LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen...

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Blickpunkt Lateinamerika AUSGABE 3 · 2017 www.blickpunkt-lateinamerika.de MONDLANDSCHAFT IM PARADIES Titel: Haiti ein Jahr nach dem Sturm BEFREIUNG AUS SCHULDKNECHTSCHAFT Kaffee-Kooperative in Mexiko

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BlickpunktLateinamerika AUSGABE 3 · 2017

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MONDLANDSCHAFT IM PARADIES Titel: Haiti ein Jahr nach dem Sturm

BEFREIUNG AUS SCHULDKNECHTSCHAFT Kaffee-Kooperative in Mexiko

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Impressum

Herausgeber

Bischöfliche Aktion Adveniat e. V.

Abt. Öffentlichkeitsarbeit

Leiter: Christian Frevel

Redaktion Nicola van Bonn (verantw.)

Mitarbeit an dieser Ausgabe

Michael Gösele, Philipp Lichterbeck

Thomas Milz, Thomas Völkner

Sandra Weiss

Unbenannte Artikel und Fotos Adveniat

Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht

unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Lektorat Jörg Dietzel, Christina Jacobs

Dokumentation Michael Huhn

Layout und Grafik unikat GmbH, Wuppertal

Druck und Versand Ortmeier Medien

Dieses Heft wurde auf

100 % Recyclingpapier gedruckt.

Erscheinungsweise vierteljährlich

ISSN 1433 – 7568

Anschrift der Redaktion

Bischöfliche Aktion Adveniat e. V.

Redaktion Blickpunkt Lateinamerika

Gildehofstraße 2, 45127 Essen

Tel.: 0201 1756-0; Fax: 0201 1756-111

[email protected]

www.adveniat.de

Spenden bitte auf unser Konto bei der Bank im

Bistum Essen, IBAN: DE03 3606 0295 0000 0173 45

BIC: GENODED1BBE

impressum

herausgeber

Bischöfl iche Aktion Adveniat

Abt. Öff entlichkeitsarbeit/

Bildung;

Leiter: Christian Frevel

redaktion

Nicola van Bonn (verantw.)

Carolin Kronenburg

mitarbeit an dieser ausgabe

Gaby Herzog, Christian Frevel,

Mareille Landau, Thomas Milz,

Roberto Malvezzi, Michael

Huhn

titelbild: die schüler von »radio santa MarÍa«

treffen sich einMal in der woche, uM das

erlernte zu vertiefen. foto: achiM Pohl

rückseite: Markt in santo doMingo.

foto: achiM Pohl

rechte seite: auf grossleinwänden wurde

der besuch des PaPstes aM strand von rio

übertragen. foto: Mareille landau

unbenannte artikel und

fotos Adveniat

Namentlich gekennzeichnete

Artikel geben nicht unbedingt

die Meinung der Redaktion

wieder.

lektorat Christina Jacobs

Dokumentation Michael Huhn

layout und grafi k

unikat GmbH, Wuppertal

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Dieses Heft wurde auf

100 % Recyclingpapier

gedruckt.

erscheinungsweise

vierteljährlich

issN 1433 – 7568

anschrift der redaktion

Bischöfl iche Aktion Adveniat

Redaktion Blickpunkt

Lateinamerika

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Tel.: 0201 1756-0

Fax: 0201 1756-222

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Bank im Bistum Essen

(BLZ 360 602 95)

Liebe Leserinnen und Leser!

Der 40-jährige José Luis Mejia verkauft an

einem kleinen Straßenstand in der Stadt La

Vega Getränke. Seitdem er über »Radio Santa

María« lesen, schreiben und rechnen gelernt

hat, ist das Leben für ihn leichter gewor-

den. Der katholische Radiosender überträgt

Lernstoff in Tausende Wohnzimmer der

Dominikanischen Republik. Dass Menschen

Zugang zu Bildung haben, ist dort keineswegs

selbstverständlich. Elf Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten. Journalistin

Gaby Herzog hat sich mit José Luis und seiner Familie zum Büff eln an den Wohn-

zimmertisch gesetzt (Seite 6 bis 13).

In Lateinamerika und der Karibik gibt es zahlreiche kirchliche Initiativen, die zum

Ziel haben, möglichst vielen Menschen eine möglichst breite Bildung zukommen

zu lassen. Davon konnten sich auch die fünf Gewinnerinnen unseres Wettbewerbs

»Jüngerschafft« bei ihrer Reise zum Weltjugendtag nach Rio de Janeiro überzeugen.

Im Vorfeld des Jugendtreff ens hatten sie Projekte von Adveniat besucht, die auf un-

terschiedliche Weise versuchen, dem Hunger der Menschen nach Bildung Nahrung

zu geben. »Das, was ich hier gesehen habe, wird meine Arbeit mit den Jugendlichen

in Deutschland verändern«, berichtete mir Eva Schockmann (Seite 16 und 17).

Die Möglichkeit, Neues zu lernen, lässt Mädchen und Jungen, Frauen und Männer

auf der ganzen Welt wachsen. Setzen Sie sich gemeinsam mit Adveniat dafür ein,

dass die Menschen in Lateinamerika und der Karibik groß werden und ihren Blick

weiten können.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!

Ihr

Prälat Bernd Klaschka

Adveniat-Geschäftsführer

4 Nachrichten aus Lateinamerika

Titel

6 schule für alle

Bildung per Radio in der

Dominikanischen Republik

Reportage

14 »Die landfrage ist das

größte Problem«

Adveniat-Bischof Franz-Josef

Overbeck zu Besuch in Paraguay

Weltjugendtag

16 »geht, ohne furcht,

um zu dienen«

Jüngerschafft-Gewinnerinnen

besuchen Adveniat-Projekte

Reportage

18 Nach der sintfl ut

Der Kampf um den Neuanfang nach

dem Erdbeben in Südchile

Reportage

20 revolte mit ansage

Kultur

21 recherchen auf heißem Pfl aster

22 Adveniat aktuellIhr

2 auf ein wort inhalt

Ortmeier Medien GmbH

Liebe Leserinnen und Leser!

Fast ein Jahr ist es her, dass Wirbelsturm Matthew

Anfang Oktober 2016 über die Karibik hinweg-

gefegt ist und vor allem im bitterarmen Haiti ver-

heerende Verwüstungen angerichtet hat. Immer

wieder trifft es diesen kleinen Inselstaat – kaum,

dass er sich von einer Katastrophe erholt hat.

Die Menschen müssen doch angesichts der Not

verzweifeln, dachte ich. Aber das tun sie nicht.

Auf meiner ersten Reise nach Haiti hat mich das

am meisten beeindruckt: Obwohl vielerorts die Lage aussichtslos erscheint,

geben die Menschen nicht auf. Sie glauben an eine Zukunft, wie der vierfache

Familienvater Florent in Jérémie, der den Wirbelsturm überlebt hat. Oder wie

Stephan Destin, der als Ingenieur aus den USA in sein Heimatland zurück-

kehrte, um es nach dem Erdbeben 2010 wieder aufzubauen (S. 6 – 13).

Auch die indigenen Kleinbauern in Bachajón, im Süden Mexikos, beweisen

Widerstandsfähigkeit. Lange wurden sie als Tagelöhner ausgebeutet. Heute

haben sie sich zu einer Kooperative zusammengeschlossen und erzielen an-

gemessene Preise für Kaffee, Honig und Seife (S. 14 – 17). Arbeitsmigranten

wehren sich in Brasilien erfolgreich mit Hilfe der Kirche gegen die moderne

Sklaverei in der Textilproduktion (S. 18 – 19), und nach Kolumbien schaue ich

mit Respekt auf eine Gesellschaft, die sich der Aufgabe stellt, Gerechtigkeit

und Versöhnung nach mehr als 50 Jahren Krieg und Gewalt zu schaffen

(S. 20 – 21).

Der Überlebenswille und die Kraft dieser Menschen sind mir Vorbild.

In diesem Sinne viel Freude beim Lesen!

Pater Michael Heinz SVD

Hauptgeschäftsführer

Titel: Besucher der mobilen Krankenstation der Schwestern des Ordens Irmas do Imaculado Coraçao de Maria im Dorf Plingué.Rückseite: Schwester Mirca in der Krankenstation.Fotos: Martin Steffen

Nachrichten aus Lateinamerika 4

Titel

Mondlandschaft im Paradies 6

Haiti ein Jahr nach dem Sturm

Hintergrund

Befreiung aus der Schuldknechtschaft 14

Kaffee-Kooperative in Mexiko

Hintergrund

Auf der Suche nach der

verlorenen Würde 18

Migrantenpastoral CAMI in Brasilien

Zeugnis

„Wir Opfer sind alleine“ 20

Florenia, zwangsrekrutierte Farc-Kämpferin

Literatur

Reisen, davon erzählen und

wiederkommen 21

Ein Reisebericht aus Kolumbien

Adveniat aktuell 22

2 Auf ein Wort Inhalt

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Hoffnungszeichen: Nachdem die Ernte durch Hurrikan Matthew ver-nichtet worden war, ziehen die Mit-glieder der Basisgemeinde gemein-sam Setzlinge, um sie später in ihren Gärten einzupflanzen.

Guter Gott,gib uns die Gnade, Kraft, Mut und Weisheit, uns um all das zu kümmern, was du geschaffen hast.

Wo viele Menschen egoistisch leben, lass uns wie Brüder und Schwestern leben.

Wo einige Menschen Hass sähen, lass uns Frieden pflanzen.

Wo die Menschen die Natur zerstören, sorge dich um das Leben.

Wo viele Menschen ihren Lebensraum verschmutzen, gib, dass wir es nicht ebenso machen.

Wo viele Menschen verschwenderisch leben, lass uns teilen lernen.

Wo es Tränen gibt, lass die Hoffnung des Lebens wachsen.

Ein Leben, das uns ermöglicht, eine neue Gesellschaft zu bauen.

Gib uns die Gnade, die Menschen nicht aufzugeben, sondern lehre uns, mit ihnen die Liebe zu teilen.

Amen, Halleluja!

Gebet der Basisgemeinden im Bistum Jérémie, Haiti

3Denkanstoß

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CHILE

Die letzte GrenzeIn einem Computerspiel können Kinder und Erwachsene die Geschichte der chilenischen Ureinwohner spielerisch erfahren.

Der Richter Jaques de Queiros Ferrera gab der Ver-

teidigung der 22 Angeklagten Recht, dass die Beweise

der Staatsanwaltschaft unrechtmäßig seien, da sie

auf illegaler Abhörung basierten. Sollte sich diese

Annahme bestätigen, könnte das Verfahren gänzlich

eingestellt werden.

Im November 2015 war in einem Eisenerzbergwerk

ein Damm gebrochen. Daraufhin ergoss sich eine

Schlammlawine über Teile der Stadt Mariana und floss

in den Rio Dulce. 19 Menschen starben bei dem Un-

glück und rund 250 wurden verletzt. Der Dammbruch

gilt als eine der schlimmsten Naturkatastrophen

Brasiliens, denn der Schlamm enthielt hochgiftige

Substanzen aus dem Bergbau und verseuchte hundert-

tausende Hektar Land.

Ein knappes Jahr nach dem Unglück klagte die Staats-

anwaltschaft 22 Manager und Berater der Betreiber-

firma Samarco sowie deren Mutterunternehmen BHP

Billiton und Vale an. Sie mussten sich sowohl wegen

Mordes als auch ökologischer Verbrechen rechtfer-

tigen. Berichten zufolge sollen die Verantwortlichen

Hinweise auf die Instabilität des Dammes ignoriert

haben. Den Angeklagten drohten bis zu 54 Jahre Haft.

Darüber hinaus waren Entschädigungszahlungen in

Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar sowie die Verpflich-

tung zu Maßnahmen vorgesehen, die das ökologische

Gleichgewicht wiederherstellen. Seitens Samarco hieß

es, dass die Dämme aufgrund leichter Erdbeben gebro-

chen seien und die Firma keine Verantwortung für das

Unglück trüge. Das Unternehmen bestritt auch, dass

der Schlamm toxische Substanzen enthielt. (aj)

Die Lernsoftware mit dem Titel „Die

letzte Grenze, ein Geschichtsspiel“ ist

eine Gemeinschaftsproduktion des

„Nationalen Programms für die Ver-

breitung und Förderung von Wissen-

schaft und Technik“ (Conicyt) und der

chilenischen Universität Finis Terrae

sowie der Softwarefirma „Pitruf Games“.

Das berichtete das Onlineportal „El

Definido“. „Wir denken, dass dieses

Werkzeug den Spielern erlaubt, in

einem intelligenten Umfeld die Dyna-

miken und Interaktionen der Epoche

zu erfahren“, so Projektdirektor David

Caloguerea gegenüber dem Medium.

Die Zeit des Spiels ist die Epoche nach

der spanischen Eroberung des heutigen

Chile und der Mapuche-Region Arau-

canía. „In der Simulation werden die

Beziehungen zwischen Spaniern und

Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-

rea die Idee des Projekts. Der Spieler

kann als Mapuche- Indigener die Region

Araucanía besiedeln, die Führung eines

Mapuche-Dorfes übernehmen und ist

für das Wohlbefinden der Bewohner zu-

ständig. Als Eroberer muss er beispiels-

weise eine Armee der spanischen Krone

an der Grenze zum Mapuche-Gebiet

befehligen. Mit Anführern der Mapuche

verhandelt er über die Freilassung ge-

fangener Kolonisatoren.

Bei Aufständen entscheidet der Spieler

zwischen Gewaltanwendung oder

Verhandlungen mit den Mapuche. Der

Spieler kann auch in die Rolle eines

Kindes eines Mapuche-Anführers und

einer spanischen Mutter schlüpfen. In

einer Demokratie-Simulation muss der

Spieler sowohl Mapuche als auch Spa-

nier als Wählerschaft gewinnen. (bb)

Y www. laultimafrontera.online

Oben: Grafik der Software „la ultima frontera“.

Rechte Seite: Im Wald bei Canelos, Ecuador. Foto: Achim Pohl

BRASILIEN

Verfahren im Fall Mariana vorerst eingestellt

Nachrichten aus Lateinamerika4

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Ein Gericht in Brasiliens Hauptstadt

Brasilia hat am 30. August 2017 die

umstrittene Bergbau-Genehmigung

der Regierung für das Renca-Gebiet im

Amazonaswald für ungültig erklärt. Da

Umweltschutzareale betroffen seien,

müsse der Kongress der Freigabe für die

Rohstoffförderung zustimmen, so das

Urteil. Eine Woche zuvor hatte Präsident

Michel Temer per Dekret die Ausbeutung

des 1984 eingerichteten Schutzgebiets

Renca erlaubt. Damit wäre es Unterneh-

men möglich gewesen, dort Rohstoffe

wie Gold, Kupfer, Eisenerz und Mangan

zu fördern. Das nördlich des Amazonas-

flusses in einem bisher nahezu un-

berührten Waldareal liegende Gebiet ist

mit rund vier Millionen Hektar größer

als Baden-Württemberg.

Die Entscheidung des Präsidenten löste

eine Protestwelle in Brasilien und im

Ausland aus. Renca ist kein Natur-

schutzgebiet, sondern wurde während

der Militärdiktatur eingerichtet, um

den Abbau von Rohstoffen durch aus-

ländische Unternehmen zu blockieren.

Allerdings wurden in dem Gebiet in

den Folgejahren Nationalparks und

indigene Territorien eingerichtet, die

heute rund 69 Prozent der Renca-Flä-

che ausmachen. Umweltschützer und

Vertreter indigener Völker fürchten

deshalb, dass der Rohstoffabbau auch

die Schutzgebiete in Mitleidenschaft

ziehen würde. Die Regierung kündigte

bereits an, Einspruch gegen das Urteil

einlegen zu wollen.

Teilerfolg vor Oberstem Gericht

Ein weiteres Gerichtsurteil zugunsten

indigener Völker ist am 16. August

gefallen. Brasiliens Oberstes Gericht

wies die Klage des Teilstaates Mato

Grosso gegen die Einrichtung indigener

Schutzgebiete durch die Zentralregie-

rung zurück. Mit 8 zu 0 Stimmen wurde

dem Teilstaat damit eine Entschädi-

gung verwehrt. Eine weitere angekün-

digte Entscheidung über das Recht auf

Land für indigene Völker wurde vertagt.

Mato Grosso hatte gegen die Einrich-

tung mehrerer Schutzgebiete geklagt.

Es handelt sich um den 1961 errichte-

ten Xingu-Park sowie Gebiete, die den

Völkern Nambikwara und Parecis 1968

zugesprochen wurden. Der Teilstaat

hatte angeführt, dass die Gebiete den

Indigenen zu Unrecht übertragen wor-

den seien, und deshalb eine Entschä-

digung von umgerechnet 535 Millionen

Euro gefordert. Die Richter stellten

jedoch klar, dass es sich um traditio-

nelle Siedlungsgebiete der Indigenen

handele. Rund 250 Indigene feierten die

Entscheidung auf einem Platz vor dem

Obersten Gericht.

Korrektur: In der letzten Aus-

gabe 2/2017 haben wir auf den

Seiten 14 bis 16 fälschlicherwei-

se das Wort „Flussumleitung“

benutzt. Korrekt muss es „Fluss-

ableitung“ heißen, weil nicht

der ganze Rio São Francisco

umgeleitet, sondern sein Was-

ser in Kanälen abgeleitet wird.

BRASILIEN

Gerichtserfolge für Indigene Zwei Gerichtsurteile in Brasilien stärken die Rechte der Indigenen und den Schutz des Amazonas-Urwaldes.

Weitere aktuelle Nachrichten und

Hintergrund berichte finden Sie

täglich auf unserer Homepage:

Y www.blickpunkt- lateinamerika.de

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Nur notdürftig ist das Dach dieser Hütte in Bonbon mit Plastikplane ausgebessert. Hurrikan Matthew beschädigte 2016 80 Prozent der Häuser in der Diözese Jérémie.

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Mondlandschaft im Paradies HAITI: EIN JAHR NACH DEM WIRBELSTURM TEXT: MICHAEL GÖSELE, FOTOS: MARTIN STEFFEN

Ein Jahr nach dem verheerenden Hurrikan Matthew, der auf Haiti weite Landstriche in Mondlandschaften

verwandelt hat, sind die Schäden noch deutlich zu sehen und die Folgen zu spüren: zerstörte Gebäude, karge

Felder und verletzte Seelen. Aber die Menschen geben nicht auf.

Die Sonne brennt erbarmungslos. In Chirak, einem

kleinen Bergdorf rund 15 Kilometer von Jérémie ent-

fernt, gibt es nicht mehr viel, was ein wenig Schatten

spenden könnte. Hurrikan Matthew, der Anfang

Oktober 2016 über den Westteil Haitis zog, hat hier

alles weggerissen: Bäume, Dächer, ganze Hütten – und

die Existenz Tausender Menschen.

Ein paar Planen wurden notdürftig über die Mauer-

reste gespannt, die der Wirbelsturm hier stehen ließ.

Schwester Mirca vom brasilianischen Orden Irmãs

do Imaculado Coração de Maria, der seit Jahrzehnten

schon mit Unterstützung von Adveniat in der Region

Hilfe leistet, besucht die Bewohner von Chirak, um

die schwierige Lage mit den Menschen gemeinsam zu

erörtern.

Die meisten schweigen. Das Reden überlassen sie

Florent. Der 47-jährige Vater von vier Kindern hält die

Gemeinschaft von Chirak zusammen. Er organisiert,

regelt und verhandelt mit Nachbarn, Verwandten –

und mit Schwester Mirca.

„Der Himmel war zwar schwarz und die Wolkentürme

schimmerten rötlich-violett, aber wir konnten damals

nicht ahnen, was da auf uns zurollte“, erklärt Florent.

Die äußeren Bänder von Hurrikan Matthew, die Vor-

läufer, brachten schon am 3. Oktober 2016 sintflutarti-

ge Regenfälle über den Nordwesten des Inselstaates,

aber die Bewohner von Chirak blieben ruhig. Warum

hätten sie sich auch übermäßig sorgen sollen, sind

die Regengüsse in der Region doch häufig von einer

enormen Wucht. „Wenn es mal regnet, dann gewaltig“,

sagt Florent, „und an diesem Tag regnete es noch

etwas mehr.“

Dass sich da ein tropischer Wirbelsturm mit Windge-

schwindigkeiten von bis zu 230 Stundenkilometern

auf die Region Grand’Anse und die Stadt Jérémie

zubewegte, war keinem der Bewohner klar. Die Früh-

warnsysteme funktionierten durchaus. In den USA

oder auch in Europa konnte man den Verlauf von

Hurrikan Matthew auf CNN verfolgen. Wetter-Apps

zeigten genau, dass er sich auf Haiti zubewegte. Nur

Florent, seine Familie, die Nachbarn in ihren einfa-

chen Hütten waren ahnungslos. Sie hatten kein Radio,

kein Fernsehen, kein Internet mit Facebook, Twitter

oder WhatsApp.

Florent und seine Familie in Chirak, einem kleinen Dorf in der Nähe von Jérémie.

7Titel

Page 8: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

„Als es dann richtig losging, kauerten wir auf dem

Boden unserer Hütte“, erzählt Florent. „Wir klammer-

ten uns aneinander und warteten darauf, dass der

Sturm endlich abziehen würde.“ Aber das tat er nicht.

Der Hurrikan wütete vielmehr rund 12 Stunden über

dem Südwesten Haitis. „Die Katastrophe schien nicht

mehr aufzuhören“, sagt Florent. Er steht auf und führt

Schwester Mirca vor seine provisorische Hütte: „Hier

wurde alles weggerissen. Palmen knickten um, die

Tiere – Kühe, Ziegen, Esel und Hühner – wurden ein-

fach in die Luft gerissen und ins Meer geschleudert.“

Die Stimme stockt dem hageren Mann, wenn er sich

an diese furchtbaren Stunden erinnert. „Die Kinder

schrien, sie weinten. Und wir, die Alten, haben ver-

sucht, tapfer zu bleiben, dabei haben wir selbst nicht

mehr geglaubt, dass wir das überleben würden.“

Schwester Mirca hört sich die Geschichte von Florent

und seinen Nachbarn an. Sie hat die Erzählungen der

Menschen in der Region Grand’Anse schon oft gehört.

Auch hier, in Chirak. Einmal im Monat schaut die

36-jährige Ordensschwester seit dem Hurrikan in dem

Bergdorf vorbei, bringt den Menschen Bohnen, Reis,

Mehl und Medikamente.

Ein Besuch in Chirak ist mühsam. Der Geländewagen,

mit dem sie sich in der Region Grand’Anse fortbewegt,

schafft es nicht bis hierher. Nur Trampelpfade führen

den Berg hinauf in die kleine Siedlung. Vorher müssen

Schwester Mirca und ihre Helfer noch durch den Fluss

Guinaudée waten, denn eine Brücke gibt es nicht.

Jedes Reiskorn, jede Bohne und jede einzelne Tablette,

die die Bewohner von Chirak derzeit benötigen, muss

in Kisten und Säcken über die glitschigen Steine des

Flusses balanciert werden, bevor der 40-minütige Auf-

stieg zu dem Dorf beginnt.

ERNTEAUSFÄLLE EINES GANZEN JAHRES

Die Bewohner der Region haben durch den Hurrikan

vom Oktober 2016 Ernteausfälle von mindestens zwölf

Monaten zu ertragen, erklärt Mirca. Bei vielen Fami-

lien ginge es um das blanke Überleben. Nicht erst seit

„Matthew“ besucht Schwester Mirca das kleine Ört-

chen Chirak. „Wir waren regelmäßig hier“, erklärt die

Ordensfrau. „Die Menschen waren bis zu dem Sturm

auf einem guten Weg, wir haben vieles über die Jahre

gemeinsam aufgebaut.“

In Basisgemeinden, wie hier in Chirak, treffen sich

die Menschen, um sich gegenseitig zu helfen, zu

unterstützen, gemeinsam zu beten und zusammen-

zuarbeiten. Die Ordensfrauen begleiten die Arbeit

der Basisgemeinden. Sie leisten klassische Hilfe zur

Selbsthilfe, indem sie mit den Menschen vor Ort

Saatschulen anlegen, die Bewohner in landwirtschaft-

lichen Techniken, Handwerk und Hygiene fortbilden

sowie medizinisch versorgen. Aber jetzt, nachdem der

Wirbelsturm an Orten wie Chirak fast alles zerstört

hat, muss Schwester Mirca zuerst Nothilfe leisten.

„Unsere Esel wurden weggerissen, jetzt müssen wir

das Wasser in Kanistern vom Fluss unten hoch auf

den Berg schleppen“, erzählt Florent. Mirca hört ihm

geduldig zu, vermittelt Zuversicht, dabei weiß sie im

Moment auch nicht, wie sie und ihre Mitschwestern

die Betroffenen von Hurrikan Matthew wieder in ein

normales Leben zurückführen können. Im kargen

Schatten eines zerrupften Baumes liegt der letzte Esel,

der Florent und seinen Nachbarn geblieben ist – dürr,

ausgemergelt und müde.

SIE GEBEN NICHT AUF

Für die Anschaffung weiterer Tiere fehlt das Geld,

zumal die Menschen in Chirak zunächst einmal die

Dächer ihrer Hütten wieder reparieren müssen. Und

weil das Land nach der Naturkatastrophe kaum noch

etwas hergibt, müssen die Menschen zusätzlich Le-

bensmittel kaufen. Der Mangel allenthalben wirkt sich

auch auf die Ausbildung der Kinder aus, denn wenn

es – wie jetzt – tatsächlich an allem fehlt, bleibt auch

kein Geld für Schule und Bildung übrig.

„Den Menschen, die ohnehin noch nie viel hatten,

wurde mit dem Hurrikan einfach alles genommen“,

sagt Mirca, die trotz der Strapazen dieses Tages immer

wieder ein Lächeln bereithält. Was sie stärkt und

antreibt, ist ihr Wissen um die Menschen, die sie

betreut: „Florent und all die anderen hier rund um Jé-

rémie sind stark. Sie geben nicht auf, obwohl sie viele

Gründe hätten, irgendwann einfach zu resignieren.“

Seit fünf Uhr ist die Ordensschwester an diesem Tag

unterwegs. Zuerst hat sie einer Basisgemeinde in

Jérémie den Gebrauch von Wasserfiltern erklärt. Dann

hat sie auf dem Bergrücken an der gegenüberliegen-

den Seite des Flusses die Kirche Martin de Tours von

Grand Vincent besucht, von der nach dem Wirbel-

sturm nur noch Fragmente der Grundmauern übrig

geblieben sind. Sie hat um die Mittagszeit unweit der

Kirchenruine Saatgut verteilt – Bohnen, Kohl, Spinat

und Yams, ein in Haiti verbreitetes Wurzelgemüse.

Erst gegen 20.30 Uhr wird sie an diesem Tag zurück in

die einfache Unterkunft ihres Ordens kommen. Ein

ganz normaler Arbeitstag in ihrem Leben, sieben Tage

die Woche.

Rechts: Schwester Mirca bei einem Treffen der Basisgemein-de von Chirak.

8 Titel

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Die Kirche der Pfarrei Grand Vincent ist nicht die ein-

zige, die der tropische Wirbelsturm im Oktober 2016

zerstört hat. Von 45 Kirchen haben nur sieben die

Katastrophe einigermaßen unbeschadet überstanden.

Von den 270 Kapellen in der Region Grand’Anse, an die

zumeist auch Schulen angegliedert sind, wurden rund

230 zerstört. Der anstehende Wiederaufbau wird Jahre

brauchen und unter anderem von Proche, der Wie-

deraufbauinitiative der katholischen Kirche in Haiti,

begleitet werden.

ERINNERUNG AN DAS GROSSE BEBEN

Proche steht für „Proximité Catholique avec Haïti et

son Église“ und heißt auf Deutsch so viel wie „Nähe

der Katholiken zu Haiti und seiner Kirche“. Das Projekt

wurde infolge des verheerenden Erdbebens vom 12.

Januar 2010 ins Leben gerufen, das die Hauptstadt

Port-au-Prince samt umliegenden Städten komplett

zerstörte.

Bei dem Beben der Stärke 7,0 auf der Richterskala ka-

men damals mehr als 220.000 Menschen ums Leben,

unzählige wurden verschüttet und schwer verletzt

geborgen. Etwa 1,5 Millionen Menschen verloren ihr

Obdach, und auch die katholische Kirche in Haiti, der

rund 70 Prozent der Bevölkerung angehören, musste

schlimme Zerstörungen verkraften. Priester, Ordens-

frauen und ehrenamtliche Mitarbeiter kamen ums

Leben, Kapellen, Kirchen, Schulen und Krankensta-

tionen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Noch

heute sind in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince und in

der Umgebung der Metropole die verheerenden Aus-

wirkungen des Erdbebens von 2010 zu sehen – mehr

als sieben Jahre später. Proche hat es sich zur Aufgabe

gemacht, hurrikan- und erdbebensicher zu bauen,

damit sich Ähnliches nicht mehr wiederholen kann.

Stephan Destin, Direktor von Proche, steht auf der

Baustelle der Christ-Roi-Kirche in Port-au-Prince.

Betonmischer, Schlagbohrer, Stimmengewirr. Die Au-

ßenmauern des Gotteshauses stehen, darüber prangt

eine kühne Dachkonstruktion aus schweren Metallträ-

gern. Dutzende von Arbeitern sind am Werk.

„Für viele Haitianer ist die Kirche insbesondere in

schweren Zeiten ein wichtiger Anlaufpunkt. Hier fin-

den die Menschen Trost und letztlich auch Zuflucht“,

erklärt der Haitianer Destin, der vor Jahren in den USA

ein Bauingenieurstudium absolviert hat. „Spätestens

nach dem Beben von 2010 ist den Menschen bewusst

geworden, dass wir unsere Gebäude sicherer bauen

müssen, da Haiti in einer Zone liegt, die stark von Erd-

beben gefährdet ist.“

10 Titel

Page 11: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Einen schnellen Wiederaufbau um jeden Preis hält

Destin für falsch. „Qualität, Sicherheit und Nachhal-

tigkeit stehen bei unseren Projekten an erster Stelle“,

sagt Proche-Direktor Destin. „Die neu errichteten Bau-

ten müssen nicht nur ihrer eigentlichen Bestimmung

dienen, sondern auch Schutz bieten – Schutz vor Erd-

beben und Hurrikans. Sie dürfen nicht zu Todesfallen

werden, weil man die Außendarstellung des Wieder-

aufbaus über dessen Qualität gestellt hat.“

IMPROVISIEREN STATT RESIGNIEREN

Durch die zerstörte Infrastruktur nach dem schweren

Beben im Jahr 2010 und nun auch nach dem verhee-

renden Hurrikan im Südwesten ist die seelsorgerische

Begleitung der Menschen an manchen Orten nur noch

eingeschränkt möglich. Das betrifft die Pfarreien und

Basisgemeinden ebenso wie die Schulen und Kranken-

stationen. Es wird improvisiert, aber nicht resigniert.

Kirchliche Basisgemeinden treffen sich regelmäßig,

um sich gegenseitig zu unterstützen. Schulunterricht

findet nicht selten unter dem Schutz von Zeltplanen

statt – Gottesdienste bisweilen unter freiem Him-

mel. Die Mitarbeiter von Proche, Ordensschwestern,

Priester und unzählige Helfer, Krankenschwestern,

Lehrer und landwirtschaftliche Fachkräfte setzen sich

mit ganzer Kraft ein. Die Arbeitszeiten richten sich

nicht nach Wochentag und Uhr, sondern nach den Be-

dürfnissen der Menschen, die unter den schwierigen

Lebensbedingungen leiden.

TROTZ ALLEM ZUVERSICHT

„Die Bevölkerung im Hurrikan-Gebiet rund um Jéré-

mie trägt ihr Schicksal zum Teil mit bewundernswer-

ter Kraft“, sagt Schwester Mirca. „Die Menschen geben

nicht auf, sie leisten Nachbarschaftshilfe und hoffen

auf eine bessere Zukunft. Das zeichnet uns Haitianer

aus – egal, wie schwer das Leben auch sein mag.“ Eine

beeindruckende Eigenschaft der Haitianer. Aber auch

eine bedrückende, zeigt sie doch, wie sehr sich große

Teile der Bevölkerung schon an Not und Elend haben

gewöhnen müssen.

Dabei ist die Karibikinsel ein Fleck Erde, den viele als

Paradies betrachten. Ein Paradies, in dem Hurrikan

Matthew mondähnliche Landschaften hinterlassen

hat. Die Haitianer glauben trotzdem an eine Zukunft.

Florent würde sein Stück Land auf dem Berg von

Chirak trotz der großen Not niemals verlassen: „Wir

gehören hierher. Und wir werden bleiben.“ Zum ersten

Mal lächelt der große, dürre Mann, ein wenig schüch-

tern zwar, aber zuversichtlich.

Die Kirche „Christ Roi“ in Port-au-Prince, war bei dem Erdbeben von 2010 ein-gestürzt und wird unter der Leitung des katholischen Wiederaufbau-werkes „Proche“ erdbeben-und hurrikansicher neu errichtet.

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Page 12: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Links: Margit Wichelmann im Gespräch mit Stephan Destin, Direktor des katholischen Wiederaufbaubüros „Proche“, auf der Baustelle eines neuen Diözesanzentrums in Jacmel.

Rechts: Um die zerstörte Ernte zu ersetzen, ziehen die Mit-glieder der Basis gemeinde gemeinsam Setzlinge.

Wie ist aktuell die Situation in den

von Wirbelsturm Matthew betroffe-

nen Gebieten?

Direkt nach dem Sturm war ich dort und

jetzt wieder im Mai. Ich war überrascht,

wie viele Dächer zumindest notdürftig

repariert waren. Aber, wie die Haitianer

sagen: „Die Dächer können die Sonne

täuschen, nicht den Regen.“ Die Wohn-

hütten sind oft nur mit einigen neuen

Wellblechplatten geflickt worden, die

beim nächsten Sturm sofort wieder weg-

fliegen werden.

Zudem gibt es auf dem Land große Prob-

leme, da nach dem Sturm zunächst eine

große Trockenheit herrschte. Die Saat ging

nicht auf und wurde anschließend von

starken Regenfällen einfach weggespült.

Deshalb ist die Not eher noch schlimmer

als direkt nach dem Sturm, zumal die

unmittelbaren Nothilfeprogramme ausge-

laufen sind. Es droht eine Hungersnot und

die neue Hurrikansaison hat begonnen.

Frage: Was tut Adveniat, um den

Menschen zu helfen?

Adveniat fördert vor allem langfristig

Initiativen der Kirche. Infolge des Sturms

unterstützt Adveniat brasilianische Or-

densfrauen, die mit ihrer mobilen Klinik

abgelegene Dörfer in den Bergen be-

suchen, die von den Hilfskonvois nicht

erreicht werden. Adveniat hilft beim Wie-

deraufbau zerstörter Kirchen – natürlich

erdbeben- und hurrikansicher, damit die

Gebäude zukünftig auch als Schutzräume

dienen. Fahrzeuge sind ganz wichtig, bei-

spielsweise für Krankentransporte. Oft

erzählen mir Pfarrer, dass ohne das von

Adveniat finanzierte Auto ein Schwerkran-

ker kilometerweit zu Fuß zur nächsten

Krankenstation hätte getragen werden

müssen. Denn in ländlichen Gegenden ist

das Auto der Pfarrei oft das einzige vor

Ort. Langfristig helfen vor allem Bildungs-

programme, die der Bewusstseinsbildung

dienen und soziale Projekte anstoßen.

Welche Hoffnung setzen die Men-

schen in den Ende vergangenen

Jahres neu gewählten Präsidenten

Jovenel Moïse?

Die Bevölkerung hofft auf eine handlungs-

fähige Regierung. Es herrscht allerdings

viel Skepsis und nur wenig Vertrauen in

die Politik. Die meisten glauben, dass

auch diese Regierung, wie die vorher-

gehenden, ihre Versprechen nicht halten

wird. Da sowohl Präsident Jovenel Moïse

Mit einem Lächeln trotz Hunger und NotMargit Wichelmann, Länderreferentin für Haiti beim Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, hat die von Wirbelsturm Matthew

betroffenen Gebiete besucht. Im Interview mit Nicola van Bonn schildert sie ihre Eindrücke vom Stand des Wiederaufbaus

und gibt eine Einschätzung zur politischen Lage im Land – kurz vor dem für Oktober geplanten Abzug der UN-Mission

Minustah.

12 Titel

Page 13: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Hilfe für die Wirbelsturmopfer Die Region um Jérémie, eine Kleinstadt im schwer zugänglichen Südwesten Haitis,

wurde von Wirbelsturm Matthew im vergangenen Jahr besonders hart getroffen.

Viele Menschen haben alles verloren – geliebte Angehörige, das Dach über dem

Kopf, ihre Existenz. Der Sturm riss Menschen und Tiere mit sich, zerstörte die

Wohnhütten und überschwemmte die Felder. Die anschließende Trockenheit ließ

die neue Saat vertrocknen, so dass nun zusätzlich Hunger herrscht.

Hilfe leisten die Schwestern vom brasilianischen Orden Irmãs do Imaculado Co-

ração de Maria. Mit einem Geländewagen und auch zu Fuß besuchen sie abgelegene

Ortschaften, die von den Hilfskonvois nicht erreicht werden können. Im Gepäck

haben sie Medikamente, Nahrung und Kleidung. Sie versorgen Kranke, trösten und

leisten Beistand.

Schon seit Jahren sind die Ordensfrauen im Bistum Jérémie gut vernetzt. Sie haben

überall mit Unterstützung von Adveniat Basisgemeinden aufgebaut, die haupt-

sächlich von Ehrenamtlichen getragen werden. In kleinen Gruppen treffen sich die

Menschen, lesen die Bibel und versuchen danach zu leben. So sind viele Initiativen

entstanden, die den Menschen Lebensmut und Würde zurückgeben, wie Saatschu-

len und Handwerkskooperativen. Inzwischen gibt es im Bistum mehr als 400 Basis-

gemeinden mit rund 6.000 Mitgliedern.

Nach dem Wirbelsturm müssen die Menschen jedoch vielerorts von vorn anfangen

und alles neu aufbauen. Damit das gelingt, kümmern sich die Ordensfrauen vor

allem um die Menschen, die von allen anderen Hilfen abgeschnitten sind.

Wenn Sie die Arbeit der Schwestern un-

terstützen wollen, dann füllen Sie bitte

die Einzugsermächtigung auf der letz-

ten Heftseite aus (Stichwort: Schwes-

tern Jeremie, HAITI) oder überweisen

Sie Ihre Spende direkt auf das Adveniat-

Konto bei der Bank im Bistum Essen:

IBAN: DE03 3606 0295 0000 0173 45,

BIC: GENODED1BBE

Merci!

als auch sein Premierminister ursprüng-

lich nicht aus der Politik kommen, gelten

sie als wenig kompetent. Dazu kommt,

dass die Menschen die Erfahrung ge-

macht haben, dass die Opposition Projek-

te der Regierung blockiert. Ein Beispiel für

Versprechungen, denen die Bevölkerung

wenig Glauben schenkt, ist die Kampagne

„Karawane des Wandels“. Diese Initiative

zielt auf eine Wende in der Agrarpolitik.

Die Landwirtschaft soll exportorientierter

werden. Ob das gelingt und Armut redu-

ziert, muss sich erst zeigen.

Bis zum 15. Oktober dieses Jahres

sollen die Blauhelme aus Haiti abge-

zogen werden. Ist die Zeit reif dafür

oder hinterlässt die UN-Mission ein

unausgefülltes Vakuum?

Ich denke, dass es tatsächlich an der Zeit

ist, die Blauhelme abzuziehen, denn das

Machtvakuum in Haiti haben auch sie

nicht gefüllt. Es wäre auch nicht ihre Auf-

gabe. Die Mission hat viel Geld gekostet

und sie wurde von der Bevölkerung in

Haiti wohl nie akzeptiert. Dazu kommen

Skandale, wie Machtmissbrauch und se-

xuelle Übergriffe sowie die Einschleppung

der Cholera durch die Blauhelme. Jetzt

wird es im Anschluss einen Einsatz von

Blauhelm-Polizisten geben. Aber die Hai-

tianer sehen das mit Skepsis. Die auslän-

dischen Blauhelme werden als Besatzer

angesehen, die vorgefertigte Lösungen

mitbringen, die man nicht einfach auf die

Situation in Haiti übertragen kann.

Was hat Sie an Haiti und den Men-

schen am meisten beeindruckt?

Mich hat einmal mehr die positive und

starke Haltung der Menschen zutiefst be-

eindruckt. Wo wir vielleicht schon lange

aufgegeben hätten, bleiben sie standhaft

und begegnen dir trotz Hunger und Not

noch mit einem strahlenden Lächeln auf

dem Gesicht.

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Page 14: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

„Für die Maya war der Honig ein Elixier

Gottes“, sagt Iván Robledo mit leuch-

tenden Augen. Er deutet auf eine Reihe

goldgelb leuchtender Gläser. Der Honig

stammt aus den Kaffeeanbaugebieten

im Süden Mexikos und wurde von Bau-

ern der Kooperative „Chabtic“ eigen-

händig gesammelt und geschleudert.

Probiert man einen Löffel, glaubt man

dem Imker sofort. Doch beim edlen

Rohmaterial, das seine Bienen gesam-

melt haben, fängt es erst an. Honig mit

Ingwer, mit Kardamom, mit scharfem

Chili oder mit grünem Apfel – Robledo

reicht die von ihm erfundenen Kreatio-

nen auf winzigen Plastiklöffeln herum

und freut sich riesig über die „Mhhhs“

und „Ahhs“ seiner Besucher.

Aus dem Versuch indigener Kaffeebau-

ern, ihr Einkommen zu verbessern, ist

in kürzester Zeit ein Verkaufsschlager

geworden: „Innerhalb von drei Jahren

haben wir unseren Absatz verdreifacht“,

sagt Robledo. In Supermärkten der

Region und an katholischen Univer-

sitäten wird die Marke vertrieben. 13

Tonnen Honig verarbeitet die Koope-

rative, der derzeit 33 Imker angehören.

Geht es nach Robledo, werden es bald

noch mehr. Pollen, Bienenwachs und

Propolis, das als gesundheitsförderndes

Mittel bei Entzündungen und Verlet-

zungen eingesetzt wird, sind Produkte,

um die er die Palette erweitern will. „Früher verkauften wir den Ho-

nig an die Zwischenhändler, die uns über den Tisch gezogen haben.

Diese Zeiten sind nun zum Glück vorbei.“

Padre Arturo Estrada freut sich über den Eifer – muss aber auch

manchmal bremsen. Gut Ding will Weile haben, und die kollektiven

Entscheidungs- und Lernprozesse der indigenen Bauern brauchen

ihre Zeit, ebenso wie ordentliche Marktstudien. Davon ist der Leiter

der Jesuitenmission von Bachajón überzeugt, die bereits seit vielen

Jahren vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird. Ist

aber einmal ein Beschluss gemeinsam gefasst, ziehen alle an einem

Strang. Es sind Erfahrungen aus über 60 Jahren kirchlicher Arbeit

in dieser armen, abgelegenen Gegend im Süden Mexikos. In all den

Jahren haben die Jesuiten die Indigenen vom Volk der Tzeltal hier

begleitet – aus der Schuldknechtschaft und dem Tagelöhnerdasein

in eine florierende Kooperative. „Tic“ heißt „unser“ auf Tzeltal, und

das ist inzwischen zu einer anerkannten Marke geworden. Der Honig

ist nur ein kleiner Teil davon. „Angefangen hat es mit dem Kaffee“,

erzählt Estrada.

Befreiung aus derSchuldknechtschaftFAIRE ARBEIT. WÜRDE. HELFEN – ZUM MOTTO DER DIESJÄHRIGEN WEIHNACHTSAKTIONTEXT: SANDRA WEISS, FOTOS: JÜRGEN ESCHER

Als Tagelöhner auf den Plantagen der Kaffeebarone schuften – das war für Andrés Rodríguez vom Volk

der Tzeltal im Süden Mexikos noch bittere Wirklichkeit. Sein Sohn und seine Tochter arbeiten heute gut

ausgebildet in der Kooperative der Jesuitenmission Bachajón, die vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat

gefördert wird.

Rechts: Andrés Rodríguez junior arbeitet in der Kaffee-Kooperative Capeltic. Er spricht fließend spanisch und studiert an der Fernuni. Sein Vater arbeitete noch für einen Groß-grundbesitzer in der Schuldknecht-schaft.

14 Hintergrund

Page 15: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Kaffee war das bestimmende Erzeugnis dieser Region – und gleich-

zeitig ein Symbol der Ausbeutung. Das Wissen um die Verarbeitung

blieb den Kaffeebaronen vorbehalten. Mitte des 19. Jahrhunderts

hatten sie sich in dieser Gegend niedergelassen, unter ihnen auch

deutsche Einwanderer wie die Familien Edelmann und Giesemann.

Die Tzeltales standen auf der untersten gesellschaftlichen Stufe: erst

als Tagelöhner, später – als sie im Zuge diverser Landreformen eige-

nen Grundbesitz bekamen – als Zulieferer billigen Rohmaterials an

die Zwischenhändler. „Sie hatten keinerlei Kontrolle über den Preis

und waren der Willkür ausgeliefert“, erklärt Estrada.

„Wir konnten davon gerade einmal so überleben“, sagt Andrés Rodrí-

guez. Der 20-Jährige arbeitet als Techniker in der Kaffeekooperative

„Capeltic“, die ihren starken Kaffee bis nach Japan exportiert. Gleich-

zeitig studiert Andrés in Abendkursen

Betriebswirtschaft. Sein Vater schuftete

noch in Schuldknechtschaft und war

Analphabet, bis er dank der Bibelkurse

der Jesuitenmission Lesen und Schrei-

ben lernte. Vater Andrés Rodríguez ge-

hörte vor 15 Jahren zu den Gründungs-

mitgliedern von „Capeltic“ und verkauft

noch immer den Ertrag seiner drei

Hektar an die Kooperative – ebenso wie

mehr als 300 weitere Bauern aus 50 Ge-

meinden. „Wir bekommen dafür etwas

mehr Geld als bei den Zwischenhänd-

lern, aber noch viel wichtiger sind die

Unten: Andrés Rodríguez senior kommt gerade vom Feld. Als Dia-kon lernte er lesen und schreiben. Heute gehört ihm die kleine Kaffee-finca. Sein Gesicht ist auf dem Plakat der diesjährigen Weihnachtsaktion abgebildet.

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Page 16: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Padre Arturo Estrada SJ, Leiter der Jesuiten-mission von Ba-chajón im Süden Mexikos.

Kredite, die Schulungen und dass wir

wissen, was aus unseren Kaffeebohnen

gemacht wird“, sagt sein Sohn stolz. Be-

sonders viel Freude hat er derzeit an der

Arbeit in der hauseigenen Kaffeebar, wo

er den Kaffee als schaumigen Cappucci-

no oder cremigen Mokka zubereitet.

Die Kontrolle von der Ernte über

den Produktionsprozess bis hin zum

Endprodukt empfindet auch seine

Schwester Manuela als einen großen

Vorteil der Kooperative. Sie arbeitet

bei „Xapontic“, dem Zweig, der hand-

gefertigte Seifen herstellt. Die Seifen

und die Fertigung von traditionellen

Textilien und Kunsthandwerk sind

die Domänen der Frauen. Traditionell

standen sie im Schatten der Männer,

waren für Haus, Gemüsegarten und

Kinder zuständig. Dass Mädchen länger

als vier, fünf Jahre zur Schule gehen

oder gar einen eigenen Beruf ergreifen

und Geld verdienen, war bis vor einer

Generation noch undenkbar. Die Frauen

waren oft auf sich allein gestellt. Viele

Männer verdingten sich monatelang als

Tagelöhner oder wanderten ab in die

Fertigungsbetriebe im Norden Mexikos,

wo mehr Geld zu verdienen war. „Es

ist wichtig und eine Quelle des Selbst-

bewusstseins, wenn wir Frauen unser

eigenes Geld verdienen“, erzählt die 26-jährige Manuela. Als eine der

ersten Frauen der Kooperative hat sie Abitur gemacht und ist für Ver-

trieb und Qualitätskontrolle zuständig.

Ob in der Honigfabrik, der Kaffeerösterei, der Näherei oder bei der

Seifenherstellung – es herrscht eine ruhige, entspannte Atmosphäre,

fernab vom Diktat der Stechuhren und der Börsenkurse. „Ich schaffe

und verkaufe eigene Kreationen, das erfüllt mich mit Stolz“, sagt die

Näherin Eustachia Pérez, ohne von ihrer alten Nähmaschine aufzu-

blicken, um ja keinen falschen Stich zu setzen. „Natürlich verdiene

ich auch mehr Geld. Aber vor allem bin ich glücklich, dass man

schätzt, was ich bin und was ich kann.“ Es ist nicht die Gewinnma-

ximierung, der alles unterworfen ist, sondern die Suche nach einem

selbstbestimmten, würdigen Leben, in dem die Arbeit Sinn stiftet

und Freude macht. Und es geht um kollektive Lernprozesse, einen

Bruch mit dem Paternalismus, der die Region so lange prägte. „Das

ist für mich Nachhaltigkeit“, sagt Padre Arturo Estrada.

„Faire Arbeit. Würde. Helfen.“ Die Adveniat-Weihnachtsaktion 2017Unter dem Motto „Faire Arbeit. Würde. Helfen.“ stellt das Lateiname-

rika-Hilfswerk Adveniat das Recht auf menschenwürdige Arbeit in

den Mittelpunkt der diesjährigen Weihnachtsaktion. Eröffnet wird

diese am ersten Adventssonntag, 3. Dezember 2017, im Erzbistum

Paderborn. In den Monaten November und Dezember sind Adveniat-

Aktionspartner wie Padre Arturo Estrada aus Mexiko in den deut-

schen Bistümern unterwegs, um davon zu berichten, wie sie Men-

schen aus ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen befreien und ihnen

mit gerecht entlohnter Arbeit Perspektiven eröffnen. Mehr Infos

unter www.adveniat.de/weihnachtsaktion

Hintergrund16

Page 17: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Wo finden die Tzeltales hier in

Chiapas Arbeit?

Die meisten sind Kleinbauern und Selbst-

versorger. Die Frauen sind traditionell

für die Tiere und den Gemüsegarten zu-

ständig, die Männer für den Acker und

die Kaffeeplantage. Die Kinder lernen

die Landwirtschaft von den Eltern. Die

Gemeinschaft und Gemeinschaftsarbeit

sind sehr wichtig. Es geht darum, dass die

Gemeinschaft harmonisch wächst, nicht

um das individuelle Anhäufen von Reich-

tümern. Vielen jungen Leuten geht das zu

langsam und sie haben höhere materielle

Ansprüche. Sie suchen auswärts Arbeit,

vor allem auf dem Bau oder im Touris-

mus, zum Beispiel in Cancún. Andere

arbeiten bei der Gemeindeverwaltung

oder als Tagelöhner in den Monokulturen

in Nordmexiko.

Diese traditionellen Strukturen sind

in den Augen der Regierung und der

Unternehmer veraltet, rückständig,

vorkapitalistisch und ein Grund dafür,

dass der Bundesstaat Chiapas zu den

ärmsten in Mexiko gehört. Wie sehen

Sie das?

In der kapitalistischen Logik ist Chiapas

ein Lieferant für billige Energie, für Rind-

fleisch oder Palmöl. Doch die Agroindust-

rie schafft sklavenähnliche Strukturen, die

den Bauern keine eigenständige Entwick-

lung ermöglichen. Zum Beispiel mieten

die Konzerne in der Regel das Ackerland.

Im ersten Jahr zahlen sie ganz gut, und

dann senken sie kontinuierlich den Miet-

preis, denn sie wissen, dass die Bauern

nichts anderes mehr mit ihrem Land

machen können, wenn es einmal gerodet

ist und mit Düngern und Pestiziden für

Monokulturen verseucht wurde.

Welche Logik setzt die Jesuitenmis-

sion mit ihren Kooperativen dagegen?

Unser Ziel ist Autonomie. Das beginnt

damit, dass die Tzeltales 80 Prozent ihrer

benötigten Lebensmittel selber herstellen

und damit ihre Produktionsmittel und ihre

Gesundheit in der eigenen Hand haben.

Zum anderen stärken wir über die Koope-

rativen die interne Organisation. Wenn

wir ihnen dann noch helfen, moderne,

ökologisch verträgliche Anbaumethoden

zu beherrschen und sie international

vernetzen, sind sie ihr eigener Herr und

können selbst ihr Land gewinnbringend

nutzen. Unsere Schwerpunkte sind des-

halb die Bildung und die Stärkung der in-

digenen Kultur und Organisation.

Welche Rolle spielt der Glauben

dabei?

Der Glauben spiegelt sich im Alltag wider,

etwa in der Hoffnung, dass eine andere

Welt möglich ist. Oder in der Überzeu-

gung, dass Mutter Erde keine Handels-

ware ist. Wir wollen von einer Theologie

des Widerstands zu einer Theologie des

Guten Lebens gelangen, also ein Modell,

das wirtschaftliche und politische Alterna-

tiven bietet. Unser Ziel ist die Verschmel-

zung von Glauben und Gerechtigkeit.

Verzichten wir mit dieser Form des

Wirtschaftens und Lebens nicht auf

die Errungenschaften der industriel-

len Revolution und auf das, was wir

unter Moderne verstehen?

Ich halte linear aufsteigende Entwicklung

für einen westlichen Irrglauben. Es gibt

unterschiedliche Formen des Wissens

und der Entwicklung. Das ist aber keine

Einbahnstraße. Wir können von den in-

digenen Gemeinden lernen, aber auch

sie sollten sich unserem Wissen öffnen.

Zum Beispiel gibt es bei den Tzeltales kein

Bewusstsein für Umweltverschmutzung

durch Müll. Alles wird einfach weggewor-

fen. Das ging vor 100 Jahren gut, als fast

alles natürlichen Ursprungs war und von

selbst verrottete, aber mit dem Plastik

heutzutage ist das eine Katastrophe.

Was können wir in Deutschland von

den Kooperativen-Erfahrungen in

Chiapas lernen?

Zum Beispiel die Art, wie man eine Ge-

meinschaft bildet und den Individualis-

mus hinter sich lässt. Besuchern von

außen fällt immer die Freundlichkeit hier

auf, wie viel Zeit sich die Menschen für-

einander nehmen, wie sie sich namentlich

begrüßen und die Probleme der anderen

kennen. Zum Beispiel sind die Türen zu

jeder Uhrzeit für jeden offen, das ist ein

Zeichen der Freundschaft und nicht der

Respektlosigkeit.

Abgesehen von der Kooperative –

welche Erfolge hat die Mission seit

ihrem Bestehen erreicht?

Wir haben es geschafft, die Sprache, also

Tzeltal, aus der Familie herauszukatapul-

tieren in den öffentlichen Raum. Sobald

eine Sprache in der Schule und auf der

Arbeit Anwendung findet, ist sie nützlich

und hat eine Chance zu überleben. Das

ist deshalb so wichtig, weil die Sprache

Identität gibt. Das ist uns gelungen. Zum

anderen haben wir einen interkulturellen

Dialog mit der Weltwirtschaft etabliert.

Die Kaffeekooperative exportiert unter

anderem nach Japan.

Über Entwicklung und westlichen IrrglaubenIm Interview spricht Padre Arturo Estrada, Koordinator und Direktor der Jesuitenmission von Bachajón, über politische und

wirtschaftliche Alternativen zur kapitalistischen Logik. Er ist überzeugt davon, dass die unterschiedlichen Kulturen vonein-

ander lernen können. Sandra Weiss hat mit ihm gesprochen.

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Page 18: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Das Leben von Nancy Salva und Sohn Rai sollte endlich

besser werden. In São Paulo könnte sie als Bürokraft

mehr verdienen als in Bolivien, sagte man ihr. Doch

dann war alles anders. Statt Büro waren 18 Stunden

Nähen angesagt. Geschlafen wurde in einem Kabuff

daneben. Für das Essen ihres Sohnes musste sie Extra-

schichten einlegen.

Geld sah sie nie. Stets schuldete sie ihrem Chef etwas,

für die Reise, für Unterkunft und Essen. Es hörte nie

auf, es wurde nie weniger. Sie dachte an Flucht, doch

die brasilianische Polizei würde sie sofort einsperren,

dann deportieren, sagte ihr Chef, der ihre Reisedoku-

mente einbehalten hatte.

Ein normales Schicksal im Ostteil São Paulos, sagt

Roque Patussi, Koordinator der Migrantenpastoral. „Sie

sind vor dem Leid von zu Hause geflohen, hier tragen

sie ein noch schwereres Kreuz.“ Die meisten Bolivia-

ner seien vollkommen hilflos, wüssten nicht, wo sie

sind, wie ihr Chef heißt oder was ihre Rechte sind. Wie

können sie da jemanden anzeigen? „Illegal zu sein be-

deutet, in die Hände von Ausbeutern zu fallen.“

AUSBEUTUNG HAT TRADITION

Dabei gibt es Menschen, die ihnen helfen könnten. Wie

Zacharias Saavedra Paucada, der vor zwölf Jahren aus

Bolivien kam und seit sechs Jahren Ehrenamtlicher

bei CAMI ist. Jeden Samstag trifft man ihn auf der Rua

Coimbra im Stadtteil Brás, auch „Klein La Paz“ genannt.

Es riecht nach „Chicharrón de Pollo“, nach „Aji de

Arroz“, dazu dringt indigene Musik aus den Anden aus

den Lautsprechern. Schilder locken Arbeitssuchende

an, „1,50 Reais pro Stück“ soll man angeblich bekom-

men. Das sind umgerechnet knapp 30 Cents.

Zacharias hört sich die Sorgen einer Frau an. Es sind

immer die gleichen Geschichten. Statt „1,50 Reais“ be-

kommen Näher oft nur 20 Centavos pro fertiges Klei-

dungsstück, und wenn man eines falsch näht, wird

einem der Ladenpreis, 30 Reais oder mehr, abgezogen.

Monatelang habe sie umsonst gearbeitet. Zacharias

verspricht, den Anwalt von CAMI zu verständigen.

Die Ausbeutung hat Tradition. Mitte der Sechziger-

jahre starteten südkoreanische Immigranten die mas-

senhafte Textilproduktion in São Paulo. Bald schon

gab es im Ostteil zahlreiche illegale Nähfabriken, in

denen Tausende Bolivianer und Peruaner arbeiteten.

Sie hätten besonderes Geschick, heißt es. Innerhalb

von einer Woche lernten sie, die Nähmaschine fehler-

frei zu bedienen. Brasilianer bräuchten dafür sechs

Monate. Zudem seien sie dankbar für die Chance,

Brasilianer nicht.

Seit einigen Jahren ziehen sich die Koreaner jetzt

aus der Produktion zurück. Zu viele Unfälle, zu viele

Probleme mit den Behörden. Stattdessen geben sie

Auf der Suche nach der verlorenen WürdeDIE ARBEIT DER MIGRANTENPASTORAL CAMI IN BRASILIENTEXT: THOMAS MILZ, FOTOS: FLORIAN KOPP

In der Wirtschaftsmetropole São Paulo arbeiten Zehntausende Bolivianer unter sklavenähnlichen

Bedingungen als Näher. Die Migrantenpastoral CAMI (Centro de Apoio e Pastoral do Migrante) versucht,

sie aus dem Teufelskreis zu befreien.

Rechts: Zacharias Saavedra Paucara, Sozialarbeiter von CAMI, spricht auf dem boliviani-schen Markt mit einer Näherin, die von ihrem Arbeitgeber um ihr Gehalt betrogen wurde.

18 Hintergrund

Page 19: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

die Fabriken an Bolivianer weiter, mit der Auflage, für

Nachschub an Arbeitern aus der Heimat zu sorgen.

Etwa 200.000 Bolivianer leben in São Paulo, rund

60 Prozent davon illegal. Aber selbst wer legal ist, ist

nicht vor Ausbeutung sicher. Das Leben hier ist teurer

als der karge Verdienst in lokalen Unternehmen. Die

illegalen Nähfabriken bieten hingegen alles, was man

braucht: einen Schlafplatz, Essen und Arbeit. So gehen

viele freiwillig in die Ausbeutung.

„Viele Bolivianer hoffen, eines Tages selbst Besitzer

einer Nähfabrik zu werden“, sagt Patussi. Sobald man

Geld gespart hat, kauft man zwei Nähmaschinen und

wirbt Verwandte aus Bolivien an. „Und setzt die in den

gleichen Ausbeutungszyklus, den man selber durch-

laufen hat.“ Das lohnt sich. Jeder illegale Näher erwirt-

schaftet monatlich rund 2.800 Reais.

CAMI sei die Brücke zu den Ausgebeuteten, sagt Pa-

tussi, man knüpft Netzwerke für die Ankommenden,

unterrichtet sie in Portugiesisch und ihren Rechten.

Die Mitarbeiter von CAMI besuchen Bolivianer, die an

der Peripherie auf Müllhalden leben, in Bretterbuden,

in Häusern ohne Fenster und Türen. „Je weiter man

vom Zentrum weggeht, desto schlechter werden die

Arbeitsbedingungen“, so Patussi.

Doch dort gibt es auch Hoffnung. Zacharias ist bei den

Brüdern Coila zu Besuch. Vor 27 Jahren kamen sie aus

Bolivien. Richtig angekommen seien sie nie, sagen sie.

In einem Haus im äußersten Osten der Stadt nähen sie

bis zu 20 Stunden täglich Hemden, Hosen und Jacken.

Nachts um 2 Uhr macht sich Cesar dann mit Säcken

voll Kleidung auf in Richtung Zentrum. Dort verkauft

er auf einer bestimmten Stelle des Bürgersteigs bis

6 Uhr morgens. Dafür haben sie der Straßenmafia

Tausende Dollars bezahlt. Mit Sonnenaufgang kommt

die Polizei, und wer nicht schnell genug flieht, dem

nehmen sie alles ab. „Sie machen Jagd auf uns, es ist

erniedrigend“, sagt sein Bruder Carlos.

DIE WÜRDE ZURÜCKBEKOMMEN

Ein Verkaufszentrum nur für Migranten ist ihr Traum.

Dort könnten die Bolivianer ihre Waren direkt und un-

gestört anbieten. Es wäre Schluss mit den Mafias und

den prügelnden Polizisten. Das gäbe ihnen ihre Würde

zurück, sind die Brüder überzeugt.

Nancy Salva hat den Absprung aus der Ausbeutung der

Nähfabrik längst geschafft, dank der Unterstützung

von CAMI. Sie betreibt nun ihren eigenen Laden, im

Hinterzimmer lebt sie mit Sohn Rai. Heute wird sie

die letzte Rate für die eigene Nähmaschine bezahlen.

Oben: Nancy Salva, 41 Jahre, arbeitet heute in ihrer eigenen Schneiderwerk-statt.

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Page 20: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Ich wuchs in der Stadt Granada im De-

partement Meta auf. Mein Vater verließ

meine Mutter, als ich sechs Jahre alt

war. Wir waren sehr arm, meine Mutter

ging um drei Uhr zur Arbeit und kehrte

um 22 Uhr zurück. Meine beiden Brüder

und ich lebten praktisch alleine.

Mit zwölf Jahren ging ich mit meinen

Brüdern in das Departement Vichada.

Wir arbeiteten auf einer Kokaplantage

in einer Roten Zone. Die Gegend wurde

von der Farc-Guerilla kontrolliert. In

der Region war auch Carlos Lehder

aktiv, der Drogenhändler. Er kooperierte

mit den Farc.

Eines Tages kamen bewaffnete Männer,

die mich zwangen, mit ihnen zu kom-

men. Im Camp wurde ich Carlos Lehder

präsentiert. Ich hatte noch keine Brüste,

aber er begann, mich zu berühren. Ich

sagte, dass ich das nicht wolle, und er

antwortete, dass ich zu tun hätte, was

man mir sage. Einer der Männer schlug

mich bewusstlos, und als ich wieder

aufwachte, war ich nackt. Lehder sagte:

„Hör auf zu weinen und geh dich wa-

schen.“

Ich blieb vier Jahre bei der Farc-Gueril-

la, ich war in der 16. Front. Ich lernte,

wie man mit Waffen umgeht, und trug

eine Uniform. Ich musste mitansehen,

wie sie eine schwangere Frau töteten.

Einmal sagten sie mir, dass ich zwei

Brüder und den Verwalter einer Finca

töten müsse, die Bekannte von mir

waren. Wenn ich es nicht täte, würden

sie mich töten. Als ich vor den Männern

stand, sah ich ihre flehenden Blicke. Ich

betete: „Ich will das nicht machen.“ Ein

Engel erschien für mich. Sie nannten

ihn El Loco, und er erschoss diese

Menschen mit einer Pistole. Eines Tages

bat ich Carlos Lehder, dass er mir helfen

solle. Ich wurde seine Haushaltshilfe,

ich musste die Joints für ihn rollen.

Mein Bruder Willian war auch von den

Farc rekrutiert worden. Eines Tages

trafen wir uns. Dafür bestraften sie

uns und schickten uns zur Arbeit auf

eine Finca. Ich fand heraus, dass dort

Geldverstecke von Carlos Lehder waren.

Aber von diesen Verstecken wussten

die Farc nichts. Nur zwei Arbeiter

auf der Finca. Zur Strafe schickten sie

uns in ein isoliertes Camp mitten im

Dschungel.

Ich bekam Hepatitis B und Malaria.

Mein Bruder baute ein Floß und wir

versuchten zu entkommen. Aber das

Floß kenterte und mein Bruder rettete

mich. Wir liefen zwei Tage durch den

Dschungel. Wir trafen Eingeborene, die

mich mit Kräutern heilten.

Schließlich kam ich zurück zu meiner

Mutter. Aber sie war verrückt gewor-

den. Auch meine Brüder desertierten,

aber die Farc töteten sie aus Rache.

Seit sechs Jahren bin ich in Villavicen-

cio. Ich habe einen 16-Jährigen Sohn,

weil vier Paramilitärs mich vergewaltig-

ten. Ich weiß nicht, von welchem mein

Sohn ist. Ich habe auch zwei Töchter.

Nun bedrohen die Paramilitärs mich,

weil ich in einer Opferorganisation

bin. Sie haben vor meinem Haus ge-

schossen. Sie sagen, dass wir still sein

sollten. Die Regierung hilft uns nicht.

Wir Opfer sind alleine.

Florenia Parradias (40),

Bürgerkriegsopfer

„Wir Opfer sind alleine“ ZEUGNIS EINER ZWANGSREKRUTIERTEN FARC-KÄMPFERIN IN KOLUMBIENÜBERSETZUNG: PHILIPP LICHTERBECK

Nach dem Friedensschluss zwischen der Guerilla-Gruppe Farc und der Regierung

in Kolumbien hat Papst Franziskus Anfang September erstmals das Land besucht.

Es war ihm vor allem ein Anliegen, die Menschen zur Versöhnung zu ermuti-

gen. Wie schwierig das mitunter für diejenigen ist, deren Leben jahrzehntelang

durch Hass und Gewalt geprägt war, wird deutlich in den Worten der ehemaligen

zwangsrekrutierten Farc-Kämpferin Florenia Parradias, deren Zeugnis Philipp

Lichterbeck wörtlich übersetzt hat. Hoffnungsvolle Momente und Begegnungen

dagegen schildert die Journalistin Alexandra Endres in ihrem Reisebericht über

Kolumbien. Sie erzählt von Menschen, die auch unter widrigen Lebensbedingun-

gen Widerstandsfähigkeit beweisen und sich mit Mut und Kreativität für eine

bessere Welt einsetzen.

20 Zeugnis

Page 21: LateinamerikaChile und der Mapuche-Region Arau-canía. „In der Simulation werden die Beziehungen zwischen Spaniern und Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-rea die Idee des Projekts.

Kolumbien ist gerade angesagt. An

der Karibikküste entstehen Hotel-

burgen für das betuchte Publikum.

Die Partyhopper haben Medellín für

sich entdeckt. Und die Backpacker

wagen sich wieder in Landesteile vor,

die früher als No-go-Areas galten.

Die Journalistin Alexandra Endres hat

Kolumbien 2016 bereist – in jenen

Monaten, als die Vertreter von Regie-

rung und Farc das Friedensabkommen

verhandelten.

Endres’ umfangreicher Reisebericht

stellt spannende Orte vor, die für ein-

heimische wie ausländische Reisende

erreichbarer werden. Viel mehr jedoch

konzentriert sich die Autorin auf repor-

tageartige Beschreibungen der kolum-

bianischen Lebenswirklichkeit und auf

Portraits von Menschen, die das Zu-

sammenleben in dem vom Bürgerkrieg

geschundenen Land verbessern wollen.

Die Tour beginnt in der afrokolumbia-

nischen Metropole Cartagena, die sich

zurzeit stark wandelt: Die Eliten inves-

tieren in die Reiseindustrie, während

viele ärmere Bewohner an die Ränder

der Stadt gedrängt werden. Die soziale

Schere klafft weit auseinander, und die

beiden Enden finden kaum noch Gele-

genheit, sich über das gesellschaftliche

Miteinander zu verständigen: Was tun

gegen Bandenkriminalität, ausufern-

den Drogenkonsum und die horrend

hohe Zahl von Mädchenschwanger-

schaften – allesamt Phänomene, denen

die Autorin in Cartagena und auf

anderen Stationen begegnet. Wie gut,

dass es beispielsweise die Cantaoras

gibt, Frauen wie Cecilia, die durch die

Straßen ziehen und den Alltag kom-

mentierend besingen: „Ihre Gesänge

helfen den Menschen, nicht verrückt zu

werden, bei sich zu bleiben angesichts

der Gewalt und Diskriminierung, die

viele ertragen müssen.“ Überhaupt sind

es oftmals die Musiker und Künstler,

deren Beiträge zur Heilung vielfältiger

Traumata von der Autorin gewürdigt

werden.

Ähnliches gilt für kirchliche Akteure.

In Quibdó lernt sie Ursula Holzapfel

kennen, die sich um Frauen kümmert,

die vor der grassierenden Gewalt in die

Region Chocó mitten im Regenwald ge-

flüchtet sind. Ursula Holzapfels Arbeit

wird ebenso von Adveniat unterstützt

wie die Nationale Versöhnungskom-

mission, deren Koordinator Padre

Darío Echeverri ist. In der Basilika Voto

Nacional, in der Altstadt von Bogotá,

liest er die Messe und koordiniert von

dort zahlreiche soziale Aufgaben für

die Bewohner der umliegenden Barrios:

„Er predigte und sang im Kirchenschiff,

inmitten seiner Gemeinde, er umarmte

die Leute und schüttelte Hände, er stell-

te Fragen, statt zu belehren, er drohte

nicht mit Strafen, sondern feuerte seine

Zuhörer an, Gutes zu tun, und er sprach

in einer klaren, schlichten Sprache, die

jeder verstand.“

Nicht zuletzt beschäftigt sich die Auto-

rin mit der Lebens- und Glaubenswelt

der indigenen Gemeinschaften. Mit

einem mobilen Ärzteteam besucht sie

die Siedlungen der Wayúu, die sie als

recht misstrauisch beschreibt. Allzu

negativ seien frühere Erfahrungen mit

einzelnen Anthropologen, Medizi-

nern, Beamten und Klerikern gewesen,

so dass man den „weißen Einfluss“

mittlerweile ablehnt, weil man Angst

hat, die eigenen Traditionen könnten

korrumpiert werden. Mamo Camilo,

ein spiritueller Führer der Arhuaco,

sagt von den multinationalen Unter-

nehmen: „Sie glauben, das gehört alles

ihnen. Aber für uns sind es Körperzel-

len der Mutter Erde.“

Bei aller Anklage ist der Mamo freund-

lich und der Reisenden aus Deutsch-

land zugewandt. Sie solle alles in sich

aufnehmen und zuhause von Kolumbi-

en, dem Leben und den Schwierigkeiten

berichten. Und anschließend wieder-

kommen.

Reisen, davon erzählen und wiederkommen EIN REISEBERICHT AUS KOLUMBIEN TEXT: THOMAS VÖLKNER

Alexandra Endres:

Wer singt, erzählt. Wer tanzt, überlebtEine Reise durch Kolumbien

Ostfildern: DuMont Reiseverlag 2017

281 Seiten – 14,99 Euro

ISBN 978-3-7701-8284-8

21Literatur

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Das Leben der indigenen Völker am Amazonas ist in Gefahr. Ihre

Lebenswelt wird durch den rücksichtslosen Abbau von Rohstoffen,

Abholzungen oder gigantische Staudammprojekte systematisch

zerstört – auch unter Beteiligung deutscher Unternehmen. Darauf

hat der Amazonas-Beauftragte der lateinamerikanischen Kirche, der

peruanische Bischof Pedro Barreto, im Juni 2017 vor Bundestagsabge-

ordneten gemeinsam mit dem Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat

und Misereor hingewiesen.

„Die Weltgemeinschaft muss Antworten auf die Verletzungen der

Menschenwürde und Selbstbestimmung der indigenen Völker und

die Zerstörung der Biodiversität im Amazonas-Gebiet finden“, sagte

der peruanische Bischof Pedro Ricardo Barreto Jimeno von Huan-

cayo. Er erinnerte die deutschen Politiker daran, dass auch Papst

Franziskus mit seiner Sozial- und Umwelt-Enzyklika „Laudato si‘“

die Industrienationen eindringlich dazu aufgefordert hat.

„Wer die schleichende Ausrottung dieser Völker verhindern will,

muss die UN-Konvention ILO Nummer 169 ratifizieren“, sagte Tho-

mas Wieland, Leiter der Projektabteilung des Lateinamerika-Hilfs-

werks Adveniat. Das einzige verbindliche internationale Abkommen

zum Schutz indigener Völker garantiere zum Beispiel, dass diese

Völker angehört werden müssen, wenn auf ihrem Gebiet Rohstoffe

ausgebeutet werden. „Diese Bestimmungen werden vor Ort immer

wieder umgangen, auch weil international viel beach-

tete Länder wie Deutschland das Abkommen bis heute

nicht ratifiziert haben und auf die dortigen Regie-

rungen keinen Druck ausüben“, so Adveniat- Experte

Wieland.

Mit weiteren internationalen Organisationen, unter

ihnen das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat und

Misereor, setzt sich das panamazonische kirchliche

Netzwerk Repam (Red Eclesial PanAmazónica) gegen

die fortschreitende Umweltzerstörung und für das

Überleben der indigenen Völker ein.

Mit dem Kontrast zwischen Schönheit und Zerstörung

arbeitet die Künstlerin Barbara Grave, um auf den

menschengemachten Klimawandel und die Bedro-

hung der Schöpfung aufmerksam zu machen. Ihre

Ausstellung „Hommage Erde“, die vom 28. April bis

zum 21. Mai in der Games Factory Ruhr in Mülheim an

der Ruhr zu sehen war, besuchten rund 150 Interes-

sierte. In vielen Gesprächen informierte die Künst-

lerin über ihre Intention, Bewusstsein insbesondere

für die Zusammenhänge von persönlichem Lebensstil

und globalen Umweltproblemen zu schaffen. Ganz

konkret setzt sich die Künstlerin für Adveniat-Pro-

jekte zum Schutz der Amazonas-Region und der dort

lebenden indigenen Völker ein. Bei der Vernissage

versteigerte sie zugunsten Adveniats zwei ihrer Werke.

Der Erlös von 700 Euro kommt dem Schutz bedrohter

Völker in Lateinamerika zugute.

GEMÄLDEVERSTEIGERUNG ZUGUNSTEN VON ADVENIAT

Malen zum Schutz des Amazonas

AUFRUF DER HILFSWERKE

Schleichende Ausrottung der indigenen Völker

Rechts: Barbara Grave im Atelier.

Unten: Kinder vom Volk der Yanomami. Foto: Jürgen Escher

22 Adveniat aktuell

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„Mit seinem Leben für Dialog und

Vermittlung bleibt Bischof Stehle auch

über seinen Tod hinaus ein Wegwei-

ser für den Frieden in Lateinamerika“,

würdigte Adveniat-Bischof Franz-Josef

Overbeck das Leben und Wirken von Bi-

schof Emil Lorenz Stehle. „Seinem un-

ermüdlichen Einsatz für die Menschen,

insbesondere die indigenen Völker,

fühlen wir uns bei Adveniat weiterhin

verpflichtet.“ Der ehemalige Geschäfts-

führer des Lateinamerika-Hilfswerks

Adveniat verstarb am 16. Mai 2017 in

Konstanz im Alter von 90 Jahren.

„Don Emilio“ aus Südbaden

Am 3. September 1926 wurde Emil

Stehle in Herdwangen-Mühlhausen

(Südbaden) als achtes Kind von neun

Geschwistern einer Bauernfamilie ge-

boren. 1951 in der Erzdiözese Freiburg

zum Priester geweiht, stellte Stehle

sich nach sechs Kaplansjahren dem

Katholischen Auslandssekretariat zur

Verfügung, um in der kolumbianischen

Hauptstadt Bogotá eine Gemeinde für

deutschsprachige Katholiken aufzubau-

en. Bischof Dr. Franz Hengsbach, der

damalige Vorsitzende der Bischöflichen

Aktion Adveniat, ernannte ihn 1969 zu-

nächst zum Berater Adveniats mit Sitz

in Bogotá. Von dort aus sollte Stehle die

Kontakte zum Lateinamerikanischen

Bischofsrat Celam aufbauen und sämt-

liche lateinamerikanischen Bischofs-

konferenzen besuchen, um mit ihnen

die Schwerpunkte der Adveniat-Hilfe zu

beraten. Im Oktober 1972 holte Bischof

Hengsbach Emil Stehle als Zweiten

Geschäftsführer in die Geschäftsstelle

nach Essen. Von 1977 bis 1988 war er

Geschäftsführer des Lateinamerika-

Hilfswerks.

Als „Don Emilio“, wie er in Lateiname-

rika liebevoll genannt wurde, 1983 in

Rom zum Bischof geweiht und dem

Erzbischof von Quito in Ecuador als

Weihbischof zur Seite gestellt wurde,

entwickelte er sich mehr denn je zum

Wanderer zwischen zwei Welten. 1987

schließlich wurde das Bischofsvika-

riat Santo Domingo de los Colorados

zur Prälatur erhoben, so dass Bischof

Stehle sich entschied, seinen Lebens-

mittelpunkt nach Ecuador zu verlegen.

Für seinen großen Einsatz, besonders

bei den Friedensbemühungen in Zen-

tralamerika, die Befreiung von sieben

Entwicklungshelfern in Nicaragua und

die Pionierarbeit in Santo Domingo

de los Colorados in Ecuador wurde

Bischof Stehle mehrfach ausgezeichnet:

mit drei Ehrendoktor-Titeln und dem

Großen Verdienstkreuz der Bundesre-

publik Deutschland. 2002 kehrte er in

seine Heimatdiözese Freiburg zurück

und lebte seitdem in Konstanz am

Bodensee.

ADVENIAT WÜRDIGT DEN VERSTORBENEN BISCHOF EMIL LORENZ STEHLE

„Ein Wegweiser für Frieden in Lateinamerika“

Bischof Emil Lorenz Stehle am 31. August 2000 in der Prälatur Santo Domingo de los Colorados in Ecuador. Foto: Rolf Bauerdick

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Bischöfliche Aktion Adveniat e.V., Postfach 10 01 52, 45001 Essen

PVSt, Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, K 52635

„Die Menschen hier rund um Jérémie sind stark. Sie geben nicht auf, obwohl sie viele Gründe hätten, irgendwann einfach zu resignieren.“

Ordensschwester Mirca, Haiti