Kennedy-Syndrom (Spinobulbäre Muskelatrophie,SBMA) · reduzierte Serum-Androgenspiegel sowie...

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MANAGEMENT OF NEUROMUSCULAR DISEASES LETTER NR. 27 Einleitung Eine spezielle Form einer spinalen und bul- bären Muskelatrophie mit langsam progre- dientem Verlauf und x-chromosomal gekop- peltem Vererbungsmodus wurde erstmals 1968 von dem Neurologen W. R. Kennedy und Kollegen beschrieben (1). 1991 wurde die zugrunde liegende Expansion eines Trinu- kleotid-Polymorphismus im Gen des Andro- genrezeptors entdeckt (2). Wichtigste klinische Symptome sind eine langsam zunehmende proximal betonte Mus- kelschwäche und -atrophie, bulbäre Sympto- me in Form von Dysarthrie und Dysphagie, ubiquitäre Faszikulationen sowie häufig ein posturaler Tremor. Aufgrund des Androgenre- zeptor-Defekts kommt es bei ca. 50 % der Pati- enten zu einer Gynäkomastie sowie zu Inferti- lität und milder Androgen-Insensitivität. Neben dem im Vordergrund stehenden Befall des motorischen Nervensystems kann die Erkrankung auch elektrophysiologisch nach- weisbare Auffälligkeiten der sensiblen Ner- venleitung aufgrund einer Mitaffektion der Spinalganglien beinhalten. Die Lebenserwar- tung ist üblicherweise kaum herabgesetzt, eine effektive kausale Therapie gibt es bisher nicht. Die Erkrankung hat eine besondere Bedeutung als Differentialdiagnose zur Amyo- trophen Lateralsklerose (ALS). Epidemiologie und Klinik Das Kennedy-Syndrom (spinobulbäre Muskel- atrophie, SBMA) ist mit einer Inzidenz von 1 zu 50.000 die häufigste spinale Muskelatro- phie mit Beginn im Erwachsenenalter (2). Die neurologischen Symptome der Erkran- kung bestehen in einer langsam fortschreiten- den proximal und bulbär betonten Muskel- schwäche und -atrophie sowie ubiquitären Faszikulationen, die häufig die Gesichtsmus- kulatur mit betreffen. Fakultativ treten beglei- tend oft ein posturaler Tremor sowie diskrete distal betonte Sensibilitätsstörungen auf. Die Erkrankung manifestiert sich mit breiter Streu- ung zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr (3, 4), wobei uncharakteristische Initialsymptome, die oft nicht sofort zu einer erweiterten Diag- nostik führen, wie Muskelschmerz oder vor- zeitige Ermüdbarkeit, retrospektiv auch schon Jahre vor der Diagnosesicherung auftreten (4). Die ersten Symptome sind sehr hetero- gen, sowohl was die Lokalisation (bulbär/obe- re/untere Extremität) als auch was die Symp- tomkonstellation (motorisch/sensibel/senso- Kennedy-Syndrom (Spinobulbäre Muskelatrophie, SBMA) Susanne Petri und Johannes Bufler

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MANAGEMENT OF NEUROMUSCULAR DISEASES

LETTER NR. 27

Einleitung

Eine spezielle Form einer spinalen und bul-bären Muskelatrophie mit langsam progre-dientem Verlauf und x-chromosomal gekop-peltem Vererbungsmodus wurde erstmals1968 von dem Neurologen W. R. Kennedy undKollegen beschrieben (1). 1991 wurde diezugrunde liegende Expansion eines Trinu-kleotid-Polymorphismus im Gen des Andro-genrezeptors entdeckt (2).Wichtigste klinische Symptome sind einelangsam zunehmende proximal betonte Mus-kelschwäche und -atrophie, bulbäre Sympto-me in Form von Dysarthrie und Dysphagie,ubiquitäre Faszikulationen sowie häufig einposturaler Tremor. Aufgrund des Androgenre-zeptor-Defekts kommt es bei ca. 50 % der Pati-enten zu einer Gynäkomastie sowie zu Inferti-lität und milder Androgen-Insensitivität.Neben dem im Vordergrund stehenden Befalldes motorischen Nervensystems kann dieErkrankung auch elektrophysiologisch nach-weisbare Auffälligkeiten der sensiblen Ner-venleitung aufgrund einer Mitaffektion derSpinalganglien beinhalten. Die Lebenserwar-tung ist üblicherweise kaum herabgesetzt,eine effektive kausale Therapie gibt es bishernicht. Die Erkrankung hat eine besondere

Bedeutung als Differentialdiagnose zur Amyo-trophen Lateralsklerose (ALS).

Epidemiologie und Klinik

Das Kennedy-Syndrom (spinobulbäre Muskel-atrophie, SBMA) ist mit einer Inzidenz von 1 zu 50.000 die häufigste spinale Muskelatro-phie mit Beginn im Erwachsenenalter (2). Die neurologischen Symptome der Erkran-kung bestehen in einer langsam fortschreiten-den proximal und bulbär betonten Muskel-schwäche und -atrophie sowie ubiquitärenFaszikulationen, die häufig die Gesichtsmus-kulatur mit betreffen. Fakultativ treten beglei-tend oft ein posturaler Tremor sowie diskretedistal betonte Sensibilitätsstörungen auf. DieErkrankung manifestiert sich mit breiter Streu-ung zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr (3, 4),wobei uncharakteristische Initialsymptome,die oft nicht sofort zu einer erweiterten Diag-nostik führen, wie Muskelschmerz oder vor-zeitige Ermüdbarkeit, retrospektiv auch schonJahre vor der Diagnosesicherung auftreten(4). Die ersten Symptome sind sehr hetero-gen, sowohl was die Lokalisation (bulbär/obe-re/untere Extremität) als auch was die Symp-tomkonstellation (motorisch/sensibel/senso-

Kennedy-Syndrom (Spinobulbäre Muskelatrophie, SBMA)Susanne Petri und Johannes Bufler

motorisch) betrifft (5). Im Frühstadium derErkrankung ist eine Abgrenzung von anderenneuromuskulären Erkrankungen, insbesonde-re der ALS oder anderen Formen spinalerMuskelatrophie, aufgrund der Unspezifität derSymptome oft nicht möglich. Das klinischeSpektrum des Kennedy-Syndroms ist sehrvariabel, häufig ermöglicht erst die genetischeTestung eine sichere diagnostische Einstu-fung. Aufgrund dieser breiten Variabilität derphänotypischen Manifestationsformen desGendefekts bleibt möglicherweise ein Teil derBetroffenen undiagnostiziert (6). Der klinisch-neurologische Untersuchungsbe-fund zeigt typischerweise proximal betonteParesen und Muskelatrophien sowie abge-

schwächte oder erloschene Muskeleigenrefle-xe. Die Pyramidenbahnzeichen sind immernegativ. Der häufig zu beobachtende Haltetre-mor gleicht in einigen Aspekten dem essenti-ellen Tremor. Fast immer finden sich Fasziku-lationen der Extremitäten sowie – oft als Früh-symptom – der mimischen Muskulatur (1, 3, 4,7). Sehr charakteristisch ist hier die Auslös-barkeit von Faszikulationen beim Spitzen desKinns ("Quivering chin") (7). Manifeste Bulbär-symptome in Form von Dysarthrie und Dys-phagie mit begleitender Zungenatrophie(Abb. 1a) treten üblicherweise erst 10 bis 20Jahre nach Beginn der Krankheit auf, die Geh-fähigkeit bleibt in der Regel bis über das 60.Lebensjahr hinaus erhalten (3, 7). Bei je nachStudie bis zu 50 % der Patienten zeigen sichbereits in der klinischen Untersuchung leichteSensibilitätsstörungen (4), die jedoch in derRegel für die Betroffenen nicht im Vorder-grund des Beschwerdebilds stehen. Nebenden langsam progredienten Paresen sind v. a.die endokrinologischen Symptome deszugrunde liegenden Androgenrezeptor-De-fekts wegweisend: Betroffene Patienten ent-wickeln häufig eine Gynäkomastie (Abb. 1b)sowie eine Hodenatrophie und Oligospermie,in Einzelfällen ist die dadurch bedingte Inferti-lität Erstsymptom der Erkrankung (3, 7). Anweiteren endokrinologischen Symptomenzeigt sich bei 10 - 20 % der Patienten ein nichtinsulinabhängiger Diabetes mellitus (7). InTabelle 1 sind die wichtigsten neurologischenund endokrinologischen Symptome nachihrer ungefähren prozentualen Häufigkeitzusammengefasst.

Zusatzdiagnostik

Laborchemisch lassen sich bei mehr als 80 %der Betroffenen leicht erhöhte Creatinkinase(CK)-Werte nachweisen (meist zwischen 100und 500 U/l) (7). Durch komplette Bettruheließ sich diese CK-Erhöhung in einem Fall nor-malisieren (8). Daneben finden sich häufig

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Abbildung 1:

Typische klinische Zeichen beim

Kennedy-Syndrom:

1a Zungenatrophie

1b Gynäkomastie

(Quelle: Homepage des Neuromuscular Disease

Center, Washington University, St. Louis, USA,

www.neuro.wustl.edu/neuromuscular)

reduzierte Serum-Androgenspiegel sowieerhöhte Östrogen-, LH- und FSH-Werte, wobeihier unterschiedliche Prozentangaben ausverschiedenen Studien vorliegen und die diag-nostische Wertigkeit dieser Parameter geringist (3, 7). In der elektroneurographischenUntersuchung zeigen sich in der Regel imNormbereich liegende Nervenleitgeschwin-digkeiten, regelrechte F-Latenzen sowieunauffällige evozierte Potentiale. Die sensib-len Reizantwortamplituden v. a. des Nervussuralis sind bei bis zu 95 % der Patienten deut-lich reduziert bis nicht auslösbar (3, 5). Dieevozierten Potentiale des N. tibialis sind beieinem hohen Prozentsatz von Kennedy-Pati-

enten ebenfalls pathologisch verändert (3, 5).Elektromyographisch finden sich im Krank-heitsverlauf bei 100 % der Patienten Zeichenakuter Denervierung (pathologische Spon-tanaktivität, Abb. 2) und chronisch neuroge-ner Umbauvorgänge (hochamplitudige undaufgesplitterte Potentiale motorischer Einhei-ten bei leichter Willkürinnervation sowie eingelichtetes Interferenzmuster bei Maximalin-nervation) (5, 7) (siehe auch Tab. 1). Zur korti-kalen Magnetstimulation bei Kennedy-Syn-drom existieren kaum systematische Untersu-chungen. Auch wenn Pyramidenbahnzeichennicht zum typischen klinischen Bild gehören,fanden sich in einer kleinen Serie von Patien-

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Symptome/Befund ungefähre prozentuale Häufigkeit des Auftretens im Verlauf der Erkrankung

Proximale Paresen und Muskelatrophien 100 %Faszikulationen 100 %Bulbärsymptomatik (Dysarthrie, Dysphagie) 100 %Posturaler Tremor 80 %Muskelkrämpfe 60 - 90 %Abgeschwächte/nicht auslösbare Muskeleigenreflexe 100 %Neurogenes Schädigungsmuster im EMG 100 %Erhöhung der Creatinkinase im Serum > 80 %Sensible Ausfälle in der klinischen Untersuchung (v. a. distal-betonte Pallhypästhesie) 50 %Auffälligkeiten in der sensiblen Neurographie des N. suralis 80 - 90 % Auffälligkeiten in den SSEP des N. tibialis > 90 %Gynäkomastie > 50 %Infertilität mit Oligo-/Azoospermie 70 - 100 % Androgenverminderung/Östrogen-, variabel, diagnostisch nichtLH-, FSH-Erhöhung im Serum sicher verwertbarNicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus 10 - 20 %

(nach Ferrante, Willbourn, 1997; Kuhlenbäumer et al., 1998; Sperfeld et al., 2002)

Tabelle 1:

Häufige Symptome und Untersuchungsbefunde.

ten überraschenderweise bei fast 40 % verlän-gerte zentralmotorische Leitungszeiten (4).Die zur Differentialdiagnose bei vielen Patien-ten v. a. im Frühstadium der Erkrankung beiklinisch noch nicht richtungsweisendemBefund durchgeführten Muskelbiopsien zei-gen überwiegend ein neurogenes Schädi-gungsmuster, daneben finden sich seltenerauch – vermutlich sekundäre – myopathischeVeränderungen (4). Die Kernspintomographievon Schädel und Rückenmark sowie das EEGergeben beim Kennedy-Syndrom keine patho-logischen Befunde.

Differentialdiagnosen

Das Vollbild des Kennedy-Syndroms mit derKombination aus einer generalisierten Affekti-on des zweiten Motoneurons mit zumeist pro-ximal betonten Paresen, Faszikulationen, diemeist die mimische Muskulatur mit ein-schließen, Gynäkomastie und weiteren endo-krinologischen Auffälligkeiten ist klinisch gutcharakterisiert. Im Frühstadium der Erkran-kung sowie bei weniger typischen Verlaufsfor-men kann die diagnostische Einstufungjedoch schwierig werden, insbesondere wennsich aus der Familienanamnese keine familiä-

re Häufung eruieren lässt. Initial führt das Vorhandensein von generalisier-ten Faszikulationen und atrophischen Paresenohne manifeste sensible Ausfälle häufig zur Ver-dachtsdiagnose einer amyotrophen Lateral-sklerose (ALS). Im Verlauf unterscheidet sich dieALS jedoch durch den deutlich rascher progre-dienten Verlauf sowie eine Mitbeteiligung desersten Motoneurons (gesteigerte Muskeleigen-reflexe, spastische Tonuserhöhung). Die seltenen spinalen Muskelatrophien (SMA)mit Erstmanifestation im Erwachsenenalter,insbesondere SMA-III und SMA-V (rascherprogredient als Typ II mit auch bulbärer Betei-ligung) (3, 7) kommen ebenfalls als Ursacheneiner Degeneration des zweiten Motoneuronsin Frage. Sie manifestieren sich zwischen dem15. und 60. Lebensjahr und führen ebenfallszu langsam progredienten proximal betontenParesen und erloschenen Muskeleigenrefle-xen. Eine Unterscheidung vom Kennedy-Syn-drom ist klinisch nur über die endokrinologi-schen Auffälligkeiten oder durch die geneti-sche Testung möglich.Eine weitere differentialdiagnostische Mög-lichkeit bei langsam progredienten Paresenund Muskelatrophien ist die ebenfalls x-chro-mosomal rezessiv vererbte Muskeldystrophievom Typ Becker oder eine autosomal rezessi-ve vererbte "limb girdle muscular dystrophy"(LGMD) Typ 2 (7, 10), wobei hier das Manifes-tationsalter in der Regel jünger und die CK-Erhöhung im Serum ausgeprägter ist. Auchfehlen die beim Kennedy-Syndrom typischenFaszikulationen als klinisches Zeichen akuterDenervierung, elektromyographisch zeigt sichein typischerweise myopathisches Muster mitverkürzten niedrigamplitudigen Muskelakti-onspotentialen, pathologische Spontanakti-vität ist nicht nachweisbar.Chronisch inflammatorische Neuropathien(CIDP) lassen sich im Zweifelsfall durch dentypischen Liquorbefund (Eiweißerhöhung)und die verzögerten oder fehlenden F-Wellen

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Abbildung 2:

Pathologische Spontanaktivität

(positive scharfe Wellen, Fibrillations-

potentiale) im EMG eines Patienten

mit Kennedy-Syndrom.

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in der Elektroneurographie abgrenzen (7, 11). Seltene Erkrankungen, die unter Umständenklinisch mit dem Kennedy-Syndrom verwech-selt werden können, sind die Hexosaminida-se-Mangelerkrankungen, autosomal-rezessiverbliche Stoffwechselstörungen, die sich zumTeil ebenfalls als reines Syndrom des zweitenMotoneurons äußern können, wobei jedochhäufiger auch spinozerebelläre und kortiko-spinale Bahnen mit betroffen sind (12).

Pathologische Befunde

Wichtigstes morphologisches Merkmal inpost mortem Untersuchungen ist eine Reduk-tion und Atrophie der motorischen Vorder-hornneurone im gesamten Spinalmark sowieeine Atrophie der Kerne des N. trigeminus, N.facialis und N. hypoglossus (1). Darüber hin-aus wurden auch eine Atrophie des Fasciculusgracilis sowie eine Demyelinisierung und axo-nale Schädigung sensibler Nervenfasern undAtrophie der Spinalganglien nachgewiesen(13). Auch im Tractus corticospinalis wurdenin Einzelfällen degenerative Veränderungenbeschrieben (14), diese könnten möglicher-weise die erwähnten MEP-Auffälligkeiten (4)auch bei klinisch fehlenden Zeichen für eineAffektion des ersten Motoneurons erklären.

Genetik

Der x-chromosomal rezessive Vererbungsmo-dus des Kennedy-Syndroms führt dazu, dassdie Söhne von Erkrankten in jedem Fallgesund sind, da sie das mütterliche X-Chro-mosom tragen, während alle Töchter Konduk-torinnen des mutierten Gens sind. Söhne vonKonduktorinnen erkranken zu 50 %, Töchtervon Konduktorinnen werden zu 50 % eben-falls Trägerinnen des mutierten Gens (7).Die molekulare Ursache der Erkrankung isteine Repeat-Expansion von CAG-Tripletts inder codierenden Region des ersten Exon desAndrogenrezeptor-Gens. Während bei Gesun-den in der Regel 16 bis 33 Tripletts vorhanden

sind, ist die Anzahl beim Kennedy-Syndromauf 40 bis 88 Tripletts erhöht (15). In Einzelfäl-len ließen sich in betroffenen Familien bis zu37 CAG-Repeats bei phänotypisch Gesundennachweisen (16). Zwischen Länge der CAG-Repeats und Manifestationsalter der Erkran-kung besteht eine inverse Korrelation (4, 6,17), nur in einer Studie zeigte sich eine Korre-lation zwischen Repeat-Länge und Schwere-grad der klinischen Symptomatik (18). Auchbei weiblichen und somit heterozygoten Gen-trägerinnen der CAG-Repeat-Expansionließen sich im höheren Lebensalter elektro-physiologisch Zeichen chronischer Denervie-rung, in Einzelfällen auch klinisch manifesteSymptome bulbärer Schwäche zeigen (6).

Molekulare Grundlagen

Die der Erkrankung zugrunde liegende CAG-Triplett-Repeat – Expansion im ersten Exondes Androgenrezeptor-Gens – wurde 1991von La Spada und Fischbeck an 35 Patientenidentifiziert (2). Das Kennedy-Syndrom gehörtsomit wie auch einige andere autosomal-dominant vererbte hereditäre neurodegenera-tive Erkrankungen (Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert, M. Huntington, spino-zerebelläre Ataxie Typ 3 (SCA-3) (Machado-Joseph-Disease), dentato-rubro-pallido-luysi-sche Atrophie (DRPLA), SCA-1, SCA-2, SCA-6und SCA-7) (19, 20) zur Gruppe der Trinukleo-tid-Repeat-Erkrankungen. All diesen Erkran-kungen ist eine inverse Korrelation zwischenLänge des Repeats und Erkrankungsaltersowie der Mechanismus der Antizipation, d. h.früherer Krankheitsbeginn bei nachfolgendenGenerationen, gemeinsam (19, 20).Da das CAG-Triplett für die Aminosäure Gluta-min kodiert, ist die unmittelbare Folge derCAG-Expansion eine Längenzunahme desPolyglutamintrakts im Androgenrezeptor. Dieendokrinologischen Auffälligkeiten beim Ken-nedy-Syndrom sind aller Wahrscheinlichkeitnach durch einen hierdurch bedingten Funkti-

onsverlust des Androgenrezeptors bedingt,dieser erklärt jedoch nicht die generalisierteSchädigung des zweiten Motoneurons. Dahermuss es sich bei der CAG-Repeat–Expansionum eine so genannte "gain-of-function"-Muta-tion handeln, also einen in diesem Fall neuro-toxischen Funktionsgewinn des Genproduktsdes mutierten Gens (21). Der Androgenrezep-tor gehört zur Gruppe der intrazellulärenRezeptoren wie die Rezeptoren für Steroideund Schilddrüsenhormone. Er wird im Zyto-plasma synthetisiert und phosphoryliert.Nach Bindung der spezifischen Liganden(Testosteron oder Dihydrotestosteron) undAufnahme des Rezeptors in den Zellkern fun-giert er dort als Transkriptionsfaktor (21). Diedurch die CAG-Repeat-Expansion bedingtePolyglutamin-Expansion beeinträchtigt wederdie Ligandenbindung noch die intrazelluläreLokalisation des Androgenrezeptors (21, 22).Es kommt allerdings zu einer reduziertenTranskriptionsaktivität, die für die partielleAndrogen-Insensitivität verantwortlich zu seinscheint. Im Zellkulturmodell konnte eine erhöhte zyto-toxische Wirkung des mutierten Androgenre-zeptors gezeigt werden. Dabei wurde nachge-wiesen, dass erst eine proteolytische Spal-tung des Genprodukts durch die ProteaseCaspase-3 zur Induktion eines Apoptosepro-zesses führt (23). Dabei entstehen, wie auch inanderen Polyglutaminerkrankungen beschrie-ben, intrazelluäre Aggregate und nukleäreEinschlüsse aus polyglutaminhaltigem Pro-tein. Diese können beim Kennedy-Syndromsowohl in Motoneuronen als auch in nichtneuronalen Geweben nachgewiesen werden(24, 25). Das Ausmaß der Aggregatbildung istdabei – zumindest im Zellkulturexperiment –abhängig von der Länge des CAG-Repeats imAndrogenrezeptor-Gen (26). Inwieweit dieintrazelluläre Aggregatbildung für die selekti-ve Degeneration von spinalen Motoneuronenverantwortlich ist und inwieweit eine thera-

peutische Beeinflussung dieses Prozessesmöglich sein wird, ist bis heute noch offen.

Therapie

In der Zellkultur konnten direkte trophischeEffekte von Androgenen auf Motoneurone(27) sowie ein hemmender Einfluss auf dieApoptoseinduktion durch den mutierten An-drogenrezeptor (23) nachgewiesen werden.Einzelfallberichte (28, 29) sowie eine kontrol-lierte klinische Studie (30) beschreiben eineVerbesserung der Muskelkraft unter Andro-gengabe bei einem Teil der behandelten Pati-enten. Inwieweit dies spezifisch für die Erkran-kung ist bzw. ob nicht eine Androgengabegenerell zu einer Kraftzunahme führt, ist bis-her nicht geklärt. Eine grundsätzliche Indikati-on zur Androgentherapie beim Kennedy-Syn-drom lässt sich jedoch aus diesen Daten nichtableiten.Eine kausale Therapie der Erkrankung existiertbisher nicht. Ob eine genauere Kenntnis dermolekularen Pathogenese Möglichkeiteneiner spezifischeren, möglicherweise auchgentherapeutischen, Behandlung ermögli-chen wird, bleibt abzuwarten.Bei insgesamt günstiger Prognose der Erkran-kung ist eine kontinuierliche physiotherapeu-tische Behandlung wünschenswert, um denBehinderungsgrad der Patienten möglichstgering zu halten.

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