Kompass Gesundheit 1/2016

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Kompass Gesundheit DAS MAGAZIN FÜR BADEN-WÜRTTEMBERG 5. Jahrgang www.kompass-gesundheit-bw.de TOP-THEMA Gesund im Alter Nr. 1 2016 In Zusammenarbeit mit der Sturzprophylaxe Der ältere Paent im Krankenhaus Altersleiden: Diverkel Immer mehr 100- Jährige

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Kompass Gesundheit - Das Magazin für Baden-Württemberg 1/2016

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Kompass GesundheitDAS MAGAZIN FÜR BADEN-WÜRTTEMBERG

5. Jahrgang www.kompass-gesundheit-bw.de

TOP-THEMA

Gesund im Alter

Nr. 1 2016

In Zusammenarbeit mit der

Sturzprophylaxe

Der ältere Patient im Krankenhaus

Altersleiden: Divertikel

Immermehr 100-

Jährige

Veranstaltungszentrum

Waldaupark9. Juli 201610 bis 16 Uhr

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Keine Angst vor der

NarkoseProf. Dr. med. René Schmidt

Ein Hörbuch der Zeitschrift KOMPASS GESUNDHEITin Kooperation mit dem Marienhospital Stuttgart

OsteoporoseHilfe bei Knochenschwund

Werner Waldmann im Gespräch mitProf. Dr. med. Ulrich Liener

Ein Hörbuch der Zeitschrift KOMPASS GESUNDHEITin Kooperation mit dem Marienhospital Stuttgart

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Seelischer Kummerund warum er krank macht

Prof. Dr. med. Christian Herdeg

Ein Hörbuch der Zeitschrift KOMPASS GESUNDHEITin Kooperation mit den Kreiskliniken Esslingen

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Gefäße gut – alles gutwie man Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugt

Prof. Dr. med. Christian Herdeg

Ein Hörbuch der Zeitschrift KOMPASS GESUNDHEITin Kooperation mit den Kreiskliniken Esslingen

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Kompass Gesundheit zum Hören!

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Fax: 0711 7656590E-Mail: [email protected]

Jede CD6,- EUR

(plus Versandkosten)

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Liebe Leserin, lieber Leser,

ich bin der Bitte der KOMPASS GESUNDHEIT-Redaktion gerne nachgekommen, für diese Ausgabedas Editorial zu schreiben. Fast das ganze Heft beschäftigt sich mit einem der drängendsten Pro-bleme der Medizin, eigentlich unserer Gesellschaft und vor allem der Zukunft: Rund viereinhalbMillionen Bürger in Deutschland sind älter als 80 Jahre. Und diese Zahl nimmt dramatisch zu.

Viele „Alte“ sind keineswegs gesund. Die meisten leiden an chronischen Erkrankungen, die ihreMobilität und Selbständigkeit bedrohen oder sogar schon einschränken. Doch diese Leiden lassensich heute gut behandeln. Auch im vorgerückten Alter. Wir können mit ordentlicher Lebensqualitätalt werden. Sehr alt. Trotz Diabetes, trotz Herz-Kreislauf-Leiden. Der Schlüssel liegt in einer Reihevon positiven Faktoren, die Gesundheit in jedem Alter fördern: Bewegung, Ernährung, soziale Kon-takte. Unsere gute ärztliche Versorgung vorausgesetzt. Probleme entstehen dann, wenn ältere Mit-bürger gleichzeitig mit mehreren Erkrankungen zu kämpfen haben, z. B. mit Diabetes, Verkalkungender Herzkranzgefäße, Arthrose usw. Oft müssen sie dann jeden Tag mehrere Medikamente schlu-cken. Und wir wissen, dass Medikamente unerwünschte Nebeneffekte haben können. Manchmalheben ihre Wirkungen sich auch gegenseitig auf oder verstärken sich, was das Nebenwirkungsrisi-ko erhöht. Wir dürfen alte und hochbetagte Patienten nicht über einen Kamm scheren und wie Men-schen im mittleren Alter behandeln. Oft benötigen sie eine ganz spezielle diagnostische Vorgehens-weise und Therapie. Das kostet Zeit – und Geld: Wie gehen wir mit älteren Patienten um, die bei-spielsweise nach einem Sturz im Akutkrankenhaus landen, dort aufgrund der Fallpauschale nachfünf Tagen wieder entlassen werden müssen und dann nur schwer einen Platz in einer Rehabilita-tionseinrichtung finden? Die meisten Rehakliniken kümmern sich lieber um jüngere Patienten.(Hoch)betagte Menschen benötigen eine aufwendige, spezielle Behandlung, an der viele verschie-dene medizinische Disziplinen koordiniert beteiligt sein müssen.

Genau dies ist der Ansatz für die geriatrische Rehabilitation, für die Baden-Württemberg einst einVorreiter war. In den geriatrischen Reha-Kliniken sind die besonderen Strukturen, Personen undKonzepte vorhanden, der Situation geriatrischer Patienten gerecht zu werden. In diesen Klinikenwird täglich bewiesen, dass auch Menschen in hohem Alter mit einem Bündel an Krankheiten nochwesentliche Fortschritte in Sachen Mobilität und Selbständigkeit machen können, wenn sie von ei-nem kompetenten, enthusiastischen Team unterstützt werden.

In moralischer und gesellschaftlicher Verantwortung für die Generation unserer Eltern sollten wiruns und die politischen Verantwortungsträger vermehrt fragen, warum nicht mehr Ältere dieseChance bekommen.

Lassen Sie sich durch die Beiträge in dieser Ausgabe zu verschiedenen Aspekten der Situationunserer alten und hochbetagten Mitbürger informieren und inspirieren. Alt werden ist auch unsereZukunft.

Ich wünsche Ihnen eine sehr nachdenkliche LektüreIhr Dr. Martin Runge

Dr. Martin Runge istFacharzt für Allgemeinmedi-zin – Klinische Geriatrie,Facharzt für Physikalischeund Rehabilitative Medizinund ehemaliger ÄrztlicherDirektor der Aerpah-KlinikEsslingen-Kennenburg.Privatpraxis Dr. RungeKennenburger Str. 6373732 EsslingenTel.: 0711 3905306E-Mail: [email protected]

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Impressum

Kompass Gesundheit –Das Magazin für Baden-Württemberg

Herausgeber: Dr. Magda AntonicRedaktionsleitung: Werner Waldmann (V.i.S.d.P.)

Botschafter: Prof. Dr. med. Matthias Leschke, Dr. med. Suso Lederle

Redaktions-Beirat: Prof. Dr. med. Walter-Erich Aulitzky, Dipl. oec. troph. Andrea Barth, Dr. med. Wolfgang Bosch, Dr. med. ErnstBühler, Dr. med. Hans-Joachim Dietrich, Dr. med. RainerGraneis, Dr. med. Rudolf Handschuh, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas Heidenreich, Dieter Kress, Christof Mühl-schlegel, Dr. med. Stefan Reinecke MBA, Dr. med. NobertSmetak, Isolde Stadtelberger, Dr. med. Bernd Voggen-reiter, Dr. med. Sieglind Zehnle

Medizinisch-wissenschaftlicher Beirat:Dr. med. Alexander Baisch, Dr. med. Carl-Ludwig v. Ballestrem, Prof. Dr. med. Gerd Becker, Prof. Dr. med. Alexander Bosse, Prof. Dr. med. Claudio Denzlinger, Prof.Dr. med. Rainer Dierkesmann, Dipl.-Psych. Sabine Eller,Dr. med. Wilhelm Gienger, Dr. med. Joachim Glockner, Dr. med. Christian Hayd, Prof. Dr. med. Bernhard Hell-mich, Prof. Dr. med. Doris Henne-Bruns, Prof. Dr. med.Christian Herdeg, Prof. Dr. med. Monika Kellerer, Prof. Dr.med. Alfred Königsrainer, Dr. med. Klaus Kraft, Prof. Dr.med. Ulrich Liener, Prof. Dr. med. Alfred Lindner, Dr. med.

Gerhard Müller-Schwefe, Dr. med. Jürgen Nothwang, Dr. med. Martin Runge, Dr. med. Wolfgang Sperber, Prof.Dr. med. Arnulf Stenzl, Prof. Dr. med. Thomas Strowitzki,Holger Woehrle

Gesundheitspolitik: Markus Grübel (MdB), Michael Hennrich (MdB)Redaktion: Dr. J. Roxanne Dossak, Andrew Leslie, Ursula Pieper, Marion ZerbstArt Direction: Dr. Magda AntonicHerstellung: Barbara SchülerFotos: Cover: © Wavebreakmedia/thinkstockphotos.de;S. 6: © Gerd Altmann/pixelio.de; S. 9 alle Bilder: © pixabay.com; S. 11 ganz unten: © kristian sekulic/foto-lia.de; S. 12: © Scott Griessel/123rf.com; S. 19: © Picco-lo/fotolia.de; S. 26: © Elena Ray/shutterstock.com; S. 32unten: © Johanniter-Unfall-Hilfe; S. 33: © suprima GmbH;S. 36 unten: © klenova/bigstockphotos.com; S. 38: © mi-chaelheim/fotolia.de; S. 42 oben: © gino73/pixelio.de: Fürdie Autoren- und Ärzteporträts liegen die Rechte bei denabgebildeten Personen. Alle anderen Fotos: MEDITEXT Dr. Antonic

Verlag: MEDITEXT Dr. AntonicVerlagsleitung: Dr. Magda AntonicPanoramastr. 6; D-73760 OstfildernTel.: 0711 7656494; Fax: 0711 [email protected]; www.meditext-online.de

Wichtiger Hinweis: Medizin als Wissenschaft ist ständigim Fluss. Soweit in dieser Zeitschrift eine Applikation oderDosierung angegeben ist, darf der Leser zwar darauf ver-

trauen, dass Autoren, Redaktion und Verlag größte Mühedarauf verwandt haben, dass diese Angaben genau demWissensstand bei Drucklegung der Zeitschrift entspra-chen. Dennoch sollte jeder Benutzer die Beipackzettel derverwendeten Medikamente selbst prüfen, um in eigenerVerantwortung festzustellen, ob die dort gegebene Emp-fehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontra-indikationen gegenüber der Angabe in dieser Zeitschriftabweicht. Leser außerhalb der Bundesrepublik Deutsch-land müssen sich nach den Vorschriften der für sie zustän-digen Behörden richten. Geschützte Warennamen (Wa-renzeichen) müssen nicht besonders kenntlich gemachtsein. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann nichtgeschlossen werden, dass es sich um einen freien Waren-namen handelt.Das Magazin und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind ur-heberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlichzugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligungvon MEDITEXT Dr. Antonic strafbar. Die Redaktion behältsich die Bearbeitung von Beiträgen vor. Für unverlangteingesandte Manuskripte, Fotos und Abbildungen wirdkeine Haftung übernommen. Mit Namen gezeichnete Arti-kel geben die Meinung des Verfassers wieder. Erfüllungs-ort und Gerichtsstand ist Esslingen.Ein Einzelheft ist zum Preis von 1,60 Euro (zzgl. Versandkosten) beim Verlag erhältlich.

Copyright © 2016 by MEDITEXT Dr. Antonic, 73760 Ostfildern

ISSN 2194-5438

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inhalt• Auf der Suche nach dem Methusalem-Gen

Das Geheimnis der Hundertjährigen 6

• Immer mehr Hundertjährige 11

• Bewegung, Ernährung, Gelassenheit:Drei wichtige Säulen für ein gesundes Alter 12

• Ihr Hausarzt meint 15

• Auch in hohem Alter ist noch fast alles machbarModerne Herzchirurgie 16

• Alter braucht Training! 19

• Reha für ältere PatientenLebensqualität hat ihren Preis 20

• Bücher rund um das Thema Alter 22

• Die Meinung des WirbelsäulenspezialistenFitness im Alter gibt es nicht umsonst 24

• Nicht über einen Kamm scheren!Der alte Patient im Krankenhaus 26

• Das Gesundheitsprogramm der VHS StuttgartRegisseur hinter den Kulissen: Rüdiger Flöge 28

• Das Gesundheitsgespräch mit Johannes BauernfeindDie künftige medizinische Versorgung betagter Menschen 30

• Sturzprophylaxe 32

• Eine große Herausforderung für KlinikenImmer ältere Patienten 34

• Alle haben sie, nur wenigen bereiten sie Sorgen:Divertikel 38

• Kurzmeldungen 42

RubrikenImpressum 4 | Kolumne Dr. Lederle 29 | Aboformular 37 | Termine 43 |

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Auf der Suche nach dem Methusalem-Gen

Das Geheimnis der HundertjährigenWerner Waldmann

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Die Forschung fasziniert dieses Phänomen undsie will herausfinden, weshalb die einen mit

60 oder 70 sterben, während andere über 100 Jah-re alt werden. Visionäre Forscher halten es durch-aus für möglich, dass die Menschen künftig tat-sächlich so alt wie Methusalem werden können –wenn es gelingt, das Rätsel der Langlebigkeit zulösen. Sind es Umwelteinflüsse, sind es genetischeDispositionen? Die Suche nach dem Methusalem-Gen steckt noch in den Anfängen.

Es lässt sich nicht länger leugnen, was den Ma-thematikern der Rentenversicherung die Haare zuBerge stehen lässt: Wir werden immer älter. Ausgegenwärtig etwa 16 000 Hundertjährigen in unse-rer Republik könnten im Jahre 2050 bereits 115 000geworden sein.

Für die Medizin ist das ein gewaltiger Triumph,denn ihre Fortschritte tragen sicherlich dazu bei,dass die Menschen immer älter werden, trotz aku-ter oder chronischer Erkrankungen, und dass siedieses unglaubliche Alter auch noch mit recht guterLebensqualität erreichen dürfen. Wenn das soweitergeht, wenn die Menschen immer älter wer-den, dann stellt sich die Frage, wer das bezahlensoll. Der Nachwuchs fällt immer spärlicher aus undwird in absehbarer Zeit ein Heer von Alten und sehrAlten finanzieren müssen. Diese Alten sind Rent-ner, Pensionäre, und stehen nicht mehr im Er-werbsleben. Im Gegenteil, sie genießen ihr Leben,wie man es ihnen ja auch zugesichert hat, als sienoch erwerbstätig waren; und sie bauen darauf,dass die Gesellschaft sie auch im Krankheitsfallund Pflegestadium menschenwürdig versorgt. Ausdiesem Dilemma zeichnet sich bisher noch keinWeg ab. Millionen Bürger warten auf eine wirklicheReform der Pflegeversicherung.

Man weiß inzwischen, dass pflegende Angehöri-ge auf dem Zahnfleisch laufen. Viele Pflegebedürf-

tige brauchen ständige Betreuung, die aber Ange-hörige, wenn sie im Berufsleben stehen, kaum leis-ten können. Die professionell angebotene Pflegemuss größtenteils aus der eigenen Tasche bezahltwerden. Der Beitrag der Pflegeversicherung ist nurein Tropfen auf den heißen Stein. Preiswertere aus-ländische Pflegekräfte aus Osteuropa oder Asienzu beschäftigen, ist in vielen Fällen illegal. DerStaat soll es richten, so die Forderung an die Poli-tik, doch diese ist im Gesundheits- und Pflegebe-reich nicht entfernt so spendabel wie auf dem Fi-nanzsektor. Banken müssen gerettet werden, in-solvente Staaten ebenso, denn sie würden wiederunsere Banken in die Bredouille bringen, und of-fenbar ist ein funktionierendes Finanzwesen dieBasis unserer Existenz. Nicht die Gesundheit, nichtdie Pflege alter Menschen, die keine Rendite mehrbringen.

Und dennoch wollen wir alle alt werden. Sehr alt.Wir hängen am Leben. Wir werden geboren, sindKinder, stürmen in die Jugend, starten mit Elan undguten Vorsätzen ins Arbeitsleben und wollen auchunseren Spaß haben. Geboren wird man normaler-weise gesund. Dass man sich seine Gesundheitbewahren solle, das wird heutzutage immer pene-tranter gepredigt, doch es kümmert die Leute we-nig. Als Ausgleich zum stressigen Arbeitsalltagbraucht man Entspannung und Spaß. Man raucht,trinkt, tut manches, was man eigentlich nicht tunsoll. Lungenkrebs? Das dauert noch. Lungenkrebskriegt man erst, wenn man älter ist. Und vielleichtgeht der Kelch auch an einem vorbei und es trifftnur den anderen. Wen interessiert es wirklich, dasszu viel Alkohol irgendwann die Leber ruiniert? Undwenn schon, dann lässt man sich eben eine neuetransplantieren.

Das Leben ist schön und es kann sich noch lan-ge hinziehen. Die Botschaft, dass die durchschnitt-

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Mit der Tatsache, dass alles menschliche Leben endlich ist, schlägt sich die Menschheit seitEwigkeiten herum. Manche sterben schon in jungen Jahren, manche werden älter und ganzwenige erreichen ein biblisches Alter. Methusalem wird ein Alter von 969 Jahren zugeschrie-ben. Mit Sicherheit ist dies eine Fiktion, an der Überlieferungsfehler schuld sind. Beweisedafür (beispielsweise eine Geburts- und Sterbeurkunde) gibt es keine. Der Niederländer Geert Adriaans Boomgaard erreichte, verglichen mit dem Propheten Methusalem, nur dasverbürgte Alter von 110 Jahren. Die älteste Frau bislang, die Französin Jeanne Calmet inArles in der Provence, starb 1997 und brachte es auf 122 Jahre, 5 Monate und 14 Tage. InDeutschland zählt man zurzeit über 16 000 Bürger, die ihren dreistelligen Geburtstag bereitshinter sich haben.

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liche Lebenserwartung eines Mannes in Deutsch-land im Augenblick bei rund 79 Jahren liegt und beiFrauen im Schnitt bei 83 Jahren, ist erfreulich undblendet den Gedanken an den Tod schnell aus. Zu-mal wir mit unserer modernen Medizin eine fantas-tische Reparaturanstalt haben. Jetzt ein wenig ge-sündigt und nicht ganz so „gesund“ gelebt, daswird sich beim Arzt oder in der Klinik schnell behe-ben lassen. Und übrigens klingt die Prognose derAltersforscher sehr ermutigend: Bis zum Jahr 2025wird der Anteil der über 60-Jährigen an der deut-schen Bevölkerung auf etwa 33 % ansteigen. Da-mit steigen doch auch die Chancen, auf ein ordent-lich langes Leben hoffen zu dürfen.

Das Geschäft mit dem AltwerdenDer Wunsch schlummert in jedem von uns: alt wer-den, aber gesund alt werden, nicht im Rollstuhl,nicht mit diesem oder jenem Zipperlein. Klar, dassmancher da Bücher kauft wie eines mit dem verlo-ckenden Titel „Auf den Spuren der Methusalem-Diät“. Den Alterungsprozess, so heißt es da, verur-sachen gesundheitliche Störungen. Schuld daranseien Risikofaktoren durch schädliche Substanzen,die wir einatmen, denen unsere Haut ausgesetztist, die wir mit der Nahrung zu uns nehmen. DerKörper brauche Salz und Nährstoffe, braucheTrennkost und Yin-Yang-Energien. Und es sei ei-gentlich kinderleicht, ein Methusalem zu werden.Inzwischen hat sich eine mächtige Sparte der Ge-sundheitsindustrie etabliert, die uns weismachenwill (und bei vielen Leuten durchaus mit großem Er-folg), dass mit diversen Salben und Pulvern, Tablet-ten und Drinks die freien Radikale, die Übeltäter,die die Jugend zerstören, erfolgreich zu bekämp-fen sind. Seriöse Ärzte halten das alles für Mum-pitz.

Wer lange leben will, muss sich schonen. Dies isteine eher historische, überholte Ansicht, die aberteilweise durchaus noch in den Menschen verwur-zelt ist. Sie geht von der Vorstellung aus, dass unsdie Umwelt krank mache und man solche Risiko-faktoren ausschalten müsse. Dies war früher einedurchaus berechtigte Haltung, denn Infektions-erkrankungen standen die früheren Ärzte hilflosgegenüber; es blieb einem also nichts anderesübrig, als sich nicht anzustecken. Später verhinder-te die Hygiene Infektionen, und Antibiotika undSchutzimpfungen nahmen diesen lebensbedro-

henden Krankheiten ihren Schrecken. Freilich botdie Umwelt immer noch eine Vielzahl von Gefahren:Tabakkonsum, Drogen und Alkohol, Stress, Unfäl-le. Zwar wird das Rauchen heute weitgehend ge-ächtet und die Drohungen auf den Zigaretten-schachteln sind eindeutig; dennoch wird weiter ge-raucht. Alkohol wird nur noch an Personen ver-kauft, die 18 Jahre alt sind, und an bundesdeut-schen Tankstellen kriegt man ab 22 Uhr keinenTropfen Alkohol mehr, jedoch in jeder Kneipe.

Ausgewogene Ernährung und regelmäßige Be-wegung, das wird auf allen medialen Kanälen pro-pagiert, und dennoch werden die Leute – in zuneh-mendem Maß auch Jugendliche – immer dicker.Die meisten Kliniken haben sich inzwischen spe-zielle Betten und Operationstische angeschafft, dieauch die Behandlung von XXL-Patienten erlauben.Zuckersüße Gesundheitsriegel karikieren Gesund-heitsoffensiven für ausgewogene Ernährung.

Dennoch: Trotz Umweltverschmutzung, genma-nipuliertem Obst und Getreide, zucker- und fettlas-tigen Fertignahrungsmitteln wächst die Chance fürimmer mehr Menschen, alt zu werden, und zwardurchaus auch sehr alt. Wir diskutieren über Volks-krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen,Schlaganfall, Stoffwechselstörungen, Allergien,Skelettschäden, Krebs. Und dennoch nimmt dieZahl der Alten zu? Ein Widerspruch – oder gibt esdafür eine Erklärung?

Auf der Suche nach dem Methusalem-GenNehmen wir ein Lehrbuch der Physiologie desMenschen, erschienen 1987: Alter „ist ein Zustandeingeschränkter Angepaßtheit an die psychischenund physischen Beanspruchungen des Lebens,der für den letzten Lebensabschnitt charakteris-tisch ist. Das Alter beginnt ... mit dem Erlöschender Zeugungsaktivität und wird mit dem Tod desOrganismus abgeschlossen.“ Der Organismus,sämtliche Organe verändern sich, altern, werdenreduziert. Leistungseinschränkung. Verkümmern.Mitunter ist der Alterungsprozess eigentlichSchicksal, unabwendbar. Doch weshalb? Darübergibt es viele Theorien. Zellen und Gewebe ver-schleißen. Oder sind in die Zellen Selbstzerstö-rungsmechanismen eingebaut? Genau darum gehtes der Forschung, über alle bisherigen Spekulatio-nen hinaus: den Prozess des Alterns detailliert zuverstehen, um ihn aufhalten oder ausschalten zu

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können. Das ist kompliziert, denn beim Alterungs-prozess spielen viele Faktoren und Einflüsse mit,die sich wechselseitig beeinflussen. BesondereHoffnung wird in die Genforschung gesetzt. Inmanchen Familien scheint Langlebigkeit an der Ta-gesordnung zu sein, trotz Erkrankungen und nega-tiver Umwelteinflüsse. Und man hat inzwischenauch einige Gene entdeckt, die für ein gesundesund langes Leben zuständig sind. Das Methusa-lem-Gen haben die Forscher bisher noch nicht ge-funden.

Ein Gen, welches den Cholesterinspiegel mitre-guliert, wurde bei Menschen festgestellt, die sehralt oder sogar über hundert Jahre alt werden. Klarist offenbar, dass Gene das Lebensalter beeinflus-sen. Im negativen Sinn weiß man dies schon län-ger: Eine genetische Disposition für eine Erbkrank-heit kann mit hoher Wahrscheinlichkeit die Lebens-zeit verkürzen. Rund 150 Genvarianten können einlanges Leben fördern. Dies fand das Forschertan-dem Paola Sebastiani und Thomas Perls von derBoston University heraus und publizierte seine Er-kenntnisse im Magazin Science. Die beiden Wis-

senschaftler hatten mit großem Aufwand eine Ge-nomanalyse bei 1055 Hochbetagten zwischen 95und 119 Jahren durchgeführt. Am wahrscheinlichs-ten, so das Resultat, könnte derjenige besonderslange leben, der möglichst viele dieser Gene in sei-nem Erbgut trage.

2006 berichtete Leonie Heilbronn vom Penning-ton Biomedical Research Center der Universitätvon Louisiana in Baton Rouge von einer randomi-sierten kontrollierten Studie an 48 gesunden Stu-dienteilnehmern. Je ein Viertel der Teilnehmer er-hielt eine normale Diät, um das Körpergewicht zuhalten, eine weitere Gruppe musste mit einer Kalo-rieneinschränkung um 25 % auskommen, von derdritten Gruppe erwarteten die Forscher, dass siemassiv Sport treibe und eine Kalorienrestriktionum 12,5 % einhalte. Die letzte Gruppe musste miteiner Extremdiät von 890 Kilokalorien pro Tag klar-kommen. Das Ergebnis verblüffte: Die Teilnehmermit der verminderten Kalorienzufuhr nahmen ab,ihre Insulinsensitivität verbesserte sich deutlich.Man nahm an, dass die restriktive Kalorienzufuhrbestimmte Stoffwechselprodukte reduziere, die auf

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In Japan wird kalo-rienarm gegessen.Frischer Fisch, Obstund Gemüse sindwichtige Bestandtei-le der traditionellenErnährung.

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die DNA schädlich wirkten. Ein Verdacht nur, der erst zeigenkann, ob er die Sterblichkeit beeinflusst, wenn die Studienteil-nehmer ihre Diäten auch weiterhin beibehalten.

Völlerei verkürzt das LebenBereits 1989 hatte der Mediziner Richard Weindruch von derUniversity of Wisconsin in Madison zwei Gruppen von Rhesus-affen mit Niedrigkalo rienernährung bzw. mit einer normalenKost versorgt. Die Diätgruppe erhielt 30 % weniger Kalorien. Inder Normalkostgruppe verstarben viele Affen an typischen Al-tersleiden. Dagegen blieben den Affen auf Schmalkost Herz-Kreislauf-Probleme, Krebs und Diabetes weitgehend erspart.Die Forscher erklärten sich diesen Effekt dahingehend, dasswohl die reduzierte Kalorienmenge dem Körper oxidativenStress erspart. Freie Radikale lösen Entzündungsprozesse imKörper aus, die zu Zivilisationskrankheiten führen. Diese Radi-kale sind besonders reaktionsfreudig und spielen bei einer Viel-zahl biologischer Prozesse eine wichtige Rolle, können aberauch Zellschäden hervorrufen, die unter anderem zur Entste-hung von Krebserkrankungen beitragen können. Auch für dieEntstehung der Arteriosklerose, der Alzheimer-Krankheit, derLeberschädigung durch Alkohol und des Lungenemphysemsdurch Tabakrauch wird der durch freie Radikale vermitteltenOxidation verschiedener Stoffe eine wichtige Rolle zugeschrie-ben. Die Hunger diät entlastet das Immunsystem, das dadurchweniger aktiv werden muss. Weiter nahmen die Forscher an,dass die Hungerdiät auch die Zellteilung verlangsamte und da-mit DNA-Schäden im Organismus verminderte.

Auf der japanischen Insel Okinawa wird kalorienarm geges-sen. Dies ist eine alte Tradition. Man isst Reis, Fisch, Algen,Süßkartoffeln, Tofu, Ingwer, Chili, Kurkuma. Brot, Milchproduk-te und Salz sind unbekannt. Fleisch kommt selten auf denTisch, und wenn, dann nur Schweinefleisch, das sorgfältig vonFett befreit und lange gekocht wird. Sich den Bauch vollzu-schlagen, gilt seit je als schlechte Sitte. Die Menschen von Oki-nawa nehmen im Schnitt 20 % Kalorien weniger zu sich als inanderen Regionen Japans. Jeder 2200. Okinawaer ist 100 Jah-

re alt oder älter. Und im Alter sitzt man nicht im Stuhlherum, sondern man ist aktiv. Jede Woche treffensich die Alten im Gemeindehaus, tanzen, lachen,amüsieren sich. Man arbeitet gerne im Garten, woman Gemüse und Kräuter zieht, man geht fischen,man erntet Seegras und besonders wichtig sind diesozialen Kontakte. Die Alten treiben regelmäßig Ka-rate, wandern. Stress kennt man nicht, alles wird mitBegeisterung und Freude erledigt. Für den Sportwis-senschaftler ist es evident: Hier wird aerobes Traininggemacht, um die Ausdauer zu steigern, anaerobesTraining, um die Schnelligkeit zu steigern, und Be-

weglichkeitstraining, um die körperliche Flexibilität zu erhalten.Und alles aus freien Stücken, ohne Zwang, aus Freude. DieMenschen von Okinawa leben nicht in der Isolation. Nachbar-schaftshilfe ist dort Realität. „Yuimaru“ heißt das Prinzip,Gegenseitigkeit.

Ob die Langlebigkeit in Okinawa nicht auch an den Genenliegen kann? Offenbar nicht. Es gibt eine Beobachtung, dieeindeutig dagegen spricht, nämlich die Folgen der Zivilisation,die auch auf dieser Insel eingezogen sind und die Tradition auf-weichen. Die Amerikaner unterhalten auf Okinawa mehrere Mi-litärstützpunkte. Die US-Soldaten brachten ihre Lebensweisemit auf die Insel: Hamburger, Pommes, Ketchup. Das hat abge-färbt. Die jungen Japaner auf der Insel haben an Gewicht zuge-legt.

Sicher können wir die Lebensweise von Okinawa nicht ein-fach nachahmen. Uns fehlt die Spiritualität dieser Menschenund damit leider auch die innere Ruhe und Gelassenheit. Undganz so einfach ist es auch nicht mit der Hungerdiät. Schnellist die Schwelle zur chronischen Essstörung überschritten!Und Hungern macht nicht jedermann glücklich und zufrieden.Die Lebenseinstellung der Bürger von Okinawa, deren Verbun-denheit mit der Natur können wir nicht einfach so nachahmen.Sie empfinden ihr spartanisches Essen nicht als Entbehrung.Sie sind glücklich mit ihrer Ernährung und ihrem Leben.

Der Stress unserer westlichen Zivilisationsgesellschaft istdort unbekannt. Ein Beweis dafür, dass es eben wohl dochnicht an einem einzelnen Faktor – dem Methusalem-Gen, demSport oder der gesunden Ernährung – liegt, ob man ein hohesLebensalter erreicht oder nicht. Vermutlich kommt es dabei aufdie gesamte Lebensweise und Lebenseinstellung an.

In einer erneuten Erhebung im Jahr 2013 musste Okinawaihre erste Position in der Altersstatistik an die Präfektur Naganoabgeben und fiel auf Platz drei.

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Dicke Greise gibt es nichtEs fällt auf, dass Hundertjährige niemals korpulent sind. Der Schau-spieler Jopie Heesters, der mit 108 Jahren starb, glich einem Asketen.Allerdings gilt es offenbar, früh anzufangen mit dem Kaloriensparen.Das US-Forscherteam Redman und Ravussin zog aus einer Studiefolgendes Resümee: Wer mit 25 Jahren 20 % an Kalorien einspart,darf mit fünf zusätzlichen Lebensjahren rechnen. Später wird es ma-ger: Wer mit 55 Jahren 30 % weniger Kalorien konsumiert, gewinnt nurnoch zwei Monate zusätzliche Lebenszeit.

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Immer mehr HundertjährigeA

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KarlsruheRheinpfalz

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Die Anzahl der Hundertjährigen hat sich seit 2001 verdreifacht!

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Die heutigen Hundertjährigen sind häufiger selbstständig undhaben seltener starke Einschränkungen (d. h. Pflegestufe II und III)

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Selbstständig Stufe I Stufe II Stufe III

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In Deutschland hat sich die Zahl der Hundertjährigen innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt. Dass die-se Hochaltrigen heute geistig und körperlich fitter sind als diejenigen früherer Generationen, belegt eine reprä-sentative Untersuchung von Forschern der Universität Heidelberg mit Menschen im Alter von 100 Jahren in derStadt und Region Heidelberg. Mit der Zweiten Heidelberger Hundertjährigen-Studie, die von der Robert BoschStiftung und der Dietmar Hopp Stiftung gefördert wurde, haben Wissenschaftler des Instituts für Gerontologieder Ruperto Carola ein umfassendes Bild von Hundertjährigen und ihrer Lebenssituation ermittelt.

sMMST = KurzformMini-Mental State Examination,max. 21 Punkte

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wenig bzw. nichteingeschränkt(sMMST > 10)

Die heutigen Hundertjährigen sind kognitiv fitter als frühere Kohorten

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Die meisten Hundertjährigen empfinden ihr Leben als lebenswert: Sie sehnen ihr Lebensende nicht herbei und empfinden den Tod als nicht bedrohlich

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Die heutigen Hundertjährigen leben häufiger in Privathaushaltenund seltener im Heim

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Privat Heim

2001

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Bewegung, Ernährung, Gelassenheit:

Drei wichtige Säulen für ein gesundes Alter

Der Allgemeinmediziner und Spezialist für Altersmedizin Dr. Martin Runge war bis 2014 Chefarzt der Aerpah-Klinik in Esslingen. Die Klinik hatte sich der Rehabilitation älterer Patienten verschrieben. Allerdings wurden dieTagessätze über die Jahre nicht den ständig steigenden Kosten angepasst; deshalb entschied sich der Klinikträ-ger, seine Rehabilitationsklinik zu schließen. Wir sprachen mit Dr. Runge darüber, wie man bis ins hohe Alter fitund gesund bleibt.

Werner Waldmann: Ab wann gehört ein Menscheigentlich zum „alten Eisen“?Dr. Martin Runge: Das hängt vom eigenen Alter ab.Sie werden feststellen, dass jüngere Ältere (um die60 Jahre) die 70- bis 80-Jährigen alt nennen. 70-bis 80-Jährige bezeichnen dann die 90-Jährigenals alt. Meine Mutter hat einmal gesagt: Alt ist mandann, wenn man nicht mehr alles kann, was manwill.

Werner Waldmann: Im Alter nehmen chronischeErkrankungen zu. Was sind die häufigsten gesundheitlichen Probleme, mit denen man imvorgerückten Alter zu rechnen hat?Dr. Martin Runge: Dazu gehören sicherlich die gro-ßen Volkskrankheiten wie Diabetes und Herz-Kreis-lauf-Leiden. Und natürlich die Demenz: Ein Drittel

von uns (wenn wir nur alt genug werden) wird eineDemenz erleben. Auch Depressionen werden imAlter immer häufiger. Hinzu kommen die Krank-heitsfolgen – z. B. die Bewegungseinschränkun-gen, die sich aus vielen chronischen Krankheitenergeben. Hier sind es in erster Linie Stürze undKnochenbrüche, die für viele Menschen das Alters-schicksal bedeuten.

Werner Waldmann: Wie kann man vorbeugen,um auch in fortgeschrittenem Alter möglichst gesund zu bleiben?Dr. Martin Runge: Wichtig ist vor allem körperlicheAktivität. Das ist ein mächtiges Heilmittel, weil un-sere Muskeln dabei Hormone produzieren, die vie-le andere Organsysteme bis hin zum Nervensys-tem und Gehirn beeinflussen.

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Werner Waldmann: Warum baut sich im Alter dieMuskulatur ab?Dr. Martin Runge: Das liegt vor allem daran, dasswir uns im Alter weniger bewegen – mit der Folge,dass die Muskulatur nicht mehr bis an ihre Grenzengefordert wird. Muskeln wachsen eben nur, wennzumindest 70 % der Maximalkraft aktiviert werden.Diese Anstrengung scheuen ältere Menschen.

Werner Waldmann: Kann man nicht auch durchvernünftige Ernährung etwas für ein gesünderesÄlterwerden tun?Dr. Martin Runge: Die Ernährung spielt ohne Zwei-fel eine große Rolle. Darüber haben wir aber leiderweniger zuverlässige Daten als über den Segen derBewegung. Wissenschaftlich erwiesen ist, dass dieMittelmeerdiät sich positiv auswirkt. Wir wissen,dass wertvolle Öle – vor allem Olivenöl – zur kör-perlichen Fitness beitragen. Und wir wissen auch,dass schon zwei Fischmahlzeiten pro Woche dieHäufigkeit von Schlaganfall und Herzinfarkt verrin-gern. Nicht vergessen dürfen wir als drittes wichti-ges Heilmittel die Seelenruhe, die Gelassenheit,die Stressfreiheit. Wenn wir diese drei Aspekte imAuge behalten, können wir unseren Alterungspro-zess deutlich besser gestalten.

Werner Waldmann: Ab wann sollte man beginnen, für ein gesundes Alter zu trainieren? Dr. Martin Runge: Osteoporose ist eigentlich eine„Kinderkrankheit“. Das bedeutet, dass man mit re-gelmäßiger Bewegung und gesunder Ernährungnicht früh genug beginnen kann. Der Muskel istdas größte menschliche Organ. Ein Mann bestehtzu 40 %, eine Frau zu 30 % aus Muskeln. Ab dem50. Lebensjahr beginnt die Muskulatur sich zurück-zubilden. Und dieser Prozess muss verlangsamtwerden. Das bedeutet, dass man spätestens abder Lebensmitte ein gezieltes Programm in seinenAlltag einbauen sollte, um Muskeln und Gelenke inBewegung zu halten.

Werner Waldmann: Und wenn man nun ein Leben lang – sagen wir, bis zum 70. Lebensjahr –nie Sport getrieben und sich nur normal bewegthat: Hat man dann überhaupt noch die Chance,mit einem regelmäßigen Mobilitätsprogramm,mit Kraft- und Ausdauertraining, etwas gegen einen raschen Muskelabbau zu tun?

Dr. Martin Runge: Aber ja! Innerhalb von acht biszehn Wochen kann man das ändern, denn offen-kundig erhält uns nicht der Maximalsport gesund,sondern die alltäglichen Bewegungen. Auch einAusmaß an Bewegung, das ein Sportler niemalsals ausreichend akzeptieren würde, wirkt bereitspositiv auf unsere Gesundheit, unser Wohlbefin-den. Wir wissen heute, dass gerade stundenlangesSitzen besonders schädlich ist. Und da kann manschon mit kleinen Bewegungsübungen, die manüber den ganzen Tag einstreut, erhebliche positiveWirkungen erzielen.

Werner Waldmann: Welche Sportarten empfehlen Sie älteren Menschen als besonderswirksam?Dr. Martin Runge: Bewegung als Heilmittel mussnicht unbedingt Sport sein. Sport geht von seinemCharakter her an die Grenzen und birgt auch ein relativ hohes Verletzungsrisiko. Bei älteren Men-schen, die ohnehin verletzungsanfälliger sind,kommt es mehr auf gleichmäßige Bewegung an.Wenn ich Bewegung als Mittel zum Zweck einset-ze, um meine Alltagsfunktionen zu erhalten, dannmuss ich nicht gleich richtig Sport treiben. Besserwäre eine sanftere, vielfältige Form von körper-licher Aktivität – eben die bereits erwähnten Bewe-gungsübungen.

Werner Waldmann: Und wie steht’s mit demSchwimmen?Dr. Martin Runge: Wenn Sie lange genug schwim-men und dies auch regelmäßig tun, profitieren Herzund Kreislauf mit Sicherheit. Was Sie aber nicht ha-ben, ist die Sturzprophylaxe, die Balance. Das wirddurch Schwimmen nicht besser, weil man dabeinicht die Bewegungen ausführt, die den Knochenbesonders festigen. Der Knochen braucht Kraft-

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Dr. Martin Runge istFacharzt für Allgemeinmedizin – Klinische Geriatrie,Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizinund ehemaliger Ärztlicher Direktor der Aerpah-KlinikEsslingen-Kennenburg.Privatpraxis Dr. RungeKennenburger Str. 6373732 EsslingenTel.: 0711 3905306Fax: 0711 3905303E-Mail: [email protected]

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spitzen, um einen Wachstumsimpuls zu bekom-men. Für die Osteoporose- und Sturzprophylaxereicht Schwimmen allein nicht aus.

Werner Waldmann: Wenn man nun im fortge-schrittenen Alter wieder mit Bewegung anfängt –geht das denn nicht auch mit einem erhöhten Risiko für Herz und Kreislauf einher?Dr. Martin Runge: Für das Herz erhöht sich das Ri-siko sicherlich nicht, denn wir brauchen dabei janicht in Überforderungsbereiche zu gehen. AuchKrafttraining stellt nachweislich keine Gefahr fürdas Herz dar. Ein normal gesunder Mensch, dersich im Alter flüssig bewegen und auch noch eineTreppe hochgehen kann, braucht keine negativenFolgen für das Herz zu befürchten. Im Gegenteil:Wir wissen heute, dass sogar Herzmuskelschwä-che sich gut mit Training behandeln lässt.

Werner Waldmann: Sollte jemand, der sich infortgeschrittenem Alter gemäßigt sportlich betä-tigen möchte, vorher aber noch nie Sport getrie-ben hat oder zumindest schon seit vielen Jahren„aus der Übung“ ist, sich vorher kardiologischdurchchecken lassen?Dr. Martin Runge: Man sollte das sicherlich mitdem Hausarzt besprechen, und wenn der Proble-me dabei sieht, dann ist unter Umständen aucheine kardiologische Untersuchung (z. B. ein Belas-tungs-EKG) sinnvoll. Aber bei den meisten Men-schen ist das nicht dringend erforderlich.

Werner Waldmann: Zur Früherkennung mög-licher Erkrankungen bietet die Medizin ja heuteviele Vorsorgeuntersuchungen an. Ist so etwasüberhaupt sinnvoll?Dr. Martin Runge: Ja, absolut – es wäre töricht,diese Angebote nicht wahrzunehmen. Ein ältererMensch, der seine Blutdruck-, Blutzucker- undBlutfettwerte nicht kennt, dem ist einfach nicht zuhelfen. Außerdem sollte man regelmäßig beim Au-genarzt den Augeninnendruck überprüfen lassen.Für Frauen jeden Alters sind regelmäßige Untersu-chungen auf Brustkrebs und andere gynäkologi-sche Leiden wichtig; und natürlich sollte ein Mannüber 40 seine Prostata untersuchen lassen.

Werner Waldmann: Wenn man älter ist, leidetman ja oft bereits unter verschiedenen chroni-

schen Erkrankungen. Dagegen werden einemvon den verschiedenen Fachärzten Medikamen-te verschrieben, und da sind wir ganz schnell beizehn oder zwölf Pillen, die man am Tag schlu-cken soll. Manchmal vertragen sich diese Mittelauch gar nicht miteinander, weil der eine Arztnicht genau weiß, was der andere Kollege ver-schrieben hat. Wie bekommt man dieses Pro-blem in den Griff?Dr. Martin Runge: Neueren Untersuchungen zu-folge sind mindestens 17 % aller Akuteinweisungenins Krankenhaus durch unerwünschte Wechselwir-kungen von Medikamenten mitbedingt. Ab vieroder fünf Medikamenten ist die Anzahl dieser Inter-aktionen so unübersichtlich, dass es keine Sicher-heit mehr gibt. Dann sollte man wirklich einen Arztfinden, der sich die Zeit nimmt, diese möglichenWechselwirkungen zu überprüfen. Das kann derHausarzt oder auch ein Altersmediziner sein.

Werner Waldmann: Die meisten Menschen haben die allergrößte Angst davor, im Alter anAlzheimer oder irgendeiner anderen Demenzformzu erkranken. Welches sind die Risikofaktorenfür eine Demenz im Alter, und wie kann man einem solchen Schicksal vorbeugen?Dr. Martin Runge: Präzise Risikofaktoren kennenwir noch nicht; daher ist eine gezielte Vorbeugungschwierig. Wir wissen aber, dass körperliche Akti-vität nachweislich auch hier hilft. Dadurch lässt sichdie Entstehung einer Demenz zwar nicht immer zu 100 % verhindern, aber zumindest abmildern.Außerdem wirkt Bewegung auch dem anderen gro-ßen geistigen Erkrankungsrisiko im Alter – einerDepression – entgegen.

Werner Waldmann: Viele ältere Menschen leidenan Depressionen. Woher kommt das?Dr. Martin Runge: Je älter man wird, umso schwie-riger ist es natürlich, die krankhafte Depression vonder Trauer über ein nahendes Lebensende zu unter-scheiden. Wenn wir älter werden, haben wir eineganze Reihe von unvermeidbaren Verlusten erlebt:Verluste an sozialem Einfluss, Verluste an Freun-den, Verlust an Muskeln. Die Haut wird faltiger, vie-len Menschen gehen Haare und Zähne aus. DasAltwerden ist immer mit einer Reihe schmerzhafterVerluste behaftet. Diese Verluste würde- und stilvollzu verarbeiten, das ist eine große Aufgabe, die

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nicht immer gelingt. Also bleibt eine ganz natürli-che Trauer, wenn wir älter werden.

Werner Waldmann: Woran kann man feststellen,ob man möglicherweise an einer Depression leidet oder einfach nur traurig ist?Dr. Martin Runge: Das ist sicherlich eine Frage desAntriebs. Wenn ich mich noch freuen und Aufgabenübernehmen kann, dann darf ich sicherlich auchmal traurige Momente haben. Entscheidend ist na-türlich, wie lange diese Verstimmung anhält und obich in dieser traurigen Stimmung noch in der Lagebin, soziale Kontakte aufzunehmen. Ob ich Gegen-maßnahmen ergreifen kann. Jeder von uns ist im-mer wieder der Gefahr ausgesetzt, an den Rätselnund Verlusten des eigenen Lebens zu verzweifeln.Dann kommt es darauf an, welche Ressourcen mirzur Verfügung stehen, um Depressionen anzuge-hen, welche Menschen an meiner Seite stehen, mitdenen ich mich aussprechen kann, welche spiri-tuellen Möglichkeiten es gibt. Und wenn ich merke,dass ich aus eigener Kraft nicht aus diesem seeli-schen Tief rauskomme, dann gibt es ein Netz vonFachleuten, die mir dabei helfen können. Dannmuss ich professionelle Hilfe suchen und mich imGespräch mit diesen professionellen Helfern – Psy-chiatern, Psychotherapeuten, Hausärzten – mitmeiner Stimmung auseinandersetzen. Außerdemgibt es sehr wirksame Medikamente gegen De-pressionen.

Werner Waldmann: Und was kann man sonstnoch tun, um im Alter fit und gesund zu bleiben?Dr. Martin Runge: Ein sehr wichtiger Faktor sinddie sozialen Kontakte. Hierfür gibt es ein gutes Bei-spiel aus dem Amerika der Sechzigerjahre. DiesesPhänomen wurde nach dem Ort, in dem man esentdeckt hat, Roseto-Effekt benannt. Roseto wareine kleine Stadt in den USA, hauptsächlich vonitalienischen Einwanderern bewohnt. Die habendasselbe gegessen wie ihre amerikanischen Nach-barn, in denselben Fabriken und Minen gearbeitet,dieselbe Luft geatmet und im Grunde genommenauch den gleichen Lebensstil gepflegt. Trotzdemfiel irgendwann durch Zufall auf, dass die Anzahlder Herzinfarkte dort dramatisch geringer war alsin den umliegenden Städten. Eine ganze Horde vonWissenschaftlern hat daraufhin untersucht, worandas liegen könnte, und sie haben nichts anderes

gefunden als ein gelungenes soziales Miteinander:Die Menschen gingen freundlich-respektvoll mit-einander um, besuchten sich gegenseitig, halfeneinander. Das Ergebnis vieler Untersuchungen war,dass dieses gelungene soziale Miteinander dasHerz-Kreislauf-Risiko gesenkt hatte.

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Ihr Hausarzt meintViele von uns träumen insgeheim davon, dass irgendwann einmal dasAlter abgeschafft ist. Wir wollen leben. Steinalt werden. Und das bei bester Gesundheit. Die Medizin vermag ja immer mehr. Wir lesen undhören es täglich in den Medien – z. B. neue Krebsmedikamente, auchwenn eine Jahrestherapie mal eine Million Euro kostet (ist schon Rea-lität!), machen aus einer Krebserkrankung eine heilbare Erkrankung.

Immerhin haben uns die Altersforscher mit ihren Experimenten anModellorganismen wie Fadenwürmern, Fruchtfliegen und Labormäusengezeigt, wie man Strategien entwickelt, den Alterungsprozess hinaus-zuschieben. Irgendwie wird es schon gelingen, DNA-Schäden und dasVerklumpen der Proteine im Gehirn zu umgehen. Weshalb sollen diePharma-Spezialisten nicht den Chromosomen neue Telomere aufset-zen, die das Erbgut stabiler machen?

Auf der Welt lebt eine Handvoll Greise, die gut über hundert Jahre aufdem Buckel haben. Zeitlebens allerdings haben sie von Kindesbeinenan ganz selbstverständlich größte Zurückhaltung bei ihrer Nahrungs-aufnahme walten lassen. Per pedes oder auf dem klapprigen Fahrradhaben sie sich fortbewegt und das Multitasking unserer modernen Zeithartnäckig ignoriert. Doch auf diese zivilisatorischen Vorteile wollen wirnicht verzichten: Wir rauchen gerne (immer noch), verschlingen Mengenan Fastfood, genießen den Alkohol und lassen uns von Smartphone undBusinessterminen jagen. Wenn’s der Karriere und dem Spaß dient, ver-weigern wir dem Schlaf seinen Tribut und managen unseren Tag- undNachtrhythmus mit Wachmachern und Tranquilizern.

Als Hausarzt kenne ich meine Pappenheimer. Solange der Körpernoch beschwerdelos mitzieht, macht man sich wenig Gedanken um sei-ne Gesundheit. Wenn das Alter droht, muss der Arzt herhalten. Und lan-ge wollen wir ohnehin leben. Ob das nur gut geht?

Ihr Wolfgang Bosch

Dr. med. Wolfgang Bosch Facharzt für Allgemeinmedizin und NaturheilverfahrenKronenstraße 30; 73760 Ostfildernwww.praxis-bosch-hauser.de

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Auch in hohem Alter ist noch fast allesmachbar

ModerneHerzchirurgie

Die meisten Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln sich erst in höherem Alter. Manchmalmuss dann auch operiert werden. Doch das geht heute zum Glück schon sehr schonend: Invielen Fällen kommt man ohne Herz-Lungen-Maschine und ohne große Schnitte aus. Wirsprachen mit Professor Dr. Ulrich Franke, dem Chefarzt der Abteilung für Herz- und Gefäß-chirurgie am Robert-Bosch-Krankenhaus.

Wie alt sind Ihre Patienten im Durchschnitt?Prof. Ulrich Franke: In Deutschland sind mittler-weile knapp 60 % aller Patienten, die sich einemherzchirurgischen Eingriff unterziehen müssen, äl-ter als 70 Jahre; rund 15 % sind über 80 Jahre alt.Das Durchschnittsalter liegt bei 73 bis 74 Jahren.

Und welches sind die häufigsten Herzerkrankun-gen bei älteren Menschen?Prof. Ulrich Franke: Zu den häufigsten Problemengehört die koronare Herzkrankheit, also Verkalkun-gen der Herzkranzgefäße. Viele Patienten entwi-ckeln aufgrund einer koronaren Herzkrankheit odernach einem Herzinfarkt auch eine Herzinsuffizienz,also eine Pumpschwäche des Herzmuskels.

Wie viele herzchirurgische Eingriffe führen Siejährlich durch? Prof. Ulrich Franke: Wir machen rund 2000 größe-re Herzoperationen pro Jahr. Heute wird die ge-samte Koronarchirurgie ohne Herz-Lungen-Ma-schine durchgeführt; das ist schonender für die Patienten. Außerdem versuchen wir, uns bei denEingriffen auf möglichst kleine Zugänge zu be-schränken. Bei kleinen Schnitten heilen die Wun-den schneller; die Traumatisierung und Entzün-dungsreaktion des Körpers ist geringer, und diePatienten sind schneller wieder mobil. Nach einer

Bypass-Operation hat ein Patient normalerweisedie nächsten 10 bis 20 Jahre Ruhe – vor allem, seitwir für Bypässe nur noch arterielle Gefäße verwen-den: Die halten länger, und die Komplikationsrateist niedriger. Solche Patienten sind gut und lang-fristig versorgt.

Sie versuchen bei Herzoperationen auch dieSternotomie, also das Durchschneiden desBrustbeins, zu vermeiden?Prof. Ulrich Franke: Soweit es geht, ja. Wenn manfünf Bypässe am Herzen legen oder zusätzlich zurBypass- auch noch eine Klappenoperation durch-führen muss, kommt man um eine Sternotomienormalerweise nicht herum. Aber wir überlegenuns dann genau: Müssen es wirklich so viele By-pässe sein, oder kann man dem Patienten nichtauch eine Kombination aus Bypässen und Stentsanbieten? Denn neben den großen Gefäßen gibt es ja auch kleinere Arterien, bei denen der Stentebenfalls eine gute Option ist. Wir haben einen sehrguten Draht zu unseren Zuweisern, mit denen wirjeden einzelnen Patienten besprechen, um die indi-viduell beste Lösung für ihn zu finden. In der Regelmuss bei der Bypasschirurgie nach wie vor dasBrustbein durchtrennt werden. Doch in etwa 15 %der Fälle können wir die Bypässe auch über kleineZugänge von der linken Seite her legen. Zurzeit

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sind über diesen Weg bis zu drei Bypässe möglich– allerdings nur dann, wenn die Gefäße groß genugsind, weil das Legen eines Bypasses von der Seiteschon deutlich schwieriger ist.

Wie gehen Sie bei defekten Herzklappen vor?Prof. Ulrich Franke: Das sind nach Bypass-OPsdie zweithäufigsten herzchirurgischen Eingriffe. Beivielen älteren Menschen muss die Aortenklappe er-setzt werden, weil sie verengt oder undicht gewor-den ist. Falls eine offene OP für diese Patienten zuriskant ist, kann man die Herzklappenprothese perKatheter über ein Gefäß in der Leiste oder durch die Herzspitze einsetzen. Dieser Eingriff kann amschlagenden Herzen durchgeführt und bei Bedarfmit einer Bypass-OP kombiniert werden.

Herzinsuffizienz-Patienten werden normaler-weise medikamentös behandelt. Bei einer aus-geprägten Herzinsuffizienz reichen Medikamenteaber häufig nicht aus. Denn dann ist das Herz sogeschwächt, dass es den Körper nicht mehrrichtig mit Sauerstoff versorgen kann. Wasser-einlagerungen in den Beinen, Luftnot, Kurzatmig-keit und eine stark eingeschränkte körperlicheLeistungsfähigkeit sind die Folgen. Kann mansolchen Menschen durch eine Operation helfen?Prof. Ulrich Franke: Ja. Diese schwer herzinsuffi-zienten Patienten brauchen ein Herzunterstüt-zungssystem oder eine Herztransplantation –manchmal sogar beides: Zuerst implantiert manein Kunstherz und später ein Spenderorgan, soferneines zur Verfügung steht.

Gibt es auch Fälle, in denen Sie von einem herz-chirurgischen Eingriff abraten?Prof. Ulrich Franke: Natürlich. Wenn man einenüber 90-Jährigen operiert, muss man mit ihm alleRisiken besprechen; denn bei solchen Patienten istdas Operationsrisiko übernormal hoch. Es gibt Pa-tienten, deren Allgemeinzustand so schlecht ist,dass man von vornherein weiß: Ihre Chance, dieOP zu überleben, liegt unter 50 %. In solchen Fäl-len muss man mit dem Patienten sehr genau be-sprechen, was zu tun ist. Es kann sein, dass er garkeine andere Chance hat, als sich operieren zu las-sen; denn wenn man nichts unternimmt, ist er invier Wochen tot. Es gibt aber auch Patienten, beidenen weiß man: Egal, ob man operiert oder nicht

– sie sterben so oder so innerhalb der nächstenvier Wochen. Das hängt allerdings nicht nur vomAlter ab. Auch manche 75-Jährige haben aufgrundbestimmter Nebenerkrankungen bereits ein sehrhohes Operationsrisiko. Deshalb müssen wir unsdie Ausgangssituation des Patienten sehr genauanschauen: Wie steht es mit seiner Konstitution?Ist er noch mobil in seinem eigenen Haushalt? Undhat er auch noch einen Lebenswillen? Dann kannman ihn in aller Regel auch gut operieren. Bei Patienten, die dem Leben schon sehr indifferentgegenüberstehen und eigentlich auch keinen Le-benswillen mehr haben, wird es dagegen sehrschwierig, sie durch die OP zu bringen.

Welche Begleiterkrankungen erhöhen das Risikobei einer Herzoperation?Prof. Ulrich Franke: Bei Diabetes, Nierenversagenund Leberzirrhose ist von einem deutlich höherenOperationsrisiko auszugehen. Das Gleiche gilt fürPatienten mit einer chronisch-obstruktiven Lun-generkrankung (COPD): Bei ihnen kommt es oft zuProblemen bei der Wundheilung des Brustbeinsund bei der Entwöhnung von der Beatmungsma-schine.

Und wie gehen Sie bei dementen Patienten vor?Prof. Ulrich Franke: In solchen Fällen versuche ichin einem Gespräch (auch mit den Angehörigen)herauszufinden, worin der Leidensdruck besteht.Ich denke, dass wir ehrlich darüber nachdenkenmüssen, ob immer alles medizinisch Machbareauch sinnvoll ist. Sterben gehört zum Leben dazu,und ein älterer Mensch mit eingeschränkter Le-bensqualität hat ein Recht darauf zu sterben. Dasist für Angehörige nicht immer selbstverständlich.Es gibt durchaus Familien, in denen sich alles nurnoch um den dementen Vater dreht. Das sind dann

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Prof. Dr. Ulrich Franke istChefarzt der Abteilung Herz- und Gefäßchirurgie amRobert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart.Auerbachstraße 11070376 StuttgartTel.: 0711 8101-3650Fax: 0711 8101-3798E-Mail: [email protected]

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sehr schwierige Diskussionen. Denn mit der Be-handlung des Herzfehlers nehmen wir dem Patien-ten auch die Chance, daran zu sterben. Was dasfür Probleme nach sich zieht, muss die Familie ge-meinsam mit dem Patienten entscheiden. Wir alsÄrzte haben sicherlich kein Recht, zu sagen: Wirverwehren Ihnen diese Operation, denn Sie sind jadement, haben also ohnehin nichts mehr davon.Aber wir haben die Verpflichtung, das mit den be-treuenden Personen zu besprechen.

Es gibt auch Patienten, die nach der Operationeine Demenz entwickeln. Prof. Ulrich Franke: Richtig. Das ist das sogenann-te Durchgangssyndrom, das immer häufiger vor-kommt, weil unsere Patienten immer älter werden.Etwa 15 % der Patienten über 80 entwickeln nacheiner Herzoperation ein Durchgangssyndrom, d. h.,sie sind zeitlich und örtlich nicht oder nur teilweiseorientiert. Dagegen hilft keine Therapie, sondernman kann einfach nur abwarten – und diesesDurchgangssyndrom kann zwischen zwei Stundenund zwei Wochen dauern. Dass jemand anschlie-ßend dauerhaft dement bleibt, ist zum Glück sehrunwahrscheinlich.

Rührt dieses Durchgangssyndrom von der OPselbst oder von der Anästhesie her?Prof. Ulrich Franke: Es gibt durchaus ältere Patien-ten, die in eine Klinik eingewiesen werden müssen,ohne dort operiert zu werden, und trotzdem alleindurch die Veränderung ihrer Lebensumstände unddes Tag-Nacht-Rhythmus ein Durchgangssyndromentwickeln. Aber natürlich begünstigen auch dieNarkosemedikamente und die Größe des Eingriffsdie Entstehung eines Durchgangssyndroms; undHerzoperationen sind immer große Eingriffe.

Kann man das denn nicht irgendwie verhindern?Prof. Ulrich Franke: Nein. Man kann die Angehöri-gen vorher über dieses Risiko aufklären und ihnensagen: Der Patient kann nichts dafür, der lebt jetztin einer Traumwelt, doch das geht in aller Regelwieder vorbei. Wenn das Risiko für ein Durch-gangssyndrom aufgrund seiner allgemeinen Kon-stitution sehr hoch ist, kann das durchaus auch einGrund sein, sich für einen kleineren Eingriff zu ent-scheiden, also z. B. für nur einen Bypass über ei-nen kleinen Schnitt: Diese Operation dauert nur

anderthalb Stunden, man braucht dazu keineHerz-Lungen-Maschine und muss auch das Brust-bein nicht durchtrennen. Es handelt sich also umeine kleinere OP mit kürzerer Narkose. Dadurchsenken wir das Risiko des Patienten und setzenihm dafür lieber noch einen Stent.

Herzchirurgische Eingriffe sind sehr teuer; undunser Gesundheitssystem ist notorisch knapp beiKasse. Zahlen die Krankenversicherungen alleEingriffe? Oder gibt es da Überlegungen, ob einbestimmter Eingriff sich bei einem sehr alten Pa-tienten, der bald versterben könnte, noch lohnt?Prof. Ulrich Franke: Es gibt keine Einflussnahmeder Krankenkassen auf Operationen in Abhängig-keit vom Alter des Patienten. Ich habe noch nie er-lebt, dass eine Kasse gesagt hätte: „Der war dochviel zu alt.“ Wir sind in unserer Therapieentschei-dung als Ärzte absolut frei. Aber natürlich müssenwir schon darauf schauen, was im Rahmen unse-res Gesundheitssystems sinnvoll ist. In Deutsch-land gibt es heiße Diskussionen über zu viel er-brachte Leistungen. Tatsächlich sprengen unsereGesundheitskosten in bestimmten Bereichen imVergleich zu unseren europäischen Nachbarlän-dern jeden Rahmen. Das liegt daran, dass wir inunserem Gesundheitswesen ein Anreizsystem ha-ben, das Ärzte und Krankenhäuser primär fürs Ma-chen und nicht fürs Vermeiden belohnt. Wenn Sieals Arzt einem Patienten mit Arthrose im Kniege-lenk sagen: „Das kriegen wir noch mit Kranken-gymnastik hin“, sehen Sie den Patienten vier- oderfünfmal und bekommen dafür sehr wenig Geld.Wenn Sie ihn dagegen einmal operieren, ist dasHonorar sehr hoch, und der Patient ist hinterherwieder weg. Wir haben in der Politik eine Diskus-sion, in der es nur darum geht, eine Zweiklassen-medizin zu verhindern – und das bei gedeckeltenAusgaben. Die Beitragsstabilität steht über allem,aber wir suggerieren den Patienten, dass trotz Bei-tragsstabilität jeder alles bekommen kann. DieseDiskussion wird politisch nicht ehrlich geführt; diePolitik korrigiert die falschen Anreizsysteme nicht,sondern verlagert die Diskussion stattdessen aufden einzelnen Arzt. Und das Ringen der Klinikenums wirtschaftliche Überleben führt dann ebendazu, dass auch Leistungen erbracht werden, dienicht immer hundertprozentig sinnvoll und viel-leicht auch nicht immer ethisch sind.

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Alter braucht Training!von Jürgen Saur

In unserer heutigen Gesellschaft ist die Lebens-erwartung so hoch wie niemals zuvor. Und sie

nimmt ständig zu. Aller Voraussicht nach hat einheute geborenes Kind die Chance, hundert Jahrealt zu werden. Was dieses „Wunder“ ermöglicht,ist der Segen unserer Zivilisation: moderne Er-nährung und Hygiene. Und die Medizin macht esmöglich, dass Krankheiten, an denen man früherim mittleren Lebensalter verstarb, heute be-herrscht werden. Mit Diabetes und Herz-Kreis-lauf-Leiden lebt es sich heute auch als Hochbe-tagter mit ordentlicher Lebensqualität. Leideraber nicht immer.

Viele werden im Alter zum Pflegefall. Sie stür-zen, brechen sich die Knochen und landen imPflegeheim. Doch die meisten älteren Menschenwollen weiter in ihrer gewohnten Umgebung le-ben. Die eigenen vier Wände kennt man. Da fühltman sich wohl. Dieses Wohlfühlen birgt aber auchGefahren: Man sitzt herum, drückt sich ums Ge-hen, bleibt immer länger im Bett. So werden dieMuskeln schlaff, Gleichgewichtsgefühl und Reak-tionsfähigkeit lassen nach. Die Beweglichkeitnimmt rapide ab. Bewegung schmerzt und manbeginnt sich zu schonen. Ein Teufelskreis.

Um auch mit zunehmendem Lebensalter kör-perlich und geistig präsent zu bleiben, muss manselbst etwas dafür tun. Bewegung bedeutet Le-ben. Erfülltes Leben. Wer seine Mobilität ein-schränkt, verliert die Dynamik, die man auch imhohen Alter braucht.

Fitnessstudios stehen oft im Ruf, nur für junge,agile Menschen da zu sein, die schlank undschön sein wollen. Training für die Muskeln, fürden Marathonlauf, für Extremsportarten. Das ist

ein falschesBild. Sicherfreuen wir uns,wenn schon jungeLeute den Zauber derBewegung entdecken und ihrem Körper einengesunden Ausgleich zum Arbeitsalltag verschaf-fen wollen. Wir trainieren aber auch ältere undalte Menschen, die einen Herzinfarkt hinter sichhaben und langsam wieder ihren Körper fordernmüssen. Oder Patienten nach einer Hüftgelenks-operation. Doch Training braucht auch der gesun-de Senior, wenn er mit den Jahren seine Körper-kraft nicht einbüßen will. Fit im Alter – das ist einWunsch, den man sich nur selbst erfüllen kann.Ein wenig spazieren zu gehen, das reicht nicht.Man braucht Motivation. Die bieten gute Fitness-studios. Und man braucht Vitalität. Die bekommtman durch eine kluge Kombination aus Kraft-und Ausdauertraining. Wer sich darauf einlässt,gerade im höheren Lebensalter, fühlt rasch, wiegut das dem Körper bekommt, wie dies so manche Befindlichkeitsstörung verhindert undschlicht ganz neuen Spaß am Leben schenkt. Wer sich in Bewegung hält, lebt einfach besser.

Übrigens: Das Vitalcenter in Ostfildern-Ruit istjetzt 10 Jahre alt. Ein paar beeindruckendeZahlen:• 895 000 Mal haben sich Mitglieder seit derEröffnung für eine Trainingseinheit in unseremFitnessbereich eingecheckt. • Auf Laufbändern im Vitalcenter wurden indieser Zeit ca. 568 000 km zurückgelegt, wasin etwa 14 Erdumrundungen entspricht. • 5 500 Teilnehmer haben sich in Präventions-kursen geübt.Kenngrößen, die zeigen, dass Gesundheit unddie körperliche Fitness ein überaus wichtigesund selbstverständliches Gut geworden sind.

Jürgen SaurOperativer Leiter – Prokurist

Vitalcenter am Paracelsus-Krankenhaus RuitHedelfinger Straße 166/173760 OstfildernTel: 0711 [email protected]

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Reha für ältere Patienten

Lebensqualität hat ihren PreisDie Zahl alter und hochbetagter Menschen in unserer Gesellschaft nimmt stetig zu. Mittlerweile gibt es eine ei-gene medizinische Disziplin für die Versorgung solcher Patienten: die Geriatrie (Altersmedizin). Ältere Menschenbedarfsgerecht zu behandeln, ist möglich, doch zeitaufwendig – aber wichtig, denn es gibt ihnen ein Stück Le-bensqualität zurück, ermöglicht ihnen ein Leben in weitgehender Selbstständigkeit und spart damit unmittelbarauch Kosten für Pflegepersonal und Pflegeheime. Leider scheint diese Erkenntnis in unserem Gesundheitssys-tem noch nicht angekommen zu sein: Gerade an der medizinischen Behandlung und Rehabilitation älterer Pa-tienten wird gespart zu Lasten des Behandlungserfolgs. Wir unterhielten uns mit Dr. Christian Marburger, Chef-arzt der Klinik für Geriatrische Rehabilitation und Physikalische Medizin, und Prof. Dr. Walter Hewer, Chefarzt derKlinik für Gerontopsychiatrie, vom Klinikum Christophsbad in Göppingen.

Der Alterungsprozess geht fast immer mit kör-perlichen oder psychischen chronischen Leideneinher. Wie ist unsere Gesellschaft darauf einge-richtet, solche Menschen adäquat zu versorgen?Geriatrie ist ja ein sehr aufwendiges Fach. Bildetsich diese Bedeutung auch in der Bereitstellungfinanzieller Mittel ab? Was ist die Altersmedizinder Politik und den Krankenkassen wert?Dr. Christian Marburger: Ich habe den Eindruck,dass geriatrische Einrichtungen eher stiefmütter-lich behandelt werden. Das Geld fließt zu sehr inBereiche der medizinischen Versorgung, in denenmit sehr viel Aufwand relativ wenig bewirkt werdenkann. Natürlich auch ein heikles Ethikthema. ImBereich der altersmedizinischen Versorgung kom-men dagegen weniger Mittel an, obwohl man dortmit relativ wenig Geld viel bewirken könnte. Aller-dings geht es nicht um die Wiederherstellung derArbeitsfähigkeit, sondern um den Erhalt derSelbstständigkeit. Das sehen wir nicht nur an derAnzahl der Einrichtungen, sondern auch an denMöglichkeiten, geriatrische Leistungen im ambu-lanten Bereich abzurechnen: Da müssen wir prak-tisch um jeden Cent kämpfen. Auch im psychiatri-schen Bereich und in der Reha sparen die Kran-kenkassen an der Altersmedizin. Es gab eine Zeit,in der die Kostengenehmigungen recht unproble-matisch gegeben wurden. Ende letzten Jahres hatsich dies drastisch verändert. Es gibt bundesweitorganisierte Kassen, die restriktiv Anträge ableh-nen und die Rehavolumina kürzen: Werden dreiWochen Reha beantragt, so werden nur zwei Wo-chen genehmigt.

Ist es für Politik und Kostenträger denn soschwer zu begreifen, dass eine perfekt realisiertegeriatrische Rehabilitation es den betroffenenMenschen ermöglicht, wieder selbstständig inihrem vertrauten Umfeld zu leben und so dasPflegeheim zu vermeiden? Schließlich spart unser Gesundheitssystem dadurch eine MengeGeld!Dr. Christian Marburger: Absolut. Doch das Pro-blem ist, dass die Pflegekasse davon profitiert,wenn Pflegebedürftigkeit vermindert wird, dieKrankenkasse aber die Leistung bezahlen mussund nichts davon hat. Es sind eben zwei verschie-dene Töpfe.

Es gibt immer mehr ältere und sehr alte Menschen. Reicht denn das Angebot an Plätzenhier in der Region und in Baden-Württembergüberhaupt aus?Dr. Christian Marburger: Wir haben im Christophs-bad letztes Jahr kräftig aufgestockt. Das war natür-lich der Situation geschuldet, dass auch aufgrundder Unterfinanzierung in Nachbarkreisen geriatri-sche Einrichtungen (z. B. in Esslingen die Aerpah-Klinik) schließen mussten. Daraufhin gab es ein ge-wisses Umdenken, sodass mehr Plätze entstandensind und immer noch entstehen, weil vor allen Din-gen die AOK hier lokal initiativ tätig ist. Das Sozial-ministerium in Baden-Württemberg hat zudem be-griffen, dass wir mit unseren Rehabilitationsleistun-gen Pflegeheimplätze einsparen können. Ich meineaber, dass die geriatrische Versorgung in Baden-Württemberg trotzdem noch lange nicht ausreicht,

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bundesweit schon gar nicht. Und es gibt immermehr alte Menschen, die Rehabilitation brauchenwerden.

Altersmedizin braucht eine interdisziplinäre Aus-richtung. Was für Disziplinen müssen Sie hier imHaus vorhalten?Dr. Christian Marburger: Die innere Medizin ist un-verzichtbar. Unsere Patienten leiden vielfach an di-versen inneren Krankheiten. Außerdem brauchenwir Neurologen und Psychiater und natürlich aucheine chirurgisch-orthopädische Versorgung, dasehr viele Patienten in diesen Bereichen Problemehaben. Prof. Dr. Walter Hewer: Andere wichtige Diszipli-nen sind die Urologie und natürlich auch die au-gen- und HNO-ärztliche Behandlung. Das ist gera-de bei psychischen Störungen im Alter ein großesThema. Was die Schwerhörigkeit betrifft, ist derZug bei manchen Patienten leider oft schon abge-fahren – nämlich bei denjenigen Patienten, bei de-nen die Hörgeräteversorgung eigentlich schon vorzehn oder fünfzehn Jahren hätte erfolgen müssen.Diese Patienten sind dann bereits nahezu ertaubt,wenn sie zu uns kommen. Wahrscheinlich be-schleunigt dieser Zustand auch den Verlauf einerDemenz, denn wenn ein Patient kaum noch akusti-sche Reize aufnehmen kann, ist er in seinen Wahr-nehmungen und seiner Lebensführung dadurchsehr eingeschränkt.Dr. Christian Marburger: Mir scheint gerade das imambulanten Bereich ein Riesenproblem zu sein.Die meisten alten Menschen bekommen Problememit Augen und Ohren in mehr oder weniger ausge-prägter Form. Der Zugang zur Versorgung durchden Augenarzt und Ohrenarzt ist ambulant sehrschwierig. Es gibt einen HNO-Arzt, der zu uns insHaus kommt. Doch es ist nicht so einfach, auch soschnell einen Termin zu bekommen. Zum Augen-arzt müssen wir unsere Patienten in dessen Praxisbringen lassen. Es gibt hier keine Augenklinik, ob-wohl wir in Göppingen relativ gut versorgt sind.Wenn man jetzt noch weiter in ländliche Bereichegeht, ist die HNO- und augenärztliche Facharztver-sorgung ein Riesenproblem. Da ist sicher noch vielzu tun. Hätte man da eine Lösung, ließe sich auchdie Entwicklung von Demenz und Gebrechlichkeitbei vielen Patienten hinausschieben.Prof. Dr. Walter Hewer: Die erforderliche und prin-

zipiell auch mögliche ambulante Behandlung ver-schiedenster Krankheitsbilder scheitert oft daran,dass die Betroffenen keinen Zugang zu den ent-sprechenden Angeboten haben. Wenn jemand ersteinmal im Pflegeheim steckt, ist es noch vielschwieriger, einen Facharzttermin für ihn zu be-kommen, und wenn er keine Angehörigen hat, viel-leicht sogar unmöglich. Dr. Marburger erwähntebereits die Gebrechlichkeit, die Schwäche, die ent-steht, wenn ein Mensch sich aufgrund seiner Ein-schränkungen, z. B. der Sinnesorgane, zurückziehtund nur noch wenig bewegt. Dann kommen ganzschnell andere Probleme dazu, die primär garnichts mit Hör- oder Sehstörungen zu tun haben.

Auch Schlafstörungen sind bei älteren Menschenja ein wichtiges Thema. In Ihrem Klinikum betrei-ben Sie auch ein Schlaflabor?Prof. Dr. Walter Hewer: Richtig. Das Schlaflaborgehört zu unserer Klinik für Neurologie, die sichu. a. auch in Richtung Schlafmedizin spezialisierthat. In unserer Klientel ist der Schlaf bei etwa ei-nem Drittel aller Patienten gestört. Da gibt es zumeinen die vorübergehenden Schlafstörungen, dieetwa im Rahmen einer Depression bestehen, aberrelativ gut therapierbar sind. Auch die obstruktiveSchlafapnoe (also das krankhafte Schnarchen mitAtemaussetzern) tritt mit steigendem Lebensalter

Prof. Dr. med. Walter Hewer istFacharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Innere Medizin, Geriatrie undChefarzt der Klinik für Gerontopsychiatrie am Klinikum Christophsbad Göppingen.Faurndauer Straße 6–2873035 GöppingenTel.: 07161 601-8449Fax: 07161 601-9150E-Mail: [email protected]

Dr. med. Christian Marburger istFacharzt für Innere Medizin, Geriatrie, PhysikalischeMedizin und Chefarzt der Klinik für Geriatrische Re-habilitation und Physikalische Medizin am KlinikumChristophsbad Göppingen.Faurndauer Straße 6–2873035 GöppingenTel.: 07161 601-9614Fax: 07161 601-9601E-Mail: [email protected]

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immer häufiger auf. Ferner leiden viele Patienten unter demRestless-Legs-Syndrom, also der Krankheit der unruhigen Bei-ne, die die Schlafarchitektur nachhaltig zerstören kann. Einweiteres Problem sind Schlafmittel. Wir haben viele Patienten,die solche Mittel verschrieben bekamen. Bevor ich einem Pa-tienten ein schlafförderndes Medikament verordne, sollte ichihn zuerst einmal intensiv über nichtmedikamentöse Maßnah-men – die sogenannte Schlafhygiene – aufklären. Aber das istnatürlich sehr viel personalintensiver, als eine Pille zu verord-nen. Altersmedizin kostet Zeit, die sich für die Patienten lohnt!Dr. Christian Marburger: Medikamente zur Schlafförderung –oft leichtfertig verschrieben – haben häufig unerwünschteNebenwirkungen oder Wechselwirkungen mit anderen Arznei-mitteln. Eigentlich braucht man immer erst eine gute Diagnos-tik im Schlaflabor, bevor man sich in diesen medikamentösenBereich wagt. Doch dafür fehlt das Geld.

Kann man heute auch hochbetagte Menschen, die an meh-reren verschiedenen Erkrankungen leiden, ohne allzu großesRisiko chirurgischen Eingriffen unterziehen?

Dr. Christian Marburger: Jein. Man kann in den meisten Fällenoperieren. Und die Patienten überleben das auch. Die Sterbe-rate nach einem größeren operativen Eingriff liegt unter 5 %.Das Problem ist, dass es nach solchen Eingriffen häufig zu ei-nem Delir oder einer kognitiven Dysfunktion kommt, also Kom-plikationen.

Wie stehen die Chancen, solche Störungen zu behandeln?Prof. Dr. Walter Hewer: Das Problem der postoperativ einge-schränkten Hirnleistung haben wir bisher hinsichtlich seinerEntstehungsbedingungen leider noch nicht genug verstanden.Medikamente zur Behandlung dieses Störungsbildes gibt esbisher nicht. Was wir tun können, ist die allgemeinmedizinischeBehandlung zu optimieren und dabei insbesondere auf be-stimmte in therapeutischer wie präventiver Hinsicht bewährtePrinzipien zu achten (regelmäßige körperliche und kognitiveAktivierung, Schlafregulierung etc.).

Ein weiteres Problem ist die „partizipative Entscheidungsfin-dung“. Damit ist gemeint, dass nicht der Arzt alleine entschei-det, wie ein Patient behandelt wird. Diese Entscheidung sollte

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Bücher rund um das Thema Alter

Claudia Menebröcker, Jörn Rebbe, Udo KeilMir schmeckt’s wiederDas Kochbuch für alte MenschenTRIAS Verlag, Stuttgart. 2012ISBN: 9783830439400EUR 19,99

Dr. med. Mohsen Radjai, Uschi Müller Bleiben Sie herzgesundHerzlichst, Dr. MoTRIAS Verlag, Stuttgart. 2015ISBN Buch: 978-3-8304-8239-0ISBN E-PUB: 978-3-8304-8241-3Buch: EUR 17,99 E-PUB: EUR 13,99

Malteser Deutschland (Hrsg.)Mit Demenz leben Den Alltag gestaltenTRIAS Verlag, Stuttgart. 2015ISBN: 978-3-8304-6917-9ISBN ePub: 978-3-8304-6919-3Buch: EUR 14,99 E-PUB: EUR 11,99

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auf Augenhöhe gemeinsam mit dem Betroffenen gefällt wer-den. Nun haben wir viele ältere Patienten, die nicht mehr selbstentscheiden können. Da müssen dann die rechtlichen Vertretermit einbezogen werden. Jedoch ist auch z. B. bei Demenzkran-ken in vielen Situationen eine partizipative Entscheidungsfin-dung möglich, wenn diese die Zeit haben, ihren Willen zu arti-kulieren. Solche Entscheidungsprozesse brauchen mitunterviel Zeit. Und das ist für uns ein Dilemma.Dr. Christian Marburger: Stimmt: Der Zeitfaktor ist bei unsererArbeit besonders kritisch. Wir als Ärzte müssen dem Patientendie Möglichkeit geben, für sich zu entscheiden, ob er dieseoder jene Therapie haben möchte. Doch dies umzusetzen, istteilweise sehr schwierig, weil wir manchmal auch ausprobierenmüssen, ob jetzt die eine oder andere Behandlung besserwirkt. Dieses Dilemma haben wir nicht selten – und zwar schondann, wenn wir überlegen: Soll man jetzt noch ein Medikamentdazugeben oder nicht? Wir klären unsere Patienten natürlichauf, und sie dokumentieren das auch mit ihrer Unterschrift. Inder Reha, wo die Patienten im Durchschnitt drei Wochen beiuns sind, haben wir die Möglichkeit, die Therapieoptionen auch

einmal über zwei, drei Tage zu besprechen und auch die Ange-hörigen mit einzubeziehen. In der Akutmedizin ist das ganz an-ders: Getrieben durch die Fallpauschalen ist die Liegezeit sehrbegrenzt. Wenn jemand z. B. mit einem Knochenbruch auf ei-ner Akutstation liegt, muss blitzschnell eine Entscheidung ge-troffen werden. Wenn man da lange überlegt und diskutiert, istder Patient inzwischen schon über der vorgegebenen Verweil-dauer. Wir bekommen Patienten aus Akutkliniken, da stehtdann im Verlegungsbrief: „Die Antikoagulation (also die Einnah-me eines gerinnungshemmenden Mittels) wurde abgelehnt“;und wenn man den Patienten dann danach fragt, bekommtman zur Antwort, dass darüber nie richtig gesprochen wurde.Die Kollegen haben wahrscheinlich schon mit dem Patientendarüber geredet, doch der hat das halt nicht schnell genug mit-bekommen. Den Patienten ernsthaft in seine Therapieentschei-dung einzubeziehen, braucht Zeit. Und dafür ist in unseremSystem deutlich zu wenig Platz.

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Kompetenznetz Degenerative Demenzen e.V.Alzheimer & Demenzen verstehenTRIAS Verlag, Stuttgart. 2009 ISBN: 978-3-8304-3413-9EUR 19,95

Harald Lapp, Sven Becker, Ines HärtelDas Herz-Buch Bypass, Ballondilatation, StentsTRIAS Verlag, Stuttgart. 2012ISBN: 9783830439899EUR 24,99

Christoph M. BambergerDie 50 besten Vergesslichkeits-KillerTRIAS Verlag, Stuttgart. 2014ISBN: 9783830480792 ISBN E-PUB: 9783830480815Buch: EUR 9,99 E-PUB: EUR 8,49

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Die Meinung des Wirbelsäulenspezialisten

Fitness im Alter gibt es nicht umsonstEs ist wünschenswert, sich bereits in jungen Jahren eine körper-liche Fitness anzutrainieren und zu bewahren. Altersentspre-chender Erhalt von Muskelkraft, Koordination und Balance sindStützpfeiler unserer Rückengesundheit. Physiologische Alte-rungsprozesse an Muskulatur und Knochen können die Alltags-tauglichkeit und Mobilität im Alter deutlich reduzieren. Der Verlustan Muskelmasse kann im höheren Alter bis zu einem Drittel derursprünglichen Muskelmasse ausmachen und wird als Hauptrisi-kofaktor für Gangstörungen und Stürze angesehen.

Ab dem 40. Lebensjahr kommt der altersbe-dingte Rückgang der Knochenmasse um

0,5 % pro Jahr hinzu. Das effektivste Mittel zur Vor-beugung ist Bewegung. Aus sportmedizinischerSicht wird Senioren ein Trainingsprogramm emp-fohlen, das gleichermaßen Kraft, Kondition und Be-weglichkeit trainiert, und zwar dreimal die Wochefür 60 Minuten.

Das körperliche Training verzögert den natür-lichen Abbau der Muskelmasse, verbessert dieMuskelkoordination und reduziert das Sturzrisikound damit das Risiko, Knochenbrüche zu erleiden.

Ausdauersportarten wie Walking, Radfahren,Bergwandern, Schwimmen und Ski-Langlauf kom-men für Senioren in Frage. Zum Training der Mus-kelkraft sind Geräte geeignet, aber auch elastischeBänder.

Für Menschen mit Gangunsicherheit wird einTraining der Muskelkoordination und Muskelkon-trolle benötigt. Dazu eignen sich zum BeispielGangtraining, Tai-Chi, Rhythmische Gymnastik undTanzen.

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Dr. med. Stefan ZeisbergerChefarzt des Zentrums für Wirbelsäulenchirurgie im Klinikum NürtingenKreiskliniken Esslingen gemeinnützige GmbHKlinik NürtingenAuf dem Säer 172622 NürtingenE-Mail: [email protected]

Dr. med. Stefan Zeisberger

Chirurgische Maßnahmen bei einerSpinalkanalstenose

Wenn ein Tumor oder eine Entzündung als Ur-sache ausgeschlossen sind, ist die Nerven-kanalenge (Spinalkanalstenose) naheliegend.Ein zuverlässiges Anzeichen ist die langsamzunehmende Verkürzung der Gehstrecke.Die Durchführung einer Kernspintomografiezum Beweis der Engstelle ist zur Diagnosesi-cherung notwendig. Patienten mit neuerenHerzschrittmachern erhalten durch kardiologi-sche Unterstützung ebenso diese Schnittbild-untersuchung. Ansonsten erfolgt eine Compu-tertomografie zur Diagnosefindung. Handeltes sich um eine absolute Engstelle (Durchmes-ser kleiner 10 mm) mit Kompression des Ner-venschlauches und Verdrängung von Nerven-wasser, sollte eine mikrochirurgische Erweite-rung des Nervenkanals unter Verwendung ei-nes OP-Mikroskops durchgeführt werden.Interessanterweise gibt es auch Patienten, diemit einem engen Nervenkanal weder Schmer-zen noch Beeinträchtigungen ihrer Freizeitakti-vitäten angeben. Wenn die Engstelle an derLendenwirbelsäule lokalisiert ist, bleibt einoperativer Eingriff überflüssig.Handelt es sich um eine Nervenkanalenge ander Halswirbelsäule, ist die Entscheidung zurOP früher zu treffen, da mögliche Dauerschä-den an Rückenmark und Nervenwurzeln ver-hindert werden müssen. Wenn die Beschwer-den mit den Bildern (MRT) in Einklang zu brin-gen sind, sollte eine mikrochirurgische OP er-folgen. Selbst für betagte Patienten ist der Ein-griff wenig belastend und erfolgversprechend.Vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderungeiner Spinalkanalstenose gibt es nicht.Es ist auch nicht bekannt, warum der Ver-schleißprozess beim Menschen unterschied-lich schnell abläuft und bei manchen zu einerNervenkanalverengung führt.

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Im Falle einer OsteoporoseWenn hingegen der Knochenabbau schneller voranschrei-tet, kennen wir die häufigste Ursache sehr gut – die Oste-oporose. 80 % aller Osteoporosen betreffen Frauen nachder Menopause. 30 % aller Frauen entwickeln nach derMenopause eine klinisch bedeutsame Osteoporose. Jededritte Frau und jeder fünfte Mann erleiden in ihrem weite-ren Leben einen osteoporotisch bedingten Knochen-bruch. Entscheidend ist die frühzeitige Diagnose beiRückenschmerzen. Sowohl der Knochendichtewert (beider Osteodensitometrie ermittelt) als auch ein individuellerstelltes Risikoprofil entscheiden über die Art der medi-kamentösen Behandlung.Liegt ein osteoporotisch bedingter Knochenbruch vor, dermit oder ohne Sturzereignis verursacht ist, muss eineRöntgenschnittbilduntersuchung (Computertomografie)durchgeführt werden, um den Grad der Stabilität/Instabi-lität zu analysieren und zu ermitteln.Bei einem stabilen Bruch wird konservativ behandelt, z. B.mit Korsett, frühzeitiger Mobilisation und Einleitung einesAnschlussheilverfahrens.Wenn im Verlauf von drei Wochen nach diagnostiziertemWirbelbruch weiterhin Schmerzen trotz Schmerzmittelein-nahme bestehen, empfehlen wir eine Wirbelaufrichtungmittels einer Zementierung (Ballonkyphoplastie). Wir ver-wenden ein Kanülensystem, das über kleine Hautschnitte unter Röntgendurchleuchtung in den Wirbel eingeführt

wird. Über einen Arbeitskanal erfolgt die Aufdehnung ei-nes Ballons mit Kontrastflüssigkeit. Der Bruchwirbel wirdhierbei aufgerichtet. Nach Entfernung des Ballons wirdder verbliebene Hohlraum mit dickflüssigem Zement auf-gefüllt.Hat die CT-Untersuchung einen instabilen Wirbelbruch ge-zeigt, raten wir zu einer operativen Stabilisierung mit ei-nem Schrauben-Stabsystem, das über kleine Hautinzisio-nen eingebracht wird, ohne die Muskulatur vom Knochenabzulösen. Zusätzlich wird der Schraubensitz im Wirbelmit Zement verstärkt („Dübelwirkung“). Am OP-Tag oderam Tag danach darf der Patient aufstehen und umherge-hen. In manchen Fällen führt der instabil gebrochene Wirbel zur Einengung des Nervenkanals, da Knochenteiledes Wirbels beim Sturzereignis oder später in denRückenmarkkanal verschoben werden. Eine operativeEntlastung der Nervenstrukturen wird hierbei zusätzlichdurchgeführt.In wenigen Fällen muss auch bei Verlegung des Nerven-kanals der Wirbelkörper entfernt und durch einen Titanwir-bel ersetzt werden.Sowohl nach operativen Eingriffen als auch nach konser-vativer Therapie der Wirbelbrüche erfolgt eine stationäreReha-Maßnahme, um die Patienten allmählich auf den All-tag vorzubereiten.

Menschen, Nähe, Lebensfreude Diakonischer Ambulanter Dienst Esslingen Quartier am Hainbach Pflegestift Kennenburg Telefon 0711 39 05-116 E-Mail Aufnahme/[email protected]

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Nicht jeder Mensch über 70, der in eine Klinikkommt, ist ein sogenannter „geriatrischer“ Pa-

tient – also jemand, der aufgrund alterstypischerProbleme und Erkrankungen einer besonderen Be-handlung bedarf. Geriatrische Patienten leiden nor-malerweise unter mehreren chronischen Erkran-kungen. Altersspezifische Probleme wie Sturznei-gung, Schwindel, Gebrechlichkeit, Sehbehinde-

rung, Schwerhörigkeit und Einschränkung der geis-tigen Fähigkeiten bis hin zur Demenz spielen dabeieine besonders wichtige Rolle.

Wichtig ist, bei einem älteren Menschen, der auf-grund eines Unfalls oder eines anderen akuten Pro-blems ins Krankenhaus kommt, sofort zu erken-nen, ob es sich um einen geriatrischen Patientenhandelt. Wissenschaftlichen Untersuchungen zu-folge verbessern sich die Heilungschancen einesPatienten schon allein dadurch, dass man ihn alsgeriatrischen Fall erkennt. Denn solche Patientenbrauchen eine ganz spezielle altersmedizinischeBetreuung und Versorgung.

Geriatrie-Check in der NotaufnahmeUm geriatrische Patienten bereits in der Notauf-nahme zu erkennen, nutzen wir einen Erhebungs-bogen mit sechs einfachen Fragen – z. B. nach derAnzahl der eingenommen Medikamente oder obvor der Erkrankung oder Verletzung, die zur Klini-kaufnahme geführt hat, bereits regelmäßig Hilfsbe-darf bestand. Ebenso wichtig zu erfahren ist es, obeine neu aufgetretene oder bereits länger beste-hende Verwirrtheit vorliegt. Von der Einschätzung,ob es sich um einen Risiko- oder gar Hochrisikopa-tienten handelt, machen wir unsere weitere Vorge-hensweise abhängig.

Viele geriatrische Patienten kommen mit Kno-chenbrüchen zu uns in die Notaufnahme. Da reichtes nicht aus, den Bruch einfach nur zu versorgen;denn sonst ist der nächste Unfall vorprogrammiert.Man muss erst einmal Ursachenforschung betrei-ben: Wie ist es zu dem Bruch gekommen? Ist derPatient gestürzt, weil ihm schwindelig war, weil erschlecht sieht, weil er Gehprobleme oder Gefühls-störungen in den Beinen hat? Oder war er zumZeitpunkt des Sturzes verwirrt? Diese Ursachenmüssen mitberücksichtigt und nach Möglichkeitausgeräumt werden, denn sonst droht dem Patien-ten womöglich schon binnen kurzer Zeit wiederdas gleiche Schicksal.

Ein Ereignis – viele UrsachenBei vielen älteren Patienten ist die Beweglichkeit

Nicht über einen Kamm scheren!

Der alte Patient im Krankenhaus

Unsere Kliniken haben es infolge des demo-grafischen Wandels mit immer mehr älterenund hochbetagten Patienten zu tun. Die Be-handlung solcher Menschen erfordert ofteine andere Vorgehensweise als bei jünge-ren Patienten.

Dr. med. Kerstin Peters

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eingeschränkt. Sie können sich nicht mehr stabilauf den Beinen halten oder leiden unter Gangstö-rungen. Hinter einem Sturz verbirgt sich jedochselten nur eine einzige Ursache. Meist steckengleich mehrere Probleme dahinter: BeginnendeDemenz, Sehstörungen, Gelenkprobleme unddann womöglich auch noch gefährliche Stolperfal-len – ein rutschiger Teppich, ein zu schlecht be-leuchteter Flur – verbinden sich zu einem heimtü-ckischen Cocktail, der die Patienten immer wiederstolpern und stürzen lässt. Hinzu kommt die Multimedikation. Viele Seniorennehmen tagtäglich vier oder mehr Medikamenteein. Im Alter steigt jedoch das Risiko für uner-wünschte Arzneimittelwirkungen. Ältere Menschenleiden nämlich häufig an einer eingeschränktenNierenfunktion, die dazu führt, dass die Wirkstoffevon Arzneimitteln nicht mehr so gut ausgeschiedenwerden. Dadurch können unerwünschte Nebenwir-kungen wie Schwindel oder Benommenheit sichverstärken. Sehstörungen, geistige Leistungs-schwäche oder eine eingeschränkte Beweglichkeitin den Fingern führen außerdem zu Einnahmefeh-lern. Aus Studien weiß man, dass schon allein dieGabe von mehr als fünf Medikamenten die Sturz-gefahr deutlich erhöht.

Behandlung und FrührehabilitationNeben der stationären Therapie benötigt ein geria-trischer Patient, der bei uns in der Notaufnahmelandet, fast immer auch eine Rehabilitation. Dashaben die Unfallchirurgen und Orthopäden in un-serem Haus – allen voran Prof. Liener – schon lan-ge begriffen. Wir dürfen uns nicht nur organbezo-gen auf eine Akutdiagnose und -therapie konzen-trieren, sondern müssen einen ganzheitlichen An-satz verfolgen, um das oberste Ziel zu erreichen:nämlich die Selbständigkeit des Patienten wieder-herzustellen – und zu erhalten. Deshalb führen wiran der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie desMarienhospitals parallel zur Therapie der Sturzfol-gen auch gleich die Frührehabilitation durch. Andieser Aufgabe wirken neben mir als Internistin undAltersmedizinerin Sozialarbeiter, Physio-Ergothera-peuten und Pflegekräfte mit. Denn Altersmedizingelingt nur in einem interdisziplinären Team. Auchmit den Angehörigen muss man als Geriater engenKontakt halten – beispielsweise, um ihnen prakti-sche Hinweise für das Alltagsleben des Patientenzu geben. Das reicht von Hilfestellungen bei derEinnahme der Medikamente bis hin zur Beseiti-gung von Stolperfallen in der Wohnung.

Dr. med. Kerstin PetersOberärztin, Fachärztinfür Innere Medizin,Zusatzqualifikation:Geriatrie (Alters-medizin)Klinik für Orthopädieund UnfallchirurgieMarienhospital StuttgartBöheimstraße 3770199 StuttgartE-Mail: [email protected]

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Der Markt für Gesundheitsinformationen ist in-zwischen fast schon ein unübersichtlicher

Dschungel. Ratgeber in Buchform sind immer we-niger gefragt. Die schnelle, umfassende Informa-tion offeriert das Internet: professionelle Gesund-heitsportale, oft von der Pharmaindustrie gespon-sert, dazu aufwendige Webseiten von Ärzten oderKliniken, staatlichen Instituten, Krankenkassen. Einkleines Problem kann dabei die Seriosität, die Ver-lässlichkeit solcher Informationen sein. Man musswissen, wer hinter den Informationen steht undwelche Interessen damit heimlich verkauft werdensollen. Und man braucht den Dialog. Die Möglich-keit, nachzufragen, zu diskutieren. Das bietet dieVolkshochschule Stuttgart, ein großer Anbieter ge-sundheitsrelevanter Veranstaltungen, Vorträge, Se-minare, Workshops, Diskussionsforen im RaumStuttgart. Über 600 Veranstaltungen findet man proSemester im dickleibigen Programmheft der VHSStuttgart.

Es ist ein erstaunlich ausgewogenes Programm,das die aktuellsten Krankheitsbilder einschließt,aber auch das Thema Prävention großschreibt. Inder Regel sind das Kurse, die Fertigkeiten wieautogenes Training, Yoga und ähnliche Entspan-nungstechniken vermitteln. Seit über 20 Jahren istdie VHS Gastgeber der exzellenten Informations-und Diskussionsreihe „Gesundheit beginnt imKopf“, einer Gemeinschaftsproduktion von VHS,AOK, der Stadtbibliothek Stuttgart, dem TRIAS Ver-lag und dem Gesundheitsmagazin KOMPASS GE-SUNDHEIT. Initiator und engagierter Moderator

dieser einmaligen Reihe ist der Stuttgarter InternistDr. med. Suso Lederle. Jeden Monat präsentiert erein Thema – ein sehr spezielles oder auch eines,das weites Interesse findet – im Gespräch mithochkarätigen Ärzten der Region. Es werden aberauch Thementage (etwa zu urologischen Proble-men) angeboten, und die Selbsthilfegruppen erhal-ten Gelegenheit, sich und ihre Anliegen im Treff-punkt Rotebühlplatz zu präsentieren.

Man staunt: Welches Programm! Welche Vielfalt!Das ist nicht einfach nur so per Zufall zusammen-gefügt – dahinter steht ein durchdachtes Konzept.Der „Gesundheitsmacher“ der Stuttgarter VHSagiert bescheiden im Hintergrund: Rüdiger Flöge,ein stiller, einfühlsamer Zeitgenosse. Erstaunlicher-weise kein Mediziner, sondern studierter Philologe.Er hat im Lauf der Zeit ein eng geknüpftes Netz-

Das Gesundheitsprogramm der VHS Stuttgart

Regisseur hinter den Kulissen: Rüdiger Flöge

Gesundheit ist zweifellos der Trend unserer Zeit. Die Jungen wollen ihren Körper fordernund systematischer Kontrolle unterwerfen: Schrittzahl, Kalorienverbrauch, Herzfrequenz –die Daten werden mit Apps und Fitnessbändern registriert, stolz im Wettbewerb mit Freun-den im Netz geteilt. Die Älteren, auf dem Weg zu dieser oder jener chronischen Erkrankung,wollen sich nicht mehr dem Medizinbetrieb ausliefern: Sie informieren sich, werden zumündigen, selbstbewussten Patienten. Den Volkshochschulen fällt dabei in Sachen Ge-sundheitsinformation eine immer gewichtigere Rolle zu.

Rüdiger Flöge, VHS Stuttgart

Werner Waldmann

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Altern – nicht mehr EndstationDie Kolumne von Dr. Suso Lederle

Schwankenden Schrittes läuft man im Alter –gebeugt und den Stock in der Hand. Das ist

die Befürchtung vieler, wenn sie an ihr eigenesAltern denken.

Aber „Alter ist nicht das Ende, das Alter istErnte“, sagte einst Ernst Bloch.

Tatsächlich sind viele noch rüstig unterwegs,sind agiler und aktiver als je eine Altersgenera-tion zuvor. Doch zu schön ist dieses Bild, dass esden Blick auf die ewige Wahrheit verstellen könn-te, wonach die Tage des Menschen gezählt sind.Der ältere Homo sapiens wird irgendwannschwächer, langsamer und vor allem wenigermobil.

Und kommt es zu einem Ereignis, sei es nunein Schlaganfall oder ein Unfall, ein Herzinfarktoder ein Tumorleiden, so stellt sich die Frage, wiegeht es weiter? Ist man noch selbständig genug,um weiter zu Hause leben zu können? Oder istman fortan auf die Hilfe anderer angewiesen, fälltman gar der Familie und Freunden zur Last?

Von der Medizin ist jetzt nicht nur Kuration,sondern auch Rehabilitation gefragt. Sie ist ne-ben der Prävention die dritte tragende Säule dermedizinischen Versorgung. Auf sie darf nicht ver-zichtet werden. Ihre Möglichkeiten müssen im-

mer ausgeschöpft werden, um eine Pflegebe-dürftigkeit und somit eine Abhängigkeit vonfremder Hilfe für den Rest des Lebens zu verhin-dern oder zumindest hinauszuschieben.

Hier darf es keine Einsparung bei den Leis-tungszusagen geben! Die betroffenen Menschenmüssen wissen, dass alles versucht wird, ihnenzu helfen. Das gibt ihnen Hoffnung und das Ge-fühl, ihr Leben ist nicht mehr eine Endstation,sondern geht weiter!

Dr. med. Suso LederleCharlottenstraße 470182 Stuttgart Tel.: 0711 241774E-Mail: [email protected]

werk geschaffen, in dem er die Selbsthilfe, dieStuttgarter Kliniken, die Ärzteschaft, das ForumGesunde Stadt Stuttgart e.V., Verlage und Medienzusammenbringt. Im Austausch mit Patienten undÄrzten findet er heraus, welche Themen den Stutt-gartern gerade unter den Nägeln brennen. AberFlöge vergisst auch nicht, sehr spezielle Interessenkleinerer Gruppierungen zu bedienen.

Rüdiger Flöge kapriziert sich nicht nur auf dasThema Gesundheit (und natürlich Krankheit), er hatauch viel Sinn für Literatur und Kunst. So betreut erneben seinem Job als Fachbereichsleiter Medizinund Gesundheitsvorsorge Ausstellungen der vhs-photogalerie. Und der Philologe Flöge lässt sichauch von der Naturwissenschaft faszinieren: „Fra-gen an die Wissenschaft“ nennt sich die Reihe, die

Rüdiger Flöge moderiert. Er ist kein Fachmann fürdie speziellen Fragen unserer technischen und na-turwissenschaftlichen Forschung. Mit der Neugiereines universellen Geistes versucht er Themen wieUrbanisierung und Klimawandel, Konsequenzenmoderner elektronischer Kommunikation oder dasZusammenwirken von Gesellschaft und Wirtschaftmit Hilfe von Wissenschaftlern der Stuttgarter Uni-versitäten und Hochschulen zu beleuchten und fürden Laien verständlich zu machen. Ins Gesprächkommen, das ist dabei seine Devise.

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Wenn es um die medizinische Versorgung alter und sehr alter Menschen geht, geht es um sehr hohen Aufwandund auch um sehr hohe Kosten. Vorgaben macht die Gesundheitspolitik, die gesetzliche Krankenversicherungsetzt dies dann um, will sagen: bezahlt die Rechnung. In Baden-Württemberg wird die geriatrische Rehabilitationfinanziell zunehmend an die kurze Leine genommen, obwohl sich eine Investition in diese Rehabilitation lohnenwürde. Darüber und welche Konsequenzen die Überalterung unserer Gesellschaft hat, sprachen wir mit Johan-nes Bauernfeind, Geschäftsführer der AOK Neckar-Fils.

Unser Gesundheitssystem honoriert die Appara-temedizin, weniger aber das Gespräch mit demPatienten. Doch gerade dies ist für den älteren,möglicherweise kognitiv eingeschränkten Pa-tienten unverzichtbar.Johannes Bauernfeind: Das Gespräch mit demPatienten, insbesondere dem älteren, ist zweifellossehr wichtig. So bedarf z. B. der Medikationsplanbei einem Patienten mit mehreren Erkrankungen ei-ner genauen Abstimmung. Der Arzt muss seinemPatienten vermitteln, wann und weshalb ein be-stimmtes Mittel zu einer bestimmten Zeit einge-nommen werden muss und was es für Folgen hat,wenn der Patient sich nicht an diese Vorgaben hält.Insbesondere der Hausarzt sollte seinen Patientengenau kennen, um die für ihn zutreffende Behand-lung festzulegen. Ohne enges Zusammenwirkenvon Arzt und Patient ist eine Behandlung meistzum Scheitern verurteilt. Besonders aufwendig ge-staltet sich die Kommunikation mit dem Patienten,der kognitiv eingeschränkt ist. Mit dem Hausarzt-vertrag hat die AOK Baden-Württemberg ein In-strument geschaffen, das dem Arzt für in diesesProgramm eingeschriebene AOK-Versicherte einezusätzliche Vergütung garantiert. Dies ist sicherlicheine Motivation, das Arzt-Patienten-Gesprächnicht zu kurz kommen zu lassen.

Multimorbidität und Polypharmazie erforderneine fachübergreifende Umgangsweise. Notwen-dig wäre eine perfekte Vernetzung zwischen Kli-nik, Hausarzt und Fachärzten. Die mag es hierund da teilweise geben, sie ist aber nicht die Re-

gel. Das kostet die Kassen auch ordentlichRessourcen.Johannes Bauernfeind: Nicht nur Ressourcen!Eine mangelhafte Koordination kostet auch Qua-lität. Die Gesundheitskarte könnte da ein für denPatienten vorteilhaftes Netzwerk knüpfen, nurfunktioniert dieses System leider noch nicht. Dieorganisierte Ärzteschaft und die Apotheker habensich bislang noch nicht gerade dadurch ausge-zeichnet, ein solches System voranzutreiben. Of-fenbar fürchten sich manche vor der Transparenz,die ein solcher Austausch von Informationen vor al-lem auch in Hinsicht auf die Behandlungsqualitätmit sich bringt. Die AOK führt ein Pilotprojekt inHeilbronn durch. In Zusammenarbeit mit demHausärzteverband und der MEDI versuchen wir mit150 Ärzten und 5000 Patienten einen engen Infor-mationsaustausch mittels elektronischer Technikenumzusetzen. Wir wollen damit die Behandlungs-qualität heben. Der Patient muss natürlich dem Da-tenaustausch zustimmen. Das Projekt läuft bishersehr erfolgreich und wir hoffen, im Rahmen desHausarzt- und Facharztprogramms dies auf ganzBaden-Württemberg ausdehnen zu können. Wirmachen das, weil wir als AOK Versorgung gestaltenund nicht nur Rechnungen bezahlen wollen.

Die geriatrische Rehabilitation bei einer osteopo-rosebedingten Fraktur gibt es erst, wenn ein Pa-tient stürzt und mit dem Knochenbruch in die Kli-nik kommt. Was könnte, was müsste proaktiv ge-tan werden, um solche Frakturen zu vermeiden?Die Osteoporose-Diagnostik mittels der Kno-

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Das Gesundheitsgespräch mit Johannes Bauernfeind

Die künftige medizinische Versorgung betagter Menschen

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chendichtemessung ist in Deutschland ein Stief-kind, weil sie nicht präventiv durch die GKV be-zahlt wird. Johannes Bauernfeind: Die Knochendichtemes-sung wird in der Tat von Orthopäden als privat zubezahlende Leistung angeboten. Für AOK-Versi-cherte gilt in unserem Bundesland, dass ein in denHausarztvertrag eingeschriebener Versicherter un-serer Kasse bei den im Facharztprogramm teilneh-menden Orthopäden, so dies notwendig ist, dieseUntersuchung kostenlos erhält. Orthopäden, diediese Diagnostik anbieten, erhalten von der AOKein höheres Grundhonorar, wenn sie eine Kno-chendichtemessung anbieten können. Damit bie-ten wir im Gegensatz zu unseren Mitbewerberneine Leistung, die vielen Älteren eine Fraktur erspa-ren kann.

Die Medizin vermag heute Erstaunliches. Jedochkann zu viel Hightech-Medizin am Lebensabendsich für den Betroffenen auch nachteilig auswir-ken. Nachteilig aber auch für das solidarisch fi-nanzierte Gesundheitssystem. Andere Länderhandeln da nach anderen Spielregeln. Bei unswird alles getan, was möglich ist – und oft vielGeld kostet. Müssen wir nicht auch die ökonomi-sche Seite der Medizin ernst nehmen und nichteinfach aus ethischen Gründen ausblenden?Johannes Bauernfeind: Die Aufklärung des Pa-tienten über seine Lebensqualität, auch über dieEinschränkung dieser nach bestimmten Therapienoder Operationen ist enorm wichtig. Der Patientsoll sich selbst frei entscheiden, welche zugelasse-ne Behandlung mit welchen Risiken für ihn in Fragekommt. Und nicht einfach unkritisch die Behand-lung annehmen, die der Arzt für möglich hält. Dasgilt auch für die Angehörigen, wenn der Patientnicht mehr selbst entscheiden kann. Es gibt Pa-tienten, die bestimmte Behandlungen ablehnen.Das müssen wir akzeptieren. Deshalb bieten wirseit acht Jahren die Möglichkeit an, eine Zweitmei-nung einzuholen. Allerdings dürfen dabei nicht dieKosten für oder gegen eine Behandlung ins Feldgeführt werden. Allein das Wohl und der Wunschdes Patienten ist für die Entscheidung maßgeblich.

Eine Reihe geriatrischer Rehabilitationsklinikenmussten in Baden-Württemberg aufgeben, weilsie nicht mehr auskömmlich bezahlt wurden.

Johannes Bauernfeind: Auf diesem Sektor ist in-zwischen ein Umdenken festzustellen. Die AOKgeht einen besonderen Weg: Mit dem ProgrammAOK-proReha versuchen wir, mit geriatrischen Mo-delleinrichtungen die Leistungsinhalte zu spezifi-zieren und dann über vernünftige Vergütungspau-schalen eine definierte Qualität für die Betroffenenzu erzielen. Dabei kommt es uns nicht vorrangigdarauf an, welche Struktur die Pflegeeinrichtungvorhält, sondern welche Leistungen sie erbringt.Damit hoffen wir, die geriatrische Versorgung beiuns zu stabilisieren und den Betroffenen eine quali-tativ gute Versorgung zu garantieren.

Ihre Prognose für die nächsten zehn Jahre? Wiewird sich das alles finanzieren, was für die Ver-sorgung geriatrischer Patienten notwendig seinwird? Wird es irgendwann eine Rationierung me-dizinischer Leistungen geben?Johannes Bauernfeind: Ich hoffe, dass wir keineDiskussion darüber führen müssen, für wen künftigwelche Leistungen eingeschränkt werden. Wir sinduns in Deutschland bisher darin einig, keine Ratio-nierung zu betreiben. An diesem Konsens zu rüt-teln, wäre auch nicht Aufgabe der Krankenkassen.Wir müssen unseren Versicherten alle zugelasse-nen Therapien zugänglich machen. Wir müssenschauen, dass wir etwa bei Generika durch Rabatt-verträge Ressourcen einsparen zugunsten aufwen-digerer Therapien. Diese und weitere gesetzlicheMöglichkeiten müssen wir weiter konsequent nut-zen, um die Effizienz noch zu steigern. Ich denke,dass das System der gesetzlichen Krankenversi-cherung in Deutschland eines der besten weltweitist und alle Chancen hat, dies auch zu bleiben.

Kompass Gesundheit 1/2016

Johannes Bauernfeind, Geschäftsführer der AOK Neckar-Fils

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SturzprophylaxeBei einem Sturz kommen fast immermehrere Faktoren zusammen: So erwachtman vielleicht mitten inder Nacht, weil man zurToilette gehen muss,und fühlt sich noch etwas benommen, weilman am Vorabend einSchlafmittel eingenom-men hat. Der Flur istschlecht ausgeleuchtet,und man stolpert überdas Kabel des Staub-saugers, der immernoch an der Wand lehnt,weil man gestern keineLust mehr hatte, ihnwegzuräumen. Aufgrundeiner Bewegungsbehin-derung (etwa einer Arthrose in Knien oderHüften) und weil im Alterder Balance-Reflex oh-nehin nachlässt – kannman das Stolpern nichtmehr rechtzeitig auffan-gen und stürzt. Schnellerleidet man dabei eineFraktur.

Kompass Gesundheit 1/2016

In Deutschland stürzen jedesJahr vier bis fünf Millionen alteMenschen; oft treten dabei ge-fährliche Hüft- und Oberschen-kelhalsbrüche auf. Etwa 20 % derüber 50-jährigen Patienten mitHüftfraktur versterben innerhalbeines Jahres an den Folgen. Über25 % aller gestürzten Personenkönnen nach der Operation ausder Klinik nicht wieder zurücknach Hause in ihre vertraute Um-gebung entlassen werden, son-dern müssen fortan in einemPflegeheim leben.

Wir verraten Ihnen auf diesenSeiten, wie Sie sich vor einemsolchen Schicksal schützen kön-nen.

Im Alter treten zahlreiche Veränderungenein, die Stürze begünstigen: Muskelkraftund Beweglichkeit nehmen ab; viele älte-re Menschen haben körperliche Behinde-rungen oder Beeinträchtigungen, bei-spielsweise eine Arthrose. Auch das Seh-vermögen lässt nach: Die Fähigkeit desNahsehens ist vermindert, man wird zu-nehmend blendempfindlich, und dasAuge kann sich nicht mehr so rasch aufHell-dunkel-Unterschiede einstellen. Sokönnen schlecht beleuchtete Räumeoder blendende Lichtquellen zu Stürzenführen.

Auch bestimmte Medikamente könnendie Sturzgefahr erhöhen, da sie Schwin-delgefühl oder Benommenheit hervorru-fen: Dazu gehören zum Beispiel be-stimmte Schlafmittel, blutdrucksenkendeMedikamente, Neuroleptika (Arzneimittelzur Behandlung psychischer Erkrankun-gen) und trizyklische Antidepressiva (Me-dikamente gegen Depressionen).

Hausnotrufgeräte bestehen aus einemDruckschalter, den der Benutzer zu Hau-se stets bei sich tragen sollte (z. B. mit ei-ner Schnur um den Hals oder als Arm-band): Nach dem Druck auf den rotenKnopf wird automatisch die Notrufzen-trale alarmiert. Man kann das Gerät mitverschiedenen Hausnotrufsystemen pro-blemlos kombinieren.

Wir im Vitalzentrum Glotz(www.glotz.de) haben es uns zurAufgabe gemacht, Menschenmit einem Handicap Hilfen anzu-bieten, die das Leben sichererund damit angenehmer machen.Besonders ältere Mitbürger kön-nen solche Hilfsmittel vor zahl-reichen Problemen bewahren.

Joachim Glotz

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33Kompass Gesundheit 1/2016

Falls Sie schon einmal gestürzt sind oder sich unsi-cher fühlen, sollten Sie lieber einen Hüftprotektortragen. Das ist eine in eine Spezialhose eingelas-sene, anatomisch geformte Plastikschale, die denKnochen beim Sturz auf die Hüfte vor Brüchenschützt. Dahinter steckt ein ganz einfaches Prinzip:Menschen, die „gut gepolstert“ sind, erleiden sel-tener Frakturen als schlanke – weil das Fett denAufprall abmildert und dadurch den Knochenschützt.

Ebenso absorbiert der Hüftprotektor beim Sturzden Schock oder leitet die beim Aufprall einwirken-de Kraft vom Knochen weg auf das umliegendeWeichteilgewebe. Mittlerweile ist erwiesen, dasssich durch das Tragen eines Hüftprotektors bis zu90 % aller Hüftfrakturen vermeiden lassen – auchbei Menschen, die an Osteoporose leiden!

Gleichzeitig hat das Tragen eines Hüftprotektorsden Vorteil, dass es Ihnen die Angst vor Stürzennimmt. Denn wer sich unsicher fühlt, nimmt leichteine übertriebene Schonhaltung ein, bewegt sichimmer weniger; und dadurch nehmen die körperli-che Beweglichkeit und Belastbarkeit immer weiterab – ein gefährlicher Teufelskreis. Es ist erwiesen,dass Angst vor Stürzen die Sturzgefahr erhöht!

Je nachdem, wie oft Sie Ihren Hüftprotektor wa-schen möchten, benötigen Sie drei bis fünf Protek-toren pro Jahr. Die meisten Benutzer sind mit demTragekomfort sehr zufrieden; und der Hüftprotektorträgt auch kaum auf, macht also nicht „dick“. Lei-der werden die Kosten für Hüftprotektoren derzeitnoch nicht von allen Krankenkassen erstattet.

STOLPERFALLEN-CHECKLISTE

• Sind alle Räume gut ausgeleuchtet?• Müssen Sie nachts öfter zur Toilette?

Dann im Flur ein Licht brennen lassen.• Können Sie den Lichtschalter im

Schlafzimmer vom Bett aus erreichen?Falls nicht, sollte neben Ihrem Bett einehelle Nachttischlampe oder andereLampe stehen, deren Schalter Sie imDunkeln leicht finden können.

• In der Badewanne bzw. Dusche solltenrutschfeste Matten liegen, vor Wanneund Dusche rutschsichere Vorleger.

• Haltegriffe erleichtern das Duschenbzw. das Aussteigen aus der Bade-wanne oder Duschkabine.

• Falls Ihnen das Aufstehen von der Toilette schwerfällt: Im Sanitätsfach-handel gibt es Toilettensitzerhöher.

• Wasserpfützen aufwischen! (gefähr-lichen Rutschpartie)

• Alle Treppen müssen mit Geländer versehen sein.

• Brennt das Licht im Treppenhaus langegenug? Ist der Keller gut beleuchtet?

• Treppen mit rutschfestem Belag verse-hen.

• Unebene Gartenwege oder Trittsteinekönnen gefährlich, ebenso moosbe-wachsene Platten und Wege, die beifeuchtem Wetter oft rutschig sind.

• Wenn der Weg zu Ihrer Haustür durchden Garten führt, ist es besonderswichtig, dass dieser breit genug, eben, gepflastert und hell beleuchtet ist.

• Teppichecken, die hochstehen oderleicht umklappen, am Boden festkle-ben!

• Auf dem Fußboden dürfen keine losenKabel und andere Gegenstände her-umliegen.

Auch eine Abnahme der Blutmengedurch zu geringe Flüssigkeitsaufnah-me kann Schwindelgefühl verursa-chen und dadurch Stürze begünstigen– vor allem bei älteren Menschen, daim Alter das Durstgefühl abnimmt undsie das Trinken „vergessen“. Also ach-ten Sie auf ausreichend Flüssigkeits-zufuhr.

Sie sollten über das Tragen einesHüftprotektors nachdenken, • wenn Sie zu wenig Kraft oder Probleme beim Gehen haben (körperliche Behinderung, Gang-unsicherheit etc.)• bei einer nicht korrigierbaren Sehbehinderung• wenn Sie schon einmal gestürztsind und Angst vor Stürzen haben• wenn Ihnen häufig schwindelig ist

In Haus und Garten lauern viele Risikofakto-ren wie Fernseh- undLampenkabel, herumlie-gende Gegenstände,hochstehende oder umgeschlagene Teppich-kanten und hohe Tür-schwellen. Auch rutschi-ge Böden, unebene Gartenwege undschlecht beleuchtete Keller und Treppenhäu-ser stellen ein unnötiges Risiko dar.Außerdem können SieStürzen natürlich auchdurch geeignetesSchuhwerk vorbeugen.Achten Sie beim Anpro-bieren darauf, dass derSchuh Fersen und Fuß-gelenk festen Halt gibt,dass Sie darin nicht um-knicken können unddass die Sohle ein gutesProfil aufweist.

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Eine große Herausforderung für Kliniken

Immer ältere PatientenDie Bevölkerungsentwicklung führt dazu, dass Patienten im Krankenhaus immer älter wer-den. Darauf müssen Ärzte und Pflegepersonal sich einstellen: Denn ältere Menschen habenoft bereits mehrere Begleiterkrankungen, wenn sie in eine Klinik kommen, müssen verschie-dene Medikamente einnehmen und benötigen daher eine besondere Behandlung und Betreuung. Außerdem ist es wichtig, den Übergang in die Rehaklinik oder ins Pflegeheimmöglichst nahtlos zu organisieren – oder noch besser: dafür zu sorgen, dass der Patient(vielleicht mit gewissen Hilfestellungen im Alltag) wieder selbständig leben kann. Am bestenist es, wenn man die Weichen dafür bereits im Krankenhaus stellt. Das Stuttgarter Marien-hospital bietet optimale Rahmenbedingungen für ältere Patienten. Wir sprachen mit Ge-schäftsführer Markus Mord.

Wann ist ein Mensch Ihrer Meinung nach eigentlich als alt anzusehen?Markus Mord: Es kommt immer darauf an, wieman sich fühlt. Heute fühlen sich viele 70-Jährigenoch so jung wie mit 50 oder 60 Jahren, währendandere vielleicht sagen: Ich komme mir mit 70schon ziemlich alt vor. Ich glaube, an einer Alters-grenze kann man das schwer festmachen.

Kann man eigentlich sagen, dass Sie inzwischenin Ihrer Klinik mehr ältere Patienten haben alsjunge?Markus Mord: Ja. Rund 40 % unserer Patientensind 70 oder älter. Diese Tendenz wird weiter stei-gen, das heißt, wir werden in Zukunft noch mehrüber 70-jährige Patienten im Haus haben.

Schätzungen zufolge wird in ein paar Jahren je-der dritte Patient in den Krankenhäusern über 80sein. Das ist sicherlich auch ein Problem; Ärzte undPflegepersonal müssen speziell dafür geschult undmotiviert sein, mit so alten Menschen umzugehen.Nicht nur Pflege und Ärzte – das gesamte Hausmuss sich auf die Besonderheiten älterer Patienteneinstellen. Deshalb haben wir im Oktober 2012 amMarienhospital ein interdisziplinäres Zentrum fürAlterstraumatologie geschaffen. Denn bei betagtenPatienten ist ein anderer Behandlungsansatz erfor-derlich. Ältere Menschen leiden viel häufiger unterBegleiterkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems,die berücksichtigt werden müssen, und an Muskel-schwäche und Gangstörungen, die die Sturzhäu-figkeit erhöhen. Diese Situation stellt hohe Anfor-

derungen an die behandelnden Ärzte und Pflege-kräfte.

Und wie werden Sie diesen Anforderungen gerecht?Markus Mord: In unserem Kompetenzzentrum fürAlterstraumatologie (bundesweit einem der erstenseiner Art) arbeiten die Unfallchirurgen eng mit Al-tersmedizinern zusammen. Das beginnt bereits inder interdisziplinären Notaufnahme: Bei allen Pa-tienten, die älter als 70 Jahre sind, werden routine-mäßig Begleiterkrankungen erfasst. Bei Einschrän-kungen der körperlichen und geistigen Leistungs-fähigkeit erfolgt eine Untersuchung und Mitbetreu-ung durch einen Altersmediziner. Außerdem wirdjeder Patient auf Anzeichen von Demenz, Ein-schränkungen der Beweglichkeit und Sturzgefahrhin untersucht.

Auch die Ernährungssituation und möglicheNebenwirkungen eingenommener Medikamentewerden berücksichtigt. Abhängig vom Allgemein-zustand des Patienten und seinen Begleiterkran-kungen müssen sowohl die Medikamente als auchdie Narkoseform an die altersspezifischen Be-sonderheiten angepasst werden. Daher werden beiälteren Menschen besonders schonende Narkose-verfahren eingesetzt. Auch bei der Schmerzthera-pie nach dem Eingriff werden die alters- und krank-heitsspezifischen Veränderungen des jeweiligenPatienten berücksichtigt. Bei Bedarf werden sievon speziell ausgebildeten Schmerztherapeutenbetreut.

Kompass Gesundheit 1/2016

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Wie gehen Sie vor, wenn ein älterer Patient bereits Begleiterkrankungen mitbringt?Markus Mord: Alterstypische Begleiterkrankungenwerden unmittelbar nach der Operation des Kno-chenbruchs mitbehandelt. Typischerweise handeltes sich dabei um die Behandlung der Osteoporo-se, den Ausgleich von Mangelernährung sowie dasVorbeugen und Behandeln von Verwirrtheitszustän-den. Durch die enge Zusammenarbeit zwischenUnfallchirurg und Altersmediziner ist es möglich,die Patienten in unserer Klinik für Orthopädie undUnfallchirurgie individuell und ganzheitlich zu be-treuen; eine Verlegung in eine andere Abteilung vorAntritt der stationären Reha ist nicht notwendig.

Ziel der Altersmedizin ist es ja, die Betroffenenwieder in ihr bisheriges soziales Umfeld einzu-gliedern, wo sie möglichst selbstständig den Aktivitäten des täglichen Lebens nachgehenkönnen sollen. Was wird dafür in Ihrem Zentrumfür Alterstraumatologie getan?Markus Mord: Oft beginnt gleich nach der Opera-tion auf unserer unfallchirurgischen Station die ge-riatrische Frührehabilitation: Ein Team aus Ärzten,Pflegenden, Physio- und Ergotherapeuten sowieMitarbeitern des Sozialdienstes betreut und be-handelt den Patienten mit dem Ziel, die vor demBruch bestandene Eigenständigkeit wiederzuer-langen. Diese Behandlung wird in regelmäßigenZeitabständen im Rahmen von Teambesprechun-gen und interdisziplinären Visiten festgelegt undaktualisiert.

Haben Sie vor, die Altersmedizin in Ihrem Hausnoch weiter zu stärken?Markus Mord: Ja. Wir möchten dieses Konzeptauch auf andere Bereiche ausdehnen; denn auchdort haben wir natürlich sehr viele ältere Patienten,die mit Delir und anderen Problemen in unser Hauskommen. Ich denke, da gehört ein gesamtes Paketdazu: nicht nur die medizinische Betreuung, son-dern auch Sozialdienste, Pflegeüberleitung und Di-abetesberatung. All diese Angebote haben wir hierim Haus. Und auch außerhalb unserer Klinik sindwir dank der Seniorenzentren und Pflegeheime derVinzenz von Paul gGmbH gut vernetzt. Außerdemkönnen wir den Patienten mit unserer Rehaklinik inBad Dietzenbach eine nahtlose orthopädische undkardiologische Anschlussheilbehandlung anbieten.

In diesem Bereich werden wir noch weitere Ideenentwickeln, um den Übergang zwischen stationärerund ambulanter Betreuung und Reha für die Pa-tienten möglichst reibungslos zu gestalten.

Was ist das Besondere an den Vinzenz von PaulKliniken und Pflegeeinrichtungen? Markus Mord: In allen unseren Häusern folgen wirdem Grundsatz des Ordensgründers Vinzenz vonPaul: „Wenn wir den Kranken wirklich helfen wollen,müssen wir ihnen mehr als Medizin und Brot ge-ben.“ Das bedeutet für uns, den Menschen in sei-ner Ganzheit zu sehen und zu respektieren; und ichglaube, diesen Geist der guten Kommunikationund des Miteinanders spürt man in unseren Ein-richtungen. Das Leitbild „Liebe sei Tat“ wird trotzökonomischer Zwänge und anderer Belastungenimmer noch zu leben versucht.

Also nicht einfach nur Hightech-Medizin, sondern auch menschliche Medizin?Markus Mord: Genau. Darin schulen wir unsereMitarbeiter, damit dieser Geist auch dann in unse-rem Haus weiterlebt, wenn nicht mehr so viele Or-densschwestern da sind.

Wie viele Ordensschwestern arbeiten denn nochim Marienhospital?Markus Mord: 42. Es sind schon weniger gewor-den, aber die Schwestern sind noch unterwegsund wirken u. a. in der Pflege, im Bildungszentrum,in der Küche, der Apotheke und im Verwaltungsbe-reich mit.

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Markus MordGeschäftsführerVinzenz von Paul Kliniken gGmbHMarienhospital StuttgartBöheimstr. 3770199 Stuttgartwww.marienhospital-stuttgart.de

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Ma�hias Holtmann

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Parkinson

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PARKINSON

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Keine Angst vor der Narkose

Delir – Gehirn im Ausnahmezustand

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Im Gespräch mit

Prof. Maio:

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Wie alt sind Sie wirklich?

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Kochen mit wärmenden Gewürzen

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Keine Angst

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Psychische Erkrankungen

Nr. 4 2015

In Zusammenarbeit mit der

Der nächste Kompass Gesundheit

erscheint im April 2016

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Page 38: Kompass Gesundheit 1/2016

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Alle haben sie, nur wenigen bereiten sie Sorgen:

Divertikel

Fast alle älteren Menschen haben sie und werden niemals Probleme damit bekommen: Divertikel, die etwa erbsen- bis kirschgroßen, sackförmigen Ausstülpungen in der Wand des Dickdarms. In wenigen Fällen jedochentzünden sie sich, bluten oder brechen durch. Und das ist dann eine ziemlich ernste Angelegenheit.

Der Verdauungskanal zieht sich von der Mund-öffnung des Menschen bis zur Öffnung des

Darms nach außen, dem After. Die Aufgabe desVerdauungskanals ist die Verdauung der Nahrungs-mittel und die Aufnahme der Nährstoffe über dasBlut in den Organismus, um alle Lebensfunktionenaufrechtzuerhalten. Dieser Kanal ist mit Schleim-haut ausgekleidet. In dieser befinden sich Schleim-zellen, deren Ausscheidung die Schleimhautflächeglitschig macht, damit alle Nahrungsbestandteileleicht über sie hinwegbewegt werden können. DieSchleimhaut liegt auf einer Schicht von glatterMuskulatur. Diese sorgt dafür, dass sich die Darm-wand bewegen kann, um den Nahrungsbrei vor-wärtszutreiben.

Lücken in der Ringmuskelschicht der Darmwandgibt es überall dort, wo Blutgefäße zur Schleimhautführen. Dort kann die Schleimhaut unter bestimm-

ten Bedingungen eine sackartige Ausstülpung bil-den, die durch die Lücke der Muskelschicht hin-durchdringt. Die Schleimhautausstülpungen kön-nen einerseits innerhalb der Darmwand bleiben.Man bezeichnet diesen Zustand als inkompletteDivertikel. Oder sie können sich – nun als komplet-te Divertikel benannt – über die gesamte Darm-wand deutlich nach außen hin vorwölben. Norma-lerweise haben Divertikel einen Durchmesser zwi-schen ein und zwei Zentimetern. In der Praxis kön-nen erworbene Divertikel im gesamten Dickdarmvorkommen, finden sich jedoch besonders häufigim letzten Teil, dem Sigma (Colon sigmoideum).

In den Divertikeln sammeln sich Kotreste an. Dadie Divertikel aber mit keiner Muskelschicht unter-legt sind, die durch ihre Kontraktion den Inhalt wie-der aus der Aussackung hinausdrücken könnte,bleiben die Kotreste dort stecken. Dazu kommt,

Kompass Gesundheit 1/2016

Prof. Dr. med. Bodo Klump

Page 39: Kompass Gesundheit 1/2016

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dass das intervallartige Zusammenziehen derDarmmuskulatur den Hals der Divertikel einschnürtund so den Kot noch fester in sie hineindrückt. ImLaufe der Zeit kann es so aufgrund der Schleim-hautaussackungen zu winzigen Verletzungen desGewebes kommen. Die zuerst nur örtliche Entzün-dung des Divertikels kann sich so auf eine größereDarmfläche ausweiten.

Wie machen sich Divertikel bemerkbar?Man merkt eigentlich gar nicht, ob man Divertikelhat, denn Divertikel an sich sind zwar eine Fehlbil-dung, rufen aber nicht automatisch auch Organ-fehlfunktionen hervor, die sich als Symptome be-merkbar machen. Die Verdauung funktioniert wieeh und je. Und es ist keine Rede von Unpässlich-keiten oder gar Schmerzen. Und auf diese Weisekann der Betroffene seine Divertikel das restlicheLeben mit sich tragen – ohne dass er jemals Pro-bleme damit bekommt.

Erst wenn sich Divertikel entzünden und der Ent-zündungsprozess um sich greift und größere Bezir-ke der Darmschleimhaut erfasst, merkt der Betrof-fene durch unterschiedliche Symptome etwas vondieser Veränderung. Verdauungsstörungen, viel-leicht gelegentliche Bauchschmerzen veranlasseneinen Arztbesuch. Eine röntgenologische Untersu-chung oder eine Darmspiegelung lassen dann aberkeinen Zweifel mehr an der möglichen Diagnose:Divertikulitis.

Das Beschwerdebild einer akuten Divertikulitiskann sehr unterschiedlich sein, weil es vom Aus-maß der Erkrankung abhängt. Der Patient fühlt sichallgemein krank, kann an Fieber, Appetitlosigkeit,an Übelkeit und Erbrechen leiden. Meist gibt es er-kenntliche Probleme mit der Verdauung. Durchfallwechselt mit Verstopfung. Auffällig ist eine Neigungzu starken Blähungen. Auch Schmerzen im linkenUnter- oder Mittelbauch treten auf. Wenn der Arztden Bauch des Betroffenen abtastet, fühlt er meistschon im linken Unterbauch einen walzenförmigenWiderstand.

Divertikulose – eine Alterserkrankung?Offenbar treten Divertikel erst in späteren Lebens-abschnitten auf. Die Statistik besagt, dass die Di-vertikulose in der Gruppe vom Kindesalter bis zum25. Lebensjahr so gut wie überhaupt nicht vor-kommt, in der Gruppe der 30- bis 40-Jährigen im-

mer noch relativ gering ist: Die Häufigkeit beträgtdort weniger als 10 %. Im folgenden Lebensjahr-zehnt erhöht sich die Häufigkeitsrate aber immer-hin auf 20–35 %. Ab dem 70. Lebensjahr übersteigtsie rasch 40 %. Man schätzt, dass 66 % der über80-Jährigen Kolondivertikel haben. Dazu kommt,dass mit zunehmendem Alter die Divertikel zahlen-mäßig zunehmen und sich auch vergrößern kön-nen. Zwischen Frauen und Männern wurde bislangkein Unterschied in der Anfälligkeit für Divertikelbeobachtet. Mit zunehmendem Alter scheinenFrauen bevorzugt von Divertikeln befallen zu wer-den.

Die Ursache für eine Divertikelbildung scheint ineiner „Materialermüdung“ der Darmwand zu lie-gen, die natürlich einerseits verständlicherweise al-tersbedingt ist. Der Dickdarm wird arteriell von Ge-fäßen versorgt, die durch Lücken in der Darmmus-kulatur zur Darmschleimhaut führen. Aus dieserpotenziellen Schwachstelle wird durch eine spätereVergrößerung derselben eine Schleimhautausstül-pung provoziert. Dazu kommt andererseits abernoch, dass im Alter zwangsläufig die Längsmusku-latur in ihrer Leistungsfähigkeit vermindert wird.

Dass in früheren Jahrzehnten Divertikel seltenoder gar nicht manifest waren, lässt sich natürlichauch damit plausibel erklären, dass die Menschen

Kompass Gesundheit 1/2016

Querdarm

absteigenderDickdarm

Divertikel

Sigma

Rektum

Darstellung der Darmwand im

Normalzustand (oberer Teil) und

mit Divertikeln (rechter Teil)

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40 Kompass Gesundheit 1/2016

einst in der Regel jünger starben, also erst gar nichtdie Altersgrenzen erreichten, in denen der Menschoffenbar verstärkt zur Divertikelbildung neigt.

Die Divertikelkrankheit – eine moderne Erkrankung?Eine leidige Tatsache heute ist, dass wir unseremKörper mit der täglichen Nahrung zu wenige Bal-laststoffe zuführen. Die Nahrung wurde in den ver-gangenen Jahrzehnten industriell immer weiter ver-feinert und faserreiche Nahrungsbestandteile sys-tematisch eliminiert.

Eine Statistik besagt, dass z. B. unsere Vorfahrenvor 100 Jahren doppelt so viel an Ballaststoffen zusich nahmen wie wir heute. Das ist keine nur so ausder Luft gegriffene Annahme, wissenschaftlicheStudien haben diesen Verdacht längst erhärtet. InEuropa, Nordamerika und Australien gelten Diverti-kel als die häufigste krankhafte Veränderung desDarms. Eine Studie errechnete für die USA alleinrund 30 Millionen Divertikelträger!

In den Ländern der Dritten Welt dagegen, in de-nen sich die Menschen immer noch traditionell fa-serreich ernähren, sind Divertikel immer noch keingesundheitliches Problem. Wenn aber der „Segen“unserer Zivilisation auch in diese Länder vordringtund dort unsere Ernährungsweise langsam popu-lär wird, treten auch dort vermehrt Fälle mit krank-haften Divertikeln auf. Was eine ballaststoffreicheErnährung mit der Vermeidung von Divertikeln zutun hat, liegt auf der Hand.

Ballast- oder Faserstoffe sind neben den dreigroßen Stoffgruppen Kohlenhydrate, Fette und Ei-weiße (die der Körper zum Leben benötigt) unver-dauliche pflanzliche Nahrungsbestandteile. Dashört sich nach etwas Überflüssigem an, doch dieseBallaststoffe (z. B. Zellulose) sind alles andere alsnutzlos! Sie sind für eine funktionierende Verdau-ung unerlässlich. Sie füllen den Darm und haltendamit die Verdauung überhaupt in Gang. Ballast-stoffe quellen unter Einwirkung von Wasser imDarm auf und halten den Stuhl weich und ge-schmeidig. Ballaststoffe erhöhen aber auch dasGewicht des Stuhls. Dies hat zur Folge, dass derDarm „richtig“ gefüllt ist, also die Darmwand kräf-tig gedehnt – und gleichzeitig der Gasdruck imDarm wesentlich verringert wird. Bei ballaststoffar-mer Ernährung dagegen entsteht ein höherer Gas-druck im Darm (intraluminaler Druck), der natürlich

auf die Schleimhaut wirkt. So kann es leicht pas-sieren, dass besonders an jenen Schwachstellen,den Gefäß-Muskel-Lücken, sich die Darmschleim-haut (Mukosa und Submukosa) ausstülpt. Ein Di-vertikel ist entstanden. Vorerst verursacht dieserkleine „Organfehler“ noch keine Probleme, jedochist zumindest eine Schwachstelle vorhanden.

DivertikulitisAls Divertikulitis bezeichnet man die Entzündungder Wand einer solchen Aussackung der Darm-schleimhaut. Divertikel müssen keine Problemebereiten, doch sie können dies manchmal tun. Inetwa 20 % aller Fälle wird aus einer Divertikuloseeine Divertikulitis. Wenn sich die Schleimhautaus-sackung durch die dort zurückgehaltenen Kotrestemit ihren giftigen Inhaltsstoffen, den Bakterien,bzw. durch die mechanischen Reize solcher Kot-reste entzündet, werden vormals beschwerdeloseDivertikel zu einem Problem. Oft beginnen die Be-schwerden mit einer Veränderung der Darmtätig-keit. Hartnäckige Verstopfung wechselt mit uner-klärlichen Durchfällen. Ebenso kann der Betroffenean starken Blähungen leiden. Die Ursache dafür istprimär nicht in den Divertikeln zu sehen, sondernim Vorliegen eines Reizkolons (Colon spasticum).Die Gründe dafür sind vielfältig. Im Vordergrundsteht wohl eine Störung der Darmbewegung (Moti-litätsstörung). Die Schmerzen können nach kurzerZeit wieder verschwinden, aber auch mehrere Tageandauern. Stuhlentleerung und Abgang der Darm-gase führen oft rasch zu einer Erleichterung.

Der Arzt teilt die Divertikelkrankheit in vier Sta-dien ein. Im 1. Stadium bereiten die Divertikel inZusammenhang mit einem Reizkolon gelegentlichBauchschmerzen und Verdauungsbeschwerden.Im Stadium 2 hat sich das Vorhandensein von Di-vertikeln dergestalt krankhaft verschärft, dass dieSchleimhautausstülpungen entzündet sind. DasStadium 3 bezeichnet eine Ausbreitung der Ent-zündung auf die unmittelbare Nachbarschaft. DerArzt spricht von einer Peridivertikulitis. Der Entzün-dungsprozess kann sich aber weiter ausdehnenund größere Darmsegmente erfassen (Stadium 4).Dieser Zustand wird als Perikolitis bezeichnet.

DivertikelperforationBei einer Entzündung entsteht Eiter und dieSchleimhautschicht wird verletzlicher, dünner, kann

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perforieren. Dies bedeutet, dass sich Eiter und Darminhalt in den Bauchraum ergießen können.Das Bauchfell reagiert sehr empfindlich auf einge-drungene Keime und diese Situation mobilisiertsämtliche Abwehrkräfte des Immunsystems. DerPatient leidet oft sehr plötzlich unter ernsten allge-meinen Gesundheitsstörungen wie hohem Fieber,heftigen Bauchschmerzen, Kreislaufproblemen. Esbesteht akute Lebensgefahr und nur eine Notope-ration kann das Leben des Betroffenen retten. Einesolche „freie“ Perforation mit einem Erguss in dieBauchhöhle ist aber relativ selten und kommt vorallem bei Patienten vor, die zwar Divertikel haben,jedoch noch nie zuvor unter einer Divertikelentzün-dung litten.

Man kennt weiter noch den Begriff der „gedeck-ten“ Divertikelperforation, bei der es „nur“ zu einerlokalen Bauchfellentzündung kommt, wobei manaber kein Leck im Darm findet, durch das der Darminhalt eingedrungen ist. Das große Netz hatdiesen Bereich abgedeckt. Diese Art der „Perfora-tion“ kann in Zusammenhang mit der Bildung einesAbszesses oder einer Fistel stehen.

DivertikelblutungEine Divertikelblutung ist meist ein Ereignis, dasohne Vorwarnung einsetzt. Wer unter einer Diverti-kulose leidet, bekommt erfahrungsgemäß sehr sel-ten eine Divertikelblutung. Dies passiert zumeistbei Betroffenen, die zwar Dickdarmdivertikel besit-zen, bei denen diese sich aber noch nie durch Be-schwerden bemerkbar gemacht haben. Dies aberist dabei das größte Problem, weil auch der Arzt,der mit der Blutung als Notfall konfrontiert ist, de-ren Ursache nicht kennt.

Für eine perianale Blutung aus dem After kom-men noch andere Ursachen als eine Divertikulosein Betracht, lädierte Hämorrhoidalgefäße etwaoder ein Tumor. Das Kuriose an den Umständen ist,dass in der Regel jene Patienten eine besondersstarke Blutung zeigen, deren Divertikel an sich bis-lang unkompliziert sind.

Eine besonders starke Blutung geht auf das Plat-zen kleiner Arterien am Rand eines Divertikels zu-rück. Je nach Art der Gefäßläsion kann das Blut re-gelmäßig und stark abgehen oder in unregelmäßi-gen Schüben. Tröstlich ist aber die Erfahrung, dassdie Blutung in fast 80 % aller Fälle von selbst wie-der aufhört. Der Rest bedarf einer Behandlung.

Wie behandelt man die Divertikulitis?Zur Eindämmung des entzündlichen Prozesses(meist handelt es sich um Bakterien wie E. colioder Streptokokken) werden Antibiotika verab-reicht. In der Regel dauert dies 7–10 Tage. Um derUnterbauchschmerzen Herr zu werden und denDarm ruhig zu stellen, erhält der Patient so ge-nannte Spasmolytika, also Substanzen, die dieglatte Muskulatur der Darmwand entspannen. Fallsdies nicht ausreicht, um die Schmerzen zu stillen,können zusätzlich noch Schmerzmittel gegebenwerden. Man ist damit aber sehr zurückhaltend,weil eine Schmerzbekämpfung mit stark wirkendenMitteln (Opiaten) im unteren Dickdarmbereich (Sig-ma) den Darmdruck erhöhen kann. Außerdem istein starker Schmerz auch ein Indikator für eineeventuelle Komplikation, etwa den Durchbruch ei-nes Divertikels. Und es würde wenig Sinn machen,diesen Zustand durch eine zu intensive Schmerz-bekämpfung zu kaschieren.

Man muss aber auch wissen, dass Ballaststoffesehr unterschiedlich wirken. Am günstigstenschneidet dabei Weizenkleie ab, die am meistenWasser bindet und das Stuhlgewicht beträchtlicherhöht. Doch auch da sind Feinheiten zu beachten:Grobe Weizenkleie, die dem ungeübten Gaumennicht so schmeckt, nimmt mehr Wasser auf als feingemahlene Produkte aus Weizenkleie. Auch Lein-samen haben eine heilsame Wirkung. Eine Faustre-gel besagt, dass man jeden Tag um die 25 GrammLeinsamen oder Weizenkleie mit ausreichend Flüs-sigkeit zu sich nehmen sollte. Viele Patienten neh-men zwar fleißig Ballaststoffe zu sich, übersehenaber, dass ausreichend Flüssigkeit notwendig ist,damit der Ballaststoff im Darm auch ausreichendFlüssigkeit aufnehmen und zu einer großen Massequellen kann.

Kompass Gesundheit 1/2016

Prof. Dr. med. Bodo Klump istChefarzt der Klinik für Innere Medizin, Gastroenterologie und TumormedizinKreiskliniken Esslingen gemeinnützige GmbHParacelsus-Krankenhaus RuitHedelfinger Straße 16673760 OstfildernE-Mail: [email protected]

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KurzmeldungenMittagsschlaf wirkt sich positivauf Langzeit-Blutdruckwerte ausWer sich einen Mittagsschlaf gönnt, hat bessereBlutdruck- und Pulswerte. Zu diesem Ergebniskam ein griechisches Forscherteam, das 386 Blut-hochdruck-Patienten untersuchte: Die Patienten,die sich eine Siesta gönnten, hatten einen um 5 %(6 mmHg) niedrigeren mittleren 24-Stunden-Blut-druckwert als die Studienteilnehmer aus der Kon-trollgruppe, die auf Mittagsschlaf verzichteten.Der durchschnittliche systolische Blutdruckwerttagsüber war um 4 % (5 mmHg) niedriger, in derNacht sogar um 6 % (7 mmHg). Das hört sich viel-leicht nicht nach viel an; doch schon eine Sen-kung des systolischen Blutdrucks um 2 mmHgkann das Risiko für ein Herz-Kreislauf-Ereigniswie Herzinfarkt oder Schlaganfall um 10 % sen-ken!

Deutsche Gesellschaft für Kardiologie

Baden-Württem-berg hat niedrigstenKrankenstandbundesweitJede der fast 500 000 Erwerbspersonen, die bei der TechnikerKrankenkasse (TK) in Baden-Württemberg versichert sind,war im vergangenen Jahr durchschnittlich 12,2 Tage krankge-schrieben. Der Krankenstand liegt damit bei 3,35 % (2013:3,31 %). Trotz leichtem Anstieg gegenüber dem Vorjahr istdies der niedrigste Krankenstand unter allen Bundesländern:Im Bundesdurchschnitt meldet die TK 4,06 %! Zugenommenhaben vor allem Fehlzeiten aufgrund von Erkrankungen desMuskel-Skelett-Systems (beispielsweise Rückenschmerzen)und psychischen Störungen. Allein wegen Letzteren hat 2014jede TK-versicherte Erwerbsperson in Baden-Württemberg2,1 Tage gefehlt (2006 war diese Diagnosegruppe nur für 1,2Fehltage verantwortlich).

Techniker Krankenkasse (Landesvertretung Baden-Württemberg)

Niedrigeres Geburtsgewicht führt zu erhöhter Fettmasse im AlterEin niedriges Geburtsgewicht korreliert mit einer höherenFettmasse im Alter. „Die Neigung zu einem erhöhten Fett-massenanteil scheint früh bestimmt zu sein. Auf welche Artund Weise ein niedriges Geburtsgewicht im Alter zu einer er-höhten Fettmasse führt, ist noch ungeklärt“, so Dr. ThomasKofler vom Universitätsspital Basel, einer der Autoren derGAPP-Studie, die 1774 gesunde Personen zwischen 25 und41 Jahren untersuchte. Dass ein niedriges Geburtsgewichtdas Risiko für Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankun-gen im Alter erhöht, ist bereits seit längerem bekannt. DieBasler Studiengruppe untersuchte nun den Zusammenhangzwischen Geburtsgewicht und Körperzusammensetzung.Der erhöhte Fettmassenanteil könnte durch eine gesteigerteStoffwechselaktivität und verstärkte Ausschüttung entzün-dungsfördernder körpereigener Substanzen eine bisherunterschätzte Rolle bei der Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen spielen, meint Dr. Kofler.

Deutsche Gesellschaft für Kardiologie

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24.2.2016 20.00 UhrAdipositas – Therapie einer KrankheitDr. med. Suso Lederle im Gespräch mit Prof. Dr. med. MonikaKellerer, Prof. Dr. med. Michael Schäffer und Carola Daschner(Adipositas-Selbsthilfegruppe)

Jeder zweite Deutsche ist zu dick, jeder fünfte sogar adipös(BMI über 30). Das gewichtige Problem ist nicht nur eineschwere Last, sondern auch ein Risiko für Erkrankungen wieDiabetes, hoher Blutdruck und Schlaganfall. Jeder redet vomAbnehmen, doch ohne Änderung von Lebens- und Ernäh-rungsstil wird niemand Erfolg haben. Leichter werden istSchwerstarbeit. Doch für extrem Dicke ist auch eine operativeMagenverkleinerung eine Perspektive zum Abspecken.TREFFPUNKT Rotebühlplatz Rotebühlplatz 28; 70173 Stuttgart

12.3.2016 9.00–16.00 Uhr4. Stuttgarter Kinder- und JugendrheumatagDie juvenile idiopathische Arthritis (JIA), auch häufig als „kind-liches Rheuma“ bezeichnet, ist eine Erkrankung, die im Alltagerhebliche Veränderungen mit sich bringt. Mit unserer Veran-staltung möchten wir Ihnen den Umgang mit der Erkrankungerleichtern und Ihr Wissen darüber komplettieren.Mit Unterstützung verschiedener Fachdisziplinen werden wirIhnen ein umfassendes Bild über die juvenile idiopathische Arthritis, deren Behandlung, Symptome, Komplikationen undmehr vermitteln. Dies ist wichtig, da die Krankheitsbewälti-gung erfahrungsgemäß am besten gelingt, wenn die betroffe-nen Familien eine realistische Vorstellung von der Krankheithaben. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt, daher ist eine Anmel-dung erforderlich unter: [email protected]ühren:Einzelpersonen 10 Euro, Familien 20 Euro. Die Gebühr ist direkt am Tag der Veranstaltung zu entrichten.Olgahospital, Olgaraum, Ebene 1Kriegsbergstr. 62; 70174 Stuttgart

22.3.2016 19 Uhr BauchaortenaneurysmaProf. Dr. Florian Liewald, Dr. Helmut KachlerAltes Rathaus Esslingen, SchickhardthalleRathausplatz73728 Esslingen am Neckar

Termine

23.3.2016 20.00 UhrWie bleibe ich gesund? – Was sagt der Kardiologe dazu?Dr. med. Suso Lederle im Gespräch mit Prof. Dr. med. Matthias Leschke

Gesund bleiben ist besser als krank werden. Doch zu wenigebemühen sich darum, gesund zu bleiben. Dabei sollte es je-dem eine Herzenssache sein zu wissen, was gut ist, damit dieGefäße jung bleiben, damit die Herzkraft erhalten und derBlutdruck normalisiert wird. Wer will, der kann – und sollte –sich deshalb informieren, wie das Leben zu gestalten ist, umgesund alt zu werden.TREFFPUNKT Rotebühlplatz Rotebühlplatz 28; 70173 Stuttgart

9.4.2016 10.00–17.00 Uhr20. Krebsinformationstag Für Patienten, Angehörige und Interessierte(Patientenveranstaltung)Uni-Klinik TübingenOtfried-Müller-Straße 10; 72076 Tübingen

19.4.2016 19 Uhr Sinnvolle Vorsorge und Präventionsmaßnahmen Dr. Helmut Kachler, Prof. Dr. Thorsten Kühn, Prof. Dr. Matthias LeschkeAltes Rathaus Esslingen, SchickhardthalleRathausplatz73728 Esslingen am Neckar

27.4.2016 20.00 UhrHepatitis – Unerkannt leberkrankDr. med. Suso Lederle im Gespräch mit Prof. Dr. med. Wolfram Zoller

Die Leber ist die große Chemie- und Entgiftungszentrale un-seres Körpers. Sie verträgt viel, aber nicht alles. Zu viel Alko-hol und fette Speisen setzen ihr zu. Zudem können Viren Typ A – E eine lange unbemerkte Hepatitis hervorrufen – mit demRisiko einer Zirrhose und eines Leberzellkrebses. TREFFPUNKT Rotebühlplatz Rotebühlplatz 28; 70173 Stuttgart

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1. STUTTGARTER

HERZTAG

Kompass Gesundheit

Veranstaltungszentrum

Waldaupark9. Juli 201610 bis 16 Uhr

Mit Vorträgen von

Prof. Hansjörg BäznerProf. Ulrich FrankeProf. Christian HerdegProf. Ralf LobmannProf. Thomas NordtDr. Stefan Reinecke Dr. Martin RungeProf. Udo SechtemDr. Norbert SmetakDr. Gabriele Wehr

Moderation

Dr. Suso Lederle

SchirmherrschaftBNK (Bundesverband Niedergelassener Kardiologen e.V.)

In Zusammenarbeit mit

LVPR Baden-Württemberg e.V.

EINTRITT FREI