Kirche und Gesellschaft in der Perspektive von „Rerum novarum

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189 Kirche und Gesellschaſt in der Pers p ektive von „Rerum novarum" Hans Maier In diesem Jahr, am 15. Mai, wird „Rerum novarum" hundert Jahre alt. Die Enzyklika kann sich rühmen, die bekannteste unter den Rundschreiben der Päpste in neuerer Zeit zu sein. Auch wer wenig vom päpstlichen Lehramt weiß, kennt ihren Namen, der sogar in die Schulbücher Eingang genden hat. Bis heute ist „Rerum novarum" die grundlegende Äußerung der katholischen Kirche zur sozialen Frage. Alle späteren Äußerungen zu diesem Themenkreis nehmen auf sie Bezug. Bei der Enzyklika „adragesimo anno" Pius' XL (1931) ist das schon im Titel erkennbar-im vierzigsten Jahr meint vierzigJahre nachRerum novarum.Aber auch Pius XII.hat in einer Pfingst- botschaſt 1941 des 50., Paul VI. 1966 des 75. und 1971 in „Octogesima adveniens" des 80. Geburtstags der ersten Sozialenzyklika gedacht. Das Rundschreiben „Mater et magistra"Johannes' XXIll.1961 beginnt mit einer Rückschau aufRerum novarum; das Rundschreiben „Pacem in terris" desselben Papstes (1963) und dasRundschreiben sei- nes Nachlgers Paul VI.,,Populorum progressio" (1967) verstehen sich als Forthrun- gen, iterhrungen, Variationen des mit Rerum novarum intonierten Themas -und nicht zuletzt schließen die Lehrschreiben Papst Johannes Pauls II. ,,Laborem exercens" (1981), ,,Sollicitudo rei socialis" (1988) und „Centesimus annus" (1991) an diese Überlieferung an. Kurzum: auch die Päpste selbst haben sich über ein ganzes Jahrhundert hin in die von Leo XIII. begründete Tradition gestellt, ihre Soziallehren bilden -nach eigenem rständnis - ein Ganzes, einen sich stetig entwickelnden und differenzierenden Zu- sammenhang. Die am 1. Mai 1991-also gestern-verkündete Sozialenzyklika „Centesi- mus annus" ßt diesen Prozeß zusammen und gibt der katholischen Soziallehre ange- sichts des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme und der Ordnung von Jalta einen neuen geschichtlichen Stellenwert. Auch dieses Lehrschreiben wird nicht das letzte rt der Päpste zur sozialen Frage sein; die adition von Rerum novarum wird weiterwirken, auch über das hundertste Jahr hinaus. Eine so anhaltende und dichte Zeitbegleitung des kirchlichen Lehramts ist selten. Man darf von einer geglückten Einmischung in große Fragen der modernen Welt spre- chen.Auf anderen Gebieten war die Kirche weniger glücklich, reagierte verspätet, ver- rannte sich manchmal in unhaltbare Positionen-erwähnt seien nur die schmerzhaſten Probleme der Demokratie, der Meinungseiheit, der Menschenrechte, der Religions- eiheit, die erst im Zweiten ticanum einer abschließenden Klärung nähergebracht wurden. Hier jedoch, im Sozialen, hatte das kirchliche Lehramt von Anng an eine glückliche Hand, nd den richtigen Ton, war auch rechtzeitig zur Stelle. In meinem rtrag möchte ich nach den Gründen agen r diesen erstaunlichen Sachverhalt. Warum war die Kirche in ihrer Soziallehre soviel glücklicher, erlg-

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Kirche und Gesellschaft in der Perspektive

von „Rerum novarum"

Hans Maier

In diesem Jahr, am 15. Mai, wird „Rerum novarum" hundert Jahre alt. Die Enzyklika kann sich rühmen, die bekannteste unter den Rundschreiben der Päpste in neuerer Zeit zu sein. Auch wer wenig vom päpstlichen Lehramt weiß, kennt ihren Namen, der sogar in die Schulbücher Eingang gefunden hat. Bis heute ist „Rerum novarum" die grundlegende Äußerung der katholischen Kirche zur sozialen Frage. Alle späteren Äußerungen zu diesem Themenkreis nehmen auf sie Bezug. Bei der Enzyklika „Quadragesimo anno" Pius' XL (1931) ist das schon im Titel erkennbar -im vierzigsten Jahr meint vierzigJahre nach Rerum novarum. Aber auch Pius XII. hat in einer Pfingst­botschaft 1941 des 50., Paul VI. 1966 des 75. und 1971 in „Octogesima adveniens" des 80. Geburtstags der ersten Sozialenzyklika gedacht. Das Rundschreiben „Mater etmagistra"Johannes' XXIll.1961 beginnt mit einer Rückschau aufRerum novarum; dasRundschreiben „Pacem in terris" desselben Papstes (1963) und das Rundschreiben sei­nes Nachfolgers Paul VI. ,,Populorum progressio" (1967) verstehen sich als Fortführun­gen, Weiterführungen, Variationen des mit Rerum novarum intonierten Themas -undnicht zuletzt schließen die Lehrschreiben Papst Johannes Pauls II. ,,Laboremexercens" (1981), ,,Sollicitudo rei socialis" (1988) und „Centesimus annus" (1991) andiese Überlieferung an.

Kurzum: auch die Päpste selbst haben sich über ein ganzes Jahrhundert hin in die von Leo XIII. begründete Tradition gestellt, ihre Soziallehren bilden -nach eigenem Verständnis - ein Ganzes, einen sich stetig entwickelnden und differenzierenden Zu­sammenhang. Die am 1. Mai 1991-also gestern -verkündete Sozialenzyklika „Centesi­mus annus" faßt diesen Prozeß zusammen und gibt der katholischen Soziallehre ange­sichts des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme und der Ordnung von Jalta einen neuen geschichtlichen Stellenwert. Auch dieses Lehrschreiben wird nicht das letzte Wort der Päpste zur sozialen Frage sein; die Tradition von Rerum novarum wird weiterwirken, auch über das hundertste Jahr hinaus.

Eine so anhaltende und dichte Zeitbegleitung des kirchlichen Lehramts ist selten. Man darf von einer geglückten Einmischung in große Fragen der modernen Welt spre­chen. Auf anderen Gebieten war die Kirche weniger glücklich, reagierte verspätet, ver­rannte sich manchmal in unhaltbare Positionen -erwähnt seien nur die schmerzhaften Probleme der Demokratie, der Meinungsfreiheit, der Menschenrechte, der Religions­freiheit, die erst im Zweiten Vaticanum einer abschließenden Klärung nähergebracht wurden. Hier jedoch, im Sozialen, hatte das kirchliche Lehramt von Anfang an eine glückliche Hand, fand den richtigen Ton, war auch rechtzeitig zur Stelle.

In meinem Vortrag möchte ich nach den Gründen fragen für diesen erstaunlichen Sachverhalt. Warum war die Kirche in ihrer Soziallehre soviel glücklicher, erfolg-

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reicher und wirksamer als in vielen sonstigen Appellen an die Menschen seit hundert Jahren - und dies bis in die Gegenwart hinein?

I

Zunächst wird man natürlich die Antwort im Persönlichen suchen, in der Person Leos XIII., des Pecci-Papstes, des Arbeiterpapstes, wie er schon zu Lebzeiten genannt wurde. Was veranlaßte ihn, der zur Zeit der Enzyklika Rerum novarum im 14.Jahr regierte und schon zahlreiche Enzykliken veröffentlicht hatte, sich als Papst zu Fragen des Staates und der Gesellschaft mit einer Deutlichkeit und in einer Breite zu äußern, die jeden seiner Vorgänger im 19.Jahrhundert übertrafen?

Zwei Gründe dürfen genannt werden: ein allgemein geschichtlicher und ein biogra­phischer. Einmal war die Auseinandersetzung zwischen Kirche, Staat, Gesellschaft im 19.Jahrhundert ganz allgemein zu einem beherrschenden Thema des öffentlichen Le­bens geworden. Seit der Französischen Revolution, die eine unbeschränkte Souveräni­tät des Volkes verkündet hatte, war die Stellung der Kirche in vielen Ländern Europasangefochten, und das kirchliche Lehramt war gezwungen, in diesem Streit, der dasganze 19.Jahrhundert erfüllte, Stellung zu beziehen. Gerade in der Zeit des PontifikatsLeos XIII. drängten die Gegensätze in mehreren europäichen Ländern, in Frankreich,Deutschland, Italien, zur Entladung. Es sei nur an die römische Frage, den Kulturkampfund die laizistiche Trennungskampagne in Frankreich erinnert. Zum anderen aber ver­fügte Papst Leo im Unterschied zu den meisten seiner Vorgänger im 19.Jahrhundertüber Voraussetzungen, die ihn befähigten, in die Auseinandersetzung zwischen Kircheund moderner Gesellschaft in besonderer Weise klärend und orientierend einzugrei­fen, kannte er doch zahlreiche soziale und politische Probleme seiner Zeit aus eigenerAnschauung.

Der junge Bischof hatte 33jährig als Nuntius in Brüssel 1843-1845 den schwierigen und erfolgreichen Versuch der belgischen Katholiken, sich durch politische Sammlung im modenen Verfassungsstaat zu behaupten, aus nächster Nähe miterlebt. Er hatte vom Beobachtungsort Brüssel her Verbindung mit dem sich entwickelnden industriellen und parlamentarischen Europa aufgenommen. Er war dabei auch mit zahlreichen bel­gischen, deutschen, französischen und englischen Bischöfen in Berührung gekommen und hatte ihre Bemühungen um die Lösung der sozialen Frage verfolgt. Er hatte dann als Erzbischof von Perugia und später als Kardinal in den schwierigen Jahren und Jahr­zehnten nach der 48er Revolution eine umfangreiche erzieherische und soziale Tätig­keit entfaltet. Nicht mehr geprägt von innerer Abwehr gegenüber der modernen Kul­tur, von Revolutionsangst und streng hierarchisch-monarchischem Denken wie sein Vorgänger Pius IX., trat Leo als Papst den gesellschaftlichen und politischen Proble­men, die sich in der zweiten Häfte des 19.Jahrhunderts der katholischen Kirche stell­ten, mit Freiheit und gründlicher Erfahrung gegenüber. So kommt in die gesellschafts­politischen Äußerungen des Papsttums während seiner Regierungszeit ein neuer Ton. Hatte sich das Gespräch von Kirche und moderner Gesellschaft, zumindest im euro­päischen Zentralbereich, seit der Französischen Revolution oft in schroffen Antithesen bewegt, so wird es jetzt einläßlicher, kenntnisreicher und gelöster.Und diesem Sich ein-

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lassen auf die moderne Gesellschaft in der ganzen Breite ihrer Probleme entspricht es, wie gesagt, daß die Enzykliken Leos XIII. zu Fragen des Staates, der Gesellschaft, der Wirtschaft an Ausführlichkeit und Gewicht alles übertreffen, was die Päpste des 19.Jahrhunderts vor ihm zu diesem Thema gesagt haben.

Die gewichtigen Lehrschreiben Leos XIII. beginnen - nach kleineren Hirtenbrie­fen - 1881 mit der Enzyklika „Diuturnum", die über die staatliche Herrschaft handelt. Von da an gewinnt das Thema Staat und Gesellschaft im Werk Leos XIII. leitmoti­visches Gewicht. In kurzen Abständen erscheinen fünf bedeutsame Rundschreiben zu politischen und sozialen Fragen: ,,lmmortale Dei", das über die christliche Staatsverfas­sung handelt (1885), ,,Libertas" über christliche Freiheit und Liberalismus (1888), „Sapientiae christianae" über die Pflichten christlicher Staatsbürger {1890), ,,Rerum novarum" über die Arbeiterfrage {1891) und endlich „Au milieu des Sollicitudes" über die Stellung der Katholiken zur Staatsform, gerichtet vor allem an die französischen Katholiken {1892). Im folgenden letzten Jahrzehn des Pontifikats tritt das politische und soziale Thema dann wieder zurück, ohne aber völlig zu verschwinden. Ein letzter Nachklang der großen politisch-sozialen Enzykliken ist das Rundschreiben „Graves de communire" {über die christliche Demokratie), das im Jahre 1901 erscheint.

Um zu würdigen, was Leo XIII. in diesen Enzykliken ausführt, muß man sich kurz die Zeitverhältnisse vergegenwärtigen. Die päpstlichen Äußerungen zu· Staat und Gesellschaft während des 19. Jahrhunderts, vereinzelt sogar darüber hinaus, waren zum großen Teil Reaktionen auf die Französische Revolution und die aus ihr hervorge­gangenen politisch-sozialen Bewegungen. Sie waren beherrscht vom säkularen Streit um Revolution und Kirche. Die Französische Revolution stand zwar nicht von Anfang an in einem Gegensatz zur katholischen Kirche, sie mußte aber aus ihren Prinzipien heraus - der unbegrenzten Staatssouveränität, der Allzuständigkeit des Gesetzgebers, der neuen „laikalen" Sozialmoral - mit jeder gesellschaftlichen Macht zusammen­stoßen, die einen eigenen, nicht vom Politischen abgeleiteten Öffentlichkeitsstatus für sich in Anspruch nahm. Eben dies tat die Kirche. Und deshalb geriet sie sogleich in Konflikt mit der Revolution, als diese, in derJakobinerherrschaft, dazu überging, den christlichen Dualismus der Gewalten Staat und Kirche in einen Monismus der politi­schen Gesellschaft aufzulösen.

Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die Päpste das Vordrin­gen der revolutionären Bewegung in Europa mit größer Sorge betrachtet - und damit auch das Vordringen der Demokratie, die sie ja nur in ihrer kontinentalstaatli­chen, kirchenfeindlichen Gestalt erlebt hatten. Papst Gregor XV I. hat diesen Vorgang in seiner Enzyklika „Mirari nos" (1832) in düsteren und pathetischen Farben aus­gemalt.

„Es jauchzt das Unrecht, unverschämte Wissenschaft und zügellose Freiheit. In Verachtung liegt das Heilige, die Hoheit der Gottesverehrung, die so stark und mächtig im Menschen liegt, wird von Nichtswürdigen geschmäht, geschändet, ver­spottet. Die rechte Lehre wird verdreht, Irrtümer aller Art werden in die Welt gesetzt. Gesetze der Heiligtümer, Rechte, Einrichtungen, altbewährte Vorschriften, nichts ist sicher vor der Keckheit jener Leute, deren Mund vor Unrecht über­schäumt. Leidenschaftlich bedrängen sie diesen unseren Sitz des heiligen Petrus in

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Rom, auf den Christus die Grundlage seiner Kirche baute. Die Bande der Einheit werden von Tag zu Tag mehr gelockert und zerschnitten. Die göttliche Rechtshoheit der Kirche wird angefochten. Ihre Rechte werden gebrochen. Sie wird irdischer Willkür preisgegeben und in schändliche Knechtschaft gezwungen. Den Bischöfen wird der schuldige Gehorsam gekündigt. Ihre Rechte werden mit Füßen getreten. Schauerlich widerhallen Universitäten und Schulen von unerhöhrten Irrlehren, mit denen der katholische Glaube nun schon nicht mehr im geheimen, unterirdisch, angegriffen wird, sondern ganz offen in schrecklichem, ruchlosem Angriff. Schul­ordnungen und das Beispiel der Lehrer haben den Geist der heranwachsenden jugendlichen verdorben, und ein ungeheurer Niedergang des Glaubenslebens, eine entsetzliche Verkehrung der Sitten war die Folge. Der Zügel des heiligen Glau­bens, durch den allein die Reiche bestehen und Kraft und Macht der Herrschaft sich erhält, ist abgeworfen, und wir sehen den Untergang der öffentlichen Ordnung, den Fall der Herrschaft, den Umsturz aller gesellschaftlichen Mächte näherrücken."

Solche larmoyant eifernden, ohnmächtig-beschwörenden Worte fehlen in den Enzykliken Leos XIII. ganz. Der Ton ist ein anderer geworden. Zwar nimmt das Thema der Zeitgefahren und Zeitirrtümer auch bei diesem Papst einen großen Raum ein. Noch seine letzte Ansprache im Jahr 1903, kurz vor seinem Tod, ist voll davon. Aber Leo XIII. untersucht die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit, ohne vorschnell zu urteilen; er deckt Zusammenhänge auf, ohne die Nuancen zu verwischen; er kritisiert, ohne maßlos zu werden; er ermahnt, ohne zu drohen. Vor allem hat er die Gabe der Unterscheidung der Geister und einen scharfen diagnostischen Verstand. Und was noch mehr ist, er weiß das Übel nicht nur zu bezeichnen, er kennt auch Wege, ihn zu · steuern. Daher kreist sein Denken in den Enzykliken „Libertas", ,,Sapientiae" und,,Rerum novarum" um die Frage, was in den Bewegungen der Zeit, vor allem im Libera­lismus, christlicher Aneignung zugänglich, was abzulehnen sei und in welcher Weise die Kirche, die sich in der modernen Gesellschaft nicht mehr auf die fraglose Anerken­nung göttlichen Rechts und nicht mehr auf den Schutz christlicher Fürsten stützenkann, neu im sozialen Leben verwurzelt werden könne.

Die Einsicht in die Bewegung der neuen industriellen Welt und die von ihr drohende Aufzehrung der religiösen Substanz hat die Hellsichtigen unter den katholischen Geist­lichen und Laien schon bald nach 1848 veranlaßt, sich vom Denkschema eines starren Gegenüber von Staat und Kirche zu lösen und statt auf institutionelle Abgrenzungen und staatliche Bürgschaften stärker auf die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft zu dringen.jahrhundertelang war das Problem Staat und Kirche vor allem ein Rechtspro­blem gewesen, zu dessen Bewältigung das Instrument des Konkordats bereitstand. Jetzt, im demokratischen Zeitalter, wurde es ein soziales Problem. Die Erneuerung der katholischen Soziallehre in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wird gerade unter diesem Gesichtspunkt in ihrer Bedeutung klar. Sie diente nicht nur als Norm, nach wel­cher der Christ unter den Bedingungen der industriellen Zeit ein christliches Leben führen sollte, sie war zugleich ein Versuch, der Kirche wieder einen sozialen Standort in der modernen Industriegesellschaft zu geben. Dieser Aufgabe, der gegenüber konkor­datäre Lösungen jetzt in die zweite Linie rückten, dienten die zahlreichen sozialen Aktivitäten und Experimente, in denen sich die Katholiken vor allem in Deutschland,

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Frankreich, Belgien, der Schweiz und Österreich hervortaten. Überall ein Hinabstei­gen in die weitverzweigten Bereiche der Gesellschaft, ein Streben nach Spezialisierung des Apostolats, ein missionarisches Sichkümmern um einzelne wie Gruppen. Wenn uns heute die Vorstellung einer Kirche im Zustand der Mission ganz selbstverständlich geworden ist, so darf man daran erinnern, daß diese neue Sicht der Dinge mit der katholischen Sozialbewegung in der zweiten Häfte des 19.Jahrhunderts begonnen hat.

II

Soviel zum geschichtlichen Umfeld, zum Rahmen, in den wir Rerum novarum als erste und klassische Darstellung der katholischen Soziallehre hineinstellen müssen. Fragen wir nun, was das Neue, das Zukunftweisende an diesem Dokument war. Es sind im wesentlichen drei Aussagen, die für die damalige Zeit, die Zeit eines unbegrenzten Fortschrittsglaubens und eines noch kaum gebändigten Wirtschaftsliberalismus neu und bedeutsam waren: die Ausführungen zur Lohngerechtigkeit, die Ausführungen zum Koalitionsrecht der Arbeiter und zur Rolle des Staates im Wirtschaftsprozeß. 1. Was die Lohngerechtigkeit angeht, so werden die entsprechenden Ausführungen in

der Enzyklika eingeleitet durch eine deutliche, fast feierlich formulierte Ablehungdes Klassenkampfes.

„Ein Grundfehler in der Behandlung der sozialen Frage ist der, daß man das gegenseitige Verhältnis zwischen der besitzenden und der unvermögenden arbeitenden Klasse so darstellt, als ob zwischen ihnen von Natur aus ein unver­söhnlicher Gegensatz herrsche, der sie zum Kampf aufrufe. Genau das Gegenteil ist wahr. Die Natur hat vielmehr alles zur Eintracht, zur gegenseitigen Harmonie hingeordnet. Und so wie im menschlichen Leib, bei aller Verschiedenartigkeit der Glieder im wechselseitigen Verhältnis Einklang und Gleichmaß vorhanden ist, so hat auch die Natur gewollt, daß im Körper der Gesellschaft jene beiden Klasen in einträchtiger Beziehung zueinander stehen und ein Gleichgewicht dar­stellen. Die eine hat die andere durchaus notwendig. So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne das Kapital bestehen. Eintracht ist überall die unerläßliche Vorbedingung von Schönheit und Ordnung. Ein fort­gesetzter Kampf dagegen erzeugt Verwilderung und Verwirrung. Zur Beseitigung des Kampfes aber, zur Beseitigung seiner Ursachen, besitzt das Christentum wunderbare und vielgestaltige Kräfte (RN 15 nach der Übers. von 0. von Nell­Breuning)." An dieser Stelle könnte man das erwarten, was in Äußerungen der Vorgänger

Leos XIII. reichlich vorkommt - Trostworte, Ermahnungen, moralische Appelle an den einzelnen. Aber die Größe Leos XIII. liegt darin, daß er über die individuelle Ansprache, den moralischen Appell hinausgeht, daß er die soziale Frage als eine öffentliche eine gemeinschaftliche Frage begriffen hat. Und so ist das zentrale Wort der Enzyklika „Gerechtigkeit". Die Kirche als Vertreterin und Wahrerin der Reli­gion „hat zunächst in den religiösen Wahrheiten und Gesetzen ein mächtiges Mittel, die Reichen und die Armen zu versöhnen und einander nahezubringen.

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Ihre Lehren und Gebote führen beide Klassen zu ihren Pflichten gegeneinander, namentlich zur Befolgung der Vorschriften der Gerechtigkeit". Der Gerechtigkeit und den Pflichten, die aus ihr folgen, gelten die folgenden Ausführungen. Relativ kurz wendet sich der Papst an die arbeitenden Stände. Sie sollen treu ihre Arbeit verrichten, zu welcher sie sich frei und mit gerechtem Vertrag verbunden haben. Das sind zwei wichtige einschränkende Kautelen: frei und mit gerechtem Vertrag. Sie sollen dem Arbeitgeber weder an der Habe noch an der Person Schaden zu­fügen - für uns eine Selbstverständlichkeit, aber in den damaligen Elendssituatio­nen eine notwendige Mahnung. Sie sollen sich der Gewalttätigkeit enthalten, sie sol­len nicht Auflehnung anstiften, nicht Verbindung unterhalten mit Übelgesinnten, die ihnen trügerische Hoffnung vorspiegeln und nur bittere Enttäuschung und Ruin zurücklassen.

Dann wendet sich der Papst an die Besitzenden und Arbeitgeber (und diese Liste ist sehr viel länger und detaillierter!):

Die Arbeiter „dürfen nicht wie Sklaven angesehen und behandelt werden. Ihre persönliche Würde, die geadelt ist durch ihre Würde als Christen, werde stets heilig gehalten. Arbeits- und Erwerbssorgen erniedrigen sie nicht, vielmehr muß, wer vernünftig und christlich denkt, es ihnen als Ehre anrechnen, daß sie selbständig ihr Leben unter Mühe und Anstrengung erhalten. Unwürdig und unehrenvoll dagegen wäre es, Menschen bloß zu eigenem Gewinn auszubeuten und sie nur so hoch anzuschlagen, als ihre Arbeitskräfte reichen.

Vor allem ist es Pflicht der Arbeitgeber, den Grundstz Jedem das Seine' stets vor Augen zu behalten. Dieser Grundsatz sollte auch unparteiisch auf die Höhe des Lohnes Anwendung finden, ohne daß die verschiedenen, für die Billigkeit des Lohnmaßes mitzuberücksichtigenden Momente übersehen werden. Im all­gemeinen ist in Bezug auf den Lohn wohl zu beachten, daß es wider göttliches und menschliches Gesetz geht, Notleidende zu drücken und auszubeuten um des eigenen Vorteils willen. Dem Arbeiter den ihm gebührenden Verdienst vorzuent­halten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit (RN 16, 17)."

2. Soviel zum ersten Punkt: Lohngerechtigkeit. Und nun zum Koalitionsrecht, einerdamals auch in katholischen Kreisen besonders umstrittenen Frage. Sie wissen, daßdie Französische Revolution die alten Stände, die Korporationen, Zünfte, Innungenbeseitigt hatte. In Frankreich hatte man sehr bewußt jeden Zusammenschluß imgesellschaftlichen Feld zwischen dem Staat und dem einzelnen unterdrückt. Bis indie 80erjahre des 19.Jahrhunderts galt die Loi Le Chapelier, die keine Assoziatio­nen zuließ. Im rousseauschen Staatsbild hatten intermediäre Gewalten, Zünfte, Gewerkschaften, Verbände, Vereine, keinen Platz. Aber auch in Deutschland, dassozialpolitisch weiter vorangeschritten war, war das Koalitionsrecht der Arbeiter noch sehr brüchig. Leo XIII. dagegen, und das war in seiner Zeit eine kleine Sensa­tion, stellte das Koalitionsrecht mit dem Naturrecht gleich. Und er proklamierte die These, daß der Arbeiterschutz nicht genüge, daß vielmehr auch eine zeitgemäßeArbeiterorganisation nötig sei.

Gewiß war sich Leo XIII. darüber im klaren, daß die alten Zünfte und Innungen in ihrer ehemaligen Gestalt nicht wieder ins Leben zurückgerufen werden konnten.

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Die neuen Sitten, der Fortschritt der Bidung, die gesteigerten Lebensbedürfnisse, all dies stellte andere Anforderungen. Aber er hielt es für notwendig und möglich, das Korporationswesen unter Beibehaltung des alten Geistes, der es belebte, den Bedürfnissen der Gegenwart anzupassen.

,,Wie nun durch die natürliche Neigung der Mensch zum Staatsverband hin­geführt wird, so drängt es ihn auch, andere Vereinigungen mit den Mitbürgen einzugehen, Vereinigungen, die zwar keine vollkommenen Gesellschaften, aber doch im wahren Sinn Gesellschaften sind ... Die Vereinigungsfreiheit beruht auf dem Naturrecht; dieses aber kann der Staat nicht zerstören, im Gegenteil, es ist seine Aufgabe, das Naturrecht zu sichern. Wenn ein Staat trotzdem solche Ver­einigungen verbietet, so verstößt er gegen sein eigenes Prinzip, da er ja selbst ebenso wie die privaten Vereinigungen der Staatsbürger lediglich aus dem Naturtrieb des Menschen zur gegenseitigen Vereinigung stammt (RN 37, 38)." Waren nun die Arbeitervereine, die Leo XIII. poklamierte, so etwas wie Gewerk-

schaften? Darüber gab es alsbald heftigen Streit und eine kontroverse Literatur. Sicher ist, daß Leo XIII. sich auf allgemeine Formulierungen zurückgezogen hat, weil in jener Zeit viele Streitfragen unter den Katholiken noch nicht entschieden waren. Zum Beispiel hat man in Frankreich (und anfangs auch im rheinischen Deutschland} vorwiegend an gemischte Gewerkschaften gedacht, an die sogenann­ten syndicats mixtes, also aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzte Schlichtungsausschüsse. Es hat lange gedauert, bis man die Notwendigkeit der Eigenorganisation in Arbeitervereinen oder in Gewerkschaften erkannte. Und da stellte sich dann wieder die Frage: Arbeitervereine, konfessionelle Vereine oder ein Mitgehen der Katholiken in der allgemeinen, in einer neutralen Gewerkschaft. Das hat bekanntlich nach Rerum novarum zu dem sogenannten Gewerkschaftsstreit geführt, in dem auch die deutschen Bischöfe gespalten waren. Schließlich hat sich aber die Mehrheit mit der Meinung durchgesetzt, daß hier ein Feld der Zusammen­arbeit über die Konfessionen hinaus notwendig sei.

Bekanntlich hatten Leo XIII. zwei Entwürfe für die Enzyklika Rerum novarum vorgelegen, eine von dem Jesuitenpater Liberatore, der dem korporatistischen Standpunkt der Schule Karl von Vogelsangs zuneigte, und einer von dem Domini­kanerkardinal Zigliara, der zu den Erneuerern der thomistischen Philosophie gehörte und auf den vor allem die Formulierungen über das Eigentum zurück­gehen. In der Frage der Korporationen neigten beide Entwürfe zu gemischten, ,,berufsständischen" Institutionen. Um so bemerkenswerter ist es, daß Leo XIII. buchstäblich in letzter Minute, nämlich zwischen dem 10. und 15. Mai 1981, den Duktus des Textes im Sinn eines Sowhl-als-auch veränderte: er formulierte, daß die angestrebten Vereinigungen entweder aus Arbeitern allein oder aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestehen sollten. Damit „war ein Monopolanspruch berufs­ständischer Organisationen eingeschränkt und der Weg für die Gewerkschaften frei" (V ictor Conzemius}.

3. Und damit sind wir beim dritten bedeutsamen Punkt der Enzyklika, nämlich beiLeos XIII. Stellungnahme zu den Aufgaben des Staates. Rerum novarum ist hierbesonders klar. Ohne jeden Umschweif wird dem liberalen Prinzip der Nichtinter-

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vention des Staates - also dem Prinzip des Nachtwächterstaates, wie Lassalle pole­misch den liberalen Staat genannt hat - ein anderer Grundsatz entgegengestellt: nämlich daß nichts den Staat seinem Wesen nach mehr angehe als die Aufgabe, das

Gemeinwohl zu fördern. ,,Gerade die Aufgabe, das gemeine Beste zu pflegen, ist ja das innerste Wesen des Staates.Je kräftiger und je einschneidender er diese wesent­liche Aufgabe mit Erfolg erfüllt, desto weniger ist er genötigt, auf anderen Wegen für die Arbeiterschaft Erleichterung zu suchen (RN 26)." Und hier wird nun ein umfas­sendes Programm für Sozialreform entwickelt, das ein breites Echo fand und beson­ders in Deutschland großes Aufsehen erregte. Deutschland hatte ja auf dem Gebiet der Sozialversicherung und des Arbeiterschutzes schon maßgebliche Reformen in die Wege geleitet unter Bismarck. Es ist aber sehr bezeichnend, daß Bismarck einen Ausbau des Arbeiterschutzes, also der Vorschriften zum Schutz von Leben und Gesundheit, zur Begrenzung der Arbeitszeit, zur Unfallverhütung, zur Lohnbemes­sung usw., immer abgelehnt und bekämpft hat. Er war in dieser Hinsicht doch ein echter Liberaler des 19. Jahrhunderts.

Man kann sagen: Daß in den europäischen Ländern die Waage zwischen Staats­intervention und Nichtintervention zugunsten der Staatsintervention sich senkte, das ist auch eine Wirkung von Rerum novarum gewesen. Insofern ist das Urteil rich­tig, mit dem das Blatt des politischen Protestantismus in Deutschland, die „Kreuz­zeitung", damals das Erscheinen der Enzyklika kommentiert hat: das Eintreten der katholischen Kirche für die Staatsintervention sei „ein Ereignis von weltgeschicht­licher Bedeutung".

III

Rerum novarum nach hundertjahren. Wie sieht der klassische Urtext der katholischen Soziallehre heute, im Jahre 1991, aus? Eine genauere historische Würdigung wird in wenigen Tagen ein internationales Symposion und eine Gedenkfeier in Rom ver­suchen. Erlauben Sie mir heute in diesem Vortrag nur ein paar persönliche Anmerkun­gen und Einschätzungen. 1. Zweifellos hat sich der Adressatenkreis der Enzyklika im Lauf der Zeit erweitert. Er

umfaßt heute praktisch alle Länder der Welt. Denn die ganze Welt bildet heuteeinen einzigen wirtschaftlichen, technischen, ökologischen Zusammenhang. KeinLand ist mehr eine Insel, die sich aus diesem Geflecht ausgliedern könnte. WährendRerum novarum sich im wesentlichen an den europäischen Staatenkreis wandteund hier wieder besonders an die Industrienationen, findet es nach hundert Jahrenein sehr viel größeres, ein weltweites Auditorium vor. Das betrifft vor allem seinezentrale Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Sie hat heute nicht nur Bedeutungfür die Industriegesellschaft. Sie hat auch eine Nord-Süd-Dimension. Sie betrifftnicht mehr nur die Lohngerechtigkeit für die Industriearbeiter. Sie betrifft die Wirt­schaftsgerechtigkeit in der Einen, technisch und ökologisch enger zusammenwach­senden Welt.

Mit Recht hat man daher gefordert- Oswald von Nell-Breuning-, Rerum nova­rum müsse heute mit den Augen der Entwicklungsländer gelesen werden. Denn die

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Probleme aus den Anfängen der industriellen Welt, mit denen sich die Enzyklika Leos XIII. auseinandersetzt, sind ja in der Dritten Welt, vermehrt um die heutigen Probleme, unverändert aktuell.

2. Verändert und weiterentwickelt haben sich zweifellos auch die Modalitäten derSelbsthilfe, vor allem der Selbstorganisation der Arbeiterschaft zur Verteidigungihrer Rechte. Hier mußte sich Leo XIII., wie wir gesehen haben, angesichts dernoch undeutlichen Entwicklung und angesichts der unterschiedlichen Positionenauch innerhalb der katholischen Kirche auf die Formulierung allgemeiner Grund­sätze beschränken. Und das hat später im deutschen Gewerkschaftsstreit zu einerinnerkirchlichen Zerreißprobe geführt. Freilich, es hat auch Klärungen mit sichgebracht. Heute ist wohl unbestritten, daß die Formen gewerkschaftlicher Organi­sation, die Modalitäten der Zusammenarbeit mit Nichtkatholiken und Nichtchri­sten im Wirtschaftsleben Fragen sind, bei denen die "Eigengesetzlichkeit der welt­lichen Sachbereiche" (im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils) berücksichtigtwerden muß und bei deren Entscheidung den in Wirtschaft und Gesellschaft enga­gierten Laien ein entscheidendes Wort zukommt.

3. Am stärksten verwandelt hat sich die Szenerie im Bereich des Staates, genauer imVerhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. War die Intervention des Staatesins Wirtschaftsleben, motiviert durch Gemeinwohlverpflichtungen, zu LebzeitenLeos XIII. noch ein Ratschlag, der der Zeit vorauseilte, so scheinen darüber heutedie Akten längst geschlossen zu sein. Daß Wirtschaft, Marktwirtschaft, erst rechtsoziale Marktwirtschaft des Staates bedürfen, wird heute kaum mehr bestritten.Streit herrscht nur darüber, was der Staat im einzelnen tun soll, wieweit er in daswirtschaftlich-soziale Geschehen eingreifen darf und muß. Der frühliberale Nicht­interventionsstaat ist tot. Er lebt heute nur noch in den Träumen einiger neoklassi­scher Ökonomen weiter. Ist nun an seine Stelle der Interventionsstaat oder gar derStaatssozialismus getreten? Gewiß nicht. Und die Unkenrufe der seinerzeitigenLiberalen, die den römischen Papst mit Rerum novarum ins Lager des Sozialismuseinschwenken sahen, sind längst verstummt. Gerade der Neoliberalismus, derOrdoliberalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Recht und Staatals notwendige Voraussetzungen für die Ordnung der Wirtschaft neu entdeckt.Das ist ja gerde der Zug, durch den sich der Neoliberalismus vom älteren Libe­ralismus abhebt (und die soziale Marktwirtschaft von der Wirtschaft des Laissez­faire).

Nun sprechen wir heute nicht mehr, wie die Zeit Bismarcks und Leos XIII., von Intervention. Der Staat erscheint uns heute eher als der Setzer der unentbehrlichen "Randdaten" des Wirtschaftslebens; als Wettbewerbsgarant; als Monopolverhinde­rer; als ordnungspolitische Steuerungsinstanz. Ohne den Staat gäbe es auch - siehe Kartellrecht- keinen Wettbewerb, der diesen Namen verdient. Und natürlich bleibt dem Staat auch immer die sozialpolitische Aufgabe des Ausgleichs, des Gegen­steuerns; denn nach wie vor ist aktuell das Argument Leos XIII. in Rerum novarum, daß die Ärmeren und die größere Zahl der Menschen des staatlichen Schutzes drin­gender bedürfen als die Reicheren, die ja mit besseren Mitteln zur Selbstverteidi­gung und Selbsterhaltung ausgestattet sind.

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4. Fast prophetisch wirken heute die Warnungen Leos XIII. vor dem Sozialismus alsdem falschen Weg zur Lösung der sozialen Frage. Bemerkenswert ist vor allem dieAkzentuierung der Argumente, die er gegen ihn ins Feld führt. Naütrlich ist dieAbschaffung des Eigentums auch ganz einfach schlichtes Unrecht, sowohl gegenden einzelnen wie gegen die Familie. Aber vor allem schädigt sie die Arbeiter selbst- und dieses Argument setzt Leo XIII. an die erste Stelle:

,,Vor allem liegt nämlich klar auf der Hand, daß die Absicht, welche den Arbei­ter bei der Übernahme seiner Mühe leitet, keine andere als die ist, daß er mit demLohn zu irgendeinem persönlichen Eigentum gelange. Indem er Kräfte undFleiß einem anderen leiht, will er für seinen eigenen Bedarf das Nötige erringen;er sucht also ein wahres und eigentliches Recht nicht bloß auf die Zahlung, son­dern auch auf freie Verwendung derselben. Gesetzt, er habe durch Einschrän­kung Ersparnisse gemacht und sie der Sicherung halber zum Ankauf einesGrundstückes verwendet, so ist das Grundstück eben der ihm gehörige Arbeits­lohn, nur in anderer Form; er bleibt in seiner Gewalt und Verfügung nicht minderals der erworbene Lohn. Aber gerade hierin besteht offenbar das Eigentums­recht an beweglichem wie unbeweglichem Besitze. Wenn also die Sozialistendahin streben, den Sonderbesitz in Gemeingut umzuwandeln, so ist klar, wie siedadurch die Lage der arbeitenden Klassen nur ungünstiger machen. Sie entzie­hen denselben ja mit dem Eigentumsrechte die Vollmacht, ihren erworbenenLohn nach Gutdünken anzulegen, sie rauben ihnen eben dadurch Aussicht undFähigkeit, ihr kleines Vermögen zu vergrößern und sich durch Fleiß zu einer bes­seren Stellung emporzuringen. Aber was schwerer wiegt, das von den Sozialistenempfohlene Heilmittel der Gesellschaft ist offenbar der Gerechtigkeit zuwider,denn das Recht zum Besitze privaten Eigentums hat der Mensch von der Naturerhalten (RN 4)."Das sind nüchterne, von wirtschaftlicher Einsicht und von Menschenkenntnis

zeugende Worte. Ihre Wahrheit ist durch riesige Experimente sozialistischer Politik und Wirtschaft mit bitterem Ausgang für Millionen Betroffene nach hundert Jahren eindrucksvoll bestätigt worden. Auch Leos XIII. Beharren auf Eigentum in Arbei­terhand erscheint im Licht der Ereignisse keineswegs - wie manche Kommentato­ren gemeint haben - als ein Residuum liberalen Denkens. Im Gegenteil, es war zukunftsweisend; wie sollte Entproletarisierung erreicht werden, wenn nicht durch Eigentum und Selbstbestimmung?

IV

Daß Leos XIII. soziale Enzyklika am Ende einer ganzen Reihe „politischer Enzykli­ken" steht, ist kein Zufall. Der „soziale Papst" hatte zunächst mit der unbewältigten Erb­schaft der Französischen Revolution - genauer des Jakoninerstaates - zu tun. In ,,Humanum genus", ,,Libertas", ,,Immortale Dei" wird der pseudoreligiöse Messianis­mus der jakobinischen Demokratie, werden die Übergriffe der Politik in die kirchliche Autonomie zurückgewiesen. Der Staat ist ein weltliches Ding und muß weltlich blei-

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ben. Civitas non est dux ad coelestia -der Staat ist kein Führer zum Himmel. Das klingt "liberal" im Sinn einer rechtsstaatlich domestizierten Demokratie und zieht zugleich die Grenze zu einem kirchlich-religiösen Integralismus - von den Sätzen des "Syllabus" (1864}, in denen die nachrevolutionären Prinzipien pauschal verurteilt wur­den, hat sich Leo XIII. in seinem Pontifikat stillschweigend zurückgezogen. Ebenso lehnte er Vogelsangs Konzept einer ständischen Restauration der Gesellschaft ab. Es gehört ins Bild dieser Kirchenpolitik des Ausgleichs, daß Leo XIII. ein Jahr nach Rerum novarum den französischen Katholiken den Rat gab, sich mit der Republik aus­zusöhnen, wobei er zwischen Verfassung und Gesetzgebung unterschied und es für möglich hielt, die Staatsform anzuerkennen und zugleich auf Änderung der Gesetz­gebung zu dringen. Damit war die Anerkennung der demokratischen Prinzipien als formaler Regeln der staatlichen Willensbildung vollzogen. Die Mitarbeit in einem Gemeinwesen, das nicht katholischen Grundsätzen entsprach - nach der Lehre des Syllabus nur in konfessionell gemischten Staaten gestattet - wurde möglich für die Katholiken auch der französischen Republik.

Doch blieb der Papst bei dieser Anerkennung des liberalen Formalprinzips nicht stehen. Mit der Enzyklika Rerum novarum hatte er gleichzeitig Idee und Anliegen der katholischen Sozialbewegung wieder aufgenommen. Der „ideelle Exemplarismus" der päpstlichen Sozialenzyklika (Ernst Karl Winter} war zwar mit keiner bestimmten politi­schen Doktrin verknüpft; er drückte aber einen Anspruch auf Präsenz in der Gesell­schaft aus, der neu war und als neu empfunden wurde. Die soziale Ordnung wurde in die Hände des civis christianus gelegt, der durch sein Gewissen an die Erfüllung seiner Pflichten im öffentlichen Leben gebunden werden sollte. Die Gestaltung der politi­schen und sozialen Verhältnisse war zur Aufgabe der Laien geworden. Die im Spirituel­len gründende Weisungsgewalt des Papstes wandte sich nicht mehr an den Monarchen als Träger öffentlicher Verantwortung in einer christlichen Gesellschaft, sondern an den neuen, den künftigen demokratischen Souverän. Für die Stellung der Kirche in der demokratischen Gesellschaft waren die Sozialenzykliken der Päpste das unentbehr­liche Materialprinzip.

Diese spirituelle Einwirkung der Kirche auf die demokratische Gesellschaft konnte erst wirksam werden, nachdem der Atomismus der jakobinischen Demokratie, die Vor­stellung eines beziehungslosen Gegenübers von Individuum und Staat, überwunden war - wie umgekehrt die „Liberalisierung" der katholischen Staatstheorie erst möglich war, nachdem die Demokratie ihren religiösen Herrschaftsanspruch preisgegeben hatte. Die Parallele von Arbeiterbewegung, Gewerkschaftsbewegung und politischer Sammlung der Katholiken in den europäischen Ländern um 1900 ist daher kein Zufall: Die Kirche als Gemeinschaft beginnt sich der Demokratie zu öffnen, nachdem die Demokratie ihrerseits sich anschickt, den Gedanken der Gemeinschaft in sich auf­zunehmen.

V

Die Enzyklika Rerum novarum hat zu ihrer Zeit ein starkes Echo gefunden. ,,Wir glaub­ten, die Erde bebe uns unter den Füßen", läßt Georges Bernanos seinen Pfarrer von

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Torcy im „Tagebuch eines Landpfarrers" (1936) sagen. ,,Was für eine Begeisterung! Ich war zu jener Zeit Pfarrer in Norenfontes mitten im Kohlengebiet. Der einfache Gedanke, daß die Arbeit keine dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterworfene Ware ist, daß man nicht in Löhnen oder Menschenleben spekulieren kann wie in Getreide, Zucker oder Kaffee, das warf die Gewissen um. Kannst du es glauben: Weil ich diese Erkenntnis von der Kanzel herab vor meinen guten Leuten aussprach, galt ich für einen Sozialisten, und die Bauern mit der zuverlässigen Gesinnung brachten es fer­tig, daß ich in Ungnade fiel und nach Montreuil versetzt wurde ... "

Ihre Ausstrahlung verdankte die Enzyklika nicht nur dem Zeitpunkt, zu dem sie erschien, nicht nur der Person und Autorität des Papstes. Gewiß, die Aufnahmebereit­schaft im damaligen Europa war groß. Das Erscheinen der Enzyklika fiel mit dem Anbruch des eigentlichen Großindustriellen Zeitalters (Paul Jostock) zusammen. In Deutschland hatten die kaiserlichen Erlasse Anfang 1890 Hoffnungen auf eine dauer­hafte soziale Befriedung geweckt. Die erste Internationale Arbeiterschutz-Konferenz fand in Berlin statt. Bismarck trat nach Auseinandersetzungen mit Kaiser Wilhelm II. über die Arbeiterschutzgesetzgebung zurück. Das Sozialistengesetz wurde nicht ver­längert, der Kulturkampf ging endgültig zu Ende. Die neunziger Jahre waren die Zeit, in der das soziale Problem ins allgemeine Bewußtsein drang: es sei nur an Gerhart Hauptmanns „Weber" (1893) und an die Zeichnungen von Käthe Kollwitz aus dem pro­letarischen Milieu erinnert. Erst jetzt hatten sich auch im kirchlichen Raum die Mei­nungen konsolidiert und stabilisiert - man konnte Entscheidungen treffen, nach einer Zeit der Beobachtung und Prüfung. Eine Sozialenzyklika 20 oder 30 Jahre früher wäre wahrscheinlich eine ebenso emotionale, rasch verblassende Momentaufnahme gewor­den wie der „Syllabus", an den man sich kirchlicherseits schon um die Jahrhundert­wende nicht mehr gern erinnerte ... Die Enzyklika Rerum novarum kam keineswegs zu spät. Sie war ein richtiges Wort zur richtigen Zeit.

Zur Wirkung trugen auch die Qualitäten des Textes bei. Rerum novarum ist, wie die meisten Lehrschreiben Leos XIII., knapp, direkt und sachlich formuliert. Sein Stil ver­meidet Bilderreichtum und Emotionalität, er ist einfach und klar. Die Sache selbst soll sprechen; sie bedarf nicht des rhetorischen Kolorits. Die Probleme sollen deutlich wer­den. Das geschieht am besten im sachlichen, präzisen Diskurs. Das Lehrschreiben beeindruckt bis heute durch seine Klarheit, seine verhaltene Leidenschaft, seine scharfe Zeichnung der Alternativen, der richtigen und falschen Wege zur Lösung der sozialen Frage. Es wirkt, so möchte ich hinzufügen, durch seinen ruhigen Ton und seine unaufgeregte Menschenfreundlichkeit. Vor allem kann man daraus lernen, daß es bei päpstlichen Kundgebungen darauf ankommt, nicht vieles oder gar alles zu einem T hema zu sagen, sondern das Wesentliche - dies allerdings mit großer Klarheit und Entschiedenheit.

Leo XIII. hat dieses Wesentliche gesagt. Deshalb ist Rerum novarum auch nach hun­dert Jahren nicht verblaßt. Deshalb dürfen wir im Jahr 1991 seinen hundertsten Geburtstag mit Genugtuung und Freude feiern, dankbar für ein entschiedenes Wort, das in seiner Zeit nicht ohne Wirkung blieb und Maßstäbe für die Zukunft setzte.

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Eine neue Kultur der Solidarität -„Rerum novarum" nach 100 Jahren Josef Homeyer

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Dieser Studientag steht im Zeichen einer Enzyklika, die in mehrfacher Hinsicht eine Wegmarke darstellt. Mit ihr beginnt eine neue Gattung päpstlicher Lehrschreiben, die darauf hinweisen, daß die Kirche entschlossen ist, den sozialen Wandel aus der Sicht des Evangeliums, d. h. vor allem aus der Sicht der benachteiligten Menschen zu analy­sieren, zu bewerten und entsprechende Impulse zu geben. Dies besagt bereits der Titel von Rerum Novarum: "Über die Arbeiterfrage". Sodann trifft das Schreiben einige sozial-ethische Aussagen, die für das katholische Sozialdenken grundlegend und kenn­zeichnend wurden. Beides -Ansatz wie Inhalte der Enzyklika -erklärt das große Inter­esse daran, 100 Jahre später die katholische Soziallehre in Rückschau und Vorschau neu zu überprüfen.

Mir fällt heute die Aufgabe zu, den Blick vor allem auf Gegenwart und Zukunft zu werfen. Doch kann und will ich dies nicht tun, ohne zunächst die zentralen Aussagen zu resü­mieren, die Leo XIII. getroffen hat. Schließlich sind sie die Perspektive, in der die ethische Klärung auch der gegenwärtigen Sozialprobleme stehen soll.

1. Freiheit und Gerechtigkeit - der Markt allein genügt nicht

Ich beginne damit, vier entscheidende Botschaften von Rerum Novarum zu nennen. ( 1) Der Papst bejaht die marktbestimmte Wirtschaftsverfassung. Diese trägt vor allem derFreiheit Rechnung, auf deren institutionelle Absicherung der Mensch als Person einenAnspruch hat. Die „hohe Würde des Menschen" (RN 32) war der Grund, weshalb derPapst so ausführlich auf das bedrückende Los der Arbeiterschaft einging. Diese Würdeverlangt, daß es im Leben der Gesellschaft soviel Freiheit gibt, wie möglich und ethischvertretbar ist. Das betrifft auch die Wirtschaft, die eine freiheitliche Verfassung braucht.

Eine freiheitliche Wirtschaft kann zusätzlich - nach einem Wort aus Rerum Nova­rum - ,,die Quellen des Wohlstands" (RN 12) offenhalten. Sie hat sogar - wenn ihr soziale Komponenten hinzugefügt werden - eine gute Chance, die „ungeheure Kluft" (RN 35) zwischen den sozialen Klassen auf freiheitlichem Weg zu verkleinern. Tatsäch­lich hat ja der freie Markt -jedenfalls bei uns - zu technischem Fortschritt und einer Steigerung der Produktivität geführt, die entscheidende Faktoren dafür sind, daß eine breite Mehrheit der Bevölkerung in einem Wohlstand lebt, der früher unvorstellbar war.

Indessen bringt Leo XIII. in aller Klarheit auch zum Ausdruck, daß die wirtschaftliche

Freiheit - wie schon angedeutet - alleine nicht genügt. Der Mensch hat nicht nur einen Anspruch auf die Freiheit, sondern auch auf die Gerechtigkeit. Freie Wirtschaft schafft

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nicht von sich aus auch Gerechtigkeit. Der Papst erläutert dies an vielen Beispielen. Eines von ihnen ist der Arbeitsvertrag. Die freie Lohnvereinbarung kann auch zur Gewaltausübung werden, wenn nämlich der übermäßig starke Arbeitgeber dem über­mäßig schwachen Arbeitnehmer die Lohnhöhe praktisch diktiert - ohne daß in Betracht gezogen wird, was jener zur Sicherung seines Lebensunterhalts braucht (RN 34). Dies ist eine Verletzung der Gerechtigkeit. Eine ähnliche Feststellung hat spä­ter Paul V I. in bezug auf den internationalen Handel getroffen (PP 5�}). Die Wirtschafts­ordnung muß von Freiheit und Gerechtigkeit zugleich geprägt sein, sie muß „soziale Marktwirtschaft" sein.

(2) Der Papst bejaht das Privateigentum. Er betrachtet es als die natürliche, recht­mäßige Frucht der Arbeit. Ausdrücklich bekräftigt er auch das Recht auf Eigentum an Grund und Boden bzw. an den Mitteln der Produktion.

Gleichwohl zieht er auch dem Privatbesitz klare Grenzen. Zum einen hören die Güter dieser Erde - vor allem Grund und Boden-, unabhängig von der rechtlichen Ordnung ihrer Nutzung, nicht auf, ,,der Gesamtheit zu dienen" (RN 7). Sie haben eine Gemein­

bestimmung, die für die konkrete Ordnung der Eigentumsverhältnisse normativ ist. In neuerer Zeit hat Johannes Paul II. diesen für die katholische Soziallehre wichtigen Gedanken weiter konkretisiert und gesagt, es sei die Bestimmung des privaten Eigen­tums an Produktionsmitteln, der menschlichen Arbeit zu dienen (LE 14).

Darin deutet sich eine zweite Grenze an, die Rerum Novarum dem Privateigentum zieht: Es darf nicht zum Instrument der Herrschaft und Unterjochung werden, so daß - wie der Papst sagt - ,,wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein nahezu sklavi­sches Joch auflegen" (RN 2).

(3) Der Papst bejaht die interessenplurale Gesellschaft. Er verteidigt das Recht zur Grün­dung von Arbeitervereinen, privaten Gesellschaften und Genossenschaften, das der Staat nicht antasten dürfe. Gewiß, bis die Kirche nicht nur die Gründung solidarischer

Zusammenschlüsse akzeptierte, sondern die Gewerkschaften als Gegenmacht, als Interessenvertretung der Arbeitnehmer und als Sozialpartner anerkannte, bedurfte es noch eines langen Klärungsprozesses. Heute ist unumstritten, daß die Gewerkschaften

- wie es Johannes Paul II. sagte - ein „positiver Faktor der sozialen Ordnung und Solida­rität" sind (LE 2). Johannes Paul betont, daß sie wie die anderen gesellschaftlichenGruppen auf das Gemeinwohl hingewordnet sind und sein müssen. Dies gerade dann,wenn sie „auf die Verbesserung all dessen abzielen ... , was im System des Eigentumsan den Produktionsmitteln oder in der Art, sie einzusetzen und über sie zu verfügen,fehlerhaft ist".

(4) Der Papst bejaht und fordert den sozialen Rechtsstaat. Damit geht er über die Idee eines bloß liberalen Rechtsstaats hinaus. Alle, so sagt er, seien Bürger, die Besitzenden wie die Besitzlosen. Zudem entstehe im Staat der Wohlstand - ich zitiere - ,,nicht anderswoher als aus der Arbeit der Werktätigen" (RN 27). Die Gerechtigkeit verlange, daß der Staat, der „für alle da ist" (RN 27), besonders die schützt, die über geringen Besitz verfügten, zugleich aber die Bevölkerungsmehrheit bildeten. Leo XIII. kon­kretisiert das Sozialstaatsgebot. Er nennt als Beispiele den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Arbeitszeitregelungen, den besonderen Kinderschutz und die Sonntags­ruhe.

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Ich habe also vier zentrale Botschaften von Rerum Novarum genannt. Das Schreiben plä­diert 1. für eine gerechtigkeitsorientierte, freie Wirtschaftsverfassung, 2. für das Recht auf Privateigentum, das allerdings sozialpflichtig bleibt, 3. für Strukturen, die dem gesellschaftlichen Interessenpluralismus Rechnung tragen, und 4. für den freiheit­lichen, aber auch sozialen Rechtsstaat.

Mit einem Wort: Der Papst bejaht und fordert bei der Ordnung von Gesellschaft und Staat die Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit. Genau darin liegt, so meine ich, der entschei­dende programmatische Impuls, den Rerum Novarum der weiteren Entwicklung und Entfaltung der katholischen Soziallehre gab. Genau darin liegt auch der Impuls, den dieses Lehrschreiben heute noch uns gibt, die wir vor neuen sozialen Herausforderun­gen stehen, aber unsere Gegenwart und Zukunft - wie Leo XIII. - aus der Perspektive des Evangeliums, d. h. vor allem aus der Perspektive der gesellschaftlich Schwachen, betrachten und gestalten wollen.

2. Eine neue Solidarität ist der Schlüssel zur Zukunft

In Deutschland und Europa als Ganzem gibt es heute andere soziale Herausforderun­gen als jene, die Rerum Novarum ansprach. Der industriellen Revolution folgten wei­tere, nicht minder radikale Wandlungsprozesse. Die innovativen Technologiebereiche, vor allem die Kommunikations- und die Biotechnologie, greifen schon heute in den Wirtschaftsprozeß revolutionierend ein und werden dies auch künftig tun. In der gesellschaftlichen Entwicklung gab es nach der bürgerlichen Revolution des vergange­nen Jahrhunderts weitere Umbrüche, deren letzte die Freiheitsrevolutionen des Jahres 1989 waren. Dennoch: Ich glaube, daß trotz aller Unterschiede, die uns von der Zeit Leos XIII. trennen, die wirklich grundlegende Aufgabe nach wie vor nicht hinrei­chend gelöst ist - nämlich die Vermittlung von Freiheit und Gerechtigkeit, die ein Grund­muster der sozialen Ordnung sein muß, damit diese der gottgegebenen Würde des Menschen entspricht.

( 1) Zeichen der Zeit

Ich möchte zunächst ausführlich drei herausragende Zeichen unserer Zeit nennen, die nach meiner Ansicht das Terrain beschreiben, auf dem sich diese Aufgabe der Vermittlung in Deutschland und Europa gegenwärtig stellt.

(a) Ein dreifacher Aufbruch

Ein erstes Zeichen ist die Entwicklung in Deutschland, Europa und im Nahen Osten. Die ungarischen Soldaten, die vor zwei Jahren die Zäune an der Grenze zu Österreich nie­derrissen, haben in der damaligen DDR - auf sie konzentriere ich mich zunächst -einen Massenaufbruch initiiert, der letztlich zum Ende der Nachkriegszeit führte. Die-

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ser Aufbruch war durchaus vielschichtig. Es gab die Ausreisebewegung, die darauf abzielte, am westlichen Wohlstand teilhaben zu können. Damit war innerlich fest ver­bunden die Freiheitsbewegung, die eine allmählich gereifte Frucht des KSZE-Prozes­ses ist. Schließlich gab es in der DDR eine religiös-soziale Bewegung, die ihre Dynamik und Formation nicht zuletzt im ökumenischen Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung hatte. Diese und weitere Kräfte brachten schließlich auch im Osten Deutschlands den Sozialismus, vor allem die Kommandowirtschaft und die staatliche Bevormundung der Gesellschaft, um ihre Existenz. Die Menschen wollten und wollen die freiheitliche Ordnung von Gesellschaft und Ökonomie. Durch die staatliche Vereinigung am 3. Oktober 1990 ist ganz Deutschland dieser Ordnung einen entscheidenden Schritt nähergekommen - ohne daß uns dieser Tag in ein imaginäres Land vollendeter Freiheit und Gerechtigkeit geführt hätte oder führen konnte.

Zugleich mit dem Aufbruch in Mittel- und Osteuropa gibt es einen Aufbruch in den

Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Seine ehrgeizigen Ziele sind der europäische Bin­nenmarkt, die politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion. Noch vor zehn Jahren schien dieser westeuropäische Aufbruch alles andere als wahrscheinlich. Man sprach von der „Eurosklerose" und gab der europäischen Wirtschaft wegen der amerikanischen und japanischen Konkurrenz wenig Zukunft. Den Umschwung brachte die politische und unternehmerische Führungsschicht, die auf umfassende und beschleunigte Modernisierung der westeuropäischen Volkswirtschaften setzte. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft schuf dafür in ihrem bekannten Weiß­buch imjahre 198.5 ein Signal. Sie nannte 300 Regelungserfordernisse, um bis Ende 1992 in der Gemeinschaft die Freiheit der Menschen, der Dienstleistungen, des Waren­verkehrs und des Kapitals zu schaffen. Das Ergebnis sollten mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze, mehr Wohlstand und weniger Inflation für 300 Millionen Menschen sein.

Der doppelte Aufbruch in Osteuropa und Westeuropa hat die Menschen gewiß beflügelt. Doch hat der Krieg im Golfin diesem Jahr die falsche Hoffnung, es stehe eine glückliche Zeit weltweiten Friedens unmittelbar bevor, rasch zerstört. Täglich lehren uns die Medien, daß dieser Krieg in einer Region geführt wurde, deren zahllose Pro­bleme auf militärische Weise letztlich nicht gelöst werden können. Der Krieg stand im Zeichen der Wiederherstellung der Rechtsordnung. Doch ist der Konflikt weitaus größer. Das koloniale Erbe, das Streben nach regionaler Vormachtstellung, der israe­lisch-palästinensische Konflikt spielen dabei ebenso eine Rolle wie soziale, religiöse und ethnische Spannungen in den Staaten der Region, Wirtschafts- und Machtinter­essen der westlichen Staaten sowie die Abhängigkeit der arabischen Staaten von den reichen Industrieländern.

Ich denke, die für uns völlig unverständliche Sympathie, welche Saddam Hussein bei Menschen vor allem in unterentwickelten Ländern findet, stellt die Frage, ob in deren Augen nicht im Golfkrieg auch der Antagonismus zwischen Norden und Süden im Spiel war.

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(b) Die westliche Wirtschaftsweise als unbestrittener Maßstab

Durch den Zusammenbruch des sozialistischen Wirtschaftssystems wurde die über­ragende Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft erst recht deutlich. Dies ist ein zweites Zeichen unserer Gegenwart. Es bestätigt - am Rande gesagt - die Richtigkeit der in Rerum Novarum gemachten Aussagen.

Zur Marktwirtschaft des Westens gibt es nach allem Anschein keine bessere Alternative. Sie zeigt eine tatsächlich beeindruckende Leistungsbilanz: ein breites Spektrum des Mas­senkonsums, das Armut und Not weit zurückgedrängt hat, ein quantitativ und qualitativ ausgedehntes Güterangebot, eine kontinuierliche Ausdehnung des Wohlstands - etwa von den Bessergestellten zur Grundschicht der Bevölkerung, von den städtischen Zen­tren zur ländlichen Peripherie. Sodann gibt es eine hohe Produktivität, die ein Wachs­tum von Produkten und Einkommen und eine Verringerung der Arbeitszeit gestattet. Hinzu kommen differenzierte Bildungsgänge und ein beachtliches Netz sozialer Siche­rung in Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit. Schließlich findet sich ein hohes Maß an Innovation - bis hin zu den neuen, umweltfreundlichen Technologien und Produkten.

Mit der Fortentwicklung der westlichen Wirtschaftsweise sind gesellschaftliche Wand­lungsvorgänge verbunden. Ich nenne einige Beispiele: Die Gestalt von Ehe und Familie und manche Funktionen haben sich grundlegend geändert, ohne daß deren Bedeu­tung als Ort der Vermittlung zwischen dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft aufgehoben wäre. Sodann erleben wir sehr deutlich das Zurücktreten gewachsener sozialer und religiöser Milieus. Lebensstile und -formen werden vielfältiger und bewir­ken eine weitere Pluralisierung der Gesellschaft. Damit wird der individuelle Freiheits­raum noch größer: Die persönliche Lebensführung samt der Bindungen, die man ein­geht, sind in gestiegenem Ausmaß gestaltungsoffen. Es liegt in der Logik dieser Ent­wicklung, daß die Menschen viel Energie auf die Entfaltung der eigenen Person ver­wenden. Dies ist eine Folge freiheitlicher Verhältnisse.

So zeigen sich die westliche Gesellschaft und ihre Marktwirtschaft als leistungsstark.

(c) Die Gesellschaft auf dem Weg in die Spaltung?

Indessen gibt es ein drittes Zeichen unserer Zeit, das ich nennen möchte. Es rückt weni­ger die Freiheit in den Mittelpunkt als deren - folgt man der katholischen Soziallehre -nötige Ergänzung durch die Gerechtigkeit.

Ich konzentriere mich zunächst auf Deutschland. Die Bundesrepublik hat in den vergangenen Jahren eine beispiellose wirtschaftliche Blüte erlebt. Die Zahl der Erwerbstätigen hat eine Rekordmarke erreicht, die verfügbaren Einkommen der pri­vaten Haushalte sind 1982-1989 um 300/o gestiegen.

Zur gleichen Zeit erreichen uns Warnzeichen, die überdeutlich auf die Gefahr neuer Spannungen oder sogar Spaltungen in der Gesellschaft hinweisen. Da ist zunächst die große Zahl der Arbeitslosen, die sich trotz der guten Konjunktur noch der 2-Millionen-Marke nähert. 40 °/o von ihnen haben keinen Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenver­sicherung. Zudem ist 1989 die Zahl derer auf 3 Millionen gestiegen, die von der Sozial-

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hilfe leben. Es gibt Armut in unserem Land. Sie hat viele Erscheinungsweisen und Gesichter. Von ihr sind einige Gruppen besonders belastet: die Arbeitslosen, sodann die kindereichen Familien wie auch die Alleinerziehenden, die Alten und Hochbetag­ten - hier besonders die Frauen-, die Pflegebedürtigen, die Verschuldeten. Es gibt die Armut derer, die keine bezahlbare Wohnung finden. Es gibt die Armut der schlecht

qualifizierten Ausländer. Es ließen sich noch viele weitere Beispiele für die Gefahr neuer Spannungen und Spaltungen anführen. Die negative Verschiebung der Einkom­mensverteilung ist eines von ihnen: Die bereinigte Lohnquote ist von 6.5 °/o ( 1980) auf .56 % ( 1989) geschrumpft und damit wieder auf dem Stand von 1%0.

Ich denke aber auch an die teilweise inhumanen Auswirkungen unserer Wirtschaftsweise

und andere Belastungen durch sie: das steigende Interesse der Unternehmen an Sonn­tagsarbeit sowie an Nacht- und Schichtarbeit, die - ganz abgesehen von sonstigen

Erwägungen - oft schon zum biologischen Rhythmus der Menschen im Widerspruch stehen. Der Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) spiegelt den gestiegenen

Bedarf an Flexibilisierung der Arbeitszeit, an mehr Samstags-und Sonntagsarbeit und mehr Nachtarbeit wider.

Ein anderes Beispiel sind die Selektionsproz:,esse, die wir erleben. Das betrifft die gesell­schaftliche Marginalisierung z.B. der nicht oder schlecht qualifizierten jugendlichen aus den geburtenstarken Jahrgängen. Ihr Schicksal ist oft, nach Ausbildung und Umschulung zu schwer Vermittelbaren zu werden. Gestiegenes Bildungsniveau und technologische Innovationen wurden ihnen zum Verhängnis. Eine Problemgruppe sind nach wie vor die Frauen. Oft wird z.B. die Befürchtung laut, sie könnten ihren eigenen Lebensplänen zuwider im Zeichen einer „Refamilisierung" sozialer Leistun­gen einem steigenden Druck ausgesetzt sein.

Kurzum: Es gibt überdeutliche Hinweise auf Spannungen und Spaltungen -zwischen Lei­stungsstarken und Leistungssehwachen, Männern und Frauen, Jungen und Alten, Deutschen und Ausländern. Sie werfen neues Licht auf die nötige Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit.

In dieser Situation stellt der Proz:,eß des wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands eine z:,usätz:,liche Herausforderung dar. Wir erleben täglich, wie die Aufbaustimmung in Depression, Verbitterung und Wut umgeschlagen ist oder umzuschlagen droht. Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern erleben von

Tag zu Tag Massenentlassungen, Einkommensverluste - und gleichzeitig zahllose

Preiserhöhungen. Selbst pessimistische Schätzungen, wonach die Zahl der Arbeits­losen in Ostdeutschland bis zur 3-Millionen-Grenze klettern können, scheinen nicht mehr länger unrealistisch zu sein.

Signale neuer Spannungen sind nicht auf Deutchland beschränkt. Die Europäische

Gemeinschaft steht insgesamt z.B. vor der bangen Frage, ob sie am Vorabend einer giganti· sehen Migrationsbewegung lebt, die Ströme von Menschen aus dem Osten und Süden in die Gemeinschaft führen würde. So könnte es passieren, daß Millionen von Sowjetbür­gern - man spricht von 2-.5 Millionen - ihr Land infolge wirtschaftlicher Versorgungs­probleme oder ethnischer Konflikte oder aus Furcht vor einer neuen Diktatur verlassen

und in der Europäischen Gemeinschaft Aufnahme suchen. Andernorts beobachten wir das Wiedererstarken des Nationalismus, das ethnische oder religiöse Minderheiten zur

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Flucht bewegt. Ich denke an Rumänien, Bulgarien oder Jugoslawien. Aber auch in Polen, Ungarn sowie in der Tschechoslowakei drohen viele aus Furcht vor der wirt­schaftlichen Liberalisierung zu fliehen.

Daneben sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, daß es auch im Innenraum der

Europäischen Gemeinschaft infolge des Binnenmarktprogramms erhebliche Änderungen geben wird. Seine positiven Erfolge wird der Gemeinsame Markt - so sagen viele vor­aus - nur um den Preis erheblicher Unternehmenskonzentration entfalten können. In manchen Branchen, z.B. von den Computerherstellern, den Haushaltsgerätefabriken und Autofirmen, wird möglicherweise nur die Hälfte der Unternehmen überleben ( Cecchini-Bericht}. Zudem ist eher unklar, ob die Gewinne des Binnenmarktes wirklich über das ganze Gemeinschaftsgebiet gleichmäßig verteilt sein werden. Es könnte gemeinschaftsweit zu neuen Spannungen und Spaltungen kommen,die im großen zwischen strukturschwachen und leistungsstarken Regionen, im kleinen zwischen kleinen und großen Unternehmen ausgetragen werden. Untersuchungen der EG-Kommission zei­gen deutlich, daß Armut in Europa eine Tatsache ist und ganz und gar nicht überwun­den. So mußten sich 1985 in der Bundesrepublik 9 % der Bevölkerung, in Frankreich 18 °/o, in Spanien 20 °/o, in Griechenland 24 0/o und in Portugal 28 0/o mit der Hälfte des Durchschnittseinkommens bescheiden. Auch hier wird die Frage unausweichlich, ob Freiheit und Gerechtigkeit in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, ob die bemerkenswerten Gewinne des Binnenmarktes nicht sehr ungleich verteilt sein werden.

Negativ muß diese Frage im Hinblick auf die Entwicklungsländer beantwortet werden. Während in den Industrieländern in den 80erjahren das Pro-Kopf-Einkommen stieg, ist es in ihnen gesunken. Bei starker Differenzierung im einzelnen sind es gerade die ärmsten Entwicklungsländer, deren Ernährungslage sich in den letzten 10 Jahren ver­schlechtert hat. Manche Experten sprechen sogar von einem verlorenen Entwick­lungsjahrzehnt. Paradoxerweise findet seit 1984 ein realer Ressourcentransfer statt: die Zins- und Tilgungsraten der Entwicklungsländer sind höher als die langfristigen Aus­landskredite, die sie aus den Industrieländern erhalten.

(2) Strukturen der Ungerechtigkeit

Beschränken wir uns auf diese drei Zeichen der Zeit: den Aufbruch, den wir in Deutsch­land und ganz Europa erleben; die Attraktivität des freien Marktes; und die Gefahr neuer Spannungen und Spaltungen. Wir müssen, wenn wir dem Ansatz von Rerum Novarum folgen wollen, diese Zeichen der Zeit aus der Perspektive der Schwächeren lesen. Dies fällt uns nicht immer leicht, besonders dann nicht, wenn wir selbst - als einzelne, als Deutsche oder als Bürger der Europäischen Gemeinschaft - zu den Stärkeren zählen. Wir verfallen leicht in eine einseitige Betrachtungsweise, die übersieht, daß die für uns vorteilhaften Strukturen des freien Marktes und der Weltwirtschaft aus der Perspektive der Mehrheit der Weltbevölkerung eine negative Qualität haben. Diese sieht sich nicht nur vom wirtschaftlichen Reichtum, über den die Erde verfügt, weithin ausgeschlossen, sondern auch von den Entscheidungsprozessen des Weltwirtschafts- und Welternäh­rungssystems.

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Wir spüren alle, wie dringlich die Frage nach der Gerechtigkeit auch heute noch ist. Wir

spüren, wie sehr uns das von Rerum Novarum bekräftigte Prinzip der Gemeinbestim­

mung der Güter fordert. Wir spüren, daß Freiheit unverzichtbar bleibt, aber nur dann

wirklich human ist, wenn sie ihre Bindung an die Gerechtigkeit nicht nur löst, sondern im Gegenteil verstärkt.

Wir können uns auch der Analyse nicht entziehen, die Papst Johannes Paul II. in sei­

nem Entwicklungsrundschreiben (Sollicitudo Rei Socialis) niedergelegt hat. Er identi­

fizierte „ungesteuerte Mechanismen" der Weltwirtschaft, die „fast automatisch wirken,

wobei sie die Situation des Reichtums der einen und der Armut der anderen verfesti­

gen. Solche Mechanismen, von den stärker entwickelten Ländern in direkter oder indi­

rekter Weise gesteuert, begünstigen durch die ihnen eigene Wirkweise die Interessen

derer, die über sie verfügen, erdrücken ... aber schließlich vollständig die Wirtschafts­

ordnungen der weniger entwickelten Länder" (SRS 16). Wir wissen, daß der Papst auch eine theologische Betrachtung angeschlossen und von „Strukturen der Sünde" gespro­

chen hat.

Die soziale Verkündigung der Kirche will zum Abbau solcher Strukturen beitragen.

Sie will die Zeichen der Zeit erkennen und - wie Rerum Novarum - aus der Sicht der

Schwächeren deuten. Sie will - und muß - eine neue Balance von Freiheit und Gerech­

tigkeit fördern.

(3) Eine neue Kultur der Solidarität

Diese neue Balance hat als Voraussetzung, daß wir ein neues Bewußtsein der Solidarität

entwickeln. Eine neue Solidarität ist der Schlüssel zu einer Zukunft - die Freiheit und

Gerechtigkeit realisiert. Wir brauchen eine wirkliche Kultur der Solidariät.

Ich weiß, daß heute mit dem Appell an Solidarität oft Mißbrauch getrieben wird. Wir sollten uns dadurch nicht entmutigen oder gar ein Sprechverbot auferlegen lassen.

Statt dessen müssen wir klar und deutlich umschreiben, was wir meinen, wenn wir vom

Grundwert der Solidarität sprechen, der mehr und mehr zur Grundlage und zum Fer­

ment einer freiheitlichen und gerechten Sozialordnung werden soll.

Wir wissen, daß Solidarität ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit ist, das Menschen

miteinander verbindet und gemeinsam engagiert. Wir kennen auch die vielen histori­

schen und alltäglichen Beispiele dafür, wie diese Erfahrung der Gemeinsamkeit wach­

sen und gestaltet werden kann - nicht nur, aber oft im Kontext einer gemeinsamen Not­

lage. Dies gilt für die historische Solidarität der Arbeiterschaft, deren Symboltag -den

1. Mai - wir gestern begangen haben. Es gilt für die Solidarität derer, die - angefangen

von der Gewerkschaftsbewegung in Polen bis hin zu den Leipziger Montagsdemon­

strationen - gegen die Unfreiheit aufstanden. Es gilt auch für die Formen solidarischen

Engagements im kleinen - im Beruf, in der Nachbarschaft oder der eigenen Familie.

Immer ist etwa Gemeinsames - Bedrohliches oder auch Beglückendes - die Basis der

Solidarität.

Ich möchte jedoch als entscheidende Basis der Solidarität noch ein Weiteres nen­

nen: daß die Menschen alle Personen sind. Die menschliche Würde -die Personalität-ist

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die ethisch entscheidende Grundlage der Solidarität. Der Papst und auch die katholischen Sozialethiker haben dies in jüngster Zeit mit aller Klarheit neu herausgestellt. Daß alle Menschen Person sind, schafft eine universale Gemeinsamkeit und eine globale Soli­darität.

Wenn ich von der Solidarität als dem Schlüssel zur Zukunft spreche, dann denke ich daran, daß uns das Bewußtsein von der Gemeinsamkeit aller Menschen als Person den Weg in jene Zukunft bereiten wird, in der Freiheit und Gerechtigkeit zum Ausgleich fin­den. Steinig ist dieser Weg bestimmt, weil die Solidarität der Menschen als Person immer auch in Spannung steht zu unterschiedlichen Interessen, die Menschen in einen Widerstreit bringen. Doch sollte der Interessenpluralismus - den Rerum Novarum bejaht - nicht zu enggeführten Solidarisierungen bloß innerhalb der eigenen Inter­essengruppe führen, so daß die fundamentale Solidarität der Personen verdunkelt oder gar aufgekündigt wird. Gruppenegoismus ist und bleibt unsolidarisch.

Nimmt man die menschliche Person als Ausgangspunkt der Solidarität, so ist zugleich - auch darauf machen uns die Sozialethiker aufmerksam - die Dringlichkeit der Subsidiarität neu belegt. Es widerstrebt dem Ethos der Solidarität, die Entfaltungskräfte der Menschen und ihre (gemeinwohlorientierten) Zusammenschlüsse durch Interven­tionen von oben zu lähmen oder zu zerstören. Dann würde ja die Grundlage der Soli­darität, die menschliche Würde, negiert. ,,Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen des Staatsapparates aus" ( CA 48). Solidarität will und fordert die frei­heitliche Verfassung.

Solidarität will und fiirdert zugleich die gerechte Verfassung der Gesellschaft. Sie lebt aus der Überzeugung, daß alle Menschen in ihrer Würde anzuerkennen sind. Soziale Gerech­tigkeit trägt dafür Sorge, daß Bedingungen der gegenseitigen Zuordnung der Men­schen geschaffen werden, die deren gemeinsamer Würde angemessen sind. So bereitet Solidarität der Gerechtigkeit den Weg.

Es übersteigt meinen Auftrag, diese V ision einer solidarischen Zukunft, die ich für sehr entscheidend halte, hier weiter zu entfalten. Warum Solidarität universal alle Men­schen und global die ganze Welt umspannen muß, ist klar: Sie beruht auf der gemeinsa­men Würde der Menschen. Daß sie zugleich die Freiheit und die Gerechtigkeit fördert, ist ebenso klar. Die Rede von Solidarität ist alles andere als ein abgenutztes Füllwort. Sie ist der Appell an einen Wert, der zum Kern jedes katholischen Sozialprogramms gehört, das Rerum Novarum die Treue bewahrt. Wir brauchen eine neue Kultur der Solidarität, ein lebendiges, sozial kreatives Bewußtsein der Zusammengehörigkeit - quer zu allen Interessengegensätzen. Sie ist für uns Christen zudem ein Ausdruck unseres Glaubens daran, daß die gemeinsame Würde der Menschen ihren Grund in Gott hat: in seiner Liebe, in der er uns erschaffen und in Christus erneuert hat.

Es stimmt: Die Solidarität ist nur ein Ausdruck unseres Glaubens. Man muß dann aber auch sagen: Unser Glaube fordert die Bereitschaft zur Solidarität. Indem die Kirche - wie Johannes Paul II. in seiner neuen Enzyklika sagt - die „Wahrheit" sowohl „über die Erschaffung der Welt" verkündet, ,,die Gott in die Hände der Menschen gelegt hat", als auch die „Wahrheit über die Erlösung" predigt, ,,durch die der Sohn Gottes alle Menschen gerettet und sie zugleich miteinander verbunden hat" (CA 51), gibt sie der

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Solidarität ihre tiefste Begründung und Verwurzelung. Von uns Christen aber ist stän­dige Umkehr verlangt, um den Glauben an die gemeinschaftstiftende Erlösung zu ver­tiefen und so das Bewußtsein der Solidarität in uns selbst zu vertiefen. Dies um so mehr, je stärker uns selbst "die heute verbreitete individualistische Denkweise" (CA 49) ergriffen hat, von welcher der Papst spricht.

Ich hoffe, es ist genügend deutlich geworden, was Solidarität meint und warum wir eine neue Kultur der Solidarität brauchen: um der Menschen willen. Solidarität ist eine persönliche, kommunikative und religiöse Haltung mit universaler Reichweite: das entschiedene Interesse am anderen, wirksames Engagement für das Leben und Wohl­ergehen eines jeden Menschen, für eine faire Verteilung der Güter der Erde, die allen gehören, für die gleiche Rangstellung eines jeden und seine Beteiligung an gesell­schaftlichen Vorgängen, Solidarität steht für eine Beteiligungsgerechtigkeit, die Frieden schafft (SRS 38).

( 4) Bewährungsfelder der Solidarität

Ich weiß, daß Solidarität, die eine Haltung ist und Erfahrung braucht, nicht von heute auf

morgen geschaffen werden kann. Sie muß wachsen - und diesem Wachstum legen sich Hin­dernisse in den Weg. Doch denke ich, daß auch und gerade wir Christen - in der gan­zen Pluralität kirchlicher Formationen - zu ihrem Wachstum beitragen können und solchen - bis hin zur Schaffung auch solidarischer Strukturen.

Ich will bloß in einigen Punkten verdeutlichen, welches die konkreten Bewährungs­felder einer neuen Kultur der Solidarität sein könnten.

Deutschland steht mehr als andere Länder im doppelten Kraftfeld des östlichen wie auch des westlichen Aufbruchs. Im Prozeß der Vereinigung spielen, wie wir täglich erfahren, Fragen des Eigentumsrechts - die schon Rerum Novarum bewegten - eine zentrale Rolle. Solidarität würde sich darin beweisen, daß im Prozeß der deutschen Einigung eine solidarische Struktur des Privateigentumsrechts an Produktionsmitteln geschaffen wird. Nach dem Verständnis katholischer Soziallehre ist dieses Recht nachrangig, wenn es nicht der Schaffung von Arbeitsplätzen dient sowie dem Einkom­menserwerb der arbeitenden Menschen und ihrem Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum.

Eine solidarische Struktur muß auch bei der Verteilung der Lasten der deutschen Einigung entsprechend der Leistungsfähigkeit der Menschen in West- und Ostdeutsch­land gefunden werden.

Die Verteilung der Gewinn- und Lohneinkommen im wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre entspricht nicht einer solidarischen Struktur. Es ist ungerecht, wenn das Kapital, das von den arbeitenden Menschen geschaffen wurde, zum Geld- oder Sachvermögen einer Minderheit wird. Nicht nur das Gewinneinkommen, auch das Lohneinkommen kann für Investitionen zur Verfügung stehen. Es macht Sinn, den Auf­bau der Infrastruktur in den ostdeutschen Ländern über eine breite Kapitalbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu finanzieren und diese an den Erträgen zu beteiligen.

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Das Unternehmen - nicht nur eine Kapitalgesellschaft, sondern zugleich eine „Gemeinschaft von Menschen", zu der als Partner sowohl das Kapital wie auch die Arbeit gehören (CA 91) - muß eine solidarische Verfassung erhalten. Es entspricht der Menschenwürde und der Beteiligungsgerechtigkeit, wenn diejenigen, die von wirt­schaftlichen Entscheidungen betroffen sind, an der Vorbereitung, an den Entscheidun­gen selbst und an deren Durchführung aktiv beteiligt werden. Die Manager müßten ihre Geschäftsführung sowohl vor den Arbeitern als auch vor den Kapitaleignern ver­antworten.

Ein anderes Beispiel ist die Asyl- und Ausländerpolitik. Faktisch sind Millionen von Menschen in die Bundesrepublik eingewandert. Denn fast 5 Millionen Ausländer haben allein in Westdeutschland ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Wir sollten uns in rechtlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht mit ihnen solidarisch erweisen. Die nicht endende Diskussion über die Ausländerpolitik - zuletzt nochmals durch den Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten (Frau Funcke) neu belebt - zeigt an, daß hier noch manche Defizite bestehen. Mehr noch: Sollten wir vor einer Migrationswelle ungekannten Ausmaßes stehen, so ist unsere Solidarität mehr als bisher gefragt - bis hin zu den rechtlichen Regelungen der Einwanderung, die bislang vielleicht zu stark vom Prinzip der Volkszugehörigkeit bestimmt wurden.

Solche Beispiele zeigen, worin sich Solidarität beweisen könnte, die dann zur Grundlage einer ebenso freien wie gerechten Gesellschaft würde.

Solidarische Strukturen sind eine vorrangige Aufgabe bei der Ordnung des Euro­päischen Binnenmarktes. Politische Entscheidungen müssen wieder Vorrang vor wirt­schaftlichen Interessen haben. Das Europäische Parlament muß aus seinem politi­schen Schattendasein heraustreten. Nicht nur der Arbeitsschutz, sondern die elementa­ren Koalitions-, Informations- und Beteiligungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie sie in der Europäischen Sozialcharta ursprünglich proklamiert wer­den sollten, müssen in Kraft gesetzt werden. Nicht nur die Spitzentechnologien der reichen Länder, sondern auch menschengerechte, beschäftigungswirksame Techniken für strukturschwache und problemreiche Regionen verdienen die Unterstützung durch die Gemeinschaft; dazu ist eine solidarische Finanzverfassung unverzichtbar.

Ich belasse es im Blick auf die Probleme der gesamteuropäischen und weltweiten Entwick­

lung bei einigen Anmerkungen. Wie können wir das Bewußtsein globaler Zusammen­gehörigkeit im Kontext der Wirtschaftspolitik verstärken? Schließlich muß eine solida­rische Weltwirtschaftsproblematik bei uns, im Industrieland Deutschland, beginnen. Ich denke an die Bereitschaft zur Öffnung der Märkte für Agrarprodukte der armen Länder wie auch an ein neues Bewußtsein für deren Interessen bei internationalen Handels- und Rohstoffabkommen.

Johannes Paul II. gibt einen konkreten Hinweis auf den Geist der Solidarität, wenn er sagt: ,,Es braucht also ein großes Bemühen um gegenseitiges Verstehen, um Wissen voneinander und um Sensibilisierung der Gewissen. Das ist die ersehnte Kultur, die das Vertrauen in die menschliche Leistungsfähigkeit des Armen wachsen läßt." (CA 52)

Eine Folgerung scheint mir sein zu müssen, die Konzepte der Entwicklungspolitik im Sinn einer „autogenen Entwicklung" umzuformulieren: Nicht der Aufbau inselarti­ger Exportindustrien, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind, sondern die Orien-

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tierung an den Grundbedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung und der Aufbau eines eigenständigen Wirtschaftskreislaufs, an dem Landwirtschaft, Handwerk, indu­strielles Gewerbe und genossenschaftliches Kreditnetz beteiligt sind, müssen vorran­gig in den Blick geraten.

Schließlich: Die weltweiten Ökologieprobleme zeigen, wie sehr wir das Gefühl der Gemeinsamkeit, der Einen Welt der Menschen nötig haben.

3. Zeitgemäße Formen katholischen Sozialengagements

Indessen blieben die Konsequenzen, die ich im Hinblick auf Bewährungsfelder der Solidarität gezogen habe, unvollständig, wenn ich nicht abschließend auf uns selbst, die Christen und vor allem die Katholiken, eingehen würde. Wie schon vor lOOJahren gewinnt die Kirche auch heute ihre sozial mitprägende, konkret: die Solidarität fördernde Kraft nicht bloß aus der kirchlichen Lehre, sondern auch (und vor allem) aus dem kirchlichen Leben, zu dem wir alle in der Pluralität kirchlicher Formationen bei­tragen.

(1) Der soziale Katholizismus gestern und heute

Gerade in diesen Wochen gedenken wir dankbar der großen Verdienste, die sich der

soziale Katholizismus in Deutschland schon zur Zeit Leos XIII. erworben hat. In unserem Hirtenwort zum vergangenen Sonntag haben wir Bischöfe die Leistung ausdrücklich gewürdigt, die Männer wie Karl-Heinrich Fürst zu Löwenstein, Ritter von Buß, Bischof Ketteler, Adolph Kolping, Franz Hitze, Franz Brandt und viele andere erbrachten. Doch auch sie konnten ihre Wirksamkeit nur entfalten, weil es die religiös-sozialen Ver­eine bzw. katholischen Sozialverbände, das Zentrum und die christlichen Gewerk­schaften gab. Wir brauchen uns nur hier in unserem heutigen Kreis umzuschauen, um zu sehen, wie solide die enge Zusammenarbeit zwischen kirchlichem Amt und katholi­schen Laien damals grundgelegt wurde.

Gleichwohl hat sich seither nicht nur die Gesellschaft allgemein, sondern haben sich auch Kirche und Katholizismus tiefgreifend gewandelt. Viele sprechen - wohl zu Recht - von einer Auflösung des katholischen Milieus im Zuge der wirtschaftlichen und gesell­schaftlichen Modernisierungsschübe wie auch der neuen Konstellation der politischen Kräfte im Nachkriegsdeutschland. Dieser Wandel hat Konsequenzen für die deutsche Kirche insgesamt, die mit neuer Dringlichkeit vor der Aufgabe steht, sich geistlich­unterscheidend auf die moderne Welt einzulassen. Spürbar ist der Wandel aber auch in den katholischen Sozialverbänden, deren Wirkbedingungen nicht unerheblich eben jene frühere Geschlossenheit der katholischen Welt war. Wie viele Parteien und Ver­einigungen geraten auch sie als Großverbände in einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft rasch in beträchtliche Schwierigkeiten.

In dieser Situation sollten wir danach Ausschau halten, wie die bewährten Formen katholischer Beteiligung am sozialpolitischen Leben erneuert und welche neuen For­men beschlossen werden können.

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(2) Auf der Suche nach neuen Formen

Dabei scheinen mir drei Erfordernisse klar erkennbar zu sein. Zum einen wird die Vitalität katholischer Verbände entscheidend davon abhängen, ob

sie auf die neuen Fragestellungen sowohl eine inhaltliche wie auch strukturelle Ant­wort finden. Die Verbände müssen nicht um jeden Preis die gewachsene Form ihres Lebens und Wirkens erhalten. Sie können ihre christliche Identität auch im kritischen Dialog mit den gesellschaftlichen Strömungen der Gegenwart neu gewinnen. Sie haben die Chance, Neues in der Gesellschaft wahrzunehmen, an sich heranzulassen, zu unterscheiden und umzugestalten. So könnten sie zur Relaisstation zwischen Kirche und Gesellschaft werden. Sie könnten das zunächst Fremde übersetzen, sich vertraut und dann zustimmungsfähig machen -und dadurch einen großen Beitrag zur Stärkung der kirchlichen Präsenz im Bereich sozialer Herausforderungen und besonders zur Förderung ein neuen Solidarität leisten.

Zweitens gibt es gute Gründe, die Organisationsform der Verbände durch ein stärke­

res Gewicht überschaubarer Gruppen in den Gemeinden und am Ort zu beleben oder zu ergänzen. Die Gemeinschaften an der Basis sind mit der Lebenswelt befreundeter Familien und Nachbarschaften, den Betrieben, der Wohngegend oder im Stadtteil vernetzt. Sie kön­nen Kontakte zu Initiativen und sozialen Bewegungen knüpfen. So könnten sie ein innovatives Potential im kirchlichen Sozialengagement werden, dessen Wirkkraft noch größer würde, wenn es zu einer Verbindung mit den bestehenden Sozialverbänden käme.

Ausdrücklich nennen möchte ich die vielen guten Erfahrungen, die wir im Kontext des ökumenischen Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöp­fung machen konnten. Hier wurde ein Weg entdeckt, die politischen Herausforderun­gen von heute aufzunehmen und in christlicher Perpektive auf sie einzugehen. Daß dies oft in engem Kontakt mit den Brüdern und Schwestern in den anderen christ­lichen Kirchen geschah, halte ich für ein großes Geschenk.

Drittens werden wir auch im sozialen Engagement zu einer geistlichen, spirituellen Ver­tiefung finden müssen. Gerade die Stärkung der Solidarität, zu der uns Gott in Jesus Christus neu befähigt und beauftragt, braucht als Nährboden das gläubige, geistliche Wissen um die universale Geschwisterlichkeit, die uns Christus geschenkt hat. Ohne eine tiefe „Gottverwurzelung" wird unser Zeugnis die nötige Kraft und Glaubwürdig­keit nicht finden können, unser Appell an die Solidarität zu schwach und unser Einsatz für Freiheit und Gerechtigkeit zu oberflächlich bleiben. Wege spiritueller Vertiefung haben uns die Ortskirchen vieler Länder vor allem der anderen Kontinente gewiesen. Wir können von ihnen vieles lernen. Erfreulicherweise werden bereits in vielen über­schaubaren Gemeinschaften Methoden des „Bibelteilens", der „gemeinschaftlichen Entscheidung aus dem Glauben", der „Lebensbetrachtung" und des „lebendigen Evan­geliums" praktiziert, in denen Glaube und Leben in vertiefter Weise zusammenge­bracht und solidarisches Denken und Handeln grundgelegt und eingeübt werden.

Damit komme ich zum Ende meines Vortrags. Ich habe zu zeigen versucht, daß der gedankliche Ansatz und die inhaltlichen Aussagen von Rerum Novarum ihre Gültig­keit bis heute bewahrt haben. Die „Zeichen der Zeit" gebieten es heute, bei der kreati-

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ven Rezeption unserer katholischen sozialen Tradition die Kräfte besonders darauf auszurichten, daß wir einer neuen Kultur der Solidarität zum Wachstum verhelfen. Sie ist der Schlüssel zu einer Zukunft, in der Freiheit und Gerechtigkeit gleichermaßen die Ordnung der Gesellschaft prägen.

Dieses Ziel hat schon Leo XIII. verfolgt. Es ist uns noch aufgegeben. Am Ende dieses Jahres werden die Bischöfe Europas bei einer Sondersynode in Rom Gelegenheit haben, aus der Sicht des Glaubens auch über Freiheit und Gerechtigkeit in Europa zu beraten. Es geht um die Aufgaben einer neuen Evangelisierung Europas. Für diese aber gilt, was Johannes Paul in „Centesimus Annus" sagt: ,,Die ,Neuevangelisierung', die die moderne Welt dringend nötig hat ... , muß zu ihren wesentlichen Bestandteilen die Ver­kündigung der Soziallehre der Kirche zählen." (CA 5) In Deutschland wird uns der Karlsruher Katholikentag die Gelegenheit geben, über die neue Evangelisierung in Europa miteinander zu sprechen und dies im Geist der Katholischen Soziallehre zu tun. Möge dies ein wirksamer Beitrag sein zu einer neuen Kultur der Solidarität!

Die Ausführungen von Prof. Hans Maier und Bischof Josef Homeyer sind Referate beim Studientag der DBK und des ZdK am 2. Mai 1991 in Bonn-Bad Godesberg: ,,100 Jahre Enzyklika Rerum novarum".

Sonderspende 1991 - neue Bundesländer

Unser Aufruf zur „neuen" Sonderspende 1991 hat sehr großen Widerhall gefun­den. Ich danke allen Spendern für die praktische Solidarität, die sie mit ihrem Opfer für die Arbeit des KA V in den neuen Ländern bewiesen haben. Im November 1991 fand zum ersten Mal eine Jahrestagung mit Generalversamm­lung in Mecklenburg-Vorpommern statt. Wir werden im nächsten Heft darüber berichten. Zum Jahresende bitten wir erneut um Ihre Hilfe. - Bedienen Sie sich bitte der beiliegenden Gutschrift/Überweisung.

Norbert Darga, Präsident des KAV

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Entscheidungsträger in der Gesellschaft -Entscheidungsempfänger in der Kirche? Über die Rolle der Laien

Adrian Holderegger

Einleitung

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Ohne Zweifel markiert das Begriffspaar "Entscheidungsträger in der Gesellschaft"/ "Entscheidungsempfänger in der Kirche" ein Spannungsfeld, das zur Zeit besonders virulent zu sein scheint. Damit ist der Umstand gemeint, daß viele Christinnen und Christen offensichtlich die Erfahrung machen, an gesellschaftlichen Entscheidungs­prozessen zwar durchaus mitwirken zu können, aber- im Kontrast dazu -in der Kirche zunehmend den Status von Entscheidungsempfängern einnehmen zu müssen. Wenn man sich in unseren Breitengraden etwas herumhört, äußern sich viele engagierte Laien dahingehend, über sie würde in der Kirche vielmehr verfügt, als daß sie als Sub­jekte ernst genommen würden. Dies wird offensichtlich um so stärker von denjenigen empfunden, die in der Gesellschaft selbst Entscheidungsverantwortung tragen, die sie kontinuierlich der Bewährung und der Legitimierung auszusetzen haben.

Einleitend möchte ich im folgenden einige mir symptomatisch erscheinende Punkte herausgreifen, an denen das Unbehagen am deutlichsten aufscheint. Zu diesen ohne­hin schon exemplarisch ausgewählten Konfliktpunkten sollen keine erschöpfenden Analysen vorgelegt werden; doch seien sie soweit beschrieben, daß sie uns erlauben, zu grundsätzlicheren Überlegungen vorzustoßen.

Kirchenleitung - Ortskirche - Sachkompetenz

Am eindrücklichsten wird diese Spannung zur Zeit im Verhältnis zwischen der römi­schen Kurie und den Ortskirchen greifbar, was sich insbesondere in den umstrittenen Bischofsernennungen im deutschsprachigen Raum zeigt. Der entscheidende Punkt bei diesen Vorgängen liegt wohl darin, daß römischerseits traditionell gewachsene und meist auch kodifizierte Rechte der Mitwirkung der Ortskirchen überspielt wurden. In den Augen vieler wird damit auch gegen ortskirchliche, legitim gewachsene Formen kirchlichen Lebens und gegen lokalkirchliche Sensibilitäten verstoßen. V iele erken­nen darin eine Beeinträchtigung und Bedrohung der legitimen Eigenständigkeit der Ortskirchen, einer Eigenständigkeit, welche die Geschichte der Kirche bis heute geprägt hat. Zwar stehen hier auch die jeweils für ein Bischofsamt bezeichneten Perso­nen in Diskussion, weil sie einer bestimmten, zumeist exklusiven innerkirchlichen Richtung angehören; doch was mehr Anlaß zur Kritik gibt, ist der kuriale Rechtsstil,

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der sich über die pastoralen Bedürfnisse und über ortskirchliche Gepflogenheiten und Rechte hinwegsetzt. In demokratischen Gesellschaften, in denen ein ausgeprägtes Rechtsbewußtsein herrscht und in denen es keine Machtausübung ohne konstitutive Rückbindung an die Betroffenen gibt, müssen kuriale Alleingänge heftige Reaktionen hervorrufen. Natürlich mischen sich in diese Gegenreaktionen immer auch Töne libe­ralistisch-säkularistischer Provenienz, aber dennoch muß entschieden zurückgefragt werden, ob solche „coup de foudre"-Entscheide nicht im wörtlichsten Sinne „anachro­nistisch" sind, weil sie am Selbstbewußtsein der Lokalkirchen vorbei getroffen werden.

Ein weiteres Beispiel: Das Vaticanum II hat die Institution der römischen Bischofs­synoden geschaffen, um einerseits die Kollegialität der Bischöfe untereinander zu stär­ken, um aber andererseits auch die Glaubenserfahrungen der Lokalkirchen unterein­ander ins Gespräch zu bringen. An und für sich stellt diese Institution ein wichtiges Instrument der Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen oberster Leitung und lokalkirchlicher Kompetenz dar. Doch die Art und Weise der Durchfüh­rung wie auch die Ergebnisse haben die Hoffnungen nicht erfüllt. Beispielsweise die beiden wichtigen Synoden über die Familie von 1980 (Familiaris consortio) und über die Laien von 1987 de laiciis), die über entscheidende Fragen christlicher Lebenspraxis berieten und beschlossen haben, sind dadurch aufgefallen, daß kaum Laien repräsen­tativ mitbeteiligt waren. Bei der geringen Anzahl handelt es sich um Laien, die weniger das „normal"-christliche Zeugnis vertraten als vielmehr Stil und Spiritualität eines exklusiven Milieus.

Zwar wurden den eigentlichen Beratungen großangelegte Konsultationsverfahren vorgelagert, doch sind die Erfahrungs- und Überlegungsberichte von Männern und Frauen, von Gruppen unterschiedlicher Kulturen, von lokalen Bischofskonferenzen in den Schlußdokumenten kaum mehr wiederzufinden oder dann nur in einer sehr ein­geglätteten Form. Auf dem langen Weg der disziplinierten Beratungen bis hin zu den Schlußredaktionen sind Anliegen und authentische Erfahrungen auf der Strecke geblieben. Beispielsweise fehlt die Integration des erwachten Selbstbewußtseins der Frauen, die berechtigterweise auf die Anerkennung gleicher Würde, auf mehr Mitwir­kung und Mitentscheidung drängen. Offensichtlich tut man sich in der hierarchischen Leitung schwer, sich diesem gesellschaftlich-revolutionären Umbruch zu stellen, den kaum jemand als Rückschritt hinter die Tradition der Menschenwürde bezeichnen würde. Auf der anderen Seite zeigen sich ähnliche Phänomene im Bereich der Familie, der verantworteten Elternschaft, sprich Geburtenregelung, und der Sexualität. Der Dialog zwischen Leitung und Basis scheint auch hier nicht richtig zu spielen. Es gibt diesbezüglich gewachsene, ,,normative Überzeugungen" von der Basis her, die nicht einfach als Konzessionen an den sogenannten Zeitgeist zu interpretieren sind, sondern sich als Erprobungen am Geist des Evangeliums ausweisen lassen. Warum - so läßt sich fragen - diese Diskrepanz zwischen der Lehramtsdoktrin und der Autoriät der Praxis? Warum - so läßt sich weiter fragen - gibt es offensichtlich so wenig Verständigung zwi­schen dem Glaubenssinn der Kirchenmitglieder und dem Glaubens- und Moralver­ständnis der Kirchenleitung?

Betrachten wir einen anderen problematischen Punkt: 1987 hat der Papst eine Enzyklika zur gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche (Sollicitudo rei socialis)

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herausgegeben. Darin behandelt er weltgeschichtlich brennende Probleme wie: zunehmende Verarmung der Dritte-Welt-Staaten, Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Flüchtlingselend. Die gesellschaftlichen und weltwirtschaftlichen Analysen münden in Problemlösungsvorschlägen, die auf eine Revision der internationalen Ordnung abzielen. Gewiß handelt es sich hier um eine gelungene Fortschreibung der katholi­schen Soziallehre; doch wirft die Art und Weise ihrer Entstehung Fragen auf. Gemäß der Enzyklika-Tradition tritt der Papst als fiktiver Alleinautor eines Schreibens auf, auch wenn er auf anonym bleibende Mitautoren zurückgreift. Insbesondere die Pius­Päpste haben diesen Stil meisterlich beherrscht und so der päpstlichen Lehrautorität einen eigenen autoritativen Glanz verliehen. Eine gewisse soziologische Plausibiliät für diesen Stil gab es insofern, als damals Geschick und Macht der europäischen Staa­ten in den Händen von charismatischen Führungspersönlichkeiten lagen. In einer Zeit aber, in der demokratische Rechte bewußter wahrgenommen werden, Macht entschie­dener aufgeteilt und kontrolliert wird und Entscheidungssituationen komplexer geworden sind, könnte man sich andere Vorgehensweisen vorstellen. Sie hätten nicht bloß eine größere gesellschaftliche Plausibilität, sondern auch die besseren theologi­schen Argumente für sich. So wäre durchaus daran zu denken, daß in den Entstehungs­prozeß einer Enzyklika, insbesondere für wirtschaftspolitische Sachfragen, anerkannte Spezialisten der Ökonomie, der Politik - selbst mit kontroversen Auffassungen - einge­bunden würden. Dadurch ließen sich auf der einen Seite wissenschaftlich abgesicherte Aussagen erwarten; auf der anderen Seite gäbe es vermutlich auch eine größere Akzeptanz bei den Adressaten selbst, da diese mitsamt ihren Umwehen in den Mei­nungsbildungsprozeß involviert wären, dem selbstverständlich eine größtmögliche Transparenz zukommen müßte. Die erwähnten Beispiele, die gewiß auf unterschiedlichen Ebenen liegen, spiegeln ein bestimmtes, ihnen gemeinsames T heorieverständnis wider, das im Hintergrund zu ste­hen und mehr oder weniger wirksam zu sein scheint. In der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gewann in Europa ein neues Modell des Verhältnisses von Klerus und Laien, Kirche und Staat an Boden. Nach diesem Modell kommt dem Klerus, und speziell dem Papst und den Bischöfen, die Rolle des Lehrens zu. Priester und Bischöfe sind die Lehrer der Tradition und der sozialen Gerechtigkeit. Ihre Aufgabe ist es, die theoretischen Fundamente zu sichern; Applikation und Umsetzung in die konkreten Situationen ist Angelegenheit der Laien. Im übrigen findet sich im Laiendekret des Konzils eine Äußerung, die diesen Ansatz beinahe bestätigte, sähe man sie nicht in Ver­bindung mit anderen, sie selbst relativierenden Aussagen. Dort heißt es: Sie, die Laien, haben die „entsprechende Anwendung der christlichen Grundsätze auf die Probleme unserer Zeit zu leisten" (Art. 6; vgl. dagegen die „Kirchenkonstitution" Art. 37). Dieser Umsetzungsprozeß hatte eine doppelte Funktion: Entweder konnte er durch das indi­viduelle Handeln von Katholiken in der Welt realisiert werden - anschaulich zur Dar­stellung gebracht im Modell des „Opus Dei" - oder dann sichtbar und organisiert in katholischen Bewegungen. In dieser gleichsam gemäßigten Richtung kam es zur Bil­dung von katholischen Parteien, katholischen Gewerkschaften, katholischen Unter­nehmensverbänden. Sie sind in diesem Verständnis gleichsam die delegierten Außen­stellen der Amtskirche. Diese Bewegungen - hierzu haben wir vor allem die in Italien

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besonders erfolgreiche „Comunione e Liberazione" zu zählen - leben aus einer klaren Unterscheidung zwischen Klerus und Laien, das heißt zwischen einer amtskirchlichen Lehrautorität und den ausführenden Organen. Was die Amtskirche nicht wahrnimmt, wird von ihnen subsidiär wahrgenommen. Der Begriff Subsidiarität spielt hier eine ent­scheidende Rolle und weist einen ganz spezifischen Sinn auf: kontrollierte Delegation unter der Bedingung klar umrissener theologischer und sozialethischer Vorgaben.

Die Verfechter dieses Modells weisen auf einige Vorzüge hin: auf seine Effizienz und vor allem auf seine klaren Strukturen, die eine starke kirchliche Identität erlauben. Nur - so muß man sich fragen - deckt sich ein solches Modell mit den gesellschaftlichenPlausibilitätsstrukturen, auch wenn man zunächst von theologischen Bedenklichkeitenabsieht? Die Feststellung,daß unsere Gesellschaften in einem tiefgreifenden Umbruchstehen und daß sich kontinuierlich kollektive Wertungen verschieben, ist beinaheschon eine Trivialität. Für diesen Umbruch gibt es verschiedene Bezeichnungen:Soziologen sprechen von einem Wertewandel von Pflicht zu Selbstentfaltungswerten,von Individualisierung, von Autonomie, von Selbstentfaltungsethos und von einemWandel des Ethos der Unterordnung zu einem Ethos der Partizipation. Darin kommenVorstellungen zum Durchbruch, die ideengeschichtlich zum größten Teil bereits in derAufklärung des 18.Jahrhunderts angelegt sind. Die Kirche hat sich im 19.Jahrhundertdagegen sehr erfolgreich zur Wehr gesetzt, kulminierend im Vaticanum I, wo die hierar­chische Struktur der Kirche im Primat des Papstes eine vorläufig letzte dogmatischeFestlegung erfahren hat. Es sei daran erinnert, daß sich in der zweiten Hälfte des19. und in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts eine geschlossene Kultur des Katholi­zismus herausgebildet hat, die neben der national-staatlich säkularen Wirklichkeit zu einer eigenen Weltwirklichkeit wurde. Dieses innere hierarchische Ordnung war nachaußen hin weitgehend abgeschlossen und nach innen durch ein strenges Gehorsams­ethos, durch strenge Über- und Unterordnung zusammengehalten. Zwar gab es auch innerkirchliche Spannungen, die vor allem einzelne in oft tragischer Weise trafen; ins­gesamt aber waren sie eingebettet in einen einheitlichen weltweiten Corpus, von dem ein „fascinosum et tremendum" ausging. Im Rahmen dieser homogenen Katholizis­muskultur sind die Probleme, die wir heute im gegenseitigen Austausch zwischengewachsenen Lebensordnungen und geistlicher Machtausübung haben, nicht denk­bar. Die Auflösung dieses relativ homogenen Milieus ist - soziologisch gesehen - einganz entscheidender Grund für die innerkirchlichen Verständigungsschwierigkeiten;der gesellschaftliche Wertewandel, der diese Auflösung symbiotisch begleitet, machtdeutlich, daß es sich hier nicht um Oberflächenprobleme handelt, sondern daß sie an zentrale Gehalte des Kirchenbildes rühren. Das Modell, das die Kirche gleichsam auf­teilt in einen lehrenden und in einen ausführenden Teil, fordert von Christen/innen,die selbst in Entscheidungsprozessen stehen, ein unnötiges Sacrificium intellectus, das in heutigen Verstehenskontexten keinen vernünftigen Anknüpfungspunkt mehr hat.

Theorie und Praxis

Doch bleiben hier noch eine Reihe anderer Aspekte fragwürdig. Wenn man die vielen konkreten Optionen berücksichtigt, die sich bei einem gegebenen geschichtlichen

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Zeitpunkt in der politischen und sozialen Praxis legitimerweise ergeben mögen, so kann man nicht davon ausgehen, daß die Wahl ethisch vertretbarer Lösungen leicht und selbstverständlich wäre, selbst wenn die Theorie noch so klar sein mag. Die Aus­einandersetzung hört an der Bruchstelle von Theorie und Praxis nicht einfach auf. Eine rein deduktive Herleitung moralischer Verpflichtungen widerspricht einerseits den Erfahrungen des Lebens selbst, andererseits aber auch den üblichen Regeln der mora­lischen Entscheidungsfindung. Denn es gibt eine Art „Schaukelbewegung" zwischen Theorie und Praxis; neue Umstände verändern Aspekte der Theorie, so wie neue theo­retische Erkenntnisse die Praxis verändern können. Hinter diesem Modell verbirgt sich nicht bloß ein bestimmtes Kirchenbild, sondern auch eine bestimmte Methodolo­gie der ethischen Entscheidungsfindung. Die neuere Moraltheologie hat denn auch das Deduktionsverfahren längst aufgegeben zugunsten eines Konvergenzverfahrens, welches Argumente und Überzeugungen in einem Abwägungsverfahren bündelt, gewichtet und schließlich zu Folgerungen fortschreitet. Gerade die gegenseitige und konstitutive Abhängigkeit von Theorie und Praxis macht es erforderlich, daß sich die­jenigen, denen die Lehr- und Entscheidungskompetenz zukommt, selbst an diesem Prozeß beteiligen. Denn nur so können sie verstehen, worum es geht.

Außerdem bleibt im Rahmen dieses Modells die Frage ungelöst, ob es im Handeln der Laien einen legitimen Pluralismus geben kann, wenn dieses Handeln nur als Kon­kretion einer Theorie erscheint. De facto stellen führende Leute dieser Bewegungen die Rechtgläubigkeit anderer Laien, die in bewußter Entscheidung davon abwei­chende politische und soziale Entscheidungen treffen, recht häufig in Frage. Dieser Vorwurf wird beispielsweise in Italien gegen „Comunione e Liberazione" häufig erho­ben. Diese Position verleitet in der Tat zu einem religiös-politischen Dogmatismus, den die Konzilsversammlung nach längerem Ringen abgelehnt hat; sie verwies ausdrück­lich darauf, daß man in verschiedenen konkreten Fragen in guten Treuen verschiede­ner Meinung sein kann. Denn ein solcher Dogmatismus führt leicht zur fragwürdigen Identifizierung bestimmter Auffassungen mit der „Offenbarung", das heißt mit dem Willen Gottes. Die andere theologische Erkenntnis, daß der Geist auch außerhalb solcher Organisationen und in anderen gesellschaftlichen Kräften am Werk sein kann, bleibt hier ausgeblendet. Gerade weil die Wahrheit der Welt und die Wahrheit des Heils nicht satzhaft vorgegeben sind, sondern in der Konkretheit der Situation immer wieder neu erschlossen werden müssen, darf die Wahrheitsfindung nicht auf einzelne Subjekte und Gruppierungen beschränkt bleiben. Eine führende amerikanische Per­sönlichkeit des amerikanischen Episkopates, Erzbischof R. Weakland, hat einmal for­muliert: ,, ... die Katholiken in den USA (wären) gut beraten, wenn sie sich dem euro­päischen Phänomen kirchlicher Laienbewegungen gegenüber kritisch verhielten. Sie sollten die Tatsache akzeptieren, daß diese Bewegungen zu unserer, das heißt amerika­nischen, geschichtlichen Erfahrung im Widerspruch stehen. Es wäre unglücklich, wenn dieses europäische Modell ... als das Modell für die Weltkirche abgesegnet würde" (Orient. 51/1987, Nr. 3 S. 33).

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Eine Alternative

Nach dieser dezidierten Absage an diesen Ansatz ist man gespannt, was Weakland die­

sem entgegenzustellen hat. Sie erinnern sich, daß Bischof Weakland Präsident der gesamtamerikanischen bischöflichen Kommission war, die den sogenannten „Wirt­

schaftshirtenbrief" ausarbeitete. Bemerkenswert ist nicht bloß das Ergebnis, sondern insbesondere das Vorgehen selbst, bei dem einige interessante theoretische Prämissen

zum Zuge kommen, die mir in unserem Zusammenhang wichtig erscheinen. Erinner­licherweise war die Thematik die „Wirtschaftliche Gerechtigkeit". Den Ausgangspunkt bildete eine Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Wirtschaftssystem, das sowohl nationale wie auch internationale schmerzliche Benachteiligungen zeitigt. In einer bis dato einzigartigen und von keinem Episkopat praktizierten Weise ist das Ent­stehen dieser Positionsschrift mit einem dialogischen Vorgehen gekoppelt. Es wäre in diesem Zusammenhang selbstverständlich zu erwähnen, daß dieses Vorgehen eine Nachahmung auf nationaler Ebene (beispielsweise in Österreich) wie auch - vielleicht etwas schwerer vergleichbar - auf internationaler Ebene, nämlich im„ konziliaren Pro­zeß", gefunden hat. Ich wende mich aber ausschließlich dem amerikanischen Modell zu, weil es besonders klar durch theologische und kommunikationstheoretische Re­flexionen begleitet war und weil es eben dadurch geradezu eine prototypische Bedeu­

tung erlangt hat. Zunächst einige äußere Daten: Eine fünfköpfige Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von Erzbischof Weakland unterbreitete vom November 1984 bis zur end­gültigen Annahme durch den Gesamtepiskopat im November 1986 drei Entwürfe der öffentlichen Diskussion. Die breite Öffentlichkeit wurde eingeladen, Stellung zu bezie­hen, Verbesserungsvorschläge einzubringen und sich an der Meinungsbildung zu beteiligen. Daß die inhaltliche Position auf Widerstand stoßen würde, war vorauszu­

sehen, denn sie galt und gilt heute noch als eine der „härtesten Auseinandersetzungen mit dem amerikanischen Wirtschaftssystem" (F. Hengsbach). Das Echo war außer­ordentlich stark, und an der Auseinandersetzung beteiligten sich nicht bloß Katholi­ken, sondern auch Betroffene anderer Weltanschauungen, Spezialisten der Ökonomie, Politiker unterschiedlichster Couleur.

Es wäre nun viel zu kurz gegriffen, würde man diesen Stil der Entscheidungsfindung bloß als „dialogisch" bezeichnen. Erstens: Es gab eine offensichtliche Analogie zum

dreistufigen, parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren, das eine erste, zweite und dritte Lesung vorsieht. Man hatte sich bewußt dafür entschieden, da man in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht als autoritärer Fremdkörper erscheinen wollte. Durch diesen Prozeß konnte die Kommission die Meinungen der Vertreter unterschiedlicher Standpunkte innerhalb des gesellschaftlichen Spektrums

anhören und verarbeiten. Dabei handelte es sich nicht einfach um ein Konsultations­

verfahren, sondern um einen Prozeß gemeinsamer Wahrheitsfindung, was sich durch die inhaltlich differierenden Fassungen eindeutig belegen läßt. Wir haben es hier mit einem „Kooperationsmodell" zu tun, insofern den mitbeteiligten Laien nicht bloß die Möglichkeit der Anhörung, sondern auch die der kompetenten Mitbeteiligung auf dem Weg der Wahrheitsfindung zugestanden wurde.

Zweitens war hier eine ekklesiologische Vorausbedingung gegeben, die gleichsam

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konstitutiv für das Kooperationsmodell ist, nämlich: die Einheit von Klerus und Laien. Darauf - so Weakland - kam es an, ,,diese Einheit von Klerus und Laien" zu bewahren. Die konsequente Durchführung dieses Prinzips mußte bei der Abfassung des Hirten­briefes notgedrungen zur Frage führen: Wer hat zu entscheiden, was legitime Fortfüh­rung des Glaubensgutes ist und wo dessen Grenzen überschritten werden? Hierzu bemerkt Weakland in erstaunlicher Klarheit: ,,Etwas war allerdings klar: Die Sorge um die Rechtgläubigkeit bzw. um die Wahrheit wurde von allen geteilt. Das Suchen nach Rechtgläubigkeit ist keine Prärogative des Klerus (a.a.O. S. 33). Wird dies theologisch verdeutlicht, heißt dies demnach: Es gibt keine hierarchisierte Wahrheitsfindung, keine privilegierten, einzelnen Ständen der Kirche vorbehaltenen Zugänge zur Wahr­heit. Dies liegt begründet in der wesentlich gleichen Würde und Sendung aller. Dem Amtsträger kommt, bloß aufgrund seines Amtes, in der Erkenntnisfindung keine höhere Inspiration zu als dem einfachen Gläubigen.

Wenn dem so ist, bedarf das lehramtliche Sprechen wesensnotwendig der Transpa­renz der Mittel und der Kooperation mit der im Volk Gottes gewachsenen Erkenntnis und mit der Praxis gelebter Überzeugung. Der kooperativ geregelte Zugang zur Wahr­heit schließt aber andererseits die besondere Verantwortung der Lehrautorität nicht aus. Lassen Sie mich zu diesem Punkt wiederum Weakland zitieren: ,,Letzlich muß die Sorge um die Integrität der Lehre und um die Konsistenz ihrer Tradition bei der Lehrautorität liegen, ohne jedoch vom Vertrauen auf das Wissen und den Sachverstand sowohl von Laien wie von Klerikern getrennt zu sein" (a.a.O. S. 33). Hier dominiert gerade nicht jene Leitvorstellung, welche in den Vertretern der kirchlichen Lehrautori­tät Menschen sieht, welche sich durch einen besonderen spirituellen Rang und durch eine größere „Gottesnähe" von den Laien unterscheiden; sondern diesem Modell liegt die Leitvorstellung einer Kirche zugrunde, deren Gemeinschaften aus einer gemein­samen Würde und Berufung leben. Dies ist der Hintergrund, auf dem die Gemeinden durch Ämter und Dienste strukturiert sind. Die Autorität des Lehrens und Unter­weisens ist so, wenn auch spannungsreich, an diese gemeinsame Basis zurück­gebunden.

Diese Sichtweise hat für die Ausübung der Lehrautorität ganz praktische Konse­quenzen. Wird dieses Modell daraufhin genauer betrachtet, so lassen sich noch weitere allgemeingültige Erkenntnisse ermitteln. Der Lehrautorität fällt die Aufgabe zu, die notwendigen Strukturen für ein faires Vorgehen zu schaffen; Meinungsbildungspro­zesse können nicht dem Zufall überlassen bleiben, vielmehr erfordern sie Strukturen, die weder die eine noch die andere Richtung bevorzugen. Im amerikanischen Modell war diese Voraussetzung in besonders glücklicher Weise gegeben. Und für den Prozeß selbst war es von Bedeutung, daß der Grundsatz durchgehalten wurde: Durch den gegenseitigen Vorschuß an Vertrauen in die Verantwortungswahrnehmung können Konflikte und Differenzen in ihrer Relativität gesehen werden. Der wechselseitige Ver­trauensvorschuß, der in Wissen, Kompetenz und Verantwortung gesetzt wird, ist denn auch eine wesentliche Voraussetzung für die Kooperation. Im weiteren kommt es der Lehrautorität zu, den Austausch nicht durch inhaltliche Festlegungen zu steuern, wie dies derzeit häufig auf Lokalsynoden der Fall ist, sondern in erster Linie durch das Stel­len der richtigen und der kritischen Fragen. Die Klärung der kirchlichen Lehrtradition

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und des Standes der theologischen Forschung gehört zum Prozeß selbst; er ist keine Prärogative des Klerus.

Ein in solcher Weise durchgeführtes Konsultationsverfahren entspricht denn auch am ehesten der Komplexität der Fragestellungen: Der Inhalt der heutigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme ist so schwierig und komplex, daß man von keinem, dem Lehrautorität zukommt, die Beherrschung der differenzierten Materie erwarten könnte. Man kann sich schwer eine Gruppe von lehramtlich Befugten vor­stellen, die einerseits in systematischer und historischer Theologie und in christlicher Ethik bewandert wären, und andererseits ein umfassendes Wissen in Politik, Wirt­schaft, medizinischer Praxis und Gentechnik besitzen - um nur einige Gebiete zu nen­nen. Auf diesen Gebieten werden denn auch wesentliche ethische Entscheidungen fal­len. Die lehrende Kirche darf nicht in die Lage geraten, daß sie nur noch konsekuti­visch, gleichsam im nachhinein, auf Entscheidungen anderer reagieren kann. Dies geschah vornehmlich in der Vergangenheit; doch war dies in einer Hinsicht nicht so gravierend, da sich die immanenten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Pro­zesse nur langsam abspielten. Wer heute beispielsweise in den moralisch-ethischen Diskurs eingreifen will, ist angesichts der stürmischen Entwicklungen in den Wissen­schaften, wie beispielsweise in der Medizin und der Biologie, gezwungen, sich an einem präventiven Diskurs darüber zu beteiligen, welche Möglichkeiten weiterver­folgt werden sollen. Nachträgliche Urteile würden die Kirche in die Position des Rea­gierens abdrängen. Nur so kann die Kirche ihre Funktion als gesellschaftliche Kraft bewahren und Anwalt der Menschlichkeit sein. Die Glaubwürdigkeit steigt in dem Maße, in dem sich die Kirche selbst als Lernende (nicht nur als Lehrende) erweist, sich undogmatisch am Prozeß der Abwägung sich konkurrierender Werte beteiligt, um so zu ethisch richtigen Aussagen zu gelangen.

Wir sind im Augenblick noch weit davon entfernt, für solche Prozesse hinreichend gute Instrumente zu besitzen. Dies hängt zu einem guten Teil mit den sich überlagern­den und sich konkurrenzierenden Kirchenbildern zusammen. Und dennoch lassen sich einige Grundregeln angeben, die unabdingbar sind für Kommunikation, Konsul­tation, Mitbeteiligung und Mitbestimmung. Lassen Sie mich im folgenden auf einige solcher Regeln eingehen.

Regeln der Kommunikation

Überall da, wo Menschen miteinander in Kontakt kommen, ereignet sich Kommunika­tion. Das Wort „Kommunikation" ist ein sozialwissenschaftliches Kunstwort. Es gestat­tet, den Austausch unter Menschen in einer umfassenden Weise zu verstehen. Kommu­nikation meint denn auch mehr als Gespräch, Dialog, Rede. Kommunikation in ihrer nachhaltigen Form ereignet sich dort, wo „Menschen aufeinander angewiesen sind oder zumindest immer wieder miteinander zu tun haben, wo also Menschen durch Strukturen und Leistungen mit mehr oder weniger dauerhaften sozialen Zusammen­hängen miteinander verbunden sind" (F.-X. Kaufmann), wo also ein gewisser Aus­tausch gegeben ist.

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Ich möchte nun nicht umfassend auf die Theorie "der allgemeinen Voraussetzungen kommunikativen Handelns", wie sie etwa von Sprachakt-Theoretikern wie Searle, Apel, Habermas vorgelegt wird, eingehen. Es müßte dann die Rede sein von der in jeder Kommunikation supponierten „idealen Kommunikation" mit ihren zumindest vier universalen Ansprüchen: dem Sinn-, Wahrheits-, Wahrhaftigkeits- und dem nor­mativen Richtigkeitsanspruch. Es müßte die Rede davon sein, wie jedes dieser Anspruchsniveaus seine eigenen Regeln kennt, soll es zu einem vernünftigen Aus­tausch und zu Konsens kommen. Statt dessen möchte ich mich auf zwei Aspekte, mir allerdings höchst relevant erscheinende Elemente, beschränken und sie für unseren Zusammenhang umformulieren und aktualisieren.

Im Sinne eben dieses Ansatzes weist jede Kommunikation zumindest zwei Botschaf­ten auf: erstens eine Sachinformation und zweitens die Art und Weise, wie diese Sachinformation übermittelt wird. Die Sozialwissenschaftler sprechen von der letzte­ren als von einer sozialen Botschaft. Damit wir überhaupt die Sachbotschaft verstehen, müssen wir die soziale Botschaft, den sogenannten Kontext, verstehen. Ein Austausch, der auf Verständigung abzielt, hängt demzufolge vom Verhältnis dieser beiden Ebenen ab. Nur wenn das, was wir meinen, gleichsam in einem "Gewande" vermittelt wird, das die anderen zu deuten vermögen, können wir davon ausgehen, daß wir auch verstan­den werden.

In vielen alltäglichen Dingen geschieht dies selbstverständlich. Die unmittelbare Verstehbarkeit der Kontexte garantiert, daß wir nicht bloß sprachlich richtig verstan­den, sondern auch richtig interpretiert werden. In unserer Alltagswelt wechseln wir vergleichsweise leicht zwischen den verschiedenen Kontexten, zwischen Arbeitswelt und Familie, zwischen Privatraum und näherer Umgebung. Diese angeeignete Flexibi­lität verhindert allerdings weder Meinungsverschiedenheiten noch Streit; doch lassen sich Mißverständnisse relativ leicht ausräumen.

Die Ebene der natürlichen Selbstverständlichkeit wird dann verlassen, wenn wir die Regeln und Voraussetzungen nicht mehr unmittelbar verstehen, unter denen nicht ver­traute Menschen zu uns sprechen. Wir sind uns nicht sicher, ob wir überhaupt verstan­den werden. Dies erzeugt zwar in vielerlei Hinsicht Meinungsverschiedenheiten, aber vielmehr noch eine Ambivalenz, die das Vertrauen schmälert. Wir sind uns dann nicht mehr ganz sicher, ob das Gegenüber auch verständigungsbereit ist. Wir konstatieren zwar eine Kommunikationsbereitschaft, sind aber bezüglich der Verständigungsbereit­schaft im Zweifel. Deshalb gilt: Die Situtation, in der Regeln der Kommunikation und Voraussetzungen {also: weltanschauliche Andersartigkeit, andere Erfahrungen) nicht mehr ursprünglich geteilt werden, erfordert eine besondere Aufmerksamkeit und Anstrengung. Denn hier geht es nicht mehr so sehr um Sprachverstehen, sondern viel­mehr um Verständigung. Das heißt: Nicht bloß der Inhalt der Botschaft, sondern auch die Regeln und die Voraussetzungen der Kommunikation müssen verstanden werden, der normative Hintergrund und die supponierten Welt- und Selbstbilder. Wie selbst­verständlich dies auch klingen und wie einsichtig dies auch sein mag, gerade hier schei­nen sehr viele praktische Schwierigkeiten zu liegen.

In der Gesellschaft wie in der Kirche können wir uns immer weniger auf allgemein geteilte Weltanschauungen und Weltauffassungen verlassen. Lebenserfahrung und Kir-

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chenerfahrung sind individueller geprägt. Weder in der Gesellschaft noch in der Kirche gibt es ein übergreifendes Milieu, das von universellen Voraussetzungen geprägt ist. Allein schon diese Tatsache erfordert differenzierte Beurteilungen.

Wahrheitsfähigkeit und Wirklichkeitserfahrung

Verdeutlichen wir dies an einem für die katholische Kirche typischen Beispiel :Je näher man dem Zentrum kommt, desto mehr erhält man den Eindruck, daß die Wirklich­keitserfassung von einem kirchenzentrierten Verständnis her geprägt ist, das den Sozialkörper „Kirche" zu sehr als Verwaltungskörper betrachtet. In einem gewissen Sinne muß es eine starke Leitungsfunktion geben. Doch ist die Gefahr die, daß sich Zentrum und Peripherie voneinander entfernen, weil einerseits die Regeln der Kom­munikation zu rigide werden und weil andererseits die Voraussetzungen dieser Kom­munikation in Teilen der Kirche auf keine Verstehensvoraussetzungen mehr treffen. Dies ist beispielsweise der Fall in der leider immer noch kontroversen Frage der Gebur­tenregelung. Niemand von den ersthaft an der Diskussion Beteiligten stellt den Grund­satz der verantworteten Elternschaft in Frage. Die einseitige Fixierung des Lehramtes auf das Naturrecht stellt eine zu rigide Voraussetzung dar, um die damit gegebenen Pro­bleme differenziert beurteilen zu können. Die Schwierigkeiten, die sich ergeben bezüglich der Bevölkerungsexplosion, der medizinischen Prävention, der erfolgreiche­ren Fruchtbarkeit aufgrund der medizinischen Versorgung, der persönlich-individuel­len Zumutung, Liebe und Fruchtbarkeit sinnvoll aufeinander abzustimmen, sind bekannt. Was aber die eine Seite vergißt, ist die Tatsache - so scheint mir -, daß das Insistieren auf einer vermeintlich klaren kirchlichen Wahrheit die Zustimmung zur Sachbotschaft erschwert. Denn die Wahrheitsfähigkeit ist immer auch abhängig von der Wirklichkeitserfahrung, also vom Kontext.Und diese Voraussetzung wird von der Mehrzahl der Gläubigen anders erfahren und artikuliert. Die Funktionsstörung kirch­licher Kommunikation besteht nun gerade darin, daß die Denk- und Entscheidungs­voraussetzungen des Lehramtes im Dissens stehen zum Kontext, zu Überzeugungen der Praxis. Der ebenfalls mitgemeinte Inhalt der Sachbotschaft, nämlich: der Aufruf zur Kultur der Behutsamkeit, zur Bewahrung vor Instrumentalisierung usw. geht dabei verloren. Überraschenderweise finden wir ähnliche Argumente von feministischer Seite. Das Paradox besteht nun genau darin, daß wir äußerlich ähnlich lautende Sachaussagen vorfinden, daß aber zwischen den Interpretationshorizonten kaum überbrückbare Welten liegen. So kommt es zu Schein-Konsensen, die aber kaum etwas mit Verständigung zu tun haben. Die wechselseitige Verständigungsbereitschaft, also in erster Linie die Suche nach Verständigung über die Kontexte, gehört zum Wesen der Kommunikation. Ist dies nicht oder nur in einem bescheidenen Ausmaß der Fall, führt dies vor allem auf seiten der kirchlichen und weltlichen Autoritäten zu einer eigentüm­lichen Verzerrung. Die Vermittlung und Durchsetzung einer Sachbotschaft erfolgt vor­nehmlich durch die Auferlegung des Wollens. Zurückzutreten hat die Vermittlung über die Vernunft der Verständigung. In einem gewissen Sinne wird Kommunikation auf einen juristischen Aspekt verkürzt, insofern als auf dem zivilen oder religiösen Gehor-

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sam des Willens insistiert wird. Wenn autoritatives Sprechen reduziert wird auf die bloße Aufforderung, das eigene Gewissen sozusagen fraglos an Proponiertes zu bin­den, kommt es unweigerlich zu „chronischen Funktionsstörungen" (H.Juros). Autorita­tives Sprechen und die darin enthaltenen Entscheidungen sind nicht nur eine Sache des Gehorsams bzw. eine Willensangelegenheit, sondern das Ergebnis eines offenen, vernüftigen Prozesses. Was nützt es, wenn Entscheidungen juristisch im engeren Sinne {unter Androhung von Zwangsmaßnahmen) und juristisch in einem weiteren Sinne (mit bloßen Appellen an den Willensgehorsam) durchgesetzt werden, wenn die Rezep­tion nicht garantiert ist und wenn eine konsensuale Verständigung frühzeitig abgebro­chen wird? Der polnische Moraltheologe H.J uros hat treffend formuliert: ,,Das Wesen des Katholischen ist Vermittlung und Rezeption." Damit ist gemeint: Die vernünftige, dominanzlose Verständigung über das Richtige und die daraus grundsätzlich ermög­lichte freie Annahme auf seiten der Adressaten sind wesensnotwendige Aspekte des einen Vorganges, der Kommunikation. Immerhin war das Rezeptions-Kriterium (vor­ausgehender Glaube und die mögliche Bereitschaft der Annahme) bei der letzten Ex-cathedra-Entscheidung entscheidend. Lassen Sie mich diese Überlegung etwas konkretisieren:

Verkündigung als Dienst

Ihnen allen bekannt ist die sogenannte „Kölner Erklärung" (Wider die Entmündigung - für eine offene Kirche) vom 25.Januar 1989. Darin werden angemahnt: eine schlei­chende Strukturveränderung in der Kirche zugunsten derjurisdiktionsgewalt des Pap­stes, eine fortschreitende Entmündigung der Teilkirchen in ihrer Eigenständigkeit, dieZurücksetzung der Laien, der Antagonismus, Konflikte in der Kirche mit Disziplinar­maßnahmen auzutragen usw. Wie Sie wissen, hat die Erklärung sehr viel Aufmerksam­keit gefunden. Sie ist keine singuläre Erscheinung. Entsprechende Erklärungen folgtenin Belgien, Frankreich, Spanien, Italien und den Vereinigten Staaten. Sie spiegeln auf­grund der Häufigkeit der Zustimmung ein basiskirchliches Mißbehagen der T heolo­gen/innen wider. Wie immmer man nun selbst zum Inhalt dieser Erklärung und denAnschlußerklärungen steht, eines wird im Nachhutgefecht deutlich: Die Adressatenhaben die Zeichen kaum verstanden und statt dessen in juridischer Manier geantwor­tet. Tatsache ist jedenfalls, daß der Verständigungsprozeß zugunsten disziplinarischerMaßnahmen abgebrochen wird und beispielsweise T heologen, welche die Besorgnisteilen, bei Lehrstuhlbewerbungen kurzerhand die Lehrerlaubnis verweigert wird.Insofern haben wir hier ein illustratives Beispiel für eine umgekehrte Prioritätenset­zung der Elemente in der Kommunikation. Denn es gilt die Reihenfolge: Sprachverste­hen, Verständigung über Denk- und Erfahrungsvoraussetzungen, Aufforderung zurGefolgschaft. Wird die Reihenfolge umgekehrt, führt dies als Kehrseite der Medailleleicht zum Verlust der Loyalität, zu innerer Distanz und letzlich zum offenen Wider­stand.

Es soll keineswegs bestritten werden, daß es zur selbstverständlichen Aufgabe der Amtsträger in der kirchlichen Kommunikationsgemeinschaft gehört, zur Ausrichtung

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der christlichen Praxis beizutragen (P. Hünermann). Und diese Orientierung hat auch durch unterschiedliche Typen von Sprachhandlungen zu erfolgen: durch Mahnrede (Paränese), Unterweisung (Lehre) und durch Vorschreibungen (Recht). Sozialwissen­schaftlich gesehen haben solche Vorgänge nur einen Sinn, wenn die Betroffenen für zurechnungsfähig gehalten werden, also unterstellt wird, daß sie unterscheiden kön­nen zwischen der Subjektivität der inneren Welt und der Normativität der äußeren Welt. Theologisch gesprochen meint dies: Die autoritative Orientierung setzt einen Menschen voraus, der mit dem Gewissen begabt ist und zusätzlich die Gabe des Gei­stes besitzt bzw. Fähigkeit und Möglichkeit, sich auch zu einem neuen Denken und Handeln erneuern zu lassen.

Geht man von dieser allgemeinen und selbstverständlichen Annahme aus, so folgt daraus: Jede lehramtliche Verkündigung und Orientierung hat Dienstcharakter. Der Dienst ist dazu bestimmt, in der kirchlichen Gemeinschaft eine Lebenspraxis christ­licher Inspiration zu ermöglichen. Ebenso muß es Ziel der Orientierung sein, die ein­zelnen zu einem reifen, eigenständigen Gewissensurteil und zu einem gewissenhaften Lebenswandel zu befähigen. Ethisch-normative Anweisungen haben immer nur eine subsidiäre Funktion, da sie letztlich nur eine orientierende Funktion für Gewissensent­scheide und Ethosformen haben können. Insgesamt kommt der kirchlich-amtlichen Verkündigung die Aufgabe zu beizutragen, daß das Ethos, das in den christlichen Gemeinschaften herrscht, sich als eine authentische Realisation des Evangeliums erweisen kann.

Diese Sicht führt notwendigerweise, aber auch begründetermaßen zu einem gewis­sen Pluralismus, der durch einen in der Religionssoziologie (P. L. Berger, F.-X. Kauf­mann) längst bekannten, aber in kirchlichen Kreisen kaum wahrgenommenen Umstand abgedeckt wird. Weltliche wie religiöse Wirklichkeit wird faktisch stets selek­tiv wahrgenommen, und zwar im Modus subjektiver Wahrnehmungsmöglichkeiten. Nun war dies sicherlich auch schon früher der Fall. Dafür wurde auch das Axiom geprägt: Recipitur ad modum recipientis (Aufgenommen wird das, was in der Möglich­keit des Rezipienten liegt). Doch wurde dieses Faktum negativ bewertend zur Kenntnis genommmen. Ausgehend davon, daß wir heute nicht mehr mit einem einheitlichen „Corpus religionis" rechnen können, müssen wir positiv mit der Tatsache umgehen, daß keine Gemeinde und kein Mensch - auch der Papst nicht - die Fülle des Christentums verstehen und aktualisieren kann. Jede Aktualisierung ist eo ipso eine gewisse Aus­wahl. Solange man sich in einer Kommunikationsgemeinschaft dessen nicht vergewis­sert, kann es auch nicht zu Eingrenzung und Relativierung von Konflikten kommen über das, was wichtig und dringlich ist. Würde nicht vieles einfacher, wenn man sich fremder und eigener begrenzter Wahrnehmungsmöglichkeiten bewußt würde?

Je ernster einer Kommunikationsgemeinschaft Zurechnungsfähigkeit, Entschei­dungsvermögen und Gewissenskompetenz zugemutet werden, desto eher kommt es zu einer V ielfalt der Meinungen, der Überzeugungen, der Lebensstile usw. Dies ist nicht ein Übel, sondern Ausdruck von Mündigkeit. Ganz in diesem Sinne hat das II. Vatica­num einen Einheits-lntegralismus verworfen,ja mußte ihn verwerfen, da es von einer konziliaren Konzeption der Kirche als „Communio" ausging. Es hat sich auf eine dialo­gische Struktur mit den Kompetenzen des Gottesvolkes verpflichtet. Aber es hat sich

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nicht dazu geäußert, wo kirchlicher und moralischer Pluralismus seine Grenzen hat. Es konnte sich dazu auch nicht äußern. Denn dies ist immer eine Frage, die konkret aus­gehandelt werden muß, weil Lebens- und Glaubenskontexte sich stets wandeln. Sie bil­den gleichsam den Entdeckungszusammenhang, aus dem theologische und mora­lische Überzeugungen erwachsen. Und dies kann nicht mit abstrakten Grenzziehun­gen dominiert werden. Wer den Integralismus verabschiedet, verpflichtet sich für den mühsamen Weg, mit dem Pluralismus konstruktiv umzugehen, dem besseren Argu­ment den Vorzug zu geben und dialogisch Grenzen zu ziehen. Dies erfordert eine Kul­tur der Behutsamkeit, der Zurückhaltung und der Unterscheidung, vor allem in Din­gen, die für Betroffene nicht eindeutig sind. Selbstverständlich müssen auch unter den Bedingungen einer Kultur der Behutsamkeit Entscheidungen gefällt werden. Auch wenn Amtsträgern bei Entscheidungen ein persönliches und unübertragbares Recht einzuräumen ist, das anders ist als ein denkbares Mitentscheidungsrecht anderer Glie­der in der Kirche, so bedeutet dies noch lange nicht, daß bei jeder Materie der Ent­scheidung die übrigen nur eine beratende Funktion haben können. Eine solche Behauptung widerspräche der Theologie und der faktischen Praxis der Kirche durch alle Jahrhunderte. Wenn dies aber gilt, dann muß es gestuft und nach der fraglichen Materie differenziert ein Recht aller Glieder der Kirche geben, in einer deliberativen Weise an den Entscheidungen der Kirche mitzuwirken. Ein solches Verlangen darf nicht im vornherein mit den Schlagworten "Demokratisierung", ,,Wahrheit durch Mehrheitsentscheid" abgetan werden, gleichsam mit dem Hinweis, dies stünde im Widerspruch zum Wesen der Kirche. Wer in einer Kommunikationsgemeinschaft dem Partner Zurechnungsfähigkeit, Entscheidungsvermögen und Gewissenskompetenz zugesteht - und warum sollten und müßten wir dies nicht auch in der Kirche?-, hat den Beweis anzutreten, daß und warum Einschränkungen in der Mitwirkung und in der Mitentscheidung erforderlich sind. Wer die Kommunikationsgemeinschaft als eine Lebensgemeinschaft ernst nimmt, hat jedenfalls von der Präsumption der Mitentschei­dung auszugehen.

Gestatten Sie mir noch eine letzte Überlegung. Wir haben zu verstehen versucht, was Kommunikation bedeutet. Wir sind ausgegangen von zwei Elementen {Sprachverstän­digung, Kontextverständigung) und haben sie konkretisiert. Ich möchte noch eine Überlegung zur Tiefenstruktur der Kommunikation anfügen, worüber sich allerdings die Kommunikationstheoretiker ausschweigen. Die Hermeneutik nämlich, also die Auslegungskunst der Kommunikation, hat gezeigt, daß Kommunikationsprobleme als Probleme des Selbstverstehens und der Beziehungen des Menschen tiefer zu erfassen sind. Am Beispiel des Problems, fremde Kulturen zu verstehen, hat Rüdiger Bubner dargelegt: "In allen Fällen ist das Interesse, das sich auf fremde Völker und Kulturen richtet, die von den eigenen deutlich unterschieden sind, in letzter Konsequenz orien­tiert an Selbsterkenntnis. Das Fremde ist ein Anlaß oder gar eine Herausforderung, das Eigene besser zu begreifen." Nimmt man den Kern dieser Aussage, dann heißt dies: Verstehen ohne Beziehungen ist nicht denkbar. Die Kommunikation als Mitteilung kann nicht gelingen ohne die Kommunikation als Miteinander. Dies ist eine Form der Kommunikation, in der sich die Kommunikationspartner als Personen ernst nehmen. Und Person-Sein heißt: in einem Eigenen stehen. Dieses ist unverwechselbar und

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unaustauschbar. Letztlich ist demnach der Prüfstein einer Kommunikation der, inwie­weit diese Eigenständigkeit und die damit verbundene Freiheit ernst genommen wer­den und wieweit Fremdheit ausgehalten wird, die Eigenständigkeit immer erzeugt. Ich formuliere dies nicht bloß im Hinblick auf die männliche Amtshierarchie in der Kirche, sondern auch im Hinblick auf jene, die Eigenständigkeit gleichsam verabsolu­tieren und nicht bereit sind, die Fremdheit anderer auszuhalten, aufzunehmen und zu integrieren. Eigenständigkeit der Person und die Fremdheit des anderen sind die Tie­fenstruktur jeder eindringlicheren Kommunikation. Dies sind anthropologische Kon­stanten, die in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen. Wie aktuell diese Tiefenstruktur ist, ließe sich auch leicht veranschaulichen an der Völkerverstän­digung, am gegenwärtigen Zusammenwachsen von Ost und West. Wer möchte hier behaupten, daß wir schon gelernt haben, mit Fremdheit umzugehen? Ich denke, daß die gegenwärtigen globalen Umwälzungen uns in Gesellschaft und Kirche anhalten werden, adäquate Umgangsformen zu entwicklen. Dies erfordert bestimmt Formen, deren Regeln wir nicht nur aus Verhaltensstandards von gestern beziehen können.

Prof. Dr. Adrian Holderegger OFMCap., Dr. theol., ist Ordinarius für Moraltheologie an der Universität Freiburg i. Ue. Er wirkt in der Öffentlichkeit als Referent, Heraus­geber, Autor sowie als Berater verschiedener Gremien im gesellschaftspolitischen Bereich.

Literatur: J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.

1984.

P. Hünermann, Die Kompetenz des Lehramtes in Fragen der Sitte, in: Ders. (Hg.), Lehramt und Sexual-moral, Düseldorf 1990, 130-156.

H. Juros, Die Rezeption ethischer Normen, in: Tüb. theol. Quartalschrift 16!) (198!)) 111-12'.l.

F.-X. Kaufmann, Religion und Modernität, Tübingen 1989.

Kard. F. König (Hg.), Zentralismus statt Kollegialität?, Düsseldorf l98!J.

M. Seckler, Die schiefen Wände des Lehrhauses. Katholizität als Herausforderung, Freiburg i. Br. 1988.

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Istjesus der Messias - oder sollen wir auf einen anderen warten? Alexander Sand

I. Hermeneutische Vorüberlegungen*

1. Schon das T hema und seine Formulierung könnten den Einwand hervorrufen: Istes legitim, das Messiasbekenntnis der christlichen Kirchen in Frage zu stellen? Ist esnicht fast schon Blasphemie, den Messiasanspruch Jesu von Nazaret anzuzweifeln?Obwohl solche Fragen berechtigt sind, ist es dennoch notwendig, dem im T hema zurSprache kommenden Problem einmal nachzugehen. Denn weder in der Schrift, nochin der frühkirchlichen Überlieferung, noch in der kirchlichen Ausformung der christo­logischen Bekenntnisse ist die Aussage eindeutig, daß Jesus, der Mann aus Nazaret inGaliläa, der Messias ist. Schon die Frage, für wen Jesus der oder ein Messias ist, wirdnicht einheitlich beantwortet. Für alle Menschen? Für die Juden? Oder nur für die,welche sich zu ihm bekennen, also die „Christen" im eigentlichen Sinne?

2. Der Exeget wird bei der Behandlung des T hemas primär die Schrift befragen.Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: Er geht vom Neuen Testament aus, in dem er christologische Bekenntnisse in fest geprägter Form findet und deutet von daher andere neutestamentliche Texte, vor allem aber die Schriften des Alten Testaments, und zwar unter dem hermeneutischen Ansatz von „Verheißung und Erfüllung". Oder aber er geht mehr chronologisch vor, befragt also die Schriftüberlieferung von ihren Anfängen an und dann weiter in ihrer historischen Entfaltung und Ausgestaltung.

Beim ersten Weg besteht die Gefahr, daß der Exeget ein christologisches Modell als gesichert und endgültig annimmt und diesem dann Texte zuordnet, welche - wenn auch nur annähernd und nicht selten mit Gewalt - die christologische Bekenntnisfor­mel stützen und „beweisen". Solche Schriftauslegung aber kann einer kritischen Anfrage nicht standhalten; die angestrebte Stringenz der „Beweisführung" wird kri­tische Leser und Hörer nicht überzeugen.

3. So scheint der zweite Weg der richtige zu sein. Er ist zwar beschwerlicher, aber erführt zu der Einsicht, daß Messiaserwartung und Messiasbekenntnis nicht zwei feste Größen sind, die in sich schon überzeugen und jede Rückfrage verbieten, sondern zwei „Variablen", die von Erfahrungen der Vergangenheit geprägt sind, aus einer kon­kreten Situation für die Gegenwart bedeutsam werden und offen sind für weitere Aus­formungen aufgrund neuer religiöser, kultureller und politischer Konstellationen. Methodisch soll also der Weg eingeschlagen werden, der in kleinen Schritten die Sta­tionen nachzeichnet, welche die Messiaserwartung im Alten Testament, im Judentum und im Neuen Testament markieren.

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II. Messiaserwartungen im Alten Testament:

1. Zentrale Gestalt für das Israel des Alten Bundes war Mose. Er war dies in doppelterHinsicht:a) er war der Befreier Israels (aus der Unterdrückung in Ägypten);b) er gab Israel die „Tora" Gottes (am Sinai auf dem Weg nach Kanaan).

Der Gedanke an die Befreiung durch Mose war ursprünglich der übergeordnete; erwar bestimmend für die Zeit, da Israel versuchte, ein Volk, eine Nation zu werden (bes. z. Z. der israelitischen Könige).

Nach der babylonischen Katastrophe, also in der Zeit des beginnenden Judentums,wurde die Autorität des Mose vor allem wegen der „Tora" gesehen: Er galt als ein Wei­ser, dem Gott seine Ratschlüsse und Weisungen für das Volk kundgetan hatte. Aber obwohl die ganze nachexilische Epoche an Mose und seine Tätigkeit erinnert (Ps 106; l Chr 6,34; 2 Chr 35,6; Sap 10,15-16; 11,l u. a.), wird dennoch nirgendwo sein Namemit Israels Zukunft verbunden,

weder in der Erneuerungsvision des Deuterojesaja (40,1-55,13), noch in der „neuen" Tora von Ez 40-48.

Und obwohl Mose „nabi", d. h. Prophet war, wurde Dtn 18,15.18 nicht auf den wie­derkehrenden Mose bezogen: 15: ,,Einen Propheten gleich mir . . . wird Jahwe, dein Gott, dir erwecken; auf ihn sollt ihr hören." 18. ,,Einen Propheten gleich dir will ich ihnen aus ihren Stammesbrüdern erwecken

„Prophet" hat hier unbetonten und allgemeinen Charakter; denn das verheißeneprophetische Charisma ist nicht spezifisch „mosaisch", sondern kommt jedem Prophe­ten zui. Mose ist zwar Typos für kommende Propheten, aber er ist nicht ein oder der Prophet der Endzeit, der messianischen Heilszeit.

2. Die Gestalt des „ebedjahwe'� des Knechtes Gottes. Bei Deuterojesaia werden 4Texte als sogenannte „ebed-Jahwe"-Lieder bezeichnet: 42,1-4 (+ 5-7), 49,1-6 (+ 7-9), 50,4-9 a (umstritten), 52,13-53,12.

Der Begriff „ebed" = ,,Knecht" hat hier eine positive Bedeutung; der „ebed" ist der berufene und von Gott angenommene Diener. Von den Textaussagen her handelt es sich um eine prophetische Gestalt, sei es als individuelle, sei es als kollektive „Person" ; darüber jedoch gehen die Meinungen auseinander.

Jes 42,1-4 bietet gleichsam einen „Kurzkommentar" zu allen „ebed"-Liedern: ,,Siehe, mein Knecht, den ich halte, mein Erwählter, der mir gefällt. Ich lege auf ihn meinen Geist; er bringt den Völkern das Recht. Er schreit nicht und erhebt nicht seine Stimme, läßt sich nicht hören auf der Straße. Geknicktes Rohr zerbricht er nicht,

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glimmenden Docht löscht er nicht aus; in Treue bringt er das Recht. Er selbst wird nicht matt, nicht knickt er zusammen, bis er auf Erden das Recht freisetzt; und auf seine Weisung harren die Inseln."

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Wer nun ist dieser „Knecht"? Es gibt zwei Hauptrichtungen der Interpretationsver­suche: a) der Knecht ist der Repräsentant eines Kollektivs,b) der Knecht ist identisch mit dem Volk Israel, vgl.Jes 41,8.

Beliebt ist zwar die Deutung, der „Knecht" sei eine Einzelperson (entweder der Ver­gangenheit oder der Gegenwart); doch gegen diese Deutung erheben sich erhebliche Bedenken. Wichtig allein ist:

Der Knecht ist eine Gestalt der Zukunft, er hat also messianische Bedeutung (vor allem ist hier der Gedanke des stellvertreten­den Sühneleidens wichtig}.

So ist festzuhalten: Nach Babylon wurde Israel der Erbe der Königszeit-Traditionen; an die Stelle der Königsknechte tritt Israel als „ebed":Jahwe (die individuelle Ausformung gehört einer späteren Phase an}.

Aus dem Gesagten ergibt sich: Messianische Hinweise sind im Alten Testament selten. Einzelne Gestalten werden typologisch gedeutet, aber nur sehr vage und ohne feste Konturen. V iel stärker steht im Vordergrund, daß Israel selbst eine messianische Aufgabe zu erfüllen hat. Diese Auf­gabe steht vor allem unter dem Zeichen des Friedens, der in Israel und durch Israel allen Völkern zukommen soll.

3. Der endzeitliche „shalom ''.Für die messianische Zeit als Zeit des umfassenden Friedens, stehe folgender(s} Text(beispiel}: Jes 9,5:

„Denn ein Kind wird uns geboren ... , man nennt ihn ... Friedensfürst."

,,Friede" ist im Hebräischen immer im umfassenden Sinn gemeint: Friede= Versöh-nung, Huld, Verstehen, Toleranz usw. Deuterojes. 54,10:

„Meine Huld wird nimmer von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht weichen."

Vgl. vor allemjes 2,2-5: ,,Am Ende der Tage wird es geschehen ... Dann schmieden sie ihre Schwerter

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zu Pflugscharen um und ihre Lanzen zu Winzermessern" (so auch in Mich 4,1-5).

Der messianische Friede ist demnach ein universaler Friede der Gewaltlosigkeit: Sein Ursprung liegt in Israel (Zion), er kommt nicht durch Krieg, sondern durch Gewaltverzicht, er ist „irdisch", also geschichts­immanent, er kommt erst in der Zukunft, muß aber (in Israel) schon jetzt beginnen.

III. Messiaserwartungen im Judentum, besonders in der jüdischen Apokalyptik

2. Die Gestalten Esra und Nehemia.Esra war Priester aus der babylonischen Judenschaft (± 450), Nehemia war Mund­schenk des persischen Königs in Susa, zugleich bedeutender Reformer des Judentums.Beide gehören zu den „Großen" des Judentums der nachbabylonischen Ära; die Bücher „Esra" und „Nehemia" schildern die Leistung vor allem Esras als Gründer einerSammelbewegung, die in der Hervorhebung der Bedeutung der Tora gipfelte. Abernichts deutet darauf hin, daß etwa Esra die Ehre zuteilgeworden sei, mit dem Gottes­boten Mal 3,1 identifiziert zu werden: ,,Siehe, ich sende meinen Boten ... " (siehe dazuunten).

Das aber heißt: Auch im Judentum geschah die Ausformung einer Messiaserwartung bedeutend zurückhaltender, als man dies heute wahrhaben möchte. Denn die Juden haben kei­neswegs vorschnell große historische Gestalten „messianisch" gedeutet. Messianische Interpretationen wurden meistens von außen her an die Texte herangetragen, sei es aus typoligischem Interpretationseifer (so die christliche Theo­

logie), sei es aus apologetischen Gründen, (so die jüdische T heologie, welche

die Messiaserwartung auf ein menschliches Maß reduzieren will).

Gestalten wie Esra und Nehemia haben also nicht als Person, sondern durch ihr Reformwerk für die messianische Reflexion eine gewisse Rolle gespielt. Denn zum Wesen des Messianismus gehören ja

zum einen die Krisensituation, die aus der Not-Zeit den Blick in die Heils-Zeit lenkt, zum anderen die reformatorische Kritik, die den Blick schärft für die Hintergründe und Zusammenhänge der Geschichte.

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3. Der rätselhafte Bote von Mal 3, 1.

a) Mal 3,1 dürfte auf die Messiaserwartung des Judentums großen Einfluß gehabthaben: ,,Wohlan, ich sende meinen Boten,

daß er den Weg vor mir bereite;und plötzlich kommt zu seinem Tempelder Herr, den ihr erwartet,und der Bote des Bundes, den ihr wünscht;fürwahr er kommt,spricht Jahwe der Heerscharen."

Die Rede ist von einem Boten des Gerichts, das die Sünder trifft, aber auch die From­men.Jahwe hat einen Herold Qes 52,7; Ob 1), der ihm den Weg bereiten soll Qes 40,3;57,14). Während aber der Herold ein Vorläufer ist, ist der „Bote des Bundes" ein Reprä­sentant Jahwes selbst.

Doch auch dieser „Gottesspruch" bleibt im Judentum ohne nähere Konkretisierung:Außerdem ist das Kommen des Gerichtsboten nicht für eine (ferne oder nahe) Zukunftangesagt, sondern für die Gegenwart. Dennoch hat gerade dieser Text die Messias­erwartung stark beeinflußt und die Leser angeregt, den noch sehr unbestimmten Textmit konkreten Angaben zu füllen, ihn mit bestimmten geschichtlichen Personen zuidentifizieren. Doch muß gesehen werden, daß jede spätere historische Auffüllung vonganz bestimmten Voraussetzungen ausgeht, die dem ursprünglichen Textsinn nichtzugrunde lagen.

b) Die beiden späteren Zusätze Mal 3,22 und 3,23-2 4 führten die Namen Mose undElija ein, die nachträglich als „Deutung" verstanden werden sollten.

Der Elija redivivus (besser: ein neuer Elija). In Sir 47,14-21 wird der Gedanke aus Mal aufgegriffen: Elija ist der Vorläufer des

Tages Jahwes, des Tages des großen Zornes. Anders ist es in den Schriften der jüdischen Apokalyptik; Elija ist dort nicht der Vorläufer Jahwes, sondern der Vorläufer eines Messias: 4 Esr 6,26; Apk Elija. Die Texte bleiben dunkel, nur soviel kann gesagt wer­den: Der Gedanke eines „Elija redivivus" wurde im Judentum durchgehalten: Elija wird als eschatologischer Prophet wiederkommen. Dennoch bleiben die Aussagen vage und sind nicht genau zu konkretisieren.

c) Ähnliches gilt für einen „Mose redivivus" (genauer: einen neuen Mose), Text­grundlage ist Dtn 18,15.18. Doch gilt hier das gleiche wie das zu Elija Gesagte: An eine konkrete individuelle Gestalt kann nicht gedacht werden. Freilich blieb der Gedanke an einen „Mose redivivus" lebendig, besonders wieder in der jüdischen Apokalyptik (vgl. AssMos). Doch wird man sich fragen müssen, ob wirklich eine Verbindung besteht zwischen der Erwartung eines „neuen Mose" und der einer Ankunft eines eschatologi­schen Propheten, von der Maleachi gesprochen hatte.

4. Der eschatologische Prophet in Q,umran.

Die Texe vom „Toten Meer" vermitteln mindestens vier Personen: a) der Lehrer der Gerechtigkeit,b) der eschatologische Prophet,c) die zwei Messiasse aus Aaron und Israel.

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Zu b) Wer der eschatologische Prophet ist, läßt sich aus den Texten von Qumran nicht erschließen. Möglicherweise ist an einen „Mose redivivus" gedacht. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, daß zu einem späteren Zeitpunkt der eschatologische Prophet mit dem „Lehrer der Gerechtigkeit" identifiziert worden ist.

Zu c) Die zwei Messiasse sind ziemlich diffuse Gestalten; sie sind für das hier zu behandelnde Thema nicht „ergiebig", weil beide ohne feste Konturen dargestellt wer­den.

Zu a) Vermutlich wurde der „historische" Lehrer der Gerechtigkeit vor dem Hinter­grund der bald zu erwartenden „historischen" Drangsal zu einem „Propheten der End­zeit" ; damit aber ist wiederum keine der vier in Qumran vorgestellten Personen eine Gestalt mit typisch messianischem Gepräge.

4. Der „Menschensohn" der jüdischen Apokalyptik.1. Das Danielbuch (Kap 7: ,,die vier Tiere" ), bes. 7,13.14 „Menschensohn" im AltenTestament kann bedeuten:

der Mensch schlechthin (bes. Ez), oder ein Mensch (etwa in feierlicher Rede).

Anders ist es in der apokalyptischen Literatur. Der älteste Text findet sich in Dan 7,13 f: „Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn heran."

Dieser Menschensohn gehört in die Reihe der vier „Tiere", welche vier Weltreiche ver­körpern; er ist also wie diese keine Einzelperson, sondern ein Kollektivum.

2. Das äthiopische Henochbuch (Kap. 37-71). Dort ist der Menschensohn ein einzel­ner: Am Anfang der Zeit vor allen Geschöpfen geschaffen, jedoch im Himmel verbor­gen, bis er am Ende der Zeiten kommt, um über die Welt zu richten. Somit scheint der Menschensohn des äthHen ein präexistentes Himmelswesen zu sein, also nicht ein irdisch-messianischer Heilbringer.

3. Da das Danielbuch als Herkunftsort für den „Menschensohn" des Neuen Testa­ments ausscheidet, bleibt nur das äthHen (4 Esr 13 ist nachchristlich). Nach G. Gerle­mann meint aram. ,,bar nasa" =

der abgesonderte Mensch (der von den übrigen Menschen verschiedene Mensch); der Menschensohn wäre somit ein für eine besondere Aufgabe abgesonderter Mensch.

Der Menschensohn des äthHen hat darüber hinaus auffällige Ähnlichkeit mit dem Gottesknecht bei Deuterojesaja: Er ist wie dieser der Auserwählte, der aus der Verbor­genheit kommt, um in der Öffentlichkeit für andere etwas zu bewirken.

4. Zusammenfassend kann über Messiaserwartungen im Judentum gesagt werden:In der nachexilischen Zeit erlischt das Wirken der Propheten (alter Observanz, siehe oben). Heilshoffnung und -erwartung werden durch die Forderung von Gesetzestreue gefestigt (Esra/Nehemia), Heilszuversicht wird hie und da, aber noch sehr diffus und wenig konkret, an einen messianischen Mittler gebunden.

Der „Bote des Herrn" in Mal 3,1 kann vor dem Hintergrund des eschatologischen Charakters dieser Schrift als Endzeitprophet verstanden werden, der dem kommen­den Richter-Gott den Weg bereitet. Die Gestalten eines „Elija redivivus" (eines „neuen" Elija) und eines „Mose redivivus" (eines „neuen" Mose) spielen im Judentum keine

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besondere Rolle. Doch zeigen sich in einigen Traditionen erste Bemühungen, in ihnen so etwas wie einen Messias der Endzeit zu identifizieren,jedoch ohne historische Fest­legung.

Erst die Gestalt eines "Menschensohnes", eines vom Menschen Abgesonderten (von den Menschen verschiedenen Menschen) wird von Bedeutung für die jüdische Mes­siaserwartung, vor allem im Umfeld der jüdischen Apokalyptik. Wo dann in der „christ­lichen" Apokalyptik ein Menschensohn auftritt, werden mit ihm konkrete Messias­erwartungen verbunden.

Das aber heißt: Die interne Entwicklung der Messiasvorstellung im Judentum ver­lief äußerst behutsam; eine historische Festlegung geschah nicht. Wir werden sehen, daß auch in der christlichenJesustradition die interne IdentifizierungJesu von Nazaret mit dem jüdischen Messias sehr behutsam und zögernd verlief, daß keineswegs ein ,, sicheres Wissen" von Anfang an da war. Als dann in der nachösterlichen Überliefe­rung die Indentifizierung stattfand, verlief dieser Prozeß sehr rasch und sehr dyna­misch; allerdings wurden dabei dem Alten Testament und dem Judentum von der (externen) christlichen Hermeneutik „Gewalt" angetan. Mit der Zerdehnung der Zeit trat jedoch das Jesus-Messias-Bild bald wieder in den Hintergrund. Jesus als der gekommene und zuglech kommende Herr wird nicht mehr primär als heilbringender Messias, sondern als feste und bestimmte göttliche Autorität gewertet: Die Hervor­hebung der Hoheit verdrängt die Betonung seiner messianischen Aufgaben.

IV Das Messiasbild in den neutestamentlichen Schriften

1. Christologische Entwürfe im Neuen Testamenta) Als Johannes d. Täufer und unmittelbar nach ihm Jesus von Nazaret auftraten,waren Judäa (mitJerusalem), Galiläa, Samaria, also das Gebiet, das man üblicherweiseals Palästina bezeichnet,

religiös uneinheitlich, soziologisch vielgestaltig, politisch unbedeutend und wirtschaftlich wenig attraktiv.

Palästina war - wie viele Gebiete am Rand des Römischen Weltreiches - von Turbu­lenzen geschüttelt, von Unterdrückung und Ausbeutung bedrängt und damit randvoll von Erwartungen und Sehnsüchten. Es war eine Zeit, in der „üblicherweise" das Warten auf einen politischen und/oder religiösen Messias besonders vehement aufbrechen konnte. In der Tat: Schauen, Warten und Hoffen auf einen „Messias, der kommen soll", waren groß; denn Unterdrückungen, Not und Drangsale weckten in verstärktem Maße Heilserwartungen. Gegenüber den Mächtigen, die das Sagen hatten und dies durch Ausbeutung demonstrierten, sehnte man sich nach einem „Friedensboten", einem ,,Heilbringer", der besonders den Elenden und Ohnmächtigen Ruhe, Frieden und Dul­dung bringen würde.

b) Das Interesse an dem Manne aus Nazaret, wenngleich in einem relativ unbedeu­tenden Winkel des Römischen Reiches, war zunächst noch unbestimmt, ohne konkrete

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Vorstellung, kurz: abwartend und tastend. Man hörte seine Worte, sah seine Werke (Exorzismen, Krankenheilungen), aber man legte ihn (noch) nicht fest. Die Frage, ob er der erwartete

Prophet, Knecht Gottes, Davidsohn, Menschensohn oder Messias sei,

blieb zunächst offen. Nicht seine Person konnte darauf eine eindeutige Antwort geben, sondern nur das, was er den Menschen in ihrer angespannten Situation und in ihrer Heilserwartung sagte und verhieß. Dieses „Abwarten, Abtasten" spiegelt sich in allen Schriften des Neuen Testaments in allen Aussagen über Jesus von Nazaret, die wir als „christologische" Zeugnisse und Bekenntnisse bezeichnen. Von daher kann es nicht wundern, daß wir es in den neutestamentlichen Schriften mit einer Vielfalt solcher Zeugnisse zu tun haben. Diese Pluralität aber stiftete keineswegs Verwirrung und Rat­losigkeit; vielmehr waren die sehr unterschiedlichen Gemeinden der Überzeugung, ihre eigene und sämtliche früheren Deutungen undjesusinterpretationen bewahren und in einer Schriftsammlung (Kanon) vereinen zu müssen. Von daher ist es auch ver­ständlich, daß die jungen Gemeinden Mühe hatten, Wort und Werkjesu in eine einheit­liche Sprache zu fassen. Mehr als 50 Bezeichnungen (,,T itel" ) für Jesus hat man gefun­den, die je einen bestimmten Aspekt der Wirksamkeitjesu hervorheben. Dieser „Pro­zeß des vorsichtigen Suchens" aber begann schon, als Jesus öffentlich in Galiläa auftrat.

2. Die Messias-FrageBevor der diesbezügliche Text ausgelegt werden soll, sind einige Verstehensangaben

zu machen. Wie bereits erwähnt, verwendet das sprachliche Bemühen, das Werkjesu (,,die Sache" Jesu) terminologisch zu bestimmen, mehr als 50 verschiedene Begriffe.

„Christos", die griechische Übersetzung für das hebräische „machiach" = der Gesalbte (von „maschah" = salben), ist die adäquate (vgl. ,, chrio"= salben) Wiedergabe dessen, was wir mit dem eingedeutschten „Messias" meinen; der Begriff kommt im Neuen Testament über 500mal vor (zum Vergleich: ,,kyrios" = Herr 350mal; Men­schensohn 80mal; Sohn Gottes 75mal, Sohn Davids 20mal). Der „Gesalbte" (gleichsam als Adoptionssohn einer Gottheit) war also Zentralbegriff, in dem die umlaufenden Messiaserwartungen zusammengefaßt wurden. Die Vielfalt dieser Erwartungen brachte eine Vielfalt von Vorstellungen mit sich, was sich vor allem in der Perikope über die „Messiasfrage" spiegelt, obwohl in ihr die Vielfalt nur exemplarisch aus­gedrückt wird.

Der Text Mk 8,27-30; vgl. Mt 16,13-16; Lk 9,18-21. 1. Struktur des TextesGrundlage für jede Deutung ist der Text in Mk 8,27-30:V.27: ,,Undjesus ging hinaus und seine Jünger in die Dörfer von Cäsarea Philippi.Und auf dem Weg fragte er seine Jünger, sagend: ,Wer, sagen die Menschen, daß ichsei?'V.28: Sie aber sprachen zu ihm, sagend:Johannes der Täufer,

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und andere: Elija; andere aber: Einer der Propheten. V.29: Und er, er fragte sie: Ihr aber, wer, sagt ihr, daß ich sei? Petrus antwortete, sagend: ,Du bist der Christas'."

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Die Struktur der markinischen Erzählung (von Mt stark bearbeitet, von Lk nur in einem Punkt entscheidend verändert) macht deutlich, worum es sich handelt:

um Rede bzw. Meinung über Jesus, den Mann aus Nazaret (wer er sei).

Erfragt wird zunächst die Meinung der Leute, dann die der Jünger; zugleich aber geht es um die Unterscheidung beider Meinungen.

Obwohl das Gespräch in Cäsarea Philippi „stattfindet", ist es aus galiläischer Perspektive geformt; d. h., die Perikope gehört zum Traditionskreis der „galiläischen Christen" im Umfeld der Jerusalemer Urgemeinde. 2. Auslegung des Textes

In V.27b erkundigt sich Jesus nach der Meinung der Menschen (im Unterschied zurMeinung der Jünger) über ihn. V.28: Die Jünger geben in der Antwort die Volksmeinung kund: Exemplarisch werdendrei Meinungen genannt, die - wohl zu Lebzeiten Jesus, aber auch noch in der frühe­sten Gemeindeüberlieferung - im Umlauf sind. Im Vergleich mit dem ParalleltextMk 6,14-16 ist hier die Aufzählung sehr knapp gehalten.

Die drei referierten Volksmeinungen spiegeln das WirkenJesu unter dem Aspekt der prophetischen Existenz und lassen vier Schlußfolgerungen zu, welche die Messiasfrage betreffen: a) schon zu Lebzeiten wurde seine „Messianität" erörtert;b) auch die Erwartung von Martyrium und Auferweckung prophetisch-messianischerGestalten war vorhanden;c) zwischen Johannes dem Täufer und Jesus „dem Propheten" bestand konkurrie­rende Beurteilung;d) die aufgezählten Meinungen sind keine „Fehleinschätzungen", sondern sind Volks­meinungen, denen aber das tiefere Verständnis von Jüngern noch abgeht.

Fazit: Das messianische Wirken Jesu war nicht „eindeutig", mehrere Interpretatio­nen waren möglich. Die endgültige Festlegung aufjesus als „den Messias" setzt den Tod und die Auferweckung Jesu voraus, geschieht also erst in nachösterlicher Zeit.

3. Somit stellt sich die Frage, auf welchem „Weg" in den nachösterlichen Gemeinde­nachrichten die Jesusüberlieferung mit Messiasvorstellungen verknüpft wurde. (Hier ist nur ein sehr geraffter Überblick möglich.)

a) Die früheste Quelle „Q" (= Logienquelle) kennt den Messiastitel nicht. Nach ihrhat sich Jesus nicht als Messias verstanden; aber auch die Gemeinde um ,,�' sah in ihm nicht einen Messias. Wohl aber dürfte in „Q" ,,Menschensohn" als eine Art messiani­scher T itel gebraucht worden sein.

b) Im Mk-Ev. werden die Bezeichnungen „Gottessohn" und „Menschensohn" zudem Messiastitel „ho christos" verbunden; daraus ergibt sich, daß Jesus als der „Mes-

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sias" zwar nicht eindeutig als eschatologischer Heilbringer, sein Tun aber als messiani­sches Handeln verstanden wurde.

c) Mt schließt sich weitgehend der Mk-Vorlage an. Gerade wegen seiner starkenAnlehnung an die alttestamentliche Prophetentradition bleibt auch bei Mt der prädi­kative Charakter von „christos" erhalten.

d) Der prädikative Charakter wird in Lk und Apg noch einmal vertieft: Jesus istMessias wegen seiner messianischen Tätigkeit (unbetontes ,Jesus Christas" ist bei Lk + Apg selten).

e) Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Rolle des Paulus. Der „Titel" begegnetbei diesem „ältesten" Zeugen sehr häufig (271 Vorkommen), und zwar in drei literari­schen Formen: 1. Jesus Christas in Verbindung mit „kyrios";2. Texte nur mitJesus Christas;3. Texte mit Christas absolut.

Bei Paulus aber ist „christos" schon nicht mehr Messiasaussage im eigentlichenSinne. V ielmehr steht der „Titel" im Kontext zur Erhöhung und PräexistenzJesu, die prädikative Bedeutung von „christos" tritt fast völlig in den Hintergrund. Schon sehr früh also wird die soteriologisch bestimmte Messiasfrage (-erwartung) einer Christolo­gie in mehr transzendentem Sinne geopfert; diese Entwicklung setzte sich dann in den neutestamentlichen Spätschriften konsequent fort: Der Christas-Titel wird zu einer sta­tischen Hoheitsaussage.

4. So läßt sich festhalten (was die neutestamentliche Traditionsgeschichte betrifft):Zur Zeit des historischenJesus wird die Messiasfrage (heftig) diskutiert und mit dem WirkenJesu in Verbindung gebracht. Dabei scheint vor allem das Problem „endzeitli­cher Prophet" oder „endzeitlicher Messias" erörtert worden zu sein. Auf der „messiani­schen" Diskussionsebene dürfte die Vorstellung von einem königlichen (davidischen) Messias besonders virulent gewesen sein.

V ielleicht war die HinrichtungJesu als „des Königs der Juden" maßgebend für die verstärkt einsetzende christologische Diskussion in den Urgemeinden.

Schon früh taucht „Messias" in der urchristlichen Bekenntnistradition auf; daher wird vor dem Hintergrund von Ps 110,1 die Person Jesus diskutiert,jedoch nicht so sehr nach der soteriologischen, sondern nach der christologischen Seite hin. Die Messias­aussage wird zu einem Christusbekenntnis, die Messiaserwartung tritt mehr und mehr zurück. Heilserwartung und Heilshoffnung bezüglich eines kommenden Messias treten in den Hintergrund. Messianische Erwartungen werden nun zunehmend der Menschensohn-Vorstellung zugewiesen, diese aber im Sinne einer Hoheitsaussage. Die christliche Messiaserwartung wird damit von der alttestamentlich-jüdischen Tradition losgelöst. Daher hat die Menschensohn-Vorstellung der Christen mit alttestamentlich­jüdischen Messiaserwartungen nicht mehr viel gemein. Die Eschatologie erlischt, die Zukunft rückt in weite, für das Gemeindeleben unverbindliche Feme.

5. Zusammenfassung und ErgebnisDie Urgemeinden sahen in Jesus von Nazaret einen Messias (mit den eben gemach

ten Einschränkungen), der schon im Judentum, besonders in der Apokalyptik, mit jener „Gestalt" zu tun hat, die in allen eschatologischen Heilserwartungen immer wie

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der eine nicht zuletzt auch politische Rolle spielte. Doch damit stellte sich zunehmend die Frage: Wenn Jesus, wie der ntl. Befund scheinbar ergibt, eine unpolitische Figur war, wie konnte er dann zum Messias werden, der doch nach jüdischem Verständnis eine eminent politische Aufgabe hatte? Denn zweifellos hatte die Urkirche den Messiastitel entpolitisiert und spiritualisiert.

a) Ein wesentlicher Grund dafür, daß die Urkirche in Jesus den Messias sehenkonnte, war die von allen Evangelien bezeugte Geistbegabung bei der Taufe5

• Daß aber der Messias Geistträger ist, kündigten schon die Propheten Israels an: Jes 11,lf: ,,Ein Reis wird hervorgehen aus lsais Stumpf ...

Und auf ihm wird ruhen Geist Gottes ... " Jes 42, lf: (heißt es von „ebed Jahwe")

,,Siehe mein Knecht, mein Erwählter .. . Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt ... "

Jes. 61,lf: ,,Der Geist des Herrn Jahwe ruht auf mir ... "

Nach Lk 4, I 8f hat Jesus in einer Predigt (= Schriftauslegung) dieses Prophetenwort in der Synagoge von Nazaret zitiert und im Sinne einer gegenwärtigen Erfüllung gedeu­tet. Diese Vorstellung ist aber schon im Judentum vorgegeben (11 QMelch hat in Ver­bindung mitJes 61,lf die Bezeichnung: ,,Geistgesalbter" (=masiah haruah); sie war also nicht einfach Neuschöpfung der Urkirche im Sinne von Weissagung und Erfüllung (siehe oben die Einleitung).

b) In der Logienquelle begegnet die Auffassung, daß Jesus von Nazaret so etwas wieein Weisheitslehrer gewesen sei (vgl. Die Logien-Sammlung mit Jesus Sirach, Prover­bia, Sap Sal). Da - wie bereits angedeutet wurde - ,,Q" den Christus-T itel nicht kennt, aber auch nicht die Kyrios-Bezeichnung und nicht das Kerygma von Tod und Auferste­hung Jesu, finden wir in „Q" früheste Jesus-Interpretation im Sinne eines Weisheits­lehrers. Danach beanspruchte Jesus, nicht nur höhere Weisheit zu besitzen, sondern mehr als der „weise Salomon" zu sein (Lk ll,31f par. Mt 12,4f; weitere Beispiele dazu siehe bei F. Mussner, Messias Jesus ... ).

Wenn also Jesus sich selbst und wenn die Urkirche ihn als Weisheitslehrer verstand, dann bleibt diese Vorstellung ganz in der jüdischen (Weisheits-) Tradition. Aber auch das ist noch nicht christliche Exegese, sondern jüdische Überlieferung: Ps Sa! 17 sieht den Messias als Geist- und Weisheits-

träger, vgl. auch Ps Sa! 18,6f. Besonders die Sap Sa! hat die nachösterliche Christologie stark beeinflußt (auch das Hen-Buch). Daher war es für die Urgemeinden nicht schwer, im Anschluß an diese vor­gegebenen jüdischen Traditionen eine unpolitische Messias-Idee zu entwickeln. Aber eine große Schwierigkeit blieb:

Ein gekreuzigter Messias mußte dem Judentum ein Skandal sein; doch konnte die christ-liche Messiasidee auch hier auf vorgegebenes Material zurückgreifen.

c) Das Judentum (aber auch schon das AT) kannte die Idee vom leidenden Gerech­ten (und Propheten). Hier ist vor allem neben der Pss-Trad.) das „Diptychon" in den

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PsSal 2,12-20 und 5,1-7 zu nennen, das diesen Gedanken ausführt und hinter dem, wie L. Ruppert gezeigt hat, ein palästinensisch-semitischer Grundtext liegt.fi In ihm begegnet zum ersten Mal das vollausgebildete Motiv der „passio iusti". Die Texte lauten:2,12-20:,,Laßt uns dem Gerechten auflauern!Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg.Er wirft uns Vergehen gegen das Gesetz vorund beschuldigt uns des Verrats an unserer Erziehung.Er rühmt sich, die Erkenntnis Gottes zu besitzen,und nennt sich einen Knecht des Herrn.Er ist unserer Gesinnung ein lebendiger Vorwurf,schon sein Anblick ist uns lästig;denn er führt ein Leben,das dem der anderen nicht gleicht,und seine Wege sind grundverschieden.Als falsche Münze gelten wir ihm;von unseren Wegen hält er sich fern wie von Unrat.Das Ende der Gerechten preist er glücklichund prahlt, Gott sei sein Vater.Wir wollen sehen, ob seine Worte wahr sind,und prüfen, wie es mit ihm ausgeht.Ist der Gerechte wirklich Sohn Gottes,dann nimmt sich Gott seiner anund entreißt ihn der Hand seiner Gegner.Roh und grausam wollen wir mit ihm verfahren,um seine Sanftmut kennenzulernen,seine Geduld zu erproben.Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen,er behauptet ja, es werde ihm Hilfe gewährt."

5,1-7: „Dann wird der Gerechte voll Zuversicht dastehen vor denen, die ihn bedrängt und seine Mühen verachtet haben. Wenn sie ihn sehen, packt sie entsetzliche Furcht, und sie geraten außer sich über seine unerwartete Rettung. Jetzt denken sie anders; seufzend und voll Angst sagen sie zueinander: Dieser war es, den wir einst verlachten, verspotteten und verhöhnten, wir Toren. Sein Leben hielten wir für Wahnsinn und sein Ende für ehrlos.

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Jetzt zählt er zu den Söhnen Gottes, bei den Heiligen hat er sein Erbteil. Also sind wir vom Weg der Wahrheit abgeirrt; das Licht der Gerechtigkeit strahlt uns nicht, und die Sonne ging nicht für uns auf. Bis zum Überdruß gingen wir die Pfade des Unrechts und des Verderbens und wanderten durch weglose Wüsten, aber den Weg des Herrn erkannten wir nicht".

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Dieses „Diptychon" ist nun selbst wieder stark beeinflußt von den Gottesknecht-Lie­dern bei Deutero-Jesaia (siehe oben). Auch hier gilt also, daß auch schon im Judentum ,,der Gerechte" als Würdenamen für den Messias belegbar ist (nicht jedoch die Bezeich­nung „Knecht"). Von daher war es möglich, daß Jesus sein Wirken als radikale Pro-Exi­stenz verstanden hat, als Wirken „für andere", und daß auch „die Urkirche den TodJesu im Sinne eines Todes für andere" verstehen konnte.

Gerade weil schon im Judentum der „Begriff Messias ... ein Polysem par excellence" war (H. Frankemölle, Jüdische Messiaserwartung ... , in: Kairos 20 [1978] 103 von 97-109), war es möglich, daß Jesus und die früheste Kirche aus dieser jüdischen Tradi­tionsmischung sich bedienen konnten.

Die umfassende Konzentration auf die typisch christliche Messiasidee freilich ist das Ergebnis christlicher Apologetik der ältesten Zeit. Dadurch aber werden alle Vorstel­lungen, besonders die des Messias, verändert. In der Interpretation der Geschichte des Jesus von Nazaret werden die jüdischen messianischen Deutungselemente in eine neue Bedeutungsstruktur geprägt. Sie verlieren ihre plurale Deutungsvielfalt und wer­den zu dogmatischen Hoheitstiteln und damit zu akzeptablen Christusbekenntnissen umgeformt. Damit aber wird das Messiasbekenntnis des Christentums zu einer Legiti­mationsformel: Sie legitimiert Jesus als den Messias, indem sie sein Wirken messia­nisch interpretiert, allerdings nicht primär in einem politischen Sinn, sondern in der Mischform jüdischer Traditionen, wobei die Entpolitisierungstendenz nicht zu über­sehen ist (doch bleibt auch das politische Modell noch rudimentär erhalten, vgl. Lk l,32f; 9,16).

Unbegreiflich für Juden war und ist, daß gerade Jesus der Handwerker aus dem unbedeutenden Dorf Nazaret in Galiläa der verheißene und erwartete Messias sein sollte. Ihren Grund dürfte diese „Verweigerung" darin haben, daß man glaubte, wenn der Messias komme, ereigne sich seine Ankunft aus völliger Anonymität heraus. Der Messias handle zwar in der Geschichte, sei aber eine Gestalt, die nur im „daß" des Handelns faßbar sei.

Verbindend bleibt aber in jüdischer und christlicher Messiasidee der kritisch­utopische Charakter der messianischen Erwartung, daß sie für die Zukunft eine „heile Welt" verheißt, in der Friede und Gerechtigkeit wohnen. Gerade das immer noch fehlende Dasein des umfassenden „Schalom" macht deutlich, daß die Haltung des Wartens, Erwartens und Hoffens wesentlich zu beiden Messiasbildern gehört. Daher darf der Christ nie übersehen, daß es im Hinblick auf die messianische Heilserwartung

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noch einen großen „Verheißungsüberschuß" gibt, der durch Jesus nicht erfüllt worden ist. Der Jude weist zu Recht immer wieder hin auf diese bestehenden Heils-Defizite. Aber auch die Konzilserklärung „Nostra aetate" vom 3.Jan.1965 spricht dies aus: ,,Man soll bemüht sein, besser zu verstehen, was im Alten Testament von eigenem und blei­bendem Wert ist ... , da dies durch die spätere Interpretation im Licht des Neuen Testa­ments, die ihm seinen vollen Sinn gibt, nicht entwertet ist ... Wir glauben, daß diese (Verheißung des Alten Bundes) seit der ersten Ankunft Christi erfüllt sind - indessen ist es ebenso wahr, daß wir noch in der Erwartung ihrer vollkommenen Erfüllung bei sei­ner glorreichen Wiederkehr am Ende der Zeiten stehen."

,,Ist Jesus der Messias - oder sollen wir auf einen anderen warten?" so lautete die ein­gangs gestellte Frage. Für den Christen lautet nach dem Gesagten die Antwort:Jesus ist Messias als der Menschensohn, der in seinem ersten Kommen die beginnende Heils­zeit proklamierte. Im Ausbleiben der gefüllten Heilszeit, die erst mit seinem zweiten Kommen geschehen wird, verweist er auf das „noch nicht" der messianischen Zeit. Der Christ muß nicht auf einen anderen warten, allerdings nur insofern er in seinem Bekenntnis sich auf eine immer noch ausstehende Zukunft verwiesen weiß und dabei erfährt, daß alle Messiaserwartung beruht auf der Vorläufigkeit eines gegenwärtigen Advent, der radikal auf endgültige Erlösung in der Zukunft verweist.

V Schlußüberlegung und Ausblick

Aufgrund der vorgelegten Darstellungen und Überlegungen kann festgehalten wer­den. Der Gang durch die lange Geschichte der vielfältigen Messiaserwartungen zeigt, daß es „das eine", also ein einziges Messiasbild zu keiner Zeit gegeben hat. Alle messia­nischen Heilshoffnungen waren aus konkreten, und das heißt einmaligen Geschichts­zusammenhängen entstanden; sie trugen die Züge der zugrundeliegenden Unheils­situationen und erwarteten einen Messias, der vor allem die aktuellen Nöte, Defizite und Katastrophen beheben werde. Gerade der Prozeß der Schriftwerdung (Kanonbil­dung) zeigt eine erstaunliche Pluralität hinsichtlich der sehr unterschiedlichen Vorstel­lungen von einem gegenwärtigen oder kommenden Messias.

Auch die christologischen Konzilien zwischen Nikea (325) und Chalcedon (451) änderten nichts an diesem Tatbestand. Zwar wurden Grenzen gezogen und gegenüber Falsch- oder Fehlinterpretationen Abgrenzungen vorgenommen. Aber selbst noch die „sachliche Unklarheit der Unterscheidung zwischen Hypostase und Natur bildete den Ansatzpunkt der sich an die Formel von Chalcedon anschließenden Auseinanderset­zungen."7 In nachneutestamentlicher Zeit jedoch trat die Frage nach dem Messias im eigentlichen Sinne mehr und mehr zurück zugunsten eines statischen christologischen Bekenntnisses, das den dynamischen soteriologischen Aspekt der Messiasdiskussion ins Abseits drängte; aber gerade dieser plurale Aspekt gehörte und gehört wesentlich zur Frage: Bist du der Messias? Die Notwendigkeit - und sie ergibt sich aus den vorlie­genden Ausführungen - die Option für ein plurales Messiasbild unbedingt festzuhal­ten, vermag folgende - wenn auch nur am Rande bedeutsame - Tatsache zu unterstrei­chen. Am 23. Oktober 1988 erklärte der Erzbischof von Turin, Kardinal Bellestrero,

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bezüglich der Echtheit des „Turiner Grabtuches": Das sogenannte Turiner Grabtuch stammt aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen nicht aus der Zeitjesu, sondern aus dem Mittelalter. ,,Ich sehe keinen Anlaß für die Kirche, diese Ergebnisse anzuzwei­feln."8

War damit eine Welt frommen Glaubens zusammengebrochen? Vielleicht bei denen, die an die Schrift den Maßstab eines Christusbildes anlegen, das sie sich selbst gemacht haben. ,,Am Turiner Grabtuch wird geradezu paradigmatisch sichtbar, daß selbst so theologische Schriftstellen wie Joh 19,34 (,sondern einer der Soldaten stieß mit einer Lanze in seine Seite, und heraus kam sofort Blut und Wasser') zugleich und zunächst historisch gemeint sein können."9 Alle aber, die aus den Schriften lesen, daß viele Generationen immer wieder ein historisch bedingtes Messiasbild hervorgebracht haben, werden sich bestätigt sehen in der Überzeugung, daß es nicht den einen Mes­sias gibt, sondern nur einen „Messias mit vielen Gesichtern".

Erst solche Einsicht schafft den Freiraum und führt in die Freiheit, die es ermöglicht, ein auch und gerade für unsere Zeit maßgebliches Messiasbild zu suchen. Dies wird dann kein absolut neues Bild sein, aber aktuell in dem Sinne, daß es den geheimen und offenen Sehnsüchten unserer Zeit eine jetzt helfende und zukunftsweisende Messiaser-wartung ermöglicht.

Alexander Sand, Prof. für Ntl. Exegese und Theologie des Neuen Testamentes i. R.

• Vorliegende Ausführungen bildeten die Grundlage für ein Referat vor dem Katholischen Akademiker-verband in Essen am 18.Jan.1991. Sie sind gleichsam das Resümee einer zweistündigen Vorlesung imSS 1990 an der Kath.-Theol. Fakultät der Ruhr -Universität Bochum mit dem Thema: Der Messias mitvielen Gesichtern.

Anmerkungen 1 Vgl. dazu :J. Coppens, Le Messianisme et sa releve prophetique. Les anticipations veterotestamentaire,

leur accomplissement en Jesus (EThL 38 }, Gembloux 1974. 2 Der Zusammenhang von V.15 mit V.18-20 "macht klar, daß ,Prophet' hier im generellen Sinne

gebraucht ist und nicht einen einzelnen bestimmten Propheten meint": H.Junker, Das Buch Deutero­nomium (Echterbibel }, Würzburg 1955, 499.

3 G.Gerlemann, Der Menschensohn, Leiden 1983. Gerlemann gibt zu, daß "die hier vorgelegte Unter­suchung ... von der gewohnten Bahn" abweicht; doch dürften seine Ergebnisse zutreffen, wenngleich seine "davidische Deutung" des "Menschensohnes" eine zu enge Interpretation darstellt.

4 Vgl. dazu: P.-G. Müller, Bibel und Christologie. Ein Dokument der päpstlichen Bibelkommission,Stuttgart 1987 {II. Christologische Entwürfe des Neuen Testaments, 286 ff.}. Dazu noch:J. Blank, Der Jesus des Evangeliums. Entwürfe zur biblischen Christologie, München 1981.

5 Siehe zum folgenden F. Mussner, Der Messias Jesus, in: SNTU 6/7 (1981/82 } 5-19.6 L. Ruppert, Der leidende Gerechte. Eine motivgeschichtliche Untersuchung zum Alten Testament und

zwischentestamentlichen Judentum (FzB 5) Würzburg 1972; L. Ruppert hat sich in mehreren Unter­suchungen zur Vorstellung vom leidenden Gerechten geäußert.

7 W. Pannenberg, Art. Christologie II. Dogmengeschichtlich, in RGG I 1770.8 Vgl. G. Lange, Der eine Christus und die vielen Christusbilder. Ein religionspädagogischer Nachruf auf

das Turiner Grabtuch, in: N. Klimek {Hg.}, Universität und Toleranz ... , Essen 1989, 259-263, zitiert 259.

9 W. Bulst/H. Pfeiffer, Das Turiner Grabtuch und das Christusbild, Bd. l.: Das Grabtuch ... , Frankfurt 1987, 146 (zitiert nach G. Lange, a. Anm. 8. a. 0. 260).

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DISPUT

Wirtschaftsethik als Herausforde­rung christlich-sozialen Denkens

1. Ambivalenz der wirtschaftsethischen Diskussion

Wirtschaftsethische Diskussionen haben Koniunktur. Nicht ohne Grund. Sie sind keine bloße „Mode". Wirt­schaftsethische Überlegungen werden durch die öko­logischen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen der gegenwärtigem „Form" der Wirtschaft erzwungen. Zudem scheinen Unternehmenseigner und Manager häufiger als es die Allgemeinheit vermutet, ein Bedürf­nis zu verspüren, ihre wirtschaftliche, unternehmerische Tätigkeit „vor sich selbst" zu rechtfertigen.1

So darf es nicht verwundern, daß auch von Unterneh­merseite „ethische Leitlinien" für das Wirtschaften (für das unternehmerische Handeln) eingefordert werden.2

Nicht zuletzt die christliche Sozialethik sieht sich in die Pflicht genommen, ihr Wissen um Werte und Normen in die Diskussion einzubringen. Denn - es mag für manche immer noch eine überraschende Erfahrung sein - Sinn, Werte, Normen sind „knappe Ressourcen". Sie können nicht künstlich hergestellt, vereinbart oder angeordnet werden.3

In diesen (oft von mehr oder weniger kompetenten Theologen geführten) wirtschaftsethischen Diskussio­nen wird schon sehr bald eine bedeutsame Spannung spürbar. Da ist das eine: der Bedarf an ethischen Leit­linien für das wirtschaftliche Handeln (er wird auch in wirtschaftsliberalen Kreisen nur noch selten bestritten); das andere aber ist Versuche, ethische Linien ohne Rücksicht auf den (auch wenn es eigenartig klingen mag) ,,sensiblen" Sachbereich Wirtschaft zu installieren, schlagen nicht nur aus „psychologischen" Gründen fehl. Sie wirken sogar nicht selten kontraproduktiv. Nicht nur weil Gespräche abgebrochen, theologische Gesprächspartner nicht mehr ernst genommen werden.

Jeder ethische Rigorismus kann langfristig Unheil anrichten. Die Theologen, die Sozialethiker kommen also nicht umhin - wollen sie in Kreisen der Wirtschaft ernst genommen werden -, die Sachgesetze der Wirt­schaft zur Kenntnis zu nehmen (und sie in Rechnung zu stellen) 4

2. Religion und Moral werden in den Privatraum

abgedrängt

Es ist nicht zu übersehen zwischen christlich-ethischen Forderungen und wirtschaftlichen „Erfordernissen" können sehr problematische Spannungen auftreten. Von Erich Fromm (zugegeben, überspitzt) so auf den Punkt gebracht: ,,Die Leute gehen in die Kirchen und

hören Predigten, in denen die Grundsätze der Liebe und Barmherzigkeit gespriesen werden; und dieselben Leute würden sich für Narren und Schlimmeres halten, wenn sie Bedenken hätten, einem Kunden etwas auf­zuschwatzen, wovon sie wissen, daß es über seine Ver­hältnisse geht. Kinder lernen in der Sonntagsschule, daß Ehrlichkeit, Lauterkeit und die Sorge um das See­lenheil die leitenden Prinzipien des Lebens sein sollten, während das Leben lehrt, daß die Befolgung dieser Grundsätze uns bestenfalls zu weltfremden Träumern macht."5 Dieser Konflikt besteht tatsächlich (und nicht nur im „rauheren Sozialklima" der Vereinigten Staaten). Sehen wir näher zu.

Die Wirtschaftsunternehmen der Neuzeit stützen sich auf die r a t i o n a I e Betriebsführung. ,,Zweck" und „Mittel" werden ausschließlich sachlich-zweckhaft auf- 1 einander bezogen. Diese Form des Vor-gehens ist geradezu Kennzeichen der Neuzeit. Ihre Grundkatego-rie. Das rationale (verzweckte) Verhalten wurde nach und nach zur Struktur der Öffentlichkeit. Gleichermaßen bedeutsam für Politik (vor allem für Diplomatie), Militär und Wirtschaft. Hand in Hand damit geschieht etwas für unser Thema Bedeutsames. Nämlich eine (kategoriale) Trennung der öffentlichen und privaten Räume. Den öffentlichen Räumen wird nun Vernunft zugeschrieben. Den privaten Räumen (an-heim-elndes) Gefühl, Belie­bigkeit und eine „legitime" Irrationalität. Der (berühmte) Satz (dem gerade heute wieder viel Bedeutung beige­messen wird), ,,jeder solle nach seiner Fasson selig wer­den", galt ausschließlich für die privaten Räume.

Religion und Moral werden infolge dieser Entwick­lung zunehmend in diese Beliebigkeit der privaten Räume abgedrängt. Damit hängt zusammen.daß ihnen

„Geltung" (die an Rationalität, somit an Öffentlichkeit gebunden wird) nicht mehr zugestanden wird_li

Unbestritten war diese Trennung wirtschaftlich, tech­nisch, auch sozial erfolgreich. Lange Zeit schien es sogar, als ob die Bindung des Wirtschaftens ausschließ­lich an eine wirtschaftsimmanente „Logik" (im wahrsten Wortsinne) unbegrenzt erfolgreich sei. Ungeheure Kräfte wurden freigesetzt, eine in der Menschheits­geschichte einmalige Dynamik entfaltet. Bürgerlich­liberale Kreise fühlten sich bestätigt: der Mensch laufe zur Höchstform auf, wenn er (wenigstens im öffentli­chem Raum) sozial, ethisch und religiös „entpflichtet" wird, wenn er ausschließlich im Hinblick auf seinen eigenen Nutzen hin denke, plane und handle.

Es sei herausgestrichen: die Leistungen der moder­nen Wirtschaft dürfen und können nicht abgewertet werden. Genauso gilt: das wirtschaftliche Ziel, materielle Güter in ausreichendem Maße (nach Möglichkeit preis­wert und qualitativ hochwertig) zu produzieren, darf aber nicht losgelöst von gesellschaftlichen, sozialen, ökologischen u.ä. Fragen beurteilt werden. Verhängnis­voll wäre es, .,wenn man glauben würde, die Wirtschafts­gesellschaft hätte ihr Ziel voll erreicht, wenn sie mög­lichst viele materielle Güter produziert hat.( ... ). Schließ­lich wollen wir doch aus der Wirtschaft leben, und zwar menschlich und kulturell leben."7 Dies scheint eine Bin-

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senweisheit zu sein. Und trotzdem muß immer wieder daran erinnert werden. Weitverbreitet ist noch die These (daran anknüpfend fatale Folgen): die Wirtschaft sei ein Eigenbereich, der ausschließlich nach wirtschaftlichen ,,Gesetzen" ausgerichtet werden müsse. Ethische For­derungen an die Wirtschaft werden dementsprechend als (un-sachliche) Zumutung zurückgewiesen. Die Ver­antwortlichen aus der Wirtschaft wüßten alleine, was „gut" (für die Wirtschaft) ist. Es bedarf nicht allzuvielen Scharfsinns, um das Problematische, das Verhängnis­volle dieser Einstellung auszumachen.

Die Ethik würde den (tatsächlichen oder vorgescho­benen) wirtschaftlichen „Sachzwängen" untergeordnet. Die ethische Beurteilung des Wirtschaftens (der „Form" der Wirtschaft, des Wirtschaftsergebnisses u. ä.) darf -so sei es auf den Punkt gebracht - nicht selbst einer ökonomischen Beurteilung unterliegen. Die (mehr oder weniger verdeckt vorgebrachte) Forderung nach einer ökonomischen Beurteilung der „ethischen" Anmutung ist in Kreisen der Wirtschaft nach wie vor aber weit ver­breitet.

Dagegen fordert die theologisch ausgerichtete Sozialethik zu Recht, die Wirtschaft habe sich ethisch zu rechtfertigen, nicht aber die Ethik ökonomisch. Das schließt natürlich nicht aus, daß ethische Forderungen auch nach ihren ökonomischen Wirkungen hin über­prüft werden. Die Forderung - und darauf habe ich schon hingewiesen - nach einer Ethik der Wirtschaft darf nicht als Freibrief für unzulässige Vereinfachung der wirtschaftlichen Wirklichkeit gedeutet werden. Gilt doch vor allem im Bereich der Wirtschaft, daß es leicht sei, in der Theorie ein stimmiges System der Ethik zu bauen, daß es aber schwer sei, daraus eine ange­wandte Ordnungslehre zu machen.

3. Die Form der Gesellschaft und die Form der

Wirtschaft lassen sich nicht trennen

Die Wirtschaftswissenschaften werden (ob sie wollen oder nicht) zunehmend von ethischen Fragen einge­holt. Das verbindet sie mit den Naturwissenschaften. Die Wirtschaftswissenschaften können aber die ethischen (Wert) Fragen ausklammern.8 Anders die „konkrete"Wirtschaft. Schon allein weil die Wirtschaft das Wirt­schaften in die Gesellschaft als soziale und kulturliche (Wert)veranstaltung eingelassen ist.

Es ist problematisch (geradezu ein Ausdruck der gegenwärtigen „gesellschaftlichen Krise" ), daß Le­bensbereiche, die „im Grunde" zusammengehören (die aufeinander verweisen), als unabhängige Struktu­ren genommen und gedeutet werden. Verweisungsein­heiten (in) der Gesellschaft werden zerbrochen. Sicher, das mag der Gesellschafts-Theorie die Arbeit erleich­tern. Aber die gesellschaftliche Wirklichkeit ist ein kom­plexes System; spröde und paßt nicht in elegante Denkfiguren. Das macht die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen Fragen schwer.

245

Zugegeben, es scheint auf den ersten Blick einleuch­tend zu sein, in Bereichen wie ,,Wirtschaft", ,,Familie" (reli­giöser) Gemeinde jeweils eigene Werte, ,,Umgangs­Formen" anzusetzen (deren Geltungsbereich auf die Bereiche begrenzt bleibt). Die „moderne" Gesellschaft zerfällt so in verschiedene Systeme, Subsysteme, die jeweils autonom gedeutet werden, jeweils (wie selbst­verständlich) eigene Leitstrukturen, Leitnormen entwik­keln. Übergeordnete, allgemeingültige Normen werden (unbewußt) vernachlässigt oder ausdrücklich als bedeutungslos für das jeweils „gültige" System erklärt.

Zwar versucht der einzelne -mehr unbewußt als aus­drücklich-, die verschiedenen Erfahrungen, Vorgaben, Wertvorstellungen, Über-Ich-Inhalte sinnvoll zusam­menzubinden. Solange diese Erfahrungen, Werte usw. ihren letzten Grund aus einer einheitlichen Wurzel ent­nommen haben, konnte ein mehr oder weniger wider­spruchsfreies Wirklichkeitsbild entstehen. Zunehmend wird der Zugang zu diesem „einheitlichen Grund" ver­schüttet. Es mißlingt dem „modernen Menschen", ein widerspruchsfreies „Ganzes" (Lebenswelt, Arbeitswelt, Triebleben, Religion) zu entwerfen. Aber anstatt sich die­ser Problematik zu stellen, werden bestimmte Werte ausgeklammert, es wird reduktionistisch verfahren.

Das aber ist nur scheinbar eine Lösung. Vielmehr gefährdet es auf Dauer den gesellschaftlichen Raum im ganzen.9

Zurück zu Fragen einer Wirtschaftsethik. Es kann also der Gesamtgesellschaft nie gleichgültig sein, w i e gewirtschaftet wird. Die Art und Weise des Wirtschaftens (ihre Organisation, ihre Prioritäten usw.) kann der Gesellschaft im ganzen Schaden zufügen -obwohl der „immanente" Zweck des Wirtschaftens erfüllt wurde.10

Hierher gehört auch das Folgende, das mit dem bis­her Ausgeführten eng zusammenhängt. Die Wirtschaft, als das Gesamt aller ökonomischen Handlungen, ist kein „mechanisches Spiel". Die Wirtschaft ist eine kom­plexe Struktur, die ihren letzten Grund im menschlichen Wollen hat. Menschliches Wollen aber steht unter dem Anspruch und der Möglichkeit der Freiheit. Freiheit aber kann mißbraucht werden. Notwendig sind daher „ver­antwortbare Leitlinien", die Freiheit und soziale Bindung aufeinander beziehen. Erst so wird Freiheit als humane Wirklichkeit in der Gesellschaft gesichert.

Hier hat Begriff und Wirklichkeit der „sozialen Gerechtigkeit" seinen Ort. Freiheit, liberalistisch mißver­standen, kann zum leeren Begriff werden „wenn sie sich nicht mit der sozialen Gerechtigkeit als verpflichtender Aufgabe verbände. So muß die soziale Gerechtigkeit mit und neben der Freiheit zum integrierenden Bestandteil" der Wirtschaftsordnung erhoben wer­den.11

4. Die soziale Marktwirtschaft ist von anderer Qualtität

als eine freie Marktwirtschaft

Hier liegt der Grund warum die katholische Gesell­schaftslehre der Gegenwart (im großen und ganzen)

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der sozialen Marktwirtschaft den Vorzug vor anderen wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen gibt.

Das bedeutet im übrigen nicht, es gebe in diesen Fragen eine geschlossene Phalanx der katholischen Sozialethiker. An dieser Stelle erübrigt es sich, die ver­schiedenen Positionen nachzuzeichnen. Aber auf zwei Mißverständnisse soll kurz hingewiesen werden, die den Dialog der (bundesdeutschen) Wirtschaft mit der katholischen Sozialethik erschweren.

Da ist zum einen, das-nennen wir es-,,linke"Mißver­ständnis. Von manchen jungen Sozialethikern gepflegt. Es drückt sich aus als eine Gleichsetzung bundesdeut­scher Wirtschaft mit liberal-kapitalistischen Strukturen des 19. Jahrhunderts; oder: als eine „Übertragung" von Wirtschaftskritik, die im Hinblick auf reine kapitalistische Verhältnisse der Gegenwart greifen mag, auf der bun­desdeutschen Ebene aber eine völlige Überzeichnung der wirtschaftlichen Wirklichkeit darstellt.

Aber auch -nennen wir sie -wirtschaftskonservative Mißverständnisse erschweren den Dialog. Dieses Miß­verständnis nimmt die gegenwärtige konkrete Gestalt der bundesdeutschen Wirtschaft (dazu gehört auch die innere Verfassung der Betriebe, die Formen der Mit­bestimmung usw. ) als bestmögliche, optimalste Form von Wirtschaft an. Weitere Diskussionen, die auf eine qualitative Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft abzielen, werden als überflüssig erklärt.

Dabei wird vergessen, daß die Frage (und damit eine stetige Kritik) einer Ethik der Wirtschaft (der Wirtschafts­gesellschaft) zum Grundbestand der Sozialen Markt­wirtschaft gehört. Es ist nämlich nicht nur die (unbestrit­tene) ökonomische Effizienz, die die soziale Marktwirt­schaft auszeichnet und rechtfertigt. Das Herausragende der sozialen Marktwirtschaft ist vielmehr ihre sozial­ethische Grundausrichtung.

Die Soziale Marktwirtschaft ist aber mehr als eine -auf diese oder jene Weise - sozial abgefederte Markt­wirtschaft. So ein Mißverständnis mancher Kommenta­toren einflußreicher Zeitungen. Die soziale Marktwirt­schaft ist schon ihrer ethischen Anlage nach von einer grundsätzlich anderen Qualität als die liberale Markt­wirtschaft.

So gewiß also die katholische Gesellschaftslehre (der Gegenwart) die soziale Marktwirtschaft befürwortet, so 9ewiß lehnt sie die freie Marktwirtschaft entschieden ab. 2 Die Lösungen der sozialen und gesellschaftlichen Probleme können nur im Horizont einer sozialen Markt­wirtschaft gefunden werden.

5. Die ethische Bedeutung des Unternehmers

Es ist eine der Grundfragen, die über die Qualität einer Wirtschaftsordnung entscheiden, ob es auch in der modernen Arbeitsgesellschaft möglich ist, menschliche Würde als allgemeingültige, regulative Norm zu bewah­ren. Die katholische Soziallehre kann als ein Ringen um die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Norm beschrie­ben werden.

Traditionell gruppiert das katholisch-soziale Denken dieses Thema um die Begriffe „Arbeit" und „Kapital". Vor allem Oswald von Nell-Breuning aber machte eindring­lich darauf aufmerksam, daß die gegenwärtige Form der Wirtschaft, des Wirtschaftens, der Betriebs- und Arbeitswelt dadurch nicht hinreichend differenziert beschrieben ist. .,Weder Marx noch die katholische Soziallehre" - so Nell-Breuning - .,scheinen den Unter­nehmer zu kennen."13 Der Unternehmer sei es, ,,der die Dichotomie der von den beiden Materialfaktoren Arbeit und Kapital eingebrachten, unvermeidlich in gewichti­gen Stücken divergierenden, ja konfligierenden Inter­essen aufhebt, indem er sie zu einer gemeinsamen Auf­gabe und damit zu einem überragenden gemeinsa­men Interesse koordiniert und integriert". 14 Die Kritik Oswald von Nell-Breunings ist insoweit zutreffend, daß die katholische Soziallehre den Unternehmer nur in sei­ner Funktion als Arbeitgeber gesehen hat.

Die neue Sozialenzyklika Centesimus annus argu­mentiert hier sehr viel differenzierter. Ja, noch in keiner Enzyklika wurde die Bedeutung des Marktes (die Funktion des Marktes, damit die Aufgaben des auf dem Markt agierenden Unternehmers) so heraus­gestellt wie in Centesimus annus. Nicht ganz zu unrecht, wollen einige Kommentatoren in dieser Enzyklika ein „Plädoyer" für die Soziale Marktwirt­schaft erkennen.

Ein solcher sozial ausgerichteter Markt ist nun kein sich selbst ordnendes „Geschehen". Denken, Planen und Handeln des freien Menschen (auf den hin und von dem her Markt gestaltet werden muß) ist gefordert. Die ,,Wurzel ist die Freiheit des Menschen, die sich in der Wirtschaft wie auf vielen anderen Gebieten verwirk­licht".15

Freiheit, Kreativität u n d soziale Verantwortung sind die Schlüsselbegriffe eines verantworteten Wirtschaf­tens. Centesimus annus „singt" geradezu das „hohe Lied" auf die gestalterische Kraft des Menschen. ,,War früher der entscheidende Produktionsfaktor die Erde und später das Kapital, verstanden als Gesamtbestand an Maschinen und Produktionsmitteln, so ist heute der entscheidende Faktor immer mehr der Mensch selbst, das heißt seine Erkenntnisfähigkeit, Organisation in Solidarität zu erstellen, und sein Vermögen, das Bedürfnis des anderen wahrzunehmen und zu befriedi­gen"_ 16

Wirtschaft und Arbeitswelt sind in einem Umbruch, der an Bedeutung nicht hinter der ersten industriellen Revolution zurücksteht. Man denke nur an Stichworte wie: Neue Technologie; ,,Freisetzung" von Arbeitskräf­ten; Entkoppelung von individueller Arbeitszeit und Pro­duktionszeit. Für die Lösung der anstehenden Fragen ist wirtschaftlicher (und politischer) Sachverstand gefragt. Er allein aber genügt nicht. Notweniger denn je sind ethische Leitlinien. Ethische Leitlinien um Fragen nach „Kapital und Arbeit", Technik, Umwelt, Sinn und Zweck des Wirtschaftens, Wirtschaft und Macht, Wirtschaft und Menschenbild im Hinblick auf eine menschengemäße Zukunft zu diskutieren.

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Die katholische Soziallehre kann und will sich dieser Diskussion nicht entziehen.

Wolfgang Gleixner

Wolfgang Gleixner ist Referent für Kirche und Gesell­schaft im Generalvikariat Hildesheim

Anmerkungen

1 Dieses Bedürfnis nach ethischer Rechtfertigung/ persönlicher Sinnerfüllung der Manager/Unterneh­mer wird zunehmend von verschiedenen Gruppen als „Marktlücke" erkannt (etwa: Richtung New Age). Auch aus diesem Grund muß sich die Kirche ver­stärkt mit den Problemen Wirtschaft und Ethik aus­einandersetzen.

2 Etwa Dr. Karl-Heinz Freitag, Bundesverband der Deutschen Industrie. Er verbindet das aber mit einer Forderung, die bedenklich und bedenkenswert zu­gleich ist: ,,Es ist Aufgabe der Soziallehren der Kir­chen, ihre Kriterien für die Begleitung wirtschaftlicher Vorgänge ökonomisch plausibler zu machen." In: Die Ethik der Sozialen Marktwirtschaft. Stuttgart. New York 1988. S 84.

3 Vgl. Hermann Glaser. Kulturgeschichte der Bundes­republik Deutschland. Zwischen Protest und Anpas­sung. München. Wien 1989. S 14.

4 „Die Anwendung ethischer Prinzipien setzt genaue Kenntnisse der jeweiligen Sachverhalte und Umstände voraus." Götz Briefs. Zum Problem der Grenzmoral. Ausgewählte Schriften 1. Berlin 1980. S. 52.

5 Erich Fromm. Psychoanalyse und Religion. Mün­chen 19904

. S. 10. 6 Heute löst sich interessanterweise selbst diese

Zweiteilung auf. Wir erleben nämlich eine zuneh­mende „Entprivatisierung des Privaten". Das Private „funktioniert" (ob darum gewußt wird oder nicht) in Form eines „Konsumraumes" lediglich als „Appen­dix" der Wirtschaftsgesellschaft.

7 A. F. Utz. Die katholische Sozialdoktrin und das Pro­blem der mittelständischen Wirtschaft. Manuskript/ S. 8.

8 „Die Wirtschaftstheorie ( ... ) ist bestrebt, das wirt­schaftliche Ganze zu isolieren. ( ... ). Jede Theorie, gleichviel welcher Richtung, ersetzt die konkreten Menschen durch Wirtschaftssubjekte, deren Verhal­tensweisen simplifiziert und gleichsam rationalisiert werden. Die Theorie reduziert die vielfältigen Umstände, die auf die Wirtschaftstätigkeit Einfluß nehmen, auf eine kleine Anzahl von Determinanten." Raymund Aron. Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. S. 24.

9 Das Ganze meint übrigens nicht nur das „Ganze in horizontaler Sicht", sondern auch „das Ganze in ver­tikaler Sicht", die Gesellschaft als Zukunftsraum.

10 Besonders hart formuliert von Konrad Lorenz ineinem Gespräch mit dem Psychoanalytiker und

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Aggressionsforscher Friedrich Hacker: .. Jedes Gesellschaftssystem wird legitimiert beziehungs­weise desavouiert dadurch, wie es sich zu den gesamtmenschlichen Problemen verhält ( ... ). Der gegenwärtige kommerzielle Wettlauf, bei dem sich Wirtschaftsführer, die sich etwas darauf einbilden, weitblickend zu sein, nicht darum kümmern, was in zwanzig Jahren oder schon früher geschehen kann, ja geschehen muß, ist ruinös." In. F. Hacker. Die Bru­talisierung unserer Welt. Düsseldorf 1985, S. 89.

11 Alfred Müller-Armack. Vorschläge zur Verwirk­lichung der Sozialen Marktwirtschaft (1948). Wieder in: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Bern. Stuttgart 1981 S 91.

12 Die Spannung zwischen katholischer Soziallehre und „wirtschaftimmanenter Logik" einer Marktwirt­schaft hat ihren Grund in den verschiedenen Men­schenbildern. Der Wirtschaft wäre im übrigen nur scheinbar gedient, wenn christliche Sozialethik sich im „Gleichklang" mit der Wirtschaft (dem wirtschaftli­chen Denken) bewegen würde. Erst diese echte Spannung, die sich nichts schenkt, kann als Korrek­tiv wirken; ja, Marktwirtschaft zu einer nicht nur dem Namen nach „sozialen" machen.

13 Oswald von Nell-Breuning. Partnerschaft im Unter­nehmen. In: Worauf es mir ankommt. Freiburg usw. 1983. S 65.

14 a. a. 0./66. 15 Centesimus Annus. Nr. 32. 16 Centesimus Annus. Nr. 32.

BÜCHER UND ZEITSCHRIFTEN

Heinz Schütte, Kirche im ökumenischen Verständ­

nis. Kirche des dreieinigen Gottes. Paderborn 1991.

203 Seiten, DM 19,80.

Heinz Schüttes Werk „Kirche im ökumenischen Ver­ständnis" bietet eine Summe der Ekklesiologie, welche im wahrsten Sinn nur ökumenisch sein kann. Daß hier ein ausgewiesener Fachmann nicht nur die Erfahrung seiner langen Forschungsarbeit und Dialogpraxis, son­dern auch seinen 40jährigen priesterlichen Dienst an der Einheit (vgl. S. 17) einbringt, gibt dem Buch seinen besonderen Wert. Davon zeugen auch die Geleitworte hochrangiger Kirchenführer (vgl. S.11-14). Schütte wen­det sich in einfacher Sprache an alle Christen. Das Buch folgt einem klaren Aufbau und bietet eine Fundgrube für Quellen; ,,Texte aus der Ökumene", die den einzelnen Kapiteln nachgestellt sind, ermöglichen eine authen­tische Information.

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Der Untertitel benennt die theologische Basis: „Kirche des dreieinigen Gottes". Die Kirche ist „vom dreieinigen Gott gewollt, begründet, verwirklicht" (S. 24). Der Vater, der sein Volk be-ruft, lenkt den Blick auf die geschichtliche und bleibende Wurzel, die Israel ist. In der Geschichte Jesu Christi und im Wirken des Heiligen Geistes (vgl. S. 26) liegt der Ursprung der Kirche, welche das neue Gottesvolk genannt wird (vgl. S. 31 ff.). Hier gilt es, angesichts der fortbestehenden Erwählung Israels und der Kirche als neuen Bund nachzudenken über die Einheit des Gottesvolkes in der heilsgeschichtlichen

Verschiedenheit. Der Glaube, daß die Kirche ihren Ursprung im Wirken des dreieinigen Gottes hat, eint die Christenheit. Das bezeugt das gemeinsame Glaubens­bekenntnis, wenngleich das abendländische „filioque" (der Geist geht vom Vater und vom Sohne aus) von der orthodoxen Kirche verworfen wird; hier bahnt sich jedoch eine Verständigung über den Sinn an (vgl. S. 158). Ferner stimmen alle überein, daß Kirche Gemeinschaft (communio, koinonia) bedeutet: Gemeinschaft mit Christus durch den Heiligen Geist zur Ehre Gottes, des Vaters, wie das 4. Kapitel überschrie­ben ist (vgl. S. 45-77). In der Frage nach der Verwirk­lichung der Gemeinschaft treten die Unterschiede zutage: sie betreffen z.B. die Gemeinschaft in den Sakramenten (Zahl, Wirksamkeit), in den Diensten (Ämter, Apostolizität, Ordination, Lehramt, Papst) usw Es geht um die Klärung der Frage nach der Weise des Heilshandelns Gottes an den Menschen und nach der menschlichen, geschichtlichen Mitwirkung. Das fol­gende 5. Kapitel, das den Dienst der Kirche am Heil der Menschen behandelt, belegt das sehr deutlich: ,,Keine Christusgemeinschaft ohne Kirchengemeinschaft" (S. 78) Dieser Satz gilt für die Proexistenz der Kirche, nicht aber bezieht er sich auf Grenzen des Heils. Die Kapitel 6-8 stellen die „notae Ecclesiae" (die eine, hei­lige, katholische und apostolische Kirche), das Verhält­nis von Kirche zum Reich Gottes aus dem Ziel der Voll­endung sowie das Thema Rechtfertigung und Kirche vor. Das 9. Kapitel formuliert in der Überschrift, was der Leser sich notwendig fragt: ,,Warum noch getrennte Kir­chen?" (S. 155-176). Schütte geht aus von Jener Gemeinschaft, die -auf unterschiedliche Weise -schon in den verschiedenen Kirchen gegeben ist, und zeigt dann die noch vorhandenen Differenzen auf (vgl. S. 158 ff.). Dabei legt der Autor Wert auf die Feststellung, daß es einen Grundkonsens gebe, aber keine Grund­differenz. Bedeutsam für das Verständnis der gegen­sätzlichen Auffassungen erscheinen die Hinweise auf die unterschiedliche Verhältnisbestimmung zwischen göttlichem und menschlichem Handeln (vgl. S. 165 ff.), wobei die Inkarnation den Horizont bieten soll für die Bewertung des Dienstes der Kirche am konkreten Heil der Menschen in der Nachfolge des Gott-Menschen Jesus Christus, welcher der einzige Mittler ist.

Wie geht es weiter? Gegenüber den Sorgen der anderen Kirchen betont Schütte, wahre Einheit bedeute weder Verschmelzung noch Rückkehr, sondern Einheit in versöhnterVerschiedenheit (vgl. S.172). Das Miteinan-

der, das kein Nebeneinander sein dürfe, erfordere Glau­bensgemeinschaft, Sakramentsgemeinschaft, Dienst­gemeinschaft und die Entkräftung der Lehrverurteilun­gen (vgl. S 173 ). Doch: ,,wachsende Übereinstimmun­gen in ökumenischen Dialogen allein . . . führen nicht zum Ziel. Erforderlich ist besonders, daß wir tun, was uns eint" (S 170)

Diese Aufforderung gilt allen; auch dem Leser des Buches von Heinz Schütte. Es genügt nicht die Informa­tion, so wichtig sie für jeden Christen ist; es bedarf des gemeinsamen Vollzuges des Glaubens, Hoffens und Lebens.

Die Ausstattung des Buches ist vortrefflich und über­sichtlich angeordnet. Literaturverzeichnis, Personen­und Sachregister erleichtern die Erschließung des rei­chen Materials und lassen Gesuchtes leicht finden. Der Preis von DM 19,80 für ein Buch mit 203 Seiten Umfang liegt weit unter dem vergleichbaren Niveau und ermög­licht jedem den Erwerb eines Exemplares, dessen Lek­türe nachdrücklich empfohlen wird.

Heino Sonnemans

Peter Köster, Hermann Andriessen, Sein Leben ord­

nen. Anleitung zu den Exerzitien des lgnatius von

Loyola, Herder-Vertag Freiburg 1991, 245 Seiten,

DM 39,-.

In der gegenwärtigen Orientierungsnot werden, eine besondere Chance und Herausforderung, Klassiker des geistlichen Lebens vielfältig wiederentdeckt. Daß dabei lgnatius von Loyola, der Meister der „Unterschei­dung der Geister", besondere Aktualität verdient und gewinnt, ist historisch und sachlich begründet: Steht das Exerzitien doch am Beginn Jener neuzeitlichen Morderne mit ihrer Entdeckung des SubIekts und der Individualität, die heute in der Krise und im Übergang ist; beginnt doch lgnatius, was heutzutage mit Hilfe von Psychologie und Psychotherapie vertieft wird, nämlich die Beachtung der Psychodynamik und Psychodrama­tik des Menschen in der Verständigung mit sich selbst und vor allem in der Begegnung mit Gott.

In der Flut der Literatur zu Spiritualität und Mystik im allgemeinen, zu lgnatius von Loyola im besonderen, nimmt dieses Gemeinschaftswerk von erfahrenen Prie­stern einen besonderen Platz und Rang ein. Ist es doch spürbar aus langjähriger Erfahrung In Einzelseelsorge, Supervision, Therapie und Exerz1tienbegleitung er­wachsen. So verbindet es in glücklicher Weise genaue Kenntnis der Intentionen des ignatianischen Exerzitien­geschehens einerseits wie deren Aktualisierung und Aneignung im Prozeß genauerer Lebensgestaltung andererseits. Klar gegliedert gemäß den vier Exerzitien­phasen des lgnatius, hebt es doch auf originelle Weise die anthropologischen und biblischen Zugänge zum Geheimnis der Gott- und Selbstbegegnung hervor. Zudem helfen die klare Gliederung, die vielen Schaubil-

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der und Zusammenfassungen sowie die zahlreichen praktischen Hinweise dem heutigen Leser, sich auf den Weg zu machen, das Beten -dies vor allem -zu lernen und zu üben und sich über seine Berufung klarer zu werden. Dabei geht es im Sinne des lgnatius und der Autoren stets um ein höchst sensibles Zusammenspiel zwischen Exerzitant und Exerzitienmeister, zwischen Glaubenssucher und Glaubensbegleiter, und dies so, daß stets das Geheimnis der je eigenen Biographie und Berufung in unverwechselbarer Gottunmittelbarkeit die Mitte ist. Hilfreich für den modernen Leser ist vor allem die ständige Beachtung und Einarbeitung psychologi­scher Einsichten und Erkenntnisse. Entstanden ist somit ein Lehr- und Lernbuch sowohl für jene, die Exerzitien geben, wie für jene, die sie üben -sei es konzentriert in einer Woche, in vier Wochen, sei es im beruflichen Alltag und der kontinuierlichen Erprobung. Deutlich vor allem wird, wie sehr das Exercitium des lgnatius dialogisch angelegt ist und wie sehr jeder Mensch, der geistlich wachsen will, der erfahrenen Begleitung bedarf, um sich nicht im Dschungel seiner selbst zu verlaufen.

Gotthard Fuchs

Ivan Koprek, Ethos und Methodos des Philosophie­

rens. Die moderne Orientierungskrise und ihre The­

rapie im Denken von Karl Jaspers, EOS-Verlag,

Erzabtei St. Ottilien, 1988, 235 Seiten, DM 25,-.

Spätestens seit Hegel faßt sich die Summe abendländi­schen Denkens in der Überzeugung zusammen, daß das Wirkliche das Vernünftige, das Vernünftige das Wirkliche sei. Philosophie habe entsprechend die Auf­gabe, ihre (jeweilige) Zeit(situation) in Gedanken zu fas­sen und auf den Begriff zu bringen. lnnertheologisch ist dasselbe Ziel angestrebt in der konziliaren Rede von den „Zeichen der Zeit''. die es geistlich zu bestimmen gelte. Nichts bezeichnet die Krise der Gegenwart, gerade auch in der Kirche, so sehr wie der Tatbestand, daß konsistente Theorien der Zeitdeutung philoso­phisch und theologisch fehlen, mit immensen Folgen für Lebensorientierung und Kirchenwirklichkeit. Es fehlt genau das, was 1931 in kühner Konzentration Karl Jaspers noch versuchte, nämlich „die geistige Situation der Zeit", so sein Buchtitel, auf den Begriff zu bringen.

In dieser an der Jesuiten-Hochschule für Philosophie in München gearbeiteten Dissertation wird die Schrift von Jaspers im Kontext seiner gesamten Philosophie überzeugend rekonstruiert. Entscheidend ist für Jaspers, daß das Denken seine „zwei Flügel'; Verstand und Vernunft, behält - einerseits also in der Anstren­gung des mitteilbaren Denkens auf das Al/gemeine konzentriert, andererseits aber im Denken der Existenz des einzelnen auf das Geheimnis des Individuums bezogen bleibt und in diesem doppelten Flügelschlag erst Aufschwung gewinnt (vgl. 116). Das entschiedene Existenz-Denken von Karl Jaspers versucht, auf die Grundaporie der Zeit zu antworten, auf den Nihilismus

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und eine dementsprechende Beliebigkeit. Jaspers ver­traut also auf die Kraft von Verstand und Vernunft, was in seinem Entwurf einer „Periechontologie" zum Ausdruck kommt. Das griechische Bildwort „Periechon" meint, wortwörtlich, .,das Umgreifende", das alle Spaltungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Verstand und Vernunft, allererst Gründende, Tragende und Befreiende. Solange man nur am Gegenständlichen, am Subjektiven und Objektiven interessiert sei, komme just das Phänomen des Da-Seins, des Gründenden und Zu-Grunde-liegenden nicht zur Geltung. Erst von hierher sei nach Jaspers eine gerechte Analyse der Zeit, ihrer Krise und Chance, möglich. Dabei wird von Jaspers Vernunft durchaus als Kommunikationswille gedacht, existenzbezogen, grundiert und getragen in einer gleichsam übervernünftigen Wirklichkeit, die doch nur in der gedoppelten Einheit von Verstand und Ver­nunft konkret wird. Just hier freilich setzt der Verfasser mit Recht die kritische Frage an: Ist Jaspers' Vernunft­verständnis nicht doch letztlich narzißtisch, monoman und sibyllinisch, weil es der Vernunft und ihrer Tiefe eine unbestreitbare Wahrheit zutraut und zumutet, die letzt­lich doch diffus und in der „Schwebe" bleibt? Jaspers' Verständnis von „Transzendenz" bliebe, so die begrün­dete Anfrage, doch zu wenig herausgefordert durch die Wirklichkeit eines wirklich ganz Anderen, eines Gottes, der mehr ist als die Tiefe der Vernunft oder „das Umgrei­fende", sondern das personale Gegenüber im Ange­sicht eines Menschen wie Jesus.

Trotz solch berechtigter Anfragen an die philoso­phische Zeitdiagnostik von Jaspers konfrontiert diese konzentrierte Exegese des großen Existenzphiloso­phen mit der gegenwärtigen Not. Es fehlt eine philoso­phische und theologische Diagnose der Zeit, und im wechselseitig kritischen Zwiegespräch mit der Schrift von Jaspers zeigt sich deren Größe, trotz allem (ist sie dialogisch, kommunikativ und handlungsbezogen genug?), und unser Elend, die Misere eines postmoder­nen, ungeklärten Pluralismus.

Gotthard Fuchs

Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und

Werk. Mit 12 Abbildungen, Vandenhoeck & Ruprecht,

Göttingen 1991, 558 Seiten, DM 89,-.

Alle christlichen Konfessionen sind, um der Wahrheit ihres Bekenntnisses willen, mit der Moderne konfron­tiert, sei es bloß abwehrend oder anpassend, sei es in wechselseitig kritischer, schöpferischer Vermittlung. Katholischerseits stellt sich dieses Problem in der sog. Modernismus-Krise zu Beginn dieses Jahrhunderts, die an dessen Ende neu wieder aufzuflammen droht. Evan­gelischerseits war die konfliktive Verhältnisbestimmung von liberaler und dialektischer Theologie das Fanal, an dem sich Grundfragen entzündeten, die bis heute der Klärung bedürfen. Das Verhältnis von biblischer Wahr­heit und realer Geschichte, von Vernunft und Glaube, von Philosophie und Theologie, von Sozialwissenschaf-

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ten und Theologie, von Gesellschaft und Kirche stand (und steht) hier neu zur Debatte.

Zu den schöpferischsten Theologen dieser Grund­problematik des 20. Jahrhunderts gehört Ernst Troeltsch (1865-1923). Gleichermaßen theologisch und philosophisch, historisch und religionswissenschaftlich, soziologisch und kulturphilosophisch engagiert und gebildet, ist dieser Schüler Albert Ritschls gerade darin prägend, daß er ökumenisch zentrale Fragen radikal ausarbeitet - etwa die nach der Absolutheit des Chri­stentums in der Religionsgeschichte, nach dem Ver­ständnis des Christentums als Sekte und Kirche, als sozialer Bewegung und geistlicher Gemeinschaft, nach Ethik, Politik und Mystik des Christlichen unter den Gegebenheiten der Moderne. Hier liegt zum ersten Mal eine Arbeit vor, die in erstaunlicher Konzentration Leben und Werk dieses großen theologischen Grenzgängers zwischen den Wissenschaften und Sprachwelten rekonstruiert und zur Darstellung bringt, alle verfüg­baren Quellen hervorragend verarbeitend, differenzie­rende Urteile mit genauer Rekonstruktion verbindend und, frei von modischer Aktualisierung, der inneren Fra­gestellung des Troeltschschen Werkes folgend. Diese (Werk-)Biographie, förmlich spannend (leicht und ernst zugleich) zu lesen, gerät unter der Hand zu einem Stück neuzeitlicher Theologie- und Kirchengeschichte dieses Jahrhunderts-gerade in der Konzentration auf den Pro­testantismus des liberalen Theologen von höchstem ökumenischen Interesse. Der Mitvollzug von Troeltschs Leben und Werk stellt radikaler denn je vor die Frage, wie denn heute die Utopien neuzeitlicher Aufklärung und Liberalität schöpferisch und originell zu vermitteln seien mit der „Ärgerlichkeit" des Christlichen, und dies nicht nur theologisch, sondern auch soziologisch und religionswissenschaftlich. Letztlich geht es um die Frage, wie man zugleich modern und christlich sein könne, biographisch und grundsätzlich.

Gotthard Fuchs

BERICHTE UND ANREGUNGEN

Salzburger Hochschulwochen 1991: Der Christ der Zukunft -ein Mystiker

22. Juli bis 3. August 1991

Nicht nur die Jubiläen von lgnatius von Loyola und Johannes vom Kreuz waren Anlaß für die Salzburger Hochschulwochen, der Frage der Mystik in den Religio­nen und vor allem im Christentum nachzuspüren. Herrscht doch seit gut einem Jahrzehnt mindestens in den europäischen Gesellschaften, West und Ost noch-

mals verschieden, vermutlich aber weltweit, ,,Seelenbe­darf". Angesichts unübersichtlicher Lebensverhältnisse und vielfältiger Herausforderungen durch Umwelt- und Innenweltzerstörung sowie durch Umbruchs- und Befreiungsprozesse, zumal in den Gesellschaften des Ostens und Südens, steht neu zur Debatte, woher die spirituellen und religiösen Ressourcen zu schöpfen seien, die dazu helfen, Gerechtigkeit zu fördern, Frieden zu stiften und Schöpfung zu bewahren. Dabei steht ins­besondere in Frage, wie die persönliche Lebensgestal­tung so fundiert werden kann, daß authentische Biogra­phien gelingen, ohne privatistisch verkürzt oder bloß narzißtisch und egoistisch behindert zu bleiben. Gerade auf die dialektische Vermittlung von individualer und sozialer Gestaltung der persönlichen und gesell­schaftlichen Verhältnisse kommt es an I Nicht zuletzt die christlichen Kirchen sehen sich deshalb herausgefor­dert, sich auf den Reichtum ihrer mystischen und spiri­tuellen Überlieferungen neu zu besinnen und zu prüfen, was für die Jahrtausendwende an der Zeit ist. Werden doch die Kirchen von nicht wenigen Zeitgenossen, zumal den Gebildeten unter ihren Verächtern, als zu bürokratisch, zu ritualistisch, zu ghettohaft erlebt. Das Interesse an Mystik ist also vielfältig objektiv begründet, hat aber inzwischen durchaus auch modische und merkantile Züge, so daß Unterscheidung der Geister not tut. Neben dem ernsthaftesten Bemühen um ein­schneidende Verhaltensänderungen und Bekehrungs­prozesse kommt das zu stehen, was Robert Musil einst ,,Schleudermystik" nannte. Um so wichtiger - der Teil­nehmerstrom von ca. 1600 zeigte es - waren die dies­jährigen Salzburger Hochschulwochen mit ihrem facet­tenreichen Angebot an Vorlesungen, Seminaren und Kolloquien, die zu intensivem Nachdenken über das Spezifikum christlicher Mystik und ihre interreligiöse sowie interkulturelle Bedeutung führten. Die Leitfrage folgte jenem inzwischen berühmten Diktum von Karl Rahner, der 1966 zum ersten Mal davon gesprochen hat, daß der Fromme der Zukunft ein Mystiker sei, einer, der authentische religiöse Erfahrung habe, oder nicht mehr sei.

Will man aus der wohlüberlegten Gesamtkomposi­tion der Vorlesungen und Seminare thematische Akzente hervorheben, so sei zunächst das allseitige Bemühen um Gegenwartsanalyse in durchaus lebens­praktischer Absicht genannt. Prof. Dr. Michael Schneider S.J., Frankfurt-St. Georgen, zeichnete das Panorama heutiger religiöser und mystischer Bewegungen nach, zumal in der Kirche. Prof. Dr. Bernhard Grom S.J., Mün­chen, lieferte aus psychologischer Sicht wichtige Bau­steine zur Unterscheidung pathologischer und gesun­der Mystik. Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Ernst Ribbat, Münster, machte anhand zahlreicher Textbei­spiele auf das Bemühen in der Moderne aufmerksam, das Unsagbare doch zu sagen und jenseits vonSprachklischees dem Geheimnis der Wirklichkeit auf der Spur zu bleiben. Wie ein roter Faden zog sich natur­gemäß durch alle Veranstaltungen das Interesse, dasschillernde Wort und Phänomen „Mystik" selbst

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genauer zu bestimmen und in seiner spezifisch christ­lichen Dynamik zu entfalten. Thematisch dienten die­sem Bemühen die Vorlesungen von Dr.Josef Sudbrack S.J., München, und, in interreligiöser Perspektive, vonProf. Dr. Hans Waldenfels S.J., Bonn. Läßt sich „Mystik" als Einheits- und Tiefenerfahrung verstehen - aller Unterscheidung von Subjekt und Objekt voraus- undzugrundeliegend und diese allererst eröffnend -, so istchristliche Mystik wesentlich Jesusmystik. Ausdrücklichwurde dies in den Vorlesungen des Salzburger Neu­testamentlers Prof. Dr. Wolfgang Beilner behandelt. Gerade für christliche Glaubenserfahrung ist deshalb der dialogische Charakter selbst dann noch entschei­dend, wenn sich, wie bei Meister Eckhart, das Geheim­nis der Gottbegegnung förmlich zusammenzieht aufden springenden Punkt innigster Einigung und Einheit.

Aus der Wolke der Zeugen und Zeuginnen christli­cher Mystik wurden wenigstens einige ausführlicher dargestellt und in ihrer Aktualität erschlossen: Hilde­gard von Bingen (Dr. Margot Schmidt, Eichstätt), Bern­hard von Clairvaux (Äbtissin Dr. Assumpta Schenkl, Abtei Seligental bei Landshut), Johannes vom Kreuz (Prof. Dr. Erika Lorenz, Hamburg; Prior Dr. Reinhart Körner, Berlin), Teilhard de Chardin (Prof. Dr. Helmut Riedlinger, Freiburg), Madeleine Delbrel (Prof. Dr. Trau­gott Stähelin, Bielefeld; Dr. Gotthard Fuchs, Wiesbaden) u. a. In unterschiedlichsten biographischen und histori­schen Kontexten ging es dabei immer um das beson­dere Profil des Christlichen: die Begegnung mit Gott in Jesus Christus und seinem Geist-so intim und einma­lig sie sich je in der Gnade einer eigenen Berufung und Biografie ausdrückt - führt niemals aus dieser Welt her­aus, sondern mitten in sie hinein. Will doch Gott nichtohne seine Welt sein, wie der Christ in besonderer Weise am Mitmenschen Jesus Christus erkennen darf. Von daher gehören „Mystik und Weltverantwortung" christ­lich untrennbar zusammen, wie Paulus Gordan OSB, der Obmann der Hochschulwochen, in drei Vorlesun­gen erläuterte. Die bisweilen nur schlagwortartiggebrauchte Formulierung von der „Mystik und Politik der Nachfolge Jesu" hat deshalb tiefen theologischenSinn und sehr realistische Konsequenz. Wie sehr die lei­denschaftlich ergriffene Einheit von Gottes- und Näch­stenliebe zur Ausbildung geistlicher Originalität führt,erläuterte der Prior des Berliner Karmel, Dr. ReinhartKörner OCarm, in seinem Festvortrag zu Johannes vomKreuz. Christliche Mystik ist demnach entschiedenkirchlich vermittelt und geerdet, aber gerade deshalbdurchaus auch kirchen- und gesellschaftskritisch. Die­sem Zusammenhang galten die Vorlesungen zu,,Mystik und Prophetie. Von den Charismen des HI. Gei­stes" (Dr. Gotthard Fuchs, Wiesbaden). Da bisweilen in falscher Alternative Theologie und Spiritualität gegen­einander gestellt werden, wurde eigens auf den innerenZusammenhang von „Wissenschaft und Weisheit" aufdem mystischen Weg reflektiert (Dr. Emmanuel BauerOSB, Innsbruck).

Wie selbstverständlich, war bei den Salzburger Hochschulwochen der ökumenische Kontext christli-

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eher Mystik präsent - ausdrücklich in den Vorlesungen des evangelischen Theologen Prof. Dr. Traugott Stähe­lin, Bielefeld, der z.B. an Gerhard Tersteegen und Dag Hammarskjöld erinnerte. Von besonderer Bedeutung ist zudem die Mystik der abrahamitischen Religionen, was für das Judentum an der Chassidischen Frömmig­keit erläutert wurde (Prof. Dr. Roland Goetschel, Straß­burg). Die islamische Mystik, z. B.derSufis, kam nicht zur Darstellung. Für die Gegenwart bezeichnend tritt immer mehr der interreligiöse Dialog, zumal mit der Mystik Asiens, ins Blickfeld. Darauf machten Prof. Dr. Thomas lmmoos und Prof. Dr. Karl Walkenhorst S.J., beide Tokyo, aufmerksam, indem sie die geistliche Dimension des japanischen Theaters und den Za-Zen als Weg zum Gebet erläuterten. Mystik als Mitte der Religionen war, in behutsamer Vermittlung und Unterscheidung, das Thema der Vorlesungen des Bonner Fundamentaltheo­logen Prof. Dr. Hans Waldenfels S.J.

Die Konzentration auf den religiösen und christlichen Zusammenhang mystischer Erfahrung ließ-wie könnte es im Ensemble der Salzburger Kulturszenerie anders sein - keinen Augenblick vergessen, wie sehr alle menschlichen und zumal künstlerischen Vollzüge eine Tiefendimension suchen und gestalten, die mystisch genannt werden könnte. Prof. Dr. Gernot Gruber, Mün­chen, machte dies unter dem Titel „Licht und Liebe" an Mozarts Zauberflöte deutlich, und Prof. Dr. Ernst Ribbat, Münster, erschloß moderne Literatur unter diesem Gesichtspunkt. Eigens hervorzuheben sind die Ein­übungen von meditativem Tanz (Dr. Gabriele Wollmann, Mainz); wurde hier doch ganzheitlich erlebbar, wie sehr Spiritualität und Mystik den Menschen mit allen Sinnen (um-)formen. Deshalb gehörten auch die Gottesdienste in besonderer Weise zum Thema der Hochschul­wochen -ist doch alles Reden von und über Mystik ein­deutig sekundär gegenüber dem „Tun der Wahrheit" selbst. Johannes vom Kreuz betont z.B. nachdrücklich, daß Leben und Denken, Beten und Verstehen, Lieben und Reflektieren untrennbar sind: ,,glaubhaft ist nur Liebe" (H. U. von Balthasar). Der häufig inflationär gebrauchte Begriff „Gotteserfahrung" ist deshalb einer kritischen Reflexion zu unterziehen, weil er allzu oft nar­zißtisch und konsumistisch (miß-)verstanden wird. Wenn man denn überhaupt im strengen Sinn von Got­teserfahrung sprechen kann - Johannes vom Kreuz würde es bestreiten -, dann müßte gleichermaßen stets von Gottes Nichterfahrung zu reden sein. Ist er doch im Gegenüber des Glaubens und der Liebe stets der-Gott sei Dank -ganz Andere, unvergleichlich, überraschend und auch befremdend!

Im Sinne einer ganz persönlichen Nachbemerkung seien noch einige Beobachtungen festgehalten, die über den Anlaß hinaus wichtig und hilfreich sein könn­ten. Zu denken nämlich gibt mir im Nachklingen der reichhaltigen Hochschulwochen doch, ob die nach­christliche Welt mit ihrer Suche nach „Mystik" ausgiebig und authentisch genug zu Wort kam. Abgesehen von Teilhard de Chardin spielten die Naturwissenschaften und ihre technische Realisierung z.B. überhaupt keine

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Rolle, obwohl dort seit langem -etwa in Physik und Bio­logie - über die „Tiefendimension" des Wirklichen (zumal des Materiellen 1) nachgedacht wird. Wurde -dies eine zweite Frage - die makrosoziale und poli­tische Dimension des Themas genügend in den Blick gefaßt, z. 8. im Blick auf weltweit dramatische soziale und ökologische Fragen? Warum ist das Fragen nach Mystik doch in problematischer Ambivalenz auf „Inner­lichkeit" und „Privathe1t" gepolt? Paul VI. hatte vom Bruch (1) zwischen Evangelium und Kultur als dem Drama unserer Epoche gesprochen. Wird die Dramatik dieser tragischen Entfremdung, ja Exkulturat1on der Kir­che(n), genügend ausgearbeitet und angeschaut?

Müßte dann nicht die gegenwärtige theologische und religiöse Sprachnot stärker noch bewußt gemacht wer­den und zur Unterbrechung traditionaler kirchlicher Sprachspiele führen ? Wer schon unter den säkularen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen versteht noch die (bisherige) Sprache christlicher Mystik, Theologie und Kirche ?

Zweierlei Jedenfalls gehört für mich zu den beson­ders kostbaren und herausfordernden Eindrücken in Salzburg: zum einen das ernsthafte Bemühen um alter­native Lebensformen im Zeichen schöpferischer Selbstbeschränkung und universaler Solidarität (mit starkem Impuls aus Asien); zum anderen die Entschie­denheit zumal von Frauen, in authentischer Weise selbst zu Wort zu kommen und patriarchale Verhaltens­weisen zu problematisieren. Daß jung und alt daran arbeiten, daß Ost und West sich so begegnen, stimmt verheißungsvoll. Was aber ist, im Blick auf die sog. Drille Welt, mit dem Herzzentrum chrisll1cher Mystik, Gottes Option für die Armen?

Gotthard Fuchs

Dr. h.c. Gotthard Fuchs ist Direktor der Katholischen Akademie Rhabanus Maurus, Wiesbaden-Naurod

Bischof Schlembach: Kein Anlaß zu Lamento über Ökumene Die theologische Verständigung zwischen den christli­chen Konfessionen ist nach Auffassung des Speyerer Bischofs Anton Sehlernbach „in gewisser Weise an Grenzen gestoßen". Das bedeute jedoch nicht, daß die „noch trennenden Glaubensunterschiede auf dem Weg zur Einheit nicht überwunden" werden könnten, sagte Sehlernbach in Speyer in einem Grußwort zu einer Tagung der neugewählten Landessynode der Evangeli­schen Kirche der Pfalz. Anlaß zum „heute weit ver­breiteten Lamento über die angebliche ökumenische Stagnation" bestehe nicht. Er wandte sich gegen eine ,,um sich greifende Verdrossenheit" in den ökumeni­schen Beziehungen und sprach von einerVerpflichtung der Kirchen, ,,nicht nur im theologischen Gespräch, son­dern auch im Glauben und im gemeinsamen christli­chen Weltauftrag" weiter aufeinander zuzugehen. Gemeinsame Herausforderungen bestünden weiterhin

im Blick auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Sehlernbach hob zugleich einen „hervorra­genden sozialethischen Konsens" der Kirchen zum Thema Lebensschutz hervor, wie er in der gemeinsa­men Erklärung „Gott 1st ein Freund des Lebens" zum Ausdruck komme. ,,Holfnungsvoll" stimme ihn, daß es „inmitten der westlichen Glaubenskrise" immer mehr gemeinsame Formen geistlichen Lebens gebe. (KNA)

„Kluft zwischen Lehre und Dienst überwinden" Bischof Scheele warnt vor neuer Polarisierung der

Kirchen

Der Bischof von Würzburg und Vorsitzende der Ökume­ne-Kommission der Deutschen Bischofskonferenz, Paul-Werner Scheele, hat vor der Gefahr einer neuen Polarisierung und einer möglichen neuen Spaltung der Kirchen gewarnt. Diese könne sogar tiefer gehen als frü­here Trennungen, sagt Scheele aul dem 24. Deutschen Evangelischen Kirchentag im Rahmen des Podiums ,,Evangelisch - Katholisch" am Freitag in Dortmund. Jahrzehntelang sei im Blick auf die moderne ökume­nische Bewegung die Lehre als trennend und der Dienst als verbindend befrachtet worden. Der inzwi­schen eingetretene Wandel lasse sich mit den Worten markieren: ,,Lehre verbindet, Dienst trennt!" Zwar sei es im Glaubensgespräch der Kirchen und ihrer Repräsen­tanten zu erstaunlich positiven Ergebnissen gekom­men, doch gleichzeitig seien Diskrepanzen bezüglich des rechten Handelns aufgetaucht, gab der Würzburger Bischof zu bedenken ..

Nach Ansicht Scheeles 1st es entscheidend, die Kluft zwischen Lehre und Dienst zu überwinden, um von einer neuen Basis aus die anstehenden Aufgaben anzugehen. Lehre und Dienst wirkten sich als tren­nende Faktoren aus, wenn sie nicht zuerst selber wesenhaft miteinander verbunden seien. Deshalb wer­den eine dienende Lehre und ein lehrender Dienst gebraucht. ,,Wir brauchen den ,Glauben, der durch die Liebe tätig ist' (Gai 5,6), und die Liebe, die aus dem Glauben erwächst. Damit ist eine fundamentale Auf­gabe genannt, um die es bei der fälligen Erneuerung der Kirche wie beim Neuwerden der gesamten Öku­mene geht", sagte der Bischof wörtlich Etliche Schritte seien bereits auf dieses Ziel hin getan worden. Hierzu gehörten unter anderem das von der Arbeitsgemein­schaft Christlicher Kirchen in der Bundesrepublik (ACK) durchgeführte Forum „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung", das zur Stuttgarter Erklä­rung von 1988 „Gottes Gaben - unsere Aufgaben" geführt habe, sowie die gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz „Gott ist ein Freund des Lebens". Diese Texte böten wichtige Hilfen für eine umfassende ökumenische Einigung mit Blick auf die Lebensfragen der heutigen Generation, betonte der Bischof von Würzburg.

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Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Martin Kruse von Berlin, gab zu bedenken, ob in der katholischen Kirche nicht eher die Tendenz festzustellen sei, den Geist näher mit dem Amt zusammen zu sehen als auf evangelischer Seite. In der katholischen Kirche werde die Gebundenheit des Heili­gen Geistes stärker erfahren, während die evangelische Kirche versucht sei, ihn zu sehr auf das Aktuelle zu beziehen, und die Unverfügbarkeit des Geistes betone. Es bestehe die Gefahr, die Tendenz zur Vielfalt zu einer Entwicklung zur Beliebigkeit werden zu lassen, betonte Kruse. Zu dem ökumenischen Dialog beider Kirchen bemerkte der EKD-Ratsvorsitzende, es gebe keine Ökumene ohne eine Gemeinsamkeit im Glauben. Aber auch im Dienst seien die Kirchen oft ganz dicht bei­einander. Bei den Lehrfragen sei jetzt eine Stelle erreicht, wo das Gemeinsame erst bewußt werden müsse. Die Not in der Welt jedoch fordere beide Kirchen gemeinsam heraus. (KNA)

Hans Kreidler neuer Weihbischof in Rottenburg-Stuttgart Hans Kreidler (45), Leiter des Priesterseminars in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, wurde neuer Weihbischof in dem Bistum. Seine Ernennung durch Papst Johan­nes Paul II. wurde am Donnerstag gleichzeitig in Rom und Rottenburg bekanntgegeben. Kreidler ist in diesem Amt Nachfolger von Weihbischof Franz Josef Kuhnle, der an Ostern aus der Diözesanleitung ausschied und in die Pfarrseelsorge zurückkehrte. - Der am 31. Mai 1956 geborene Kreidler entstammt einer kleinbäuerli­chen Handwerkerfamilie in Grünmettstetten im Schwarzwald. Nach dem Abitur 1966 studierte er in Tübingen und Paris Theologie. Nach der Priesterweihe 1972 arbeitete er zwei Jahre als Vikar in Stuttgart-Bad Cannstatt und dann drei Jahre als Bischofssekretär bei den Bischöfen Carl Joseph Leiprecht und Georg Moser. Als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Dogmatik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen wurde er 1986 bei Walter Kasper, dem jetzigen Bischof von Rottenburg-Stuttgart, zum Doktor der Theologie promoviert. 1980 wurde er Repe­tent im Tübinger Theologenkonvikt, 1987 Regens des Priesterseminars.

Franz-Josef Bode zum Weihbischof in Paderborn ernannt Papst Johannes Paul II. hat Franz-Josef Bode (40) zum neuen Weihbischof in Paderborn ernannt. Die Ernen­nung wurde am Mittwoch gleichzeitig im Vatikan und Paderborn bekanntgegeben. Bode ist in diesem Amt Nachfolger von Weihbischof Paul Nordhues, der Ende Februar vergangenen Jahres aus Altersgründen in den Ruhestand verabschiedet wurde. Die Bischofsweihe

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wird Bode am 1. September empfangen. Bode wurde am 16. Februar 1951 in Paderborn geboren. Er studierte Philosophie und Theologie in Paderborn, Regensburg und Münster. Die Priesterweihe erhielt er 1975. Drei Jahre später wurde Bode als Präfekt ans Erzbischöf­liche Theologenkonvikt in Paderborn und zum Mitarbei­ter im Päpstlichen Werk für geistliche Berufe im Erz­bistum Paderborn berufen. Ab 1983 absolvierte er wei­tere theologische Studien, die er mit der Promotion zum Doktor der Theologie an der Universität Rom abschloß. Seit 1986 war Bode als Pfarrer in Fröndenberg im Sauerland tätig. (KNA)

In Memoriam:

Professor Dr. Dr. h. c. Franz Böckle 1991 ist Franz Böckle drei Monate nach Vollendung sei­nes siebzigsten Lebensjahres in seinem Schweizer Hei­matort Klarus gestorben. Er war einer der herausragen­den Moraltheologen unserer Zeit. Sein Werk wurde nach seinem Tod in vielfältigerWeise gewürdigt. In einer Zeitschrift für das interdisziplinäre Gespräch, die zu­gleich Organ der Katholischen Ärztearbeit Deutsch­lands ist, bietet sich die Möglichkeit an, des Freundes der Ärzte und speziell des Theologen, der mit der Katho­lischen Ärztearbeit besonders verbunden war, in einer spezifischen Weise zu gedenken. Sie ist die Verwen­dung jener Methode, mit deren Hilfe die Ärzte von ihren Patienten mehr als nur erfragte Daten erfassen, einer über das Übliche hinausgehenden Vorgeschichte, der biographischen Anamnese, also der Selbstdarstellung des Lebenes. Sie ist hier möglich, da Frau Claire Reiter mir freundlicherweise die entsprechenden Aufzeich­nungen zur Verfügung gestellt hat, die jeweils durch Faktendarstellung ergänzt werden.

Sein Vater war zunächst, wie sein Großvater, Büch­sen-(= Waffen-)macher gewesen, bevor er Zeughaus­beamter im Dienste der Schweizerischen Eidgenossen­schaft wurde. Offensichtlich ist der junge Franz weniger von der Mutter, die als ängstlich bezeichnet wird, als vom Vater geprägt worden. Voll Hochachtung zählt er die Eigenschaften des Vaters auf, wie vielfältige Inter­essen, politisches und soziales Engagement, Toleranz und Weitblick. Von der tiefen, aber zurückhaltenden Glaubenshaltung des Vaters fühlte er sich angezogen.

Gegen Ende der Gymnasialzeit - von seinen Klas­senkameraden erzählte er mir einmal stolz, daß keiner seinen Priesterberuf aufgegeben hätte und kein Verhei­rateter sich hätte scheiden lassen - schwankte er zwi­schen Priester- und Arztberuf. Letzterer wurde durch den Tuberkulosetod von zwei Geschwistern motiviert. Es ist seltsam, daß die Entscheidung zum Priesterberuf gerade in einem Gespräch mit einem Armeearzt wäh­rend der Sanitätsrekrutenschule fiel.

So begann er sein philosophisch-theologisches Stu­dium am Priesterseminar in Chur. Besonders angetan war er von der Philosophie und von der systematischen

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Theologie, enttäuscht von der lebensfernen kasuisti­schen Moraltheologie. 1945 wurde er zum Priester geweiht. Es war übrigens in den letzten Wochen seines Lebens der mehrfach geäußerte Wunsch, an seinem Weihe- oder Primiztag sterben zu dürfen; der Wunsch ging in Erfüllung. In der Vikarzeit wurde die Beichtpraxis zu einem Schlüsselerlebnis. Er stellte sich damals die Frage, ob entweder die Menschen zutiefst verdorben und der schweren Sünde hoffnungslos ausgeliefert seien oder ob die verkündete Moral, insbesondere die Sexualmoral, nicht richtig sei. Je mehr er die Menschen kennenlernte, die er offiziell als Sünder hätte ansehen müssen, desto mehr gewann er die Überzeugung, daß die Moral nicht stimmt.

Sein Lebensweg wurde auch durch zwei andere Erfahrungen bestimmt, einmal durch die Begegnung mit Urs von Balthasar, die ihn zum Studium der Bibel und der Kirchenväter anregte, und zum anderen durch die Arbeit in einer ökumenischen Arbeitsgruppe. 1950 wurde Böckle zum Weiterstudium nach Rom geschickt, wo er sein akademisches Studium mit einer Dissertation über „Die Idee der Fruchtbarkeit in den Paulusbriefen" abschloß. Die Frage der „guten Werke" wurde hierbei ökumenisch beantwortet. Die Paulin1sche Lehre von den guten Werken sei ein Stück Gnaden lehre, die aller­dings der Ethik nicht den Boden entzöge, diese viel­mehr begründe.

Bevor er den 1952 erfolgten Ruf auf den Lehrstuhl der Moraltheologie in Chur annehmen wollte, erbat er sich eine Vorbereitungszeit, die er als Assistent von Profes­sor Richard Egenter in München absolvierte. 1953 begann er dann die Lehrtätigkeit in Chur. Mit seinen dor­tigen Kollegen Feiner und Trütsch gab er die „Fragen der Theologie heute" heraus. Durch seinen Beitrag über die moraltheologische Entwicklung von 1945-1955 wurde er auch außerhalb der Schweiz bekannt. Die Arbeit trug wohl auch dazu bei, ihn 1963 auf den Lehr­stuhl für Moraltheologie der Universität Bonn zu beru­fen. Für ihn war das Besondere dieses Lehrstuhls seine Lage an einer politischen, auch kirchenpolitischen Halt­stelle von internationaler Bedeutung. Hier konnte er nun alle die Begabungen entfalten, die er offensichtlich von seinem Vater geerbt hatte, mit der Chance eines großen gesellschaftlichen, politischen und kirchenpolitischen Wirkungskreises. Er wollte kein Gelehrter im elfen­beinernen Turm einer alltagsentrückten Wissenschaft sein und griff immer wieder mit der dabei bestehenden Gefährdung heiße Eisen an. Er war Gründungsmitglied und lange Zeit Direktor der Sektion Moral der internatio­nalen Zeitschrift Concilium, Vorsitzender der Wissen­schaftlichen Kommission des katholischen Arbeitskrei­ses Entwicklung und Frieden, Mitglied des Ökumeni­schen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, Vorsitzender der Sachkommission IV Ehe und Familie der gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Mitglied des Zentral­komitees der deutschen Katholiken, Mitglied der Zentra­len Kommission der Bundesärztekammer zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Forschung an menschli-

chen Embryonen und Berater beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer, Mitglied der Arbeits­gruppe „in-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gen­therapie" des Bundesministers für Forschung und Tech­nologie und Delegierter der Regierung in der Internatio­nalen Konferenz von Wissenschaftlern der Summit­Staaten über ethische Probleme der Neurowissen­schaften und der Neuromedizin.

Diese Tätigkeiten und sein ethisches Hauptwerk die ,,Fundamentalmoral", worin er die Konzeption der theo ­nomen Autonomie systematisch entfaltete und konse ­quent auf alle Grundfragen der Moraltheologie anmel­dete, machen deutlich, warum man Franz Böckle als einen der herausragenden Moraltheologen ansehen kann. So fand auch seine philosophisch-theologisch begründete Moraltheologie international starke Beach­tung.

Aus dem akademischen Leben an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ist das zweimalige Dekanat der katholisch-theologischen Fakultät und das Rektorat 1983/84 zunächst zu erwähnen. Die Rektorats­und anschließende Prorektoratszeit fielen in eine Zeit schwerwiegender hochschulpolitischer Entscheidun­gen. In bleibender Erinnerung der Bonner Studenten aber wird vor allem auch seine Lehrtätigkeit bleiben. Er gehörte zu jenen Hochschullehrern, was heute nicht mehr selbstverständlich ist, die den Unterricht sehr e rnst nehmen und mit großem Engagement gestalten. Zu dieser Hinwendung von Menschen, die ihm anvertraut waren, gehörten auch die zahllosen pastoralen Gespräche, die er im laufe der Jahre führte. Die Pfarrei in Röttgen, in der er seelsorglich aushalf, wird ihn gerade als Priester in Erinnerung behalten.

Seit Beginn seiner Tätigkeit in Bonn war er bis zum Ende seines Lebens der Kath. Ärztearbeit Deutschland eng verbunden. Er stellte ihr seinen Rat in den Diskus­sionen um die drängenden Fragen der medizinischen Ethik stets zur Verfügung.

Die Ärzte haben ihren Dank für seine stete Hilfe auch offiziell ausgedrückt durch das Ehrenzeichen der Deut­schen Ärzteschaft 1989 und durch die Ehrenpromotion der Med.-Fakultät in Bonn am 1.6. 1991. Im Bewußtsein seines nahen Todes hat er hier bei seiner Dankesrede Bilanz seiner Arbeit gezogen und sich von seinen Kolle­gen in bewegenden Worten verabschiedet.

In den letzten Monaten seines Lebens, als er um das unaufhaltsam fortschreitende Krebsleiden wußte, hat er oft mehr Schmerzen über das Unverständnis der offi­ziellen Kirche in bezug auf seine wissenschaftliche Arbeit gespürt. Doch überwand er zuletzt auch diesen Schmerz und erlebte noch die Freude des Besuchs des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz wenige Tage vor seinem Tod. Im großen Vertrauen auf Gottes Liebe und Barmherzigkeit gab er sein Leben seinem Schöpfer zur Vollendung zurück. Dankbar für alles, was ihm im Leben geschenkt wurde, ist er friedlich einge ­schlafen.

August Wilhelm von Eiff