Lass mir die Welt, verschule sie nicht!...Philosoph Odo Marquard: »Weil die Menschen zu Geschichten...

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Leseprobe aus: Fratton, Lass mir die Welt, verschule sie nicht!, ISBN 978-3-407-85991-4 © 2014 Beltz Verlag, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-85991-4

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»Weil die Menschen zu Geschichten erst dannwerden, wenn ihnen etwas dazwischenkommt …,sind wir stets mehr unsere Zufälle als unsereLeistungen … Es sind die Kontingenzen, dieZufälle, die sie zu Geschichten machen. Erstwenn einem geregelten Ablauf oder einer geplan-ten Handlung ein unvorhergesehenes Widerfahr-nis widerfährt, müssen sie – die Geschichten –erzählt werden.«

Odo Marquard, Philosoph

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Vorwort

Von Reinhard Kahl

Diese Flugschrift erzählt eine Geschichte. Niemandwende sich ab und sage, es sei doch nur eine Geschichte.

Diese Flugschrift erzählt auf besondere Weise einebesondere Geschichte. Sie präsentiert kein Modell.

Diese Flugschrift bietet auch keine Theorie, wennman unter Theorie den Blick von außen versteht, der jaauch nötig ist! Das Kinderspiel »Ich sehe was, was dunicht siehst« ist wunderbar erhellend und war fürNiklas Luhmann eine der höchsten Erkenntnismaxi-men. Nur schließt sich daran häufig das fatale Missver-ständnis an, aus den Vorteilen eines Blickes von außenzu folgern, dieser sei prinzipiell überlegen oder berech-tige gar als Blick von oben dazu, Vorschriften zu ma-chen, Anweisungen zu geben oder zu verlangen, dassdie Praxis die Ergebnisse irgendeines höheren Wissensumzusetzen habe. Etwa in der Art: Wir haben kein Er-kenntnisproblem, wir haben nur ein Umsetzungspro-blem. Ein dummer Satz, den man in bildungspo-litischen und auch erziehungswissenschaftlichenDiskursen häufig hört. Es geht doch darum, dass dieErkenntnis die Praxis ergreift und die Praxis sich

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Vorwort

verwandelt. Die Würde und Intelligenz der Praxis zustärken, das sollte wie ein Notenschlüssel vor den Par-tituren der Bildungsdiskurse stehen!

Keine Modelle also, die kopiert werden sollen! Aberansteckende Inspirationen. Peter Fratton erzählt vonseiner Praxis und von seinen Ideen.

Am Anfang stand bei ihm ein starker, fast ästheti-scherWiderwille: So will ich nicht leben. Nicht so lang-weilig und wirkungsschwach. Nicht so vergeblich, wieer sich als junger Lehrer erlebt hatte. So wollte er nichtweitermachen. Jeder, wirklich jeder von all den Schul-erneuern und Lernaufwieglern, die ich kennenlernendurfte, hatte so eine Krise, in der sie oder er nah derVerzweiflung war. Auch Atheisten sind dann auf einenSchutzengel angewiesen. Oder auf eine gute Fee. Daswar bei ihm die Psychologin Ruth Cohn. Sie bestärkteihn darin, statt aus der Schule zu flüchten eine zu grün-den. Das war der Anfang einer neuen Geschichte, aufdie viele Geschichten folgten. Das war nie die Umset-zung von Ideen in die Praxis. Eine Geschichte kann niefertig sein. Sie ist die Kunst von Neuanfängen.

Peter Fratton spricht deshalb auch gern vom derzei-tigen Stand seines Irrtums. Das ist kein Understate-ment. Es gehört zur Paradoxie der Wahrheit, dass sievorsichtig und nicht endgültig daherkommt. Dass sieaufleuchtet und nicht abfackelt.

Peter Fratton erzählt und er ist zugleich der Gram-matik seiner Geschichte auf der Spur. Wie blickt man

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Vorwort

auf die anderen? Wie gehen die Lernenden und Leh-renden miteinander um? Er selbst spricht von Lern-partnern und Lernbegleitern. Das ist ein anderer Ton.Das ist eine andere Haltung. Das ist tatsächlich eineandere Grammatik der Beziehungen. Auch sie ist nichtdavor gefeit, missverstanden zu werden, wenn jemanddiese Wörter nur kopiert, die Lehrer zu Lernbegleiternumtauft und die Schüler von heute auf morgen Lern-partner nennt. Es nicht neu, dass man Genies, also die-jenigen, die eigenes hervorbringen, gegen ihre Epigo-nen verteidigenmuss. Der Unterschied zwischen ihnenist beträchtlich. Zwischen Marx und den Marxisten,zwischen Freud und den Freudianern ebenso, vonChristus und den Christen gar nicht zu reden. Also garnicht erst ein Guru werden! Und genau das ist PeterFrattons erste Überzeugung: Lernen kann niemals Ko-pieren sein, weder bei den Kindern noch bei den Schul-erneuern.

Das schon deshalb, weil immer etwas dazwischen-kommt. Das ist sozusagen die Geheimgrammatik da-von, eine Geschichte nicht nur zu haben, sondern einezu sein. Niemand hat das so klar ausgedrückt wie derPhilosoph Odo Marquard:

»Weil die Menschen zu Geschichten erst dann wer-den, wenn ihnen etwas dazwischenkommt …«

Als ich Peter Fratton darum bat, diese Flugschriftzu schreiben, schickte ich ihm das Zitat. Schön, dass eres seinem Buch vorangestellt hat. Ich zitiere noch etwas

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Vorwort

mehr Marquard und übergebe mit Dank und Freudedie Stafette an Peter Fratton. »Darum müssen Ge-schichten – Handlungs-Widerfahrnis-Gemische – er-zählt werden. Wir Menschen sind unsere Geschichten;Geschichten muss man erzählen; darum müssen wirMenschen erzählt werden. Wer auf das Erzählen ver-zichtet, verzichtet auf seine Geschichte. Wer auf seineGeschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber: nar-rare necesse est.«* (Erzählen tut Not.)

Reinhard Kahl, Januar 2014

* Odo Marquard: Skepsis in der Moderne. Stuttgart: Reclam2007, S. 64

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Taylorismus versusNeugierde –ein Vergleich

Im Kern des tayloristischen Denkens und Handelnsgeht es um die Machtfrage: Wer bestimmt, in welcherWeise und mit welchem Tempo gearbeitet wird? Da-nach muss der Arbeitsprozess so gestaltet werden, dasser keiner besonderen Fertigkeiten der Arbeiter mehrbedarf, was zu (gewollter) zunehmender Dequalifizie-rung führt, denn ohne eigenes Wissen über die Pro-duktionsverfahren und -prozesse werden die Arbeits-kräfte austauschbar und die Möglichkeit, Leistungzurückzuhalten, wird beschnitten. Die Planung derArbeit soll keinesfalls dem ausführenden Arbeiter zu-kommen. Sein Handlungsspielraum bleibt extrem ein-geschränkt.

Ich übersetze die Sprache der Produktion in dieSprache der Pädagogik: Der Dozent an der Hochschuleoder der Lehrer in der Schule bestimmt, in welcherWeise und in welchem Tempo gearbeitet wird. Danachmuss der Lernprozess so gestaltet werden, dass er kei-ner besonderen Kreativität der Studenten/Schülermehr bedarf, was zur zunehmenden Dequalifizierung

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Taylorismus versus Neugierde – ein Vergleich

führt, denn ohne eigenesWissen über die zu erreichen-den Kompetenzen werden die Lernenden normiert.Die Planung der zu erreichenden Kompetenzen darfkeinesfalls dem Studenten oder Schüler zukommen.Damit wird das Finden des eigenen Lernweges extremeingeschränkt.

Henry Ford hat in seinen Fabrikationsstätten zu-sätzlich die Fließbandarbeit eingeführt. Ich erinneremich an die Bilder: Kaum voneinander zu unterschei-dende Menschen schauen mit leeren Blicken in dieKamera. Je höher die Schulstufe, umso mehr ähneltdas Bild des Schulzimmers jenem der Fließbandfab-rik: Hintereinander aufgereiht stehen die Schulbänkeausgerichtet auf den Lehrerplatz und steht die Wand-tafel, die eventuell durch Smartboards modernisiertwurde. Man hört zu oder gibt sich den Anschein desZuhörens. Weil aber viele heutige Menschen gelernthaben, sich nicht mehr so zu unterwerfen, wie es nochvor wenigen Jahren der Fall war, entstehen Seitenge-spräche, Störungen, Rebellion, Respektlosigkeiten etc.

Jede Umgebung, der ichmich länger aussetze, sozia-lisiert oder asozialisiert mich. Eine wichtige Forderungist deshalb, dass die Studentinnen ihre Hochschule unddie Kinder bzw. deren Eltern den Lernort wählen dür-fen, der ihrer bisherigen Sozialisation am besten ent-spricht. Da sich jedoch Schulen und Hochschulendurch Verordnungen und Strukturen sehr ähneln, er-übrigt sich diese Wahl, weil es sie de facto nicht gibt,

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außer ich kann es mir finanziell leisten, außerstaatlicheAngebote in den Alternativentscheid einzubeziehen.

Nach wie vor sind Detailversessenheit und Wissenein Kennzeichen des Studiums der Pädagogik. Aber jemehr man »weiß«, was man machen muss, desto weni-ger scheint man bei sich sein zu müssen. Ja, es läuft ei-niges grundsätzlich falsch in Bildung und Ausbildung,und das ist nicht durch einfache Reorganisation zu be-wältigen.

Wenn es gelingt, vom Taylorismus zum Lean Ma-nagement (hier übersetzt mit schlanker Führung) odervom Stückwerkdenken zur Ganzheitlichkeit zu gelan-gen, ist vieles, vielleicht sogar alles gewonnen. Auchwenn es an Hochschulen und Schulen nicht um Pro-duktivität gehen mag, so geht es doch um eine Ökono-mie der Kräfte – und der Freiheit.

Es müsste gelingen, Menschen an ihren Lebens- undLernorten wieder irritierbar zu machen oder zu halten,weil die Fähigkeit zur Irritation eine Voraussetzung fürLebendigkeit, für die Fähigkeit, sich überraschen las-sen zu können, für Offenheit, ja, auch für (wiederent-deckte) Neugierde ist.

Wir dürfen davon ausgehen, dass das Bedürfnisnach Neuem angeboren ist. Menschen und Tiere sindneugierig. Bei vielen Tierarten erlischt das Neugierver-halten mit der Geschlechtsreife. Bei den Menschen –was für eine Chance! – kann es ein Leben lang beste-

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hen, wenn es nicht zum Erlöschen gebracht wurde. Jeoffener und wacher ein Mensch ist, je zweckmäßiger ersich verhält, desto mehr erzählt ihm die Umwelt. Jemehr ihm die Umwelt erzählt, desto erfahrener wird er.Je erfahrener er wird, desto selbständiger, sicherer undproduktiver wird seine Art zu denken. Wissen Sie,wann vielen Menschen die Neugier abhandenkam?Nein? Aber Sie wissen, dass es so ist? Dabei, so Nietz-sche, sind die Glücklichen neugierig. Es mag vieleGründe und Situationen gegeben haben, die der Neu-gier das Neu nahmen. Zu solchen Situationen gehörtauch das, was in etlichen Schulen und Hochschulen ge-schieht. Bleibt die Gier zurück, wenn wir nicht mehrneu-gierig sind?

Eine Form der Neugierde ist beständig, nämlich dieLust nach Sensationen. Davon leben ganze Medien-zweige: Interessant ist, was sensationell ist. Ist Sensati-onslust die pervertierte Neugierde auf Kosten derWissbegierde? Oder wurde uns die bei jedem Men-schen einmal vorhandene Wissbegierde durch vor-schnelle Antworten und Erklärungen zunichtege-macht? Oder ist die übliche Klassenlernumgebungprädestiniert dafür, Neugierde zu verhindern: »Wirwollen jetzt alle zusammen…« – »Ja, woher weiß denndie Lehrerin, ohne mich zu fragen, was ich will?«

Im Laufe meiner Entwicklung als Lernbegleiter habeich eine Möglichkeit entdeckt und mich immer weiter

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darin geübt, wie man bei vielen Jugendlichen und auchKolleginnen und Kollegen die Neugier wiederbelebenkann: durch Irritation. Irritation ist das, was einer Ideevorausgeht.* Etwas geschieht, wird gehört oder gese-hen, was ich überhaupt nicht einsortieren kann. Wiereagieren Menschen darauf? Entweder sie lassen sichirritieren und entwickeln Ideen oder sie gleiten in dieVerwirrung ab und sind frustriert.

Jede lernende Organisation muss Irritation nichtnur zulassen, sondern sie sich wünschen. Allerdings istsie an zwei Bedingungen geknüpft: Sie verlangt Intelli-genz und den Wunsch, zu verstehen. Eine Schule oderHochschule sollte so in allererster Linie und im bestenund weitesten Sinne eine lernende Organisation sein,was ein Ort, wo nur belehrt und doziert, gecreditet undgeprüft wird, nie sein kann.

Wenn Sie also als Lehrer oder Dozent nach getanerArbeit aus Ihrer Schule hinausgehen, ohne explizit sa-gen zu können, was sie heute gelernt haben, haben Siein Ihrer Aufgabe versagt, insofern Sie Teil einer lernen-den Organisation sind. Sind Sie Teil einer tayloristischorientierten Institution, wie sie oftmals in bürokrati-schen Umgebungen zu finden ist, haben Sie zwar nichtversagt, aber sich selbst unnötig verausgabt, Ihre Res-sourcen vertan und Ihr Menschsein eingeschränkt,sind also lieblos mit sich selbst umgegangen.

* Vgl. Rudolph/Schmidtke 1995, S. 26–39.

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Tayloristische Umgebungen eignen sich gerade fürMenschen in sozialen Berufen schlecht. Sie werden da-rin meist krank. Organisationen, die nicht lernen wol-len, erreichen dies, indem sie von ihren Mitarbeiterndie Einhaltung von Methoden verlangen. Nicht Nach-oder Vordenken und Kreativität sind gefragt, sonderndie Einhaltung von Vorschriften und die Anwendungvon Methoden. Zugegeben, im tayloristischen Wirt-schaftssystem ist es gelungen, auf diese Weise guteDinge zu produzieren. Ford hat viele und für die dama-lige Zeit gute Autos gebaut, aber zu welchemmenschli-chen Preis? Dem günstigen Autopreis stand ein gefor-dertes Investment der Mitarbeiter in ihre Gesundheitgegenüber. Dass sich die Arbeiter damit nicht nur ab-gefunden haben, sondern sogar »hochzufrieden« wa-ren, erstaunt nur auf den ersten Blick. Arbeit und Si-cherheit zu geben undTeil eines Ganzen zu sein vermagauch eine tayloristische Umgebung. Die Verdummung,die beinahe entstehen muss, wenn ein methodenge-führter Mensch nur die Methode anwendet und damitsein Lernen und Denken unnötig wird, ist ein langsa-mer Prozess und endet dort, woNeugier imAlltagstrottnicht nur untergeht, sondern überhaupt nicht mehr ge-wünscht wird.

Und heute? Wie steht es um die Lehrergesundheit?Nur jeder zehnte Lehrer kann bis zur Pensionierungarbeiten. Alle anderen sind vorzeitig dienstunfähig.Dabei geht dieser Dienstunfähigkeit immer eine Lei-

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densgeschichte voraus. Unter dieser leiden nicht nurdie Lehrer selber, sondern auch die Kinder. Wenn je-dem dritten Lehrer in der Schweiz eine reduzierte Leis-tungsfähigkeit attestiert werden muss, liegt das nichteinfach nur an den Lehrern, sondern auch an der un-geeigneten Umgebung, in der die unbewusste Klugheitdes Organismus handelt, indem er sich krank macht.Im Prinzip habe ich nur zwei Möglichkeiten, um wie-der gesund zu werden: Entweder ich kann die Umge-bung verändern und verändere sie oder ich muss dieUmgebung verlassen und eine geeignetere suchen.

In diesem Buch erzähle ich die Geschichte und Ge-schichten aus meinen Umgebungen, auch davon, wieich selbst eine ungeeignete Umgebung verlassen muss-te, um eine geeignetere zu finden.

Trotz mehrfacher Bitten habe ich mich lange Zeit ge-hütet, meine Erlebnisse als Lernbegleiter in Buchformzu schreiben, weil ich nicht weiß, wie ein Satz in einemBuch mich als Schreibenden einschließen kann. Wennich von Angesicht zu Angesicht rede, schließe ichmichüber Mimik, Gestik und Betonung mit ein; ich kanneinen Satz zur persönlichen Aussage machen. Im Ge-gensatz dazu stehen geschriebene Sätze hilflos undeher unbezogen da. Ich hoffe nun durch die Idee desHerausgebers zu diesem Buch, »Geschichten zu erzäh-len«, diese Unbezogenheit vermindern zu können.Das bedeutet auch, dass ich einige Gedanken wieder-

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holen zu müssen glaube, wenn sie im Zusammenhangmit der Geschichte einen Zusatzaspekt, eine ergän-zende Sichtweise ermöglichen sollen. Viele Geschich-ten haben es allerdings nicht geschafft, hier Eingangzu finden, und müssen auf eine weitere Gelegenheitwarten.

Nicht umsonst haben Pädagogen wie Rousseau oderPestalozzi ihre Pädagogik in Erzählungen gekleidet,die heute noch gelesen werden, während erziehungs-wissenschaftliche Bücher häufig als Eintagsfliegen amgetrübten Fenster der pädagogischen Wissenschaft einkurzes, wenn auch berechtigtes Dasein fristen. In die-sem Zusammenhang – und die Geschichte wird zu er-zählen sein – bin ich der sicheren Überzeugung, dassgelebte Geschichten für pädagogische Nachhaltigkeitwichtiger sind als die geforschten Teilnahmslosigkeitender Erziehungswissenschaft.

Erziehungswissenschaft und vor allem Fachdidak-tik ist aus meiner Erfahrung eine in weiten Teilen über-schätzte Disziplin, denn pädagogisches Handeln istzeit-, orts- und personenabhängiges Handeln. Werglaubt, es gäbe über Erziehungswissenschaften undFachdidaktik allgemeingültige Handlungsanweisun-gen, wird entweder trivial oder verkennt die Individu-alität von Menschen und die Einflüsse der jeweils an-ders gearteten Umgebung.

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