.-15. Jahr- hundert). In: Österreich im Mittelalter (Studien und Forschungen aus dem Niederöscerreichischen Insti- tut fur Landeskunde 26, 1999) 67ff, Erwin Kupfer, Königsgut, Grafschaft und Herrschaftsbildung in Österreich östlich der Enns (im Druck). 1 Dahingehende Ansichten etwa bei Georg von Β e 1 ο w, Territorium und Stadt ( 2 1923) 7 ff und für den bayrischen Raum Sigmund Riezler, Geschichte Baierns 1/1 ( 2 1927) 235ff MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky Libraries Authenticated Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Transcript of Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Page 1: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Von Erwin Kupfer

Max Weltin gewidmet

Die Diskussion über das Wesen der mittelalterlichen Grafschaften zählt seit Jahr-

zehnten wohl zu den heikelsten, doch vielleicht gerade deswegen auch reizvollsten Pro-

blemkreisen der verfassungsgeschichdichen Mediävistik. Wenn die dabei bestimmend

gebliebenen Fragen nach dem personellen bzw. territorialen Charakter der mittelalter-

lichen Grafschaften besonders im bayrischen und donauösterreichischen Raum in neue-

rer Zeit mehrfach thematisiert und zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher

Kontroversen geworden sind, so nicht zuletzt deshalb, weil das Bild vom Wesen der Graf-

schaft, das vor nicht allzu langer Zeit außer Frage zu stehen schien, mittlerweile durch

eine ganze Anzahl moderner Studien wieder ins Wanken geraten ist'. Hatte die ältere

Forschung in der Grafschaft einen festumgrenzten Verwaltungsbezirk im Sinne der klas-

sischen deutschen Rechtsgeschichte erblickt2, so wollte die bayrische Landes-

1 Nebst der noch zu nennenden Literatur vgl. Othmar H a g e n e d e r , Das Problem der „Drei Graf-schaften" von 1156 bei Otto von Freising. Ein Lösungsversuch. In: Regensburg, Bayern und Europa. FS Kurt Reindel. (Regensburg 1995) 229 ff., Ludwig H o l z f u r t n e r , Ebersberg - Dießen - Scheyern. Zur Entwicklung der oberbayerischen Grafschaft in der Salierzeit. In: Die Salier und das Reich 1, Herausg. v. Siefen Weinfurter (Sigmaringen 1991) 549ff., Ders . , Die Grafschaft Dillingen. In: ZBLG 57 (1994) 321 ff, Alois S c h m i d , Comes und comitatus im süddeutschen Raum während des Hochmittelalters. In: Regensburg, Bayern und Europa. FS Kurt Reindel. Wie oben 189ff , Ders . , Untersuchungen zu Gau, Grafschaft und Vogtei im Vorderen Bayerischen Wald. In: Aus Bayerns Geschichte. Festgabe An-dreas Kraus. (St. Ottilien 1992) 117 ff, Herwig W e i g l , Bayrisch Waidhofen? Die freisingische Herr-schaft im Land Österreich. In: Die bayerischen Hochstifte und Klöster in der Geschichte Niederöster-reichs (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut fur Landeskunde 11. 1989) 31 ff, Max W e l t in, Die Grafschaft Pernegg-Drosendorf. In: Das Waldviertel NF 44 (1995) I f f , Ders. , Böhmische Mark, Reichsgrafschaft Η ardegg und die Gründung der Stadt Ree . In: Rudolf Resch, Retzer Heimatbuch, Neuauflage des 1. Bandes (1984) 7 f f , Ders . , Die steirischen Otakare und das Land zwischen Donau, Enns und Hausruck. In: Das Werden der Steiermark (Veröffendichungen des Steiermärkischen Landesarchives 10, 1980) l 6 3 f f , Herwig W o l f r a m , Salzbure, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (MIÖG Erg. Bd. 3, 1995) 155ff, Roman Z e h e t m a y e r , Reichsunmittelbare Gebiete im Herzogtum Österreich (13.-15. Jahr-hundert). In: Österreich im Mittelalter (Studien und Forschungen aus dem Niederöscerreichischen Insti-tut fur Landeskunde 26, 1999) 67f f , Erwin Kupfe r , Königsgut, Grafschaft und Herrschaftsbildung in Österreich östlich der Enns (im Druck).

1 Dahingehende Ansichten etwa bei Georg von Β e 1 ο w, Territorium und Stadt (21923) 7 ff und für den bayrischen Raum Sigmund R i e z l e r , Geschichte Baierns 1/1 (21927) 235ff

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 2: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

2 Erwin Kupfer

geschichtsschreibung seit dem Ende der vierziger Jahre darunter eine Organisationsform des Fiskalguts verstanden wissen3. Man sprach von Königsgutgrafschaften und vertrat die Auffassung, daß es in Bayern keine festen Amtsbezirke fiir Grafen gegeben habe4. Diese Theorie wurde zu Beginn der siebziger Jahre Gegenstand einer eingehenden Untersu-chung von Hans K. Schulze, der die These von den Königsgutgrafschaften in seinem bis heute grundlegend gebliebenen Werk über die karolingische Grafschaftsverfassung in den Gebieten östlich des Rheins in überzeugender Weise als das Produkt unzulässiger Verallgemeinerungen und krasser Fehldeutungen zu entlarven vermochte''. Ungeachtet der darauf verwendeten Mühe fand sich Schulze allerdings nicht in der Lage, dementge-gen ein neues Erklärungsmodell anzubieten. Vielmehr blieb er im wesentlichen der klas-sischen Lehrmeinung ergeben, wonach die Grafschaften „Bezirke mit festen Grenzen ge-wesen sind, nicht bloß die unabgegrenzten und unabgrenzbaren Wirkungsbereiche der Grafen."6 Daß das Fehlen von alternativen Lösungsvorschlägen in der Folgezeit zwangs-läufig kritische Stimmen nach sich ziehen mußte, wird denn auch nicht verwundern. So etwa bemängelte Borgolte Schutzes Verharren in der Forschungskritik, ohne neue Wege der Erschließung einzuschlagen7. Weltin meinte wiederum, daß Schulze zu sehr versu-che, die Grafschaften als genau begrenzte, flächige Gebilde nachzuweisen und den Aspekt des Personenverbandes dabei nahezu gänzlich außer Acht lasse8. Besonders scharfe Töne kamen von Friedrich Prinz, einem Vertreter der Königsgutgrafschaftstheo-rie. Vermochte er auf diesem Wege auch keine entscheidenden Argumente gegen Schul-zes forschungskritischen Ansatz beizubringen9, so doch gegen seinen konservativen Lö-sungsvorschlag. Den Angelpunkt dieser Kritik bot der negative Schriftbefund über bay-rische Grafschaftsgrenzen. Die Konsequenz, die sich daraus ergab, legte Prinz mit folgen-den Worten nieder: „Wenn die Quellen keine festen Grenzen nennen, hat es sie wohl kaum gegeben, also auch keine karolingischen „Landkreise" („Amtsbezirke")."10 Meinte

' Vgl. dazu Elisabeth H a m m , Herzogs- und Königsgut, Gau und Grafschaft im frühmittelalter-lichen Bayern (Diss, phil., München 1949) bes. 91 f.: „Der Graf der Frühzeit ist . . . nur Vertreter könig-licher Interessen in einem nur allgemein bestimmbaren Gebiet, dessen Ausdehnung durch das in Streu-lage befindliche Königsgut irgendwie festgelegt ist."

4 Vgl. dazu etwa Karl Β ο s 1, Grafschaft. In: Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte, herausg. v. Hellmuth Rössler und Günther Franz (1958) 370f. und in neuerer Zeit noch Friedrich P r i n z , Stam-mesgebier und Stammesherzogtum. In: Handbuch der bayerischen Geschichte 1, herausg. v. Max Spind-ler ( 1982) 356 ff. mit weiteren diesbezüglichen Literaturangaben.

5 Hans K. S c h u l z e , Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten ösdich des Rheins (Schriften zur Verfassungsgeschichte 19, Berlin 1973) 149 ff. Kritisch auch Ludwig Η ο 1 ζ f u r t -η e r, Die Grafschaft der Andechser. Comitatus und Grafschaft in Bayern 1OOO-1180 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern 2/4, 1994) 8 f. Für den österreichischen Raum vgl. Max W e 11 i n, Die Ge-dichte des sogenannten „Seifried Helbling" als Quelle fiir die Ständebildung in Österreich. In: J b L K N Ö 50/51 (1984/85) bes. 373ff. und Erwin K u p f e r , Der ältere babenbergische Grundbesitz in Nieder-österreich und die Bedeutung der Königsschenkungen für die Entstehung der landesfurstlichen Macht. In: Österreich im Mittelalter (wie Anm. 1) 17ff.

6 Schulze 309. 7 Michael B o r g o l t e , Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer Zeit (Vorträge und

Forschungen, Sonderband 31, 1984) 19. 8 Max W e h i n , Vom „östlichen Baiern" zum „Land ob der Enns". In: 1000 Jahre Oberösterreich.

Textband zur Landesausstellung. Herausg. von Karl Pömer (Linz 1983) 48 Anm. 26. ' Vgl. dazu Ulrich N o n n , Pagus und Comitatus in Niederlothringen (Bonner historische For-

schungen 49, 1983) 40 ff. sowie die Literatur in Anm. 6. 10 Friedrich P r i n z , Rezension Schulze. In: ZBLG 38 (1975) 357f .

M1ÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 3: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum 3

Schulze diesen Umstand mit der „Eigenart der Überlieferung" ausreichend begründen zu können", so bestehen die Einwände von Prinz umso eher zurecht, zumal Schulze an an-derer Stelle gegenüber Borgolte den methodisch vergleichbaren Vorwurf erhoben hat, wonach man „mit Hilfe der Sub-comite-Formel den räumlichen Zuständigkeitsbereich der Grafen erfassen kann, aber aus ihrem Fehlen keine grafenfreien Räume erschließen. Das Argument e silentio kann . . . auf die Grafenformel nicht angewandt werden. Gene-rell sind Diktatelemente allenfalls im positiven Sinne beweiskräftig."12 Will dieser Ein-wand Geltung beanspruchen, so wird man auch den negativen Quellenbefund über bay-rische Grafschaftsgrenzen entsprechend ins Kalkül zu ziehen haben13.

Rufen Schulzes Vorstellungen von den territorialen Grafschaftssprengeln im karo-lingerzeidichen Bayern in jedem Falle begründete Bedenken wach, so verwundert es um so mehr, daß diese These in Ludwig Holzfurtners 1994 erschienener Studie zur Graf-schaft der Andechser eine weitgehend unkritische Übernahme erfahren hat. Basierend auf der Annahme, daß zum Funktionieren dieser „offensichdich flächendeckenden Or-ganisation exakt gegeneinander abgegrenzte territoriale Zuständigkeitsbezirke der jewei-ligen Grafen" notwendig gewesen seien'4, erscheint Schulzes Grafschaftsmodell prak-tisch zur Gewißheit erhoben. Auf dieser Grundlage aufgeschichtet, finden sodann meh-rere fragwürdige Bekundungen ihren Ausdruck: so etwa, wenn ständig von frühmittel-alterlichen Grafschaftsgrenzen15 angeblich agilolfingischen Ursprungs16 gesprochen wird, ohne dafür irgendeinen direkten Beleg aus dem Andechser Raum beizubringen. Besonders bemerkenswert nimmt sich auch die Gonclusio aus, wonach die hochmittel-alterliche Grafschaft im Gegensatz zum karolingischen Komitat keine festen Grenzen mehr besessen hätte17. Spätestens hier wirft sich allerdings die Frage auf, inwieweit derart grundlegende Schlußfolgerungen überhaupt berechtigt sind, solange sie auf der unkriti-schen Übernahme von Thesen aus zweiter Hand basieren? Mit diesem Einwand erklärt sich auch das gegenständliche Anliegen, womit die Frage nach den Strukturen der karo-lingischen Grafschaften Bayerns erneut zur Diskussion gestellt sein soll.

An den Beginn der folgenden Überlegungen wollen wir Wilhelm Stürmers Definition vom Grafen der Karolingerzeit stellen. Seiner Meinung nach war dieser „im weitesten Sinne ein Interessensvertreter des Königs innerhalb eines bestimmten Bezirks, der frei-lich fiir uns meist schwer faßbar bleibt."18 Für diesen „schwer faßbaren Bezirk" hat aller-

" Schulze, Grafschaftsverfassung (wie Anm. 5) 163: „Die Quellen ermöglichen im allgemeinen nur die punktuelle Feststellung des Amtsbereiches eines Grafen. Das beruht auf der Eigenart der Überliefe-rung und gestattet nicht den Schluß, die bayrischen Grafschaften seien eben keine geschlossenen und ge-geneinander abgegrenzten Bezirke gewesen."

12 Hans K. S c h u l z e , Grundprobleme der Grafschaftsverfassung. In: Zeitschrift fiir Württember-gische Landesgeschichte 44 (1985) 280.

13 Zur Diskussion Uber alemannische Grafschaftsgrenzen vgl. Borgolte, Grafschaften Alemanniens (wie Anm. 7) 165 und Hans K. S c h u 1 ze, Die Grafschaftsorganisation als Element der frühmittelalter-lichen Staadichkeit. In: Jahrbuch fiir Geschichte des Feudalismus 14 (1990) 41 ff

14 So Holzfurtner, Grafschaft der Andechser (wie Anm. 5) 370; vgl. auch 34 und 308. 15 Vgl. etwa ebda 36, 40f„ 79f., 98, 131, 175, 178, 184, 189, 191 und öfter. Besonders hypothe-

tisch u. a. die Aussage auf 160, wo die Unveränderbarkeit der „administrativen Grenzen" betont wird, ohne beweiskräftige Quellen hierfür vorbringen zu können.

" Ebda 32 f. ' ' Ebda 309: „Es ist gerade das Merkmal der hochmittelalterlichen „neuen" Grafschaft, daß sie keine

festen Grenzen kannte."

18 Wilhelm S t ö r m e r , Früher Adel (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 6, 1973) 94.

MIÖG 111 (2003)

Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 4: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

4 Erwin Kupfer

dings schon Walter Schlesinger im Jahre 1941 eine Deutung vorgelegt, die jedoch weit-gehend unbeachtet blieb und bis dato nur selten konsequent genug weitergedacht wurde. Schlesinger definierte die Grafschaft nämlich als „logisch einen Personenver-band, die sich sachlich über den von diesen Personen angebauten Grund und Boden er-streckt habe und somit ein räumlicher Bezirk sei. Der räumliche Bezirk ist also nicht das Substrat, wohl aber das Korrelat der Grafschaft."1'' Unter dem „Personenverband" ver-stand Schlesinger allerdings die grundbebauenden bzw. untertänigen Bauern, die hin-sichtlich ihrer Abhängigkeit von ihren adeligen Herren für die räumliche Erstreckung ei-ner Grafschaft praktisch ohne Bedeutung waren. Man wird deshalb Schlesingers im Prinzip zutreffende und weiterfuhrende Beobachtung besser im Sinne Weltins zu modi-fizieren haben, wonach „die Grafschaft vielmehr ein Personenverband war, bestehend aus einem Grafen und den Adeligen, die seine Taidingsversammlungen aufsuchten; sachlich erstreckte sich eine solche Grafschaft über den Einflußbereich eben dieses Per-sonenverbandes und ist damit ein räumlicher Bezirk."20

Mithin dürfen wir eines festhalten: Der Grafschaft eignete eine personelle und eine räumliche Komponente. Diese Tatsache läßt sich auch aus den unterschiedlichen Geset-zestexten ersehen, die uns aus dem 8. und 9. Jahrhunden überliefen sind. Der räumli-che Aspekt der Grafschaft erfährt etwa dann seine Betonung, wenn in den Kapitularien von Verbrechern die Rede ist, die von einer Grafschaft in die andere fliehen21. Die per-sönlichen Bindungen an einen bestimmten Grafschaftsverband waren indessen zwangs-läufig in der allgemeinen Dingpflicht radiziert. Der Aufforderung zur Teilnahme an den u n g e b o t e n e n G r a f e n t a i d i n g e n , d e n placita getteralia, placita publica e t c . , d i e se i t d e r G e -

richtsreform Karls des Großen zwei- bis dreimal im Jahr stattfanden, hatte jeder freie und vollberechtigte Angehörige eines Grafschaftsverbandes Folge zu leisten.22 Nicht an-ders war es bei den königlichen Vasallen, die, selbst wenn sie sich in entfernten Gebieten oder am kaiserlichen Hof aufhielten, durch die königlichen missi oder Grafen zum Er-scheinen am heimischen Grafending {ad eorum placita) angehalten werden sollten23. Ganz prinzipiell aber konnte diese gefolgschaftliche Verpflichtung von jedem Mann er-wartet werden, der aufgrund seiner Wehrfähigkeit in einer Grafschaft als dienstpflichtig galt24. Aus all dem Gesagten dürfte wohl eines deuüich werden: Das verfassungsrechtlich entscheidende und konstituierende Element der Grafschaft war das Grafending! Hier beratschlagte man im gemeinsamen Zusammenwirken über rechtliche oder politische Zielsetzungen. Die Rechtsgemeinschaft der Grafschaft rekrutierte sich dabei aus all je-nen Personen, die zur aktiven Mitwirkung am Grafentaiding befugt gleichwie zur Teil-nahme daran verpflichtet waren25. Diese Gemeinschaft bildete mithin einen rechtswirk-

" Walter S c h l e s i n g e r , Die Entstehung der Landesherrschaft ( 3 1964) 180. 20 Weltin, Östliches Baiern (wie Anm. 8) 27. Vgl. auch Wilhelm S t ö r m e r, Bemerkungen zu Graf

und Grafschaft im früh- und hochmittelalterlichen Franken. In: Beiträge zu Kirche, Staat und Geistesle-ben. Festschrift für Günter Christ (1994) 81 f. und 93.

21 M G Cap. 1 , 2 6 c. 24. 22 Zahlreiche Quellenbelege bei Georg W a i t z, Deutsche Verfassungsgeschichte 4 ( 3 1955) 3 6 8 f. m.

Anm. 1 und Heinrich B r u n n e r / C l a u d i u s S c h w e r i n , Deutsche Rechtsgeschichte 2 ( 2 1928) 290 ff. 23 M G Cap. 1, 148 c. 4. 24 Vgl. dazu M G Cap. 1, 25 c. 4 und Schulze, Grafschaftsverfassung (wie Anm. 5) 342 f. sowie M G

LL 1, 4 5 2 c. 2 und 456: . . . ad illa placita omnis homo, qui placitum custodire debet et in illis comitatibus commanet, sine exceptione et excusatione conveniat.

25 Zu dieser Gerichtsgemeinde vgl. auch Störmer, Früher Adel (wie A n m . 18) 2 6 6 f.

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 5: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum 5

samen Personen- oder Gefolgschaftsverband, innerhalb dessen vor allem die maiores

natu, also die politisch und sozial fuhrenden Schichten der Grafschaft, neben dem Gra-fen und seinen richterlichen Beamten eine gewichtige Stellung einnahmen26. Die Summe der Grafschaftsmitglieder bildete also die Grafschaft im Rechtssinne, deren ad-ministrative Mittelpunkte die Taidingsorte waren.

Mit den gräflichen Taidingsorten berühren wir einen wesendichen Punkt, vor allem dann, wenn wir Anhaltspunkte über die räumliche Erstreckung einer Grafschaft gewin-nen wollen. Daß diese administrativen Zentren gleichsam als Indikatoren fiir den un-mittelbaren Amtsbereich eines Grafen begriffen werden können, versteht sich nach dem oben Gesagten von selbst. Gewiß läßt es sich beobachten, daß einzelne Grafen gelegent-lich auch außerhalb ihrer Grafschaft rechtlich aktiv wurden, so etwa im Zuge großer politischer Ereignisse, wie anläßlich der Reichsteilung von Verdun 84327, oder an kirch-lichen Mittelpunkten, wie etwa in Freising oder Regensburg2®. Trotz allem aber kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Grafentaidinge in ihrer überwiegenden Mehr-zahl doch im engeren Amtsbereich der jeweiligen Grafen stattgefunden haben. Sind wir im folgenden versucht, diese zu ermitteln, so gilt es zunächst, einige methodische Miß-verständnisse zu beheben.

Um die Mitte der dreißiger Jahre vertrat Ernst Klebel die Ansicht, daß die Auflas-sungen liegenden Gutes vor Gericht bzw. dem echten Grafending vorgenommen wur-den, wobei „die Zeugenreihen, in welchen ein einziger Graf als erster Zeuge erscheint, als Listen der am Gericht beteiligten Personen, also der Gerichtsvorsitzenden und der Urteilenden, anzusehen seien."29 Gegen diese Annahme spricht jedoch schon der Um-stand, daß wir häufig auch von solchen Liegenschaftsübertragungen Kenntnis besitzen, die ohne erkennbare Zutat eines Grafen erfolgten. Auch fehlt in den von Klebel ange-sprochenen Fällen vielfach der Hinweis auf ein Grafending. Eher schon wird man mit Störmer annehmen, daß „die Anwesenheit eines Grafen bei solchen Schenkungen ... weniger den Grund in Amtsfunktionen als vielmehr in verwandtschaftlichen Beziehun-gen zum Tradenten zu haben scheinen."30 Des weiteren läßt sich aber auch nicht aus-schließen, daß gefolgschaftliche Beziehungen fiir das Grafenzeugnis ausschlaggebend waren. So etwa testierte Graf Liutbald zweimal zugunsten eines gewissen Reginwart, dessen Besitz zu Bockhorn ösdich Erding betreffend31. Hierbei fallt auf, daß der Name Reginwart, sofern er im betreffenden Zeitraum in Gegenwart eines Grafen auftritt, stets im Zusammenhang mit dem Grafen Liutbald begegnet, was darauf schließen läßt, daß er zu dessen Grafschaftsaufgebot gehörte32. Daß aber auch die Spitzenstellung eines ein-zigen an erster Stelle zeugenden Grafen kein wirklich brauchbares Beweismittel fiir des-

26 Zu den maiores natu siehe Waitz, Verfassungsgeschichte 4 (wie Anm. 22) 327 f. m. Anm. 1, ferner Schulze, Grafschaftsverfassung (wie Anm. 5) 344.

27 Vgl. dazu BM2 , Nr. 1103a und Trad. Freising (Die Traditionen des Hochstifts Freising. Q E B G 4 und 5, herausg. Theodor Bitterauf. N D 1967) Nr. 661.

28 Vgl. dazu etwa Trad. Freising, Nr. 184, 186, 268, 293, 386a, 389, 602, 603, 656b bzw. Trad. Re-gensburg (Die Traditionen des Hochstifts Regensburg und des Klosters S. Emmeram. Q E B G 8, herausg. v. Josef Widemann, 1943), Nr. 19, 20, 78.

29 Ernst K l e b e l , Diplomatische Beiträge zur bairischen Gerichtsverfassung. In: Ders., Probleme der bayerischen Verfassungsgeschichte. Gesammelte Aufsätze (Schriftenreihe zur bayerischen Landesge-schichte, 1957) 151.

30 Störmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 397. 31 Trad. Freising, Nr. 461 und 490. 32 Vgl. Trad. Freising, Nr. 235, 507 und 538a.

M1ÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 6: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

6 Erwin Kupfer

sen gräfliche Zuständigkeit abgibt, kann unschwer an folgendem Beispiel ersehen wer-den: Im Jahr 828 übergab der Priester Meio coram Herilanto comite dem Kloster Schäft-larn Besitz zu Berg am Würmsee. Dieser Graf Herilant (828—848) tritt sodann auch als einziger Graf an erster Stelle unter den Zeugen auP3. Acht Jahre später, als Graf Herilant jedenfalls noch im Amt war, schenkte der Priester Adalrich der Freisinger Kirche eben-falls Güter zu Berg am Würmsee. Als Spitzenzeuge und einziger Graf fungiert hier aller-dings Udalschalk34. Solche Beispiele lassen sich unschwer vermehren35. Wichtig bleibt in jedem Fall die Erkenntnis, daß den Zeugenreihen keine gesicherten Anhaltspunkte über die gräflichen Dingorte entnommen werden können. Gleichzeitig damit entfällt aber auch eine ganze Reihe vermeindicher Indizien, die im Bemühen um die räumliche Fest-legung einer Grafschaft häufig dienbar gemacht wurden.

Beabsichtigen wir in dieser Frage dennoch weiterzukommen, so müssen wir uns an die direkten Erwähnungen des großen öffendichen Gerichts halten, das placitum publi-cum, mallum publicum, synodus publicus, concilium comitis etc., das man als das eigent-liche Forum des oder der Grafen erkannt hat36. Hinzuziehen dürfen wir aber auch alle jene Belege, die uns in ihrem Wortlaut ganz eindeutig über einen gräflichen Rechtsakt informieren, wenngleich sie uns auch Begriffe, wie pLuitum, mallum etc., vorenthal-ten37, und selbstverständlich die vereinzelten in comitatu bzw. in ministerio N.N. comitis-Nennungen38. Damit ist im wesendichen auch schon all jenes Material erfaßt, aus dem alleine sich aussagekräftige Schlußfolgerungen über den räumlichen Aspekt einer Graf-schaft gewinnen lassen. Mit der bloßen Erwähnung des Grafengerichts ist allerdings auch noch nicht viel getan. So werden uns in einigen Fällen die Taidingsorte verschwie-gen, während anderswo der handlungsführende Graf keine Erwähnung findet39. Des weiteren fanden auch eine ganze Reihe von Rechtsstreitigkeiten vor mehreren Grafen in einem Ding statt, womit ebenfalls keine sichere Zuordnung solcher Versammlungs-plätze zu einem bestimmten Grafen bzw. Grafschaft möglich ist40. Fassen wir die ent-scheidenden Auswahlkriterien ins Auge, so haben wir nach Belegen Ausschau zu halten, die 1. einen direkten Hinweis auf ein Grafentaiding enthalten, 2. den Taidingsort nen-nen und 3. einen einzigen handlungsfuhrenden Grafen erwähnen. Suchen wir im bayri-schen Raum nach geeignetem Quellenmaterial, das unter diesen Auswahlkriterien noch eine brauchbare Arbeitsdichte zu liefern imstande wäre, so zeigt sich sehr bald, daß die einzig die Freisinger Traditionen diesen Ansprüchen Genüge tragen können, wenn auch vornehmlich nur fur die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts. Hier lassen sich 20 Belege aus-findig machen, mit deren Hilfe wir 13 verschiedene Taidingsorte im Freisinger Raum

" Trad. Freising, Nr. 567. M Trad. Freising, Nr. 618. 35 Bezüglich Huppenberg, Aßling, Berbling, Buch am Buchrain, Albaching, Oberstrogn,

Kinzlbach, Vorder- bzw. Hinteregglburg, Groß- bzw. Kleininzemoos, Marzling und Allershausen vgl. Trad. Freising, Nr. 290 und 339; 195 und 473; 193ab und 368; 288 und 298; 398ab und 602; 346 und 443; 397a und 397b; 361 und 694; 357 und 697a; 404 und 678; 318b und 547c.

36 Vgl. Störmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 397. 1 So etwa Trad. Freising, Nr. 245, 345 oder 401a. Zum letzteren auch Störmer, Früher Adel (wie

Anm. 18) 400 f. 38 So etwa Trad. Freising, Nr. 484 oder 746. 39 Vgl. beispielsweise Trad. Freising, Nr. 402 und 733. w Vgl. dazu Störmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 402 und Josef S t u r m , Die Anlange des Hauses

Preysing (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 8, 1931) 197 sowie beispielsweise Trad. Frei-sing, Nr. 251, 327, 463, 475, 507.

MIÖC 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 7: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaitsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum 7

identifizieren können. Ergänzend dazu können noch zwei in cowi/'/a/w-Nennungen bei-gebracht werden (vgl. dazu die Aufstellungen in den Tabellen 1 und la):

Tabelle 1:

Jahr Ort Taidingsbezeichnung Anwesender Graf Trad. Freising, Nr.

802 Freising placitum Reginhart 184 804 Aibling mallum publicum Erchanbald 193 804 Steinkirchen mallum publicum Kundhan 195 806/10 Frauenvils - Job 245 807/8 Freising

Hinterholzhausen placitum publicum Mezzi 268b

809 Freising Hinterholzhausen placitum publicum Heribert 288

809 Freising synodus publicus Liutbald 293 815 Eching synodus Liutbald 339 815 Grüntegernbach - Job 345 816 öxing placitum Otendil 364 817 Freising synodus publicus Liutbald 386a 817 Freising placitum, synodus,

concilium Heriben 389

818 Pfettrach (n. Moosburg)

— Liutbald 401a

818 Allershausen placitum publicum Kisalhan 401c 825 Lappach

Eching placitum publicum Heimo 514

827 Lappach Eching placitum, synodus Udalschalk gemeinsam

mit Ellanben iudex, der jedoch seit 815 als Graf bezeugt ist

543

828 Eching Haimhausen

synodus publicus Anzo 561 829

Eching Haimhausen concilium Liutbald 585a

830 Freising synodus publicus Herilant 602 848 Vierkirchen placitum publicum,

concilium Ratolt 697a

Tabelle la:

Jahr Ort Lage des Ortes Trad. Freising, Nr.

823 Vierkirchen in ministerio Liutpaldi comitis 484 855 Kienoden in comitatu Ratolti comitis 746

Tragen wir die ermittelten örtlichkeiten auf einer Karte ein, so lassen sich auf diese Weise überraschend deudiche Einblicke über die räumliche Verteilung einiger Graf-schaften in der Freisinger Diözese gewinnen (vgl. zum folgenden Karte 1). Auffallend ist zunächst, daß uns in Freising und Eching mehrere Taidinge unter dem Vorsitz von ver-schiedenen Grafen bezeugt sind, was aber nicht weiter zu verwundern braucht. Freising und Eching waren die administrativen Zentren der Freisinger Kirche in dieser Gegend. Die hier abgehaltenen Grafentaidinge erfolgten regelmäßig im Beisein des Freisinger Di-özesans und brachten in erster Linie auch freisingische Angelegenheiten zur Sprache. In-sofern besitzen wir guten Grund zu der Annahme, daß der Freisinger Bischof die Aus-wahl dieser Dingorte veranlaßte41. Ahnliches dürfte aber auch fiir die 818 abgehaltene

41 Bemerkenswert erscheint auch das Faktum, daß der Begriff synodus bzw. synodus publicus nur bei den Taidingen zu Freising und Eching zur Anwendung gelangt; vgl. Tabelle 1.

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 8: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

8 Erwin Kupfer

G r a f s c h a f t s s t r u k t u r e n i m F r e i s i n g e r R a u m

u m d ie 1. H ä l f t e des 9 . J a h r h u n d e r t s

a = Taidingsort, Λ = vermutlicher Taidingsort, Α = l n comitatu-Nennung u. dgl.

Ki. = Gf. Kisalhart (818-827) Ku. « Gf. Kundhart (788/91-807/15) L. = Gf. Liutbald (806/8-842) M. = Gf. Mezzi (807/8-814) O. = Gf. Ordendil (806-824) Rt. = Gf. Ratolt (837-855) Rg. = Gf. Reginhard (799-828) U. = Gf. Udalschalk (816-849)

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 9: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum 9

Gerichtsverhandlung an der Ptettrach gelten, die unter der Leitung von Bischof Hitto und Graf Liutbald vonstatten ging42. Dieser Landstrich liegt deudich außerhalb von Liutbalds Grafschaft. Andererseits war die Freisinger Kirche in dieser Gegend gut be-tucht43, was ebenfalls die Ortsauswahl durch den Freisinger Bischof vermuten läßt. Für die räumliche Fesdegung von Grafschaften liefern diese Versammlungsplätze freilich keine brauchbaren Anhaltspunkte, da sie sich einer näheren Zuordnung zu einem be-stimmten Komitat entziehen.

Entgegen diesem vorläufig negativen Befund gelingt es in den übrigen Fällen aber recht gut, mit Hilfe der Taidingsorte den räumlichen Einzugsbereich einzelner Graf-schaften zu erschließen. So etwa läßt unsere Karte erkennen, daß der Komitat der Gra-fen Liutbald und Ratolt etwa im Bereich zwischen Amper und Glonn lag44, wobei be-merkt werden muß, daß Ratolt der Nachfolger Liutbalds war45. Als gräfliche Dingorte

42 Zu dieser Gerichtsversammlung siehe Stürmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 400 ff. 43 Vgl. die zahlreich ausgewiesenen Belege in Trad. Freising, Namenregister 629. 44 Wilhelm S t ö r m e r, Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern (Studien zur baye-

rischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 4, 1972) l65f. hält den Grafen Ratolt für identisch mit dem gleichnamigen nobitis wrvon 839, der im Münchener Raum begütert war (Trad. Freising, Nr. 634), und folgert daraus, daß die Grafschaft Ratolts im Osten bis an die Isar gereicht hätte. Gegen die Annahme der personellen Identität Ratolts wendet sich allerdings Günther F l o h r s c h ü t z , Der Adel des Ebersbeiger Raumes im Hochmittelalter (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 88, 1989) 99f.

45 So bereits Ernst Klebe l , Diplomatische Beiträge zur bairischen Gerichtsverfassung. In: AZ 44 (1936) 226. Diese Amtsnachfblge wird vor allem durch Ratolts Grafending zu Vierkirchen im Jahr 848 deutlich, also an jenem Ort, der 823 noch der Grafschaft Liutbalds zugerechnet wird; Trad. Freising, Nr. 484 und 697a. Im übrigen sei aber auch auf die Teilnehmer dieses Taidings hingewiesen, deren Na-men mehrfach in der Umgebung des Grafen Liutbald begegnen, was als Indiz dafür gelten kann, daß Ratolt die .Mannschaft" Liutbalds übernommen hat; vgl. die Zeugen des Vierkirchener Grafendings mit folgenden Belegen in Trad. Freising: Pilgrim - Nr. 320, 381,401c, 475, 507, 547c, 575, 579,603, 609, 626a, 653; Odolt - Nr. 339, 357, 483, 507, 515, 530, 538a, 539, 574a, 575, 579, 598, 609, 626a, 653; Wichelm - Nr. 397a, 402, 475, 490, 538a, 574a, 626a; Rcginbert (ab 825) - Nr. 515, 547c, 574a, 575, 579, 585a, 609, 626a, 653; Paldachar - Nr. 314, 434c, 455, 461, 475, 574a, 585a; Reginhart - Nr. 251a, 320, 327, 475, 483, 538a, 547c; Engilrich - Nr. 236, 373a, 377, 386a, 402, 461, 538a, 574a, 575, 585a, 609, 626a; Alprich - Nn 377, 405, 434c, 483, 507, 538a, 574a, 579, 585a; Jakob - Nr. 235, 507, 579, 585a, 603; Isanbert - Nr. 357,381, 404, 507, 538a, 585a; Sigibald -Nr. 461, 515, 547c, 574a, 579, 609, 626a; Adalhart - Nr. 235, 236, 320, 401c, 538a, 539, 547c, 574a, 575, 598, 609, 626a; Herbert - Nr. 235, 314, 386a, 434c, 475, 574a, 575, 603, 609, 626a; En-gelhart - Nr. 455, 475, 483, 579, 585a; Engelbert - Nr. 339, 373a, 405, 475, 507, 579, 585a. Bemer-kenswert erscheint überdies, daß die Nachfolge im Grafenamt zuweilen noch vor dem Tod der jeweili-gen Amtsinhaber geregelt werden konnte. Vielleicht waren hohes Alter oder Krankheit dafür verant-wortlich, daß manche Grafen den Strapazen ihrer Aufgabe nicht mehr vollständig gewachsen waren, weswegen eine Unterstützung notwendig wurde. Derartiges scheint auf den Grafen Liutbald und sei-nen Nachfolger Ratolt zuzutreffen. Ob Liutbald im Jahre 842 noch am Leben war, bleibt fraglich; vgl. Trad. Freising, Nr. 653 und 654. Mit Sicherheit begegnet er letztmalig im Jahr 837 beim Placitum zu Ainhofen, wo er zusammen mit dem comes Ratolt auftritt; Trad. Freising, Nr. 626a. Seit spätestens die-ser Zeit dürften die beiden Grafen den Komitat zwischen Amper und Glonn gemeinsam verwaltet ha-ben, zumal von Ratolt keine weiteren Amtshandlungen bezeugt sind, die ihn als Inhaber einer weiteren Grafschaft wahrscheinlich werden ließen. Ähnlich wie bei Liutbald und Ratolt dürfte sich die Sache in der Grafschaft Kundharts und Orendils um Ebersberg/Aßling verhalten. Die letzte Erwähnung des co-mes Kundhart geschieht im Jahre 807, vor 815 muß er gestorben sein; Trad. Freising, Nr. 251b und 349. Dagegen wird Orendil bereits im Jahr 806 erstmals als Graf faßbar (Trad. Freising, Nr. 229), wes-wegen auch hier seit spätestens dieser Zeit eine gemeinsame Amtsführung angenommen werden darf. Daß den beiden die Führung ein und derselben Grafschaft oblag, legt selbstverständlich die räumliche Verteilung der Taidingsorte nahe, liegt Kundharts Dingstätte Steinkirchen praktisch doch inmitten von

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 10: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

10 Erwin Kupfer

treten in dieser Grafschaft Haimhausen und Vierkirchen hervor, wobei der letztge-nannte Ort im Jahre 823 zudem noch in ministerio Liutbaldi lokalisiert wird46. Daraus ergibt sich, daß die gräflichen Taidingsorte tatsächlich als Indikatoren für das unmittel-bare Amtsgebiet von Grafen begriffen werden können. Eine weitere Bestätigung erhal-ten wir auch im Falle des Ortes Kienoden. Dieser lag nach urkundlicher Auskunft im Jahre 855 im Komitat des Grafen Ratolt und zugleich auch im engeren Einzugsbereich der beiden bereits erwähnten Dingorte47.

Ahnlich liegen die Verhältnisse auch in der Grafschaft des Grafen Kundhart und sei-nes Nachfolgers Orendil48, als deren Einzugsbereich die Gegend um Ebersberg und Aß-ling anzusehen ist. Der Kernbereich dieser Grafschaft kann durch die Taidingsorte Steinkirchen und Öxing erschlossen werden49, was sich mit Hilfe weiterer Quellen zu-sätzlich untermauern läßt. So etwa erfahren wir von einer Schenkung des Grafen Oren-dil im Jahre 814, der dabei seinen Besitz zu Schammach (südlich Ebersberg) an die Frei-singer Kirche tradierte50. Dies geschah unter dem Vorbehalt, st autem aliquis defiliis meis

dignus fuerit, ut ad ministerium comitis pervenerit, hoc volo atque corutituo, ut iam dictum

rem cum consilio episcopi in beneficitim accipiat, woraus entnommen werden kann, daß der gräfliche Besitz zu Schammach in Orendils Grafschaft lag51. Nähere Beachtung ver-dient zudem noch ein Diplom König Arnulfs vom Jahre 888, worin die Kapelle zu Lo-renzenberg bei Aßling in comitatu Orendilonis lokalisiert wird52. Der Name des Graf-schaftsinhabers wie auch die Lage des Schenkungsgutes weisen unmißverständlich auf einen unmittelbaren Nachkommen des „alten" Grafen Orendil hin, als dessen letztes Le-benszeugnis wohl eine Freisinger Traditionsnotiz vom Jahre 824 anzusehen ist53. Einmal mehr wird auch hier der Zusammenhang zwischen den gräflichen Taidingsorten und den in iwwiiarw-Nennungen deutlich.

Im Norden dieser Grafschaft ist dann der Komitat des Grafen Job und seines Nach-folgers Heimo zu lokalisieren54. Unter Job werden in der Zeit zwischen 806 und 815 die Taidingsorte Frauenvils und Grüntegernbach faßbar, während Heimo 825 den Vorsitz im Placitum zu Lappach führte55. Als weiterer Taidingsort kommt überdies noch Isen in Betracht. Hier wird Job erstmals 792 greifbar56, und im Jahr 815 bezeugt er dort ge-meinsam mit seinem centenarius Liutprant und dem iudex Rumolt eine Schenkung des

Orendils späterer Grafschaft; vgl. Trad. Freising, Nr. 195, 313 und 364 sowie DA. 5. Zum Amtsbe-reich dieser beiden Grafen siehe auch Störmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 61 und Franz Ty r ο 11 e r, Die Grafschaften des Isengaues. In: Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte 80 (1955) 57.

46 Trad. Freising, Nr. 484, 585a und 697a. 47 Trad. Freising, Nr. 746. 48 Zur Amtsnachfolge siehe Anm. 45. 49 Trad. Freising, Nr. 195 und 364. 50 Trad. Freising, Nr. 313. 51 Vgl. auch Flohrschütz, Adel (wie Anm. 44) 412. 52 DA. 5. Lokalisierung nach Störmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 4 l3 f . 53 Trad. Freising, Nr. 507. Zur Orendil-Familie siehe auch Tyroller, Grafschaften Isengau (wie

Anm. 45) 55 ff. sowie Störmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 458. 54 Gut möglich, daß Job sein hiesiges Grafenamt in Nachfolge des mit ihm verwandten comes Sel-

prat ausübte, der zwischen 765 und 788 in den Freisinger Traditionen begegnet; vgl. Trad. Freising, Nr. 23, 48, 109a und 135 und Sturm, Preysing (wie Anm. 40) 196.

" Trad. Freising, Nr. 245, 345 und 514. 56 Trad. Freising, Nr. 151.

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 11: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaitsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum 11

Priesters Waninc zugunsten der Freisinger Kirche57. In Anbetracht der Anwesenheit der dabei genannten Rechtspersonen liegt die Vermutung nahe, daß diese Handlung im Rahmen eines Taidings stattfand. Daß man den Komitat Jobs und Heimos auch gegen Ende des 9. Jahrhunderts noch als eine Einheit begriff, läßt eine Urkunde Kaiser Arnulfs von 896 deudich werden, nach deren Aussage Kaging (südlich Isen) und Wörth (südlich Erding) in comitatu Regingarii lagen58.

Singular bleiben dagegen die topographischen Anhaltspunkte von den übrigen Grafschaften im Freisinger Raum. Diesen Zeugnissen zufolge hätten wir den Komitat des Grafen Kisalhart im Gebiet um Allershausen zu suchen59, wogegen Hinterholzhau-sen zum Amtsbereich des Grafen Heribert zählte60, dessen Grafschaft somit im Norden an jene der Grafen Job und Heimo anschloß. Ganz im Süden, im Bereich der Mangfäll, wäre dann noch die Grafschaft des Grafen Erchenbaid zu lokalisieren. Von ihm wissen wir, daß er im Jahre 804 das Taiding zu Aibling führte61.

Welche Erkenntnisse konnten wir bisher gewinnen? Zunächst einmal ließ sich er-kennen, daß die Taidingsorte Anhaltspunkte über die räumliche Erstreckung einzelner Grafschaften liefern. Die in <ww/Mft*-Nennungen bringen eine Bestätigung dieser An-nahme. Des weiteren gelang es auch ohne größere Mühe, die jeweiligen Grafschaften räumlich auseinanderzuhalten. Topographische Überschneidungen der einzelnen Amts-bereiche lassen sich in keinem einzigen Fall beobachten (vgl. Karte 1). Die räumliche Er-streckung der Grafschaften deckt sich also im wesentlichen mit dem Einzugsbereich der Dingorte! Das aber bedeutet zugleich, daß man von jeder Grafschaft eine mehr oder we-niger bestimmte Vorstellung über deren räumliche Ausdehnung besaß. Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß dieses Ergebnis im wesentlichen doch der klassischen Auffassung von den Grafschaftsbezirken entspräche. Können die karolingischen Graf-schaften mithin aber auch als exakt begrenzte Amtsbezirke begriffen werden? Beabsich-tigen wir in dieser Frage weiterzukommen, so müssen wir nach gräflichen Gerichtspro-tokollen Ausschau halten, in denen ein einziger Graf mit rechtskräftiger Wirkung einen bestimmten Streitfall entschied62. Dabei gilt es zu überprüfen, wo die strittigen Objekte lagen und inwieweit sie mit dem unmittelbaren Amtsbereich eines Grafen korrelierten. Waren die karolingischen Grafschaften tatsächlich fest umgrenzte Amtssprengel, so müßte in jedem Fall ein räumlicher Zusammenhang zwischen den Streitobjekten und dem unmittelbaren Amtsgebiet des zuständigen Grafen gegeben sein. Für diesen Ver-gleich können 12 Belege aus den Freisinger Traditionen herangezogen werden (dazu Ta-belle 2, S. 12):

57 Trad. Freising, Nr. 346. 5,1 DA. 144. w Trad. Freising, Nr. 401c. 60 Trad. Freising, Nr. 288. 61 Trad. Freising, Nr. 193. Vgl. auch Klebel, Beiträge (wie Anm. 45) 225. 62 Dem bloßen Grafenzeugnis, etwa anläßlich einer Schenkung, Besitzbestätigung, Verleihung usw.,

kann hierfür keine ausreichende Beweiskraft zugebilligt werden, auch wenn solche Handlungen gele-gendich vor einem placitum oder zumindest im erweiterten Rahmen solcher Versammlungen vorgenom-men wurden; vgl. dazu etwa Trad. Freising, Nr. 288-291, weiters 23 und 543 sowie Stürmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 397 und unsere Ausfiihrungen oben.

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 12: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

12 Erwin Kupfer

Tabelle 2:

Jahr Zuständiger Graf Rechtsgegenstand Geklagte Partei(en) Trad. Freising, Nr.

802 Reginhart Besitz zu Scharnitz, Flaurling, Polling, Schlehdorf, Hofheim, Sindelsdorf, Gräfelfing, Pasing, Schöngeising.

Lantfried homo 184

804 Erchanbald Kirchen zu Willing, Mitraching, Berbling, Tettenhausen, Högling und Perch

Bischof Atto von Freising bzw. Abt Liutfried von Chiemsee

193

806/8 Liutbald Kirche zu Biberbach viris qui vocantur Mohingara

235

806/11 Job Hof zu Rott am Inn Herirach und Pertwig

245

806/11 Job Besitz zu Frauenvils und Elsenbach

Salomon 247

809 Heribert Kirche zu Buch am Buchrain

Sicco und Richolf 288

815 Job Besitz zu Isen und Frauenvils

Jakob und Simon prebiteri

345

818 Liutbald Kirche zu Pach Waldker homo 401b 822 Orendil Besitz zu Aßling Ruodhoch nobilis vir 473 Besitz zu Aßling

bzw. freisingische homines

825 Heimo Salomon presbiter St. Zeno/Isen 514 829 Liutbald Besitz zu Sulzrain Odalbald homo 585a 848 Ratolt Besitz zu Glonn und Undeo nobilis vir 697a

Inzemoos bzw. Eichhofen diaconus

Wir können nun darangehen, die hier betreffenden örtlichkeiten mit den oben er-mittelten Grafschaftsräumen zu kontrastieren (vgl. dazu Karte 2). Dabei gelangen wir in mehrfacher Hinsicht zu überraschenden Ergebnissen, bei denen es vorerst einen Um-stand ganz besonders zu betonen gilt: Der Graf verfugt mit rechtskräftiger Wirkung zu-weilen auch über solche Liegenschaften, die räumlich gesehen d e u t l i c h a u ß e r h a l b der von ihm verwalteten Grafschaft liegen! Angesichts der Tatsache, daß dieses Faktum in 4 von 12, also einem Drittel der Fälle zum Ausdruck gelangt, wird man hier kaum von .Ausnahmen" sprechen können. Das bedeutet aber zugleich, daß der gräfliche Wir-kungsbereich nicht als „exakt abgegrenzter territorialer Zuständigkeitsbezirk" begriffen werden kann63, denn in diesem Falle hätte die jurisdiktionelle Kompetenz des Grafen ausschließlich auf diesen Raum beschränkt bleiben müssen! Daß dem aber nicht so war, gibt unsere Karte unmißverständlich zu verstehen. Die Vorstellung von der karolingi-schen Grafschaft als exakt begrenzter Amtsbezirk ist demnach zurückzuweisen. Dennoch bedeutet das nicht, daß die räumliche Komponente der Grafschaft ohne jegliche Bedeu-tung für die Rechtsgewalt eines Grafen gewesen wäre. Vielmehr legt die Auswertung des hier betreffenden Quellenmaterials eine wesentlich differenziertere Auffassung nahe.

63 Dahingehende Vorstellungen bei Holzfurtner, Grafschaft der Andechser (wie Anm. 5) 308 und 370.

M1ÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 13: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum 13

Führen wir uns die einzelnen Sachverhalte näher vor Augen, so fallt auf, daß die Grafen ausschließlich bei Liegenschaftsprozessen über den Adel außerhalb ihres unmit-telbaren Herrschaftsbereiches rechtlich aktiv wurden. So etwa entschied Graf Heribert 809 im Gericht zu Hinterholzhausen einen Besitzstreit gegen Sicco und Richolf um die Kirche zu Buch am Buchrain, die geographisch gesehen eindeutig in der Grafschaft Jobs (792-819) zum Liegen kommt64. In einem anderen Fall begaben sich Herirach und Pertwig im Jahre 806/10 vor Graf Job ihrer Ansprüche auf einen Hof zu Ron am Inn, der jedoch im Komitat der Grafen Kundhan (788/91-807/15) und Orendil (806-824) lag65. Graf Liutbald wiederum entschied im Jahre 818 gegen den homo Waldker einen Prozeß um die Kirche zu Pach, die, egal ob man darunter Langenbach bei Freising oder Laimbach bei Allershausen zu verstehen hat, dem Amtsbereich des Grafen Kisalhart (818—827) zugeordnet werden darf, nicht aber der Grafschaft Liutbalds66. Besonders be-merkenswert präsentiert sich die gräfliche Amtsgewalt bei Graf Reginhart, als dieser im Jahre 802 zusammen mit den beiden kaiserlichen misst, Erzbischof Arn von Salzburg und dessen Gobischof Adalwin, die Ansprüche des homo Lantfried auf die Besitzungen des Klosters Schlehdorf zurückwies67. Die Güter, um die es ging, erstreckten sich vom Münchener Raum bis in das Tiroler Inntal um Telfs, wobei nicht angenommen werden kann, daß Reginharts Grafschaft eine derartige Erstreckung gehabt hätte68. Zuguterletzt verdient aber auch noch der Bericht über das Placitum von Oberföhring im Jahre 822 Beachtung. Hier begab sich ein gewisser Adaluni in Gegenwart der Grafen Liutbald und Kisalhart seiner Ansprüche auf die Kirche zu Hinterholzhausen69, die jedoch im Komitat des Grafen Heribert (807-836) lag70. Bei all diesen gerichtlich belangten Personen han-delte es sich um adelige Herrschaftsträger und als solche um Angehörige eines ganz be-stimmten Grafschaftsverbandes, die ihre Anliegen dementsprechend auch vor dem fiir sie zuständigen Grafen zu vertreten hatten. Die gräfliche Amtsgewalt war dabei nicht räumlich beschränkt. Vielmehr erstreckte sich diese über den gesamten Einflußbereich der adeligen Gefolgsleute, womit auch die Gerichtsbefugnisse des Grafen außerhalb sei-nes unmittelbaren Amtsbereiches erklärbar werden7'. Das aber bedeutet zugleich: So weit der Graf seine Macht über seine Gefolgsleute ausdehnen konnte, so weit reichte auch sein Amtsbereich72.

64 Trad. Freising, Nr. 288. 65 Trad. Freising, Nr. 245. 66 Vgl. hierzu Trad. Freising, Nr. 401a mit Vorbemerkung und Stürmer, Früher Adel (wie Anm. 18)

400 m. Anm. 47. 67 Trad. Freising, Nr. 184. Dazu auch Stürmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 399. 68 Aber auch die Annahme, daß Reginhart damals mehrere Komi täte verwaltet haben könnte, wirkt

für diese Zeit nur wenig wahrscheinlich, da Karl der Große normalerweise jedem Grafen nur eine Graf-schaft anvertraut hatte; dazu Schulze, Grafschaftsverfassung (wie Anm. 5) 118 und 326f. mit Quellen-belegen.

69 Trad. Freising, Nr. 466. Zwar tritt der missus dominion Kisalhart hier nur als handlungsführender Richter in Erscheinung, doch ist seine Stellung als Graf seit dem Jahre 818 bezeugt; Trad. Freising, Nr. 402. Vgl. auch Trad. Freising, Nr. 397c, wo Kisalhart als comes et iudex begegnet.

70 Trad. Freising, Nr. 288. 71 Dazu Weltin, ösdiches Baiern (wie Anm. 8) 27. 72 Vgl. dazu auch Max We 11 i η, Die „tres comitatus" Ottos von Freising und die Grafschaften der

Mark Österreich. In: MIÖG 84 (1976) 42ff„ Ders . , Der Begriff des Landes bei Otto Brunner und seine Rezeption durch die verfässungsgeschichtliche Forschung. In: ZRG GA 107 (1990) bes. 371 ff. und zu-sammenfassend Ders . , Landesfurst und Adel - Österreichs Werden. In: Heinz Dopsch, Karl Brunner

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 14: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

14 Erwin Kupfer

Wonach aber, wird man nun fragen, richtete sich die juridische Zuständigkeit des Grafen über solche Personen, die außerhalb seines Gefolgschaftsverbandes standen, wie etwa Geisdiche? Vergleichen wir in diesem Zusammenhang die Kartenbeilage (Kane 2) mit den Angaben in Tabelle 2, so zeigt sich, daß die Liegenschaftsprozesse über geisdi-ches Gut stets vor jenem Grafen ausgetragen wurden, in dessen unmittelbarem Amtsbe-reich das strittige Gut lag. So etwa schlichtete Graf Erchanbald im Gericht zu Aibling den Streit zwischen dem Freisinger Bischof Atto und Abt Liutfried von Chiemsee. Den Gegenstand dieser Klage bildeten fünf Kirchen rund um Aibling, die in Erchanbalds Grafschaft lagen73. Das Gleiche läßt sich bei Graf Job beobachten, als er in Grüntegern-bach die Besitzansprüche der Priester Jakob und Simon zu Frauenvils und Isen regelte74. Beide Liegenschaften befanden sich in seinem unmittelbaren Amtsbereich. Ähnlich ist es auch bei Graf Heimo, der im Placitum von Lappach über die persönliche Freiheit des Priesters Salomon zu St. Zeno/Isen entschied75, und bei Graf Ratolt, vor dessen Taiding zu Vierkirchen der Edle Diakon Undeo zu einem Ausgleich mit der Freisinger Kirche fand. Die Güter, um die es hier ging, lagen in Eichhofen, Inzemoos und Glonn und da-mit zur Gänze in Ratolts Komitat76. Wir sehen, daß in all diesen Fällen eine Überein-stimmung zwischen Grafschaftsraum und gräflicher Amtsgewalt gegeben ist. Die recht-liche Zuständigkeit des Grafen war hier offenbar durch das geographische Moment be-stimmt.

Die gefolgschaftliche Zugehörigkeit der Vögte, die die geistlichen Parteien bei sol-chen Prozessen zu vertreten hatten, scheint bei der Auswahl der handlungsfiihrenden Grafen keine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Herausgegriffen sei in diesem Zu-sammenhang folgendes Beispiel: In der Zeit zwischen 815 und 819 begegnet uns mehr-fach ein Vogt der Freisinger Kirche namens Sigibert, der die Anliegen des Bischofs Hitto in verschiedenen Gerichten vertrat, so vor den Grafen Job und Orendil77. An anderer Stelle wird er zusammen mit einem gewissen Liutprant in Gegenwart des Grafen Job als bischöflicher defensor greifbar78. Ahnlich wie Sigibert war auch Liutprant als Freisinger Vogt vor anderen Grafengerichten tätig79. Einem Vergleich von verschiedenen Urkun-den zufolge dürften die beiden Vögte Sigibert und Liutprant höchstwahrscheinlich mit den beiden gleichnamigen centenarii des Grafen Job identisch sein, was freilich auch de-ren Zugehörigkeit zu dessen Grafschaftsverband η ahelegt80. Das änderte aber nichts daran, daß sie in ihrer Eigenschaft als freisingische Vögte zuweilen auch andere Grafen-gerichte aufzusuchen hatten.

Die juridische Zuständigkeit des Grafen dürfte indessen nicht nur bei den Geistli-chen durch das geographische Moment bestimmt gewesen sein. Vorausgesetzt, daß es sich nicht um den Angehörigen eines gräflichen Gefolgschaftsverbandes handelte,

und Maximilian Weltin, Die Länder und das Reich, österreichische Geschichte 1122-1278. (Wien 1999) 237 ff.

3 Trad. Freising, Nr. 193. Dazu auch Stürmer, Früher Adel (wie Anm. 18) 398 f. 74 Trad. Freising, Nr. 345. 75 Trad. Freising, Nr. 514. 6 Trad. Freising, Nr. 697a.

77 Trad. Freising, Nr. 345 und 364. 78 Trad. Freising, Nr. 400b. ' ' So etwa begegnet Liutprant 807 beim Placitum der Grafen Amalrich und Orendil; Trad. Freising,

Nr. 258. 80 Vgl. dazu Trad. Freising, Nr. 299, 345, 346, 353, 398a, 398b, 400b.

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 15: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum 15

Grafschaftsstrukturen im Freisinger Raum um die 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts

Abkürzungserklärung: A. = Gf. Anzo (828)' E. = Gf. Erchanbald (802-804) Hm. = Gf. Heimo (825) Hb. = Gf. Heribert (807-826) Hi. = Gf. Herilant (828-848) J. = Gf.Job (792-819) Ki. = Gf. Kisalhart (818-827) Ku. = Gf. Kundhart (788/91-807/15) L. = Gf. l.iutbald (806/8-842) M. = Gf. Mezzi (807/8-814) O. = Gf. Ordendil (806—824) Rt. = Gf. Ratolt (837-855) Rg. = Gf. Reginhard (799-828) U. = Gf. Udalschalk (816-849)

a = T a i d i n g s o r t , A = vermutl icher Taidingsort, • = In c o m i t a t u - N e n n u n g u. dgl. <6 = Rechtsgegenstand einer gräflichen Hand lung , ο = diverse O r t e

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 16: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

16 Erwin Kupfer

mochte wohl jeder Angeklagte nach diesem Prinzip seinen Urteilsspruch erfahren, so auch Frauen, Kinder oder soziale Randgruppen, wie etwa Vagabunden oder Räuber. In diesem Zusammenhang sei an den oben erwähnten Gesetzestext Karls des Großen erin-nert, wo von Räubern und Übeltätern die Rede ist, die von einer Grafschaft in die an-dere fliehen (de una comitatu adalium confugium fecerint)81. Daß unter dem Begriff co-mitatus in diesem Fall nicht der personelle Grafschaftsverband gemeint sein kann, ver-steht sich von selbst. Damit bestätigt sich unsere Auffassung, daß die juridische Zustän-digkeit des Grafen über „Außenstehende" an den Grafschaftsraum bzw. den unmittelba-ren Amtsbereich gebunden war. In ähnlicher Weise waren auch später noch die hochge-richtlichen Kompetenzen im babenbergischen Österreich festgelegt. So etwa erhält ein Göttweiger Privileg vom Jahre 1195 den Hinweis, daß ein überfiiihrter Räuber adproxi-mum locum, quo malefactores plectuntur auszuliefern sei, also an jene Dingstätte, die am leichtesten zu erreichen war82.

Läßt sich die räumliche Erstreckung der karolingischen Grafschaften im wesendi-chen mit dem Einzugsbereich der Dingorte gleichsetzen, so konnten besondere natur-räumliche Gegebenheiten, wie Berge, Flüsse, Sümpfe oder Wälder, für eine natürliche Begrenzung dieses Einzugsbereichs sorgen83. Waren zwei Grafschaften auf diese Weise eindeutig voneinander getrennt, so mochte es in solchen Gebieten manchmal zur Vor-stellung einer Grafschaftsgrenze kommen. Ein bemerkenswertes Beispiel fiir einen der-artigen Fall läßt sich aus einem Diplom Ludwigs des Deutschen vom Jahr 844 bei-bringen84. Es betrifft die Bucklige Welt und berichtet von einem Dorf ad Brunnaron nahe dem Zöbingbach, das nach damaliger Ansicht in marca, ubi Ratpoti et Rihhari comitatus confiniunt gelegen war. Dies ist zugleich auch der einzige karolingerzeitliche Beleg aus dem bayrisch-österreichischen Raum, der explizit von einer räumlichen Dif-ferenzierung zweier Grafschaften zu berichten weiß. Leider ist der locus ad Brunnaron nicht näher lokalisierbar8'', womit uns weitere geographische Anhaltspunkte vorenthal-ten bleiben. Als einzig gesichert kann nur gelten, daß die beiden gräflichen Einflußbe-reiche in der Buckligen Welt zusammentrafen. Fraglich ist allerdings, ob man zu die-ser Zeit bereits eine festgelegte Grafschaftsgrenze vor Augen hatte. Immerhin fällt auf, daß das Ludwicianum nicht ausdrücklich von einer Grafschaftsgrenze, etwa im Sinne der certi limites der späteren Ungarnmark, spricht86. Die Rede ist nur von einer marca, also einem Grenzgebiet, unter dem die Berglandschaft der Buckligen Welt zu verste-hen ist87. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zudem noch der Umstand, daß der locus ad Brunnaron keiner bestimmten Grafschaft zugeordnet wurde, was bei der allfäliigen Existenz einer linearen Grafschaftsgrenze doch zu erwarten wäre.

81 MG Cap. 1, 26 c. 24. 82 BUB 1, Nr. 91. Zur Interpretation Max W e 11 i n, Zur Entstehung der niederösterreichischen

Landgerichte. In: JbLKNÖ 42 (1976) 294. 83 Vgl. dazu Nonn, Pagus (wie Anm. 9) 209 ff. 84 DLD. 38. Dazu auch Erwin Κ u ρ fe r, Das Königsgut im mittelalterlichen Niederösterreich (Stu-

dien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 28, 2000) 66f. 85 Ob Lebenbrunn hierfür in Anspruch genommen werden darf, bleibe dahingestellt; vgl. dazu UB

Burgenland 1, Nr. 5 mit Kommentar. Die Lagebezeichnung iuxta rivolum qui vocatur Seuira läßt sich nur schwer in einen sinnvollen Zusammenhang mit diesem deutlich höher gelegenen Ort bringen.

86 Vgl. D.H.III. 137. 87 Diese Deutung erwägt auch Schulze, Grafschaftsverfassung (wie Anm. 5) 163.

M1ÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM

Page 17: Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum

Karolingische Grafschaftsstrukturen im bayrisch-österreichischen Raum 17

Mit diesem gewiß nicht unproblematischen Ausklang mögen die hier getätigten Be-obachtungen zu den karolingischen Grafschaftsstrukturen im bayrischen Raum ihr Be-wenden finden. Die wichtigsten Beobachtungen wollen wir uns an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung rufen: Als verfassungsrechtlich konstituierendes und damit zen-trales Element der Grafschaft haben wir das Grafentaiding erkannt, wo man unter dem Vorsitz des Grafen im gemeinsamen Zusammenwirken über politische und rechdiche Angelegenheiten beratschlagte. Durch die personellen und räumlichen Komponenten, wie sie jeder Grafschaft eigneten, war der juridische Wirkungsbereich des Grafen in un-terschiedlicher Weise bestimmt. Der Grafschaftsraum war dann von Bedeutung, wenn es um die rechtlichen Befugnisse des Grafen über solche Personen ging, die nicht dem gräflichen Gefolgschaftsverband angehörten, also Geisdiche, Frauen, Kinder oder gesell-schaftliche Randgruppen. Dementgegen besaß der Graf weitreichende Rechtskompe-tenzen über die adeligen Mitglieder seines Grafschaftsaufgebots. Diese Kompetenzen oblagen keiner räumlichen Beschränkung. Vielmehr zeigte sich, daß der Graf die recht-liche Handhabe über seine Gefolgsleute auch außerhalb seines unmittelbaren Amtsge-bietes zum Anspruch bringen konnte. Gleichzeitig damit läßt sich auch die Annahme fest umgrenzter Grafschaftssprengel, im Sinne heutiger Gerichtsbezirke bzw. Landkreise, widerlegen. In diesem Falle hätte die gräfliche Macht ausschließlich innerhalb eines sol-chen „Amtsbezirkes" zur Geltung gelangen können.

Abzulehnen ist letztendlich auch die Auflässung Ludwig Holzfiirtners, wonach die hochmittelalterliche Grafschaft im Gegensatz zur karolingischen keine festen Grenzen mehr besessen haben soll88. Gerade das Gegenteil scheint die Regel gewesen zu sein! Im-merhin kommt es nicht von ungefähr, wenn wir besonders seit dem 11. Jahrhundert zu-nehmend über die Existenz von Grafschaftsgrenzen im bayrisch-österreichischen Raum unterrichtet werden. Die Beispiele dafür reichen vom bayrischen Nordgau bis nach Süd-tirol und in den ostösterreichischen Raum89. Demzufolge wird man schon eher die An-sicht vertreten, daß der stete Siedlungs- und Herrschaftsausbau die Ausbildung von Grafschaftsgrenzen begünstigte — und nicht umgekehrt. In diesem Sinne erscheinen auch neue Überlegungen zu all den Prozessen angebracht, die im Hochmittelalter zur Kumulation mehrerer Grafschaften in den Händen der Andechser führten. Diese Vor-gänge lassen sich nicht als einfache Aneinanderkettung fest umgrenzter Grafschafts-sprengel angeblich karolingischer oder vorkarolingischer Provenienz begreifen, so als ob man mehrere kleinere Gerichtsbezirke bzw. Landkreise im Laufe der Zeit zu einem grö-ßeren zusammenfäßte, wie dies bei Holzfurtner den Anschein erweckt. Vielmehr wird man dabei das dynamische Element des grafschaftsbildenden Adels entsprechend zu berücksichtigen haben, dessen eigenständiges Verhalten in bestimmten Situationen zu beachdichen Umstrukturierungen in der Grafschaftslandschaft fuhren konnte90.

" So Holzfurtner, Grafschaft der Andechser (wie Anm. 5) 309. " Vgl. etwa DDH.III. 137, 280, 281, SbUB 2, Nr. 95 oder AT 1 (Acta Tirolensia 1, Die Traditi-

onsbücher des Hochstifts Brixen, herausg. v. Oswald Redlich, 1886), Nr. 57. 90 Wenn etwa die Ministerialen des 1157 verstorbenen Grafen Heinrich von Wolfratshausen später

zum Gutteil im Gefolge der Andechser begegnen (dazu Holzfurtner, Grafschaft der Andechser [wie Anm. 5] 212 mit Quellenbelegen), so beruhte die Machtstellung der Andechser Grafen im einstigen Wol-fratshausener Komitat in erster Linie auf eben diesem Gefblgschafrswechsel, der nicht zwangsweise mit Erbschaften oder Vogteirechten in Zuzammenhaag gebracht werden mu£ (anders Holzfurtner, ebda 205). Eher schon wird man solche Vorgange aus ihrer situativen Bedingtheit heraus zu begreifen haben. Vgl. dazu auch die Beispiele bei Störmet, Bemerkungen- wie Anm. 20 - bes. 90ff.

MIÖG 111 (2003) Brought to you by | University of Kentucky LibrariesAuthenticated

Download Date | 10/1/14 2:22 AM