Lehmann Globalisierung

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MS 3033 / 2006 1 Sperrfrist: 14. März 2006, 14 Uhr (Beginn der Veranstaltung) Es gilt das gesprochene Wort (Kürzungen des III. Kapitels beim Vortrag) Karl Kardinal Lehmann Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz Ist unter den Religionen und Konfessionen eine Verständigung ohne Relativismus möglich? Impulsvortrag bei der gemeinsamen Tagung der Bundeszentrale für Politische Bildung, der Katholischen Akademie in Berlin, von Misereor und Justitia et Pax am 14. März 2006 in Berlin Gewiss schien es lange Zeit nicht möglich zu sein, einen interreligiösen Dialog zu führen, ohne die eigene Position in Frage zu stellen oder undeutlich werden zu lassen. Dies ist auch heute noch bei vielen Versuchen ein echtes Problem und eine bleibende Herausforderung. Aber im Lauf der Zeit ist eine solche Fragestellung auch deutlicher geworden. Sie ist gewiss durch Prozesse dringlicher geworden, die wir gewöhnlich mit den Begriffen „Globalisierung“ , aber auch „multikulturelle Gesellschaft“verbinden. Es mag darum ein Einstieg sein, durch die Erläuterung der beiden Begriffe einen ersten Zugang zum Problem zu suchen. I. In einem atemberaubenden Tempo wächst die Welt zusammen, vernetzt durch Telefon, Tele- fax und Internet. Alles kann –so scheint es –jederzeit und überall produziert sowie verkauft werden. Die Welt, die manchem ohnehin als ein großes Dorf erscheint, nimmt sich aus wie ein grenzenloses Shopping-Zentrum. Die Beispiele sind schon Routine: „Ein Sportwagen wird von Japan finanziert, in Italien entworfen, im US-Staat Indiana, in Mexiko und Frankreich montiert, wobei moderne elektronische Komponenten Verwendung finden, die im US-Staat New Jersey erfunden und in Japan hergestellt wurden.“ 1 Gesunkene Kommunikations- und Transportkosten und der Abbau mancher Handelsschranken erlauben einen einzigen Welt- markt, auf dem freilich ein mörderischer Konkurrenzkampf tobt. Und es sind nicht nur die Multis, die diese Chancen nützen. Wir alle kaufen z.B. billigere Elektro-Artikel aus dem Fer- nen Osten. Dieser selbstverständliche, schnelle Transfer betrifft aber nicht nur die Waren und Dienstleistungen, sondern jede Sekunde wird z.B. im Kapitalverkehr – vermutlich gibt es schon neuere Zahlen –eine halbe Million Dollar zwischen den Finanzmärkten hin- und herge- schoben. Der ganze Globus ist erfasst –und niemand kann das Spiel wirklich kontrollieren. Es besteht dennoch kein Anlass, Globalisierung schlechthin zu verteufeln. Es ist gut, wenn die Errungenschaften der Industrienationen auch den ärmeren und unterentwickelten Ländern der 1 R. B. Reich, Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der Nationalen Ökonomie, Frankfurt 1993, Fischer- Taschenbuch 1996.

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MS 3033 / 2006

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Sperrfrist: 14. März 2006, 14 Uhr (Beginn der Veranstaltung)Es gilt das gesprochene Wort

(Kürzungen des III. Kapitels beim Vortrag)Karl Kardinal LehmannVorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Ist unter den Religionen und Konfessionen eineVerständigung ohne Relativismus möglich?

Impulsvortrag bei der gemeinsamen Tagung der Bundeszentrale für

Politische Bildung, der Katholischen Akademie in Berlin, von Misereor

und Justitia et Pax am 14. März 2006 in Berlin

Gewiss schien es lange Zeit nicht möglich zu sein, einen interreligiösen Dialog zu führen,

ohne die eigene Position in Frage zu stellen oder undeutlich werden zu lassen. Dies ist auch

heute noch bei vielen Versuchen ein echtes Problem und eine bleibende Herausforderung.

Aber im Lauf der Zeit ist eine solche Fragestellung auch deutlicher geworden. Sie ist gewiss

durch Prozesse dringlicher geworden, die wir gewöhnlich mit den Begriffen „Globalisierung“,

aber auch „multikulturelle Gesellschaft“verbinden. Es mag darum ein Einstieg sein, durch die

Erläuterung der beiden Begriffe einen ersten Zugang zum Problem zu suchen.

I.

In einem atemberaubenden Tempo wächst die Welt zusammen, vernetzt durch Telefon, Tele-

fax und Internet. Alles kann – so scheint es – jederzeit und überall produziert sowie verkauft

werden. Die Welt, die manchem ohnehin als ein großes Dorf erscheint, nimmt sich aus wie

ein grenzenloses Shopping-Zentrum. Die Beispiele sind schon Routine: „Ein Sportwagen wird

von Japan finanziert, in Italien entworfen, im US-Staat Indiana, in Mexiko und Frankreich

montiert, wobei moderne elektronische Komponenten Verwendung finden, die im US-Staat

New Jersey erfunden und in Japan hergestellt wurden.“1 Gesunkene Kommunikations- und

Transportkosten und der Abbau mancher Handelsschranken erlauben einen einzigen Welt-

markt, auf dem freilich ein mörderischer Konkurrenzkampf tobt. Und es sind nicht nur die

Multis, die diese Chancen nützen. Wir alle kaufen z.B. billigere Elektro-Artikel aus dem Fer-

nen Osten. Dieser selbstverständliche, schnelle Transfer betrifft aber nicht nur die Waren und

Dienstleistungen, sondern jede Sekunde wird z.B. im Kapitalverkehr – vermutlich gibt es

schon neuere Zahlen – eine halbe Million Dollar zwischen den Finanzmärkten hin- und herge-

schoben. Der ganze Globus ist erfasst – und niemand kann das Spiel wirklich kontrollieren.

Es besteht dennoch kein Anlass, Globalisierung schlechthin zu verteufeln. Es ist gut, wenn die

Errungenschaften der Industrienationen auch den ärmeren und unterentwickelten Ländern der 1 R. B. Reich, Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der Nationalen Ökonomie, Frankfurt 1993, Fischer-

Taschenbuch 1996.

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Welt zugute kommen. Wenn ihre Kräfte und Fähigkeiten angesprochen und ermutigt werden,

kann dies ein mächtiger Motor sein für ihre Entfaltung. Nicht selten wird uns gesagt, Globali-

sierung in diesem Sinne könne vielen Ländern der Dritten Welt mehr helfen als Entwick-

lungshilfe im bisherigen Sinn. Gewiss kann eine Globalisierung wirtschaftlicher Kräfte damit

zu einem gewissen Ausgleich beitragen zwischen den armen und reichen Ländern. Man kann

auch einigermaßen ahnen, wie eine vernünftig und ethisch vertretbar gesteuerte Globalisie-

rung dazu helfen kann, immer mehr und wirkungsvoller die Gleichwertigkeit und die gleiche

Würde aller Menschen auf diesem Erdball wenigstens langsam zu realisieren. Dies sind Ziele,

die man von einer christlichen Anthropologie und Sozialethik her nur unterstützen kann. Die

christlichen Kirchen sind darum auch nicht von vornherein Gegner des Globalisierungspro-

zesses. Dies gilt nicht zuletzt und besonders für die katholische Kirche, die aufgrund der Uni-

versalität und weltweiten Ausdehnung immer wieder als „globel-player“bezeichnet wird.

Gerade bei einer solchen Beurteilung ist große Nüchternheit am Platz. Globalisierung ist ein

Wirtschaftsprozess, der seine eigenen Interessen hat. Er setzt eine liberale Marktwirtschaft

voraus und überträgt diese im Weltmaßstab auf die ganze Erde. Wir wissen spätestens seit

dem 19. Jahrhundert, dass der Markt ungeahnte Kräfte freisetzen kann. Im Falle der Globali-

sierung kann dies noch stärker werden. Die Interessen steigern sich. Zur Kontrolle des Wett-

bewerbs gibt es im Grunde keine ausreichende Instanz mehr. Deshalb ist es auch sehr schwie-

rig, die verantwortlichen Kräfte für die Globalisierung eindeutig zu identifizieren. Die techno-

logischen Möglichkeiten der Kommunikation, rasch und weltweit Kontakte zu knüpfen und

vor allem auch Entscheidungen zu treffen, erlauben neue Formen einer wenig transparenten

Herrschaft.

Es gibt gewiss schon länger Ansätze zu einer solchen Globalisierung. Großkonzerne lenken

vermutlich schon lange ihr weltweites Netz nach solchen Maßstäben und Strukturen. Aber die

Verflechtung, die jetzt möglich wird, ist vermutlich ausgreifender und intensiver zugleich.

Man muss deswegen neben den Errungenschaften auch nüchtern die Gefährdungen erblicken.

Es ist nicht automatisch so, dass die Länder der Dritten Welt einen Aufschwung erfahren.

Dies gilt jedenfalls nicht für alle. Manchmal kommt der Segen nur den Städten oder manchen

Regionen zugute, während das Land noch weiter im Elend bleibt. Die Globalisierung kann

Arbeit und Erwerb ermöglichen, wo sie bisher nicht waren, aber das enorme Gefälle zwischen

den Industrienationen und den zu fördernden Ländern kann zu großen Ungleichheiten führen.

Die Verführung zu sehr niedrigen Löhnen kann groß sein. Oft hört man das Argument, viel

weniger zu verdienen sei immerhin besser als keine Einnahmen zu haben. Viele Staaten bie-

ten steuerpolitisch sehr niedrige Sätze an, um Firmen überhaupt anzulocken. Die Versuchung,

das Wissen und die Forschung in den Industrienationen zu betreiben, die Produktion vor al-

lem von weniger komplizierten Waren in die Länder der Dritten Welt zu verlagern, ist groß.

Durch die Verlagerung von Firmensitzen können in den Industrienationen wenig Steuern und

Abgaben entrichtet werden, auch wenn die Beanspruchung der Infrastruktur erheblich ist. Ich

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will nicht sagen, dass dies alles unerlaubt ist und ethisch verwerflich sein muss, aber es kön-

nen z.B. rücksichtslos Arbeitsplätze vernichtet werden, die auf die Dauer nicht ersetzt werden

können.

Dies muss nicht alles eintreten. Es ist nicht zwangsläufig. Deshalb ist es auch falsch, die Glo-

balisierung einfach als Teufelswerk hinzustellen. Es bleibt aber eine tiefe Ambivalenz. Errun-

genschaften und Nachteile, Segen und Fluch müssen sorgfältig unterschieden werden. Die

Ungleichheit der Partner schafft anfällige Strukturen. Es fehlt vor allem an einem kontrollier-

ten Wettbewerb. Was wir heute für die Marktwirtschaft verlangen, nämlich eine Ordnungspo-

litik, die faire Rahmenbedingungen für alle am Markt Beteiligten festsetzt und verbindlich

macht – und nur so entsteht auch wirklich Soziale Marktwirtschaft –, muss in der globalisier-

ten Wirtschaft weitgehend fehlen. Wenn sie auf die Dauer funktionieren und für alle wirklich

die Lebenschancen verbessern möchte, braucht es entsprechende Kontrollmechanismen in der

Welthandelsordnung mit ihren Institutionen und Interessen. Dies gilt für eine Neuordnung der

internationalen Währungsbeziehungen, die Regelung des Warenverkehrs und die Zoll- und

Handelsabkommen. Die Schaffung einer solchen Internationalen Wirtschaftsordnung, nicht

zuletzt durch eine entsprechende Berücksichtigung der Wirtschaftsethik, ist eine große Her-

ausforderung für die Zukunft.

In den letzten Jahren gab es eine immer größere Ausdehnung des Globalisierungsbegriffs.

Zweifellos stehen wir auch in einem Prozess, der in ein globales Zeitalter führt, auch wenn

Globalität schon seit der frühen Neuzeit zu den Tendenzen unserer Welt gehört.2 Je mehr aber

solche Begriffe sich ausweiten, um so weniger werden sie bestimmbar. Ähnliches gilt z.B. für

den Begriff Modernisierung. „Strukturbildende Fernverflechtungen gab es schon in vormo-

derner Zeit. Aber erst die kulturelle Kreativität der europäischen Moderne – Stichworte wären

Rationalität, Organisation, Industrie, Kommunikationstechnologie – ermöglichte Verflechtun-

gen von neuartiger Reichweite und Intensität.“3 Dies alles bedeutet eine Mahnung, den Beg-

riff der Globalisierung nicht unreflektiert auszuweiten,4 aber doch auch seine Tendenz hin zu

einer immer universaleren Verflechtung unserer Welt zu erkennen, auch wenn dies gar nicht

von einem Ort aus steuerbar erscheint und darin auch manche Wirkungen eine Rolle spielen,

die sich letztlich unbeabsichtigten Nebenwirkungen verdanken, aber eben im Nachhinein eine

eigene Folgerichtigkeit ergeben. Der interreligiöse Dialog steht gewiss auch in diesem Kon-

text. Es ist aber weniger angezeigt, diesen Begriff unmittelbar im engen Zusammenhang unse-

2 Vgl. dazu J. Osterhammel/N. P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, 2.

Aufl., München 2004, 7 ff., 105 ff.3 Ebd., 112.4 Vgl. dazu auch R. B. Reich, Die neue Weltwirtschaft, Frankfurt 1993; O. Kimminich, Globalisierung, in: His-

torisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. III, Basel 1974, 675-677; J. Dürrschmidt, Globalisierung, Bielefeld2002. – Ich verzichte auf die Nennung der uferlosen Literatur, auch auf eigene Veröffentlichungen. Eine kurzeZusammenfassung findet sich auch in: Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hg.), Kompendium derSoziallehre der Kirche, deutsche Übersetzung erschienen bei Herder, Freiburg i.Br. 2006, Nr. 16, 300, 310ff.,361ff.

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res Themas zu verwenden. Wenn man ihn gebraucht, sollte man die verwendeten Dimensio-

nen eigens kennzeichnen.5

II.

Ein anderes Grundwort befindet sich in der Nähe unseres Themas und hat Einfluss auf die Art

und Weise der Fragestellung nach dem interreligiösen Dialog. Es ist der Begriff der „multi-

kulturellen Gesellschaft“.6 Für viele ist dies ein Reizwort und eine Zumutung. Sie sehen darin

eine Relativierung der eigenen Kultur, ein gleichgültiges Nebeneinander und problematische

Folgerungen in Richtung einer ebenbürtigen Anerkennung.

Nun hat der Begriff einer multikulturellen Gesellschaft gewiss mehrere Dimensionen, die oft

ungeschieden nebeneinander stehen. Die Vermischung der einzelnen Bedeutungsnuancen

bringt manche Verwirrung. Es gibt zunächst eine zeitdiagnostische Bedeutung, wenn zur Ana-

lyse auf das Phänomen aufmerksam gemacht wird. Zugleich versucht der Begriff einen empi-

risch-analytischen Befund festzuhalten, der zeitdiagnostische Annahmen genauer überprüfen

lässt. Schließlich aber geht es nicht nur um das faktische Feststellen, sondern „multikulturelle

Gesellschaft“wird auch als Norm-Aussage gebraucht, um einen Zustand zu umreißen, der

aufgrund einiger Optionen vorherrschend sein soll. Wenn man eine generelle Umschreibung

multikultureller Gesellschaft versucht, könnte man formulieren: Es sind Gesellschaften ge-

meint, in denen Menschen unterschiedlicher sozio-kultureller Prägung und Staatsangehörig-

keit zusammenleben. Die soziokulturelle Prägung erstreckt sich zunächst einmal auf die

volksmäßige, ethnische Zugehörigkeit, Sprache, moralische Anschauungen, Religion und

Lebensstil. Die normative Verwendung zielt auf eine Sozialordnung, die auf der Grundlage

der Menschenrechte und gemäß dem Toleranzgebot auf der wechselseitigen Anerkennung

verschiedener sozio-kultureller Eigenheiten besteht. Damit ist zugleich auch die Forderung

enthalten, dass man in dieser Sicht jede Form von zwanghafter Anpassung der unterschiedli-

chen kulturellen Prägungen an eine bisher vorherrschende Tradition grundlegend ablehnt.

Man hat darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Begriff vor allem aus dem nordamerikani-

schen Kontext stammt und gewiss auch eine Prägung erfahren hat, die mit den historischen

Entwicklungen dieses Raumes zusammenhängt. Der Begriff ist auf weite Strecken der deut-

schen sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit fremd geblieben, wie ein Blick in soziologi-

sche Lexika und Wörterbücher bezeugt. In Kanada wurde der Begriff für das Miteinander der

englischen und französischen Bevölkerungsgruppen verwendet. Dort sprach man eher von

„Bikulturalismus“. Die amerikanische Tendenz zu einem Relativismus der Kulturen und die

Diskussion in den klassischen Einwanderungsländern haben den Begriff ausgeweitet. Nach

5 Vgl. dazu auch H. Lübbe, Die Zivilisationsökumene. Globalisierung kulturell, technisch und politisch, Mün-

chen 2005.6 P. Aroldi u.a. (Hg.), Il Magistero della Chiesa sulla multiculturalità, Milano 2001.

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1980 ist „multikulturelle Gesellschaft“eine Leitkategorie der politischen Debatte um die Ver-

schiedenheit des sozialen Lebens geworden, wobei Modernisierung und besonders Globalisie-

rung hier eine eigene und besondere Schubkraft entwickelt haben. Dabei geht es besonders

um die Frage, wie komplexe Gesellschaften mit ihren sozial-kulturellen Ungleichheiten zu

einer Integration und zu einer Identität kommen können.

An diesem immer stärkeren Vordringen des Begriffs „multikulturelle Gesellschaft“ist vor

allem die internationale Migration beteiligt.7 Dies sind einerseits die Wanderungen, die durch

Armut und Suche nach Arbeit bedingt sind. Hinzu kommen politische Flüchtlinge und Asyl-

bewerber. Es geht aber anderseits auch um eine zunehmende internationale Verflechtung von

Politik und Wirtschaft. Nicht zufällig hat man das vergangene Jahrhundert als ein Jahrhundert

der Flüchtlinge bezeichnet. Es gibt nicht wenige Prognosen, die uns ein noch stärkeres Auf-

brechen verarmter Völker ankündigen.

Dabei handelt es sich nicht einfach um ein allgemeines gesellschaftliches Problem. Vielmehr

entsteht die Frage, wie sich die einzelnen sozio-kulturellen Prägungen zueinander verhalten.

Bei der schiedlich-friedlichen Koexistenz oder auch bei einer am anderen grundsätzlich unin-

teressierten Gleichgültigkeit oder einer unterdrückten Distanzierung und Feindseligkeit wird

es nicht bleiben. Darum ist für die Zukunft der Menschheit immer wieder ein Krieg der Kultu-

ren prognostiziert worden. Jedenfalls ist die Bewegung von Menschen über Grenzen, von

Grenzen über Menschen und die Begegnung der Kulturen ein Kernproblem unserer Gegen-

wart. Der größer gewordene Anteil an Freizeit und Tourismus hat zusätzlich die Vorausset-

zungen geschaffen, dass eine solche „multikulturelle Gesellschaft“im Blick steht und von

vielen akzeptiert wird.

Meist bleibt es bei einer relativ oberflächlichen Verwendung des Begriffs. Dennoch wird ein

Grundproblem erkennbar, nämlich welche Grundorientierungen des Zusammenlebens in einer

Gesellschaft gültig sind. Denn die verschiedenen Lebensmuster einzelner Kulturen stehen ja

nicht selten auch in Spannung zueinander. Gerade bei der Freiheit von Religion und Weltan-

schauung entsteht die Frage, ob es gemeinsame Überzeugungen gibt, oder ob eine solche Ge-

sellschaft durch die auseinanderstrebenden Kräfte wie auf einem Pulverfass sitzt. Dabei konn-

ten wir z.B. vor allem in Bosnien feststellen, wie rasch ein erstaunlich geglücktes, lange Zeit

funktionierendes Zusammenwohnen z.B. von Muslimen und Christen einerseits möglich war,

anderseits aber bei den geringsten Störungen eines gewiss nicht sehr stabilen Gleichgewichts

aus den Fugen kam und rasch verletzt werden konnte. Man darf sich also über die „Friedlich-

keit“multikultureller Erscheinungen nicht täuschen.

7 Vgl. H. Lehmann (Hg.), Migration und Religion im Zeitalter der Globalisierung, Göttingen 2005; L. Pries,

Internationale Migration, Bielefeld 2001.

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Es besteht kein Zweifel, dass diese Differenzen in den Lebensgewohnheiten und in den ihnen

zu Grunde liegenden Entscheidungen eine große Rolle spielen. Dies gilt besonders für die

Zugehörigkeit zu einer Nation, den Zusammenhang mit der Religion und die emotional-

affektive Verwurzelung dieser Grundentscheidungen in der Tradition einer Gruppe, aber auch

im Lebensentwurf einzelner Menschen. So wächst die Tiefe und Schwierigkeit der Frage, was

sich nun hinter mancher Diskussion, z.B. über Asylbewerber, verbirgt. Welche Ängste und

Konflikte belasten das Zusammenleben z.B. von einheimischer Mehrheit und zugewanderten

Minderheiten?

Gerade hier liegen aber auch die Gründe, warum nicht wenige den Begriff einer multikulturel-

len Gesellschaft ablehnen. Sie fürchten eine Überfremdung der eigenen sozio-kulturellen Prä-

gung. Gleichzeitig nehmen sie an, es käme in Wahrheit gar nicht zu einer Begegnung und

Integration des Fremden, sondern gerade die Zuwanderer würden sich mehr und mehr in ei-

nem Getto abschließen und verlieren. Durch die verbleibende Fremdheit – so glauben sie –

bestünde auch eine große Gefahr, dass fremde Ideologien importiert werden, die auf die Dau-

er die innere Stabilität einer Gesellschaft verletzen oder gar aushöhlen könnten. Vor diesem

Hintergrund kann man auch begreifen, warum es bei der heutigen Mobilität in manchen Ge-

sellschaften zu solchen Ängsten und auch zu einer beträchtlichen Fremdenfeindlichkeit kom-

men konnte. Demgegenüber versucht man an einer Homogenität von Volk und Kultur im

Sinne einer Identität festzuhalten. Man wird wohl Züge dieser Situation in der heutigen Dis-

kussion um den Begriff „Leitkultur“feststellen dürfen.8

III.

Damit sind wir in der Lage, den Kern unseres Themas anzugehen. In der öffentlichen Mei-

nung hat die Frage nach dem Verhältnis der Religionen untereinander einen neuen Höhepunkt

nach dem Attentat vom 11. September 2001 und den folgenden Aggressionen im terroristi-

schen Umfeld erhalten. Die Veröffentlichung und die Auseinandersetzung mit der Erklärung

der Glaubenskongregation „Dominus Iesus“vom 5. September 2000 brachte zusätzlich eine

bisher eher verborgene Dringlichkeit an den Tag, sich mit den Fragen der Identität der einzel-

nen Religionen und Kirchen zu befassen. Dabei zeigte sich auch, dass die Äußerung des

Zweiten Vatikanischen Konzils zum Menschenrecht „Religionsfreiheit“bisher nicht genü-

gend diskutiert und vermittelt worden ist mit dem Wahrheitsanspruch bzw. Absolutheitsan-

spruch des christlichen Glaubens.

Dennoch oder gerade deshalb behält das Thema eine fundamentale Bedeutung. In diesem Zu-

sammenhang ist es gewiss nützlich, eine lockere, den religionsgeschichtlichen Fakten gerecht

werdende Beschreibung zu verwenden, die sich nicht scheut, auch alltagssprachliche Elemen-

8 Zur Diskussion vgl. J. Nida-Rümelin, Humanismus als Leitkultur, München 2006, 133 ff., 163 ff.

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te zu verwenden. Dies ist wohl gut gelungen in dem Dekret des Zweiten Vatikanischen Kon-

zils „Nostra aetate“über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Der

Text bezieht sich zunächst, nämlich bevor die einzelnen Religionen in ihrer Beziehung zum

Christentum skizziert werden, auf die fundamentale Gemeinsamkeit. So heißt es im Vorwort

(Art. 1): „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die unge-

lösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im

tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das

Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum

wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und

schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, von der wir

kommen und wohin wir gehen?“Dabei kann das Konzil bereits „bei den verschiedenen Völ-

kern eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Macht (finden), die dem Lauf der Welt

und den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist ... Diese Wahrnehmung und

Anerkenntnis durchdrängt ihr Leben mit einem tiefen religiösen Sinn. Im Zusammenhang mit

dem Fortschreiten der Kultur suchen die Religionen mit genaueren Begriffen und in einer

mehr durchgebildeten Sprache Antwort auf die gleichen Fragen.“Die Religionen sind überall

bemüht, „der Unruhe des menschlichen Herzens auf verschiedene Weise zu begegnen, indem

sie Wege weisen, Lehren und Lebensregeln sowie auch heilige Riten.“(NA 2)

Dabei muss ich in diesem Zusammenhang darauf verzichten, grundlegende theologische Fra-

gen nach einer normativen Grundbestimmung für das Verhältnis des christlichen Glaubens zu

den nichtchristlichen Religionen ausführlicher zu behandeln, wie etwa auch das Problem ei-

nes Absolutheitsanspruchs des Christentums oder das Verhältnis zwischen Singularität und

Universalität Jesu Christi im interreligiösen Dialog.9

Der interreligiöse Dialog hat im katholischen Bereich viele Phasen und Stufen.10 Von katholi-

scher Seite aus möchte ich dabei aus den letzten Jahrzehnten einstweilen vier Phasen unter-

9 Vgl. dazu ausführlicher mit umfangreichen Literaturangaben K. Lehmann, Das Christentum – eine Religion

unter anderen? Zum interreligiösen Dialog aus katholischer Perspektive = Der Vorsitzende der Deutschen Bi-schofskonferenz 23, Bonn 2002, 10 ff., 13 ff., 22 ff., 27 ff. Die Referate des Vorsitzenden bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz aus den Jahren 1988-2005 erscheinen im Mai 2006 auchgesammelt in: K. Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben, Freiburg i. Br.

10 Vgl. Pontificio Consiglio per il Dialogo Interreligioso, Il Dialogo Interreligioso nel Magistero Pontificio, Do-cumenti 1963-1993, a cura di Francesco Gioia, Città del Vaticano 1994, Libreria Editrice Vaticana, eine bis1997 fortgeführte Ausgabe dieses Bandes existiert auch in französischer Sprache, Le Dialogue interreligieuxdans l´enseignement officiel de l´Eglise catholique, 1963-1967, Solesmes-Vatican 1998. Es existiert auch eineAusgabe in englischer Sprache: Pontifical Concil for interreligious Dialogue (Hg.): Interreligious dialogue.The official teaching of the catholic church (1963-1995). Ed. by Francesco Gioia. Boston 1997. Hinzukommendie Enzykliken und Apostolische Schreiben, vor allem auch im Zusammenhang des Jahres 2000, von Papst Jo-hannes Paul II., bes. auch Johannes Paul II., Ansprache und Vergebungsbitten, in: Internationale TheologischeKommission, Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit, hrsg. von G.L. Müller, Freiburg 2000 (3. Auflage). Ein wichtiges Grunddokument ist und bleibt auch: Päpstlicher Rat fürden Interreligiösen Dialog/Kongregation für die Evangelisierung der Völker: Dialog und Verkündigung. Über-legungen und Orientierungen zum Interreligiösen Dialog und zur Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi,16.5.1991 = Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 102, Bonn o.J. Eine Veröffentlichung für breitereKreise: Pontificio Consiglio per il Dialogo Interreligioso, Camminare insieme. La Chiesa cattolica in dialogo

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scheiden: eine intensive Bemühung vor allem der Theologie vor dem Zweiten Vatikanischen

Konzil um eine neue Theologie der Religionen; die Aussagen des Zweiten Vatikanischen

Konzils zum Thema, vor allem in der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nicht-

christlichen Religionen „Nostra aetate“; nachkonziliare Bemühungen um das Verständnis der

außerkirchlichen neuen Religiosität; Neuansatz zum interreligiösen Dialog. Dabei sollte man

auch den unterschiedlichen Stand des Dialogs mit den Gesprächspartnern ins Auge fassen.11

Der interreligiöse Dialog muss streng unterschieden werden von der Ökumene, die sich um

die Aussöhnung der verschiedenen christlichen Kirchen und Gemeinschaften bemüht. Der

Dialog mit dem Judentum, der seit Jahrzehnten vielleicht nicht sehr intensiv, aber stetig ist,

muss aufgrund der Gemeinsamkeit der biblischen Offenbarung des Alten Testaments, aber

auch vor dem Antisemitismus und den Gräueln der nationalsozialistischen Zeit in seinem ei-

genen Gewicht betrachtet werden. Das Gespräch mit dem Islam hat ebenso eine eigene Struk-

tur. Mit dem Judentum und dem Christentum gehört der Islam zu den so genannten abrahami-

tischen Religionen, die in mancher Hinsicht eine immer noch nicht genügend entdeckte Ge-

meinsamkeit verbindet. Außerdem spielt hier gewiss auch eine wichtige Rolle, dass die An-

wesenheit vieler Muslime in Europa und das Zusammenleben mit ihnen in unserem Land die-

sen Dialog viel dringender machen. Demgegenüber stecken die Dialoge vor allem mit dem

Buddhismus und mit dem Hinduismus, die freilich immer mehr Vertreter auch bei uns haben

und finden, eher noch in den Anfängen bzw. sind bis jetzt weniger beachtet.

Nicht in allen Ländern ist dieser Dialog intensiver aufgenommen und geführt worden. So hat

man im Allgemeinen wenig Kenntnis, dass mitten im Zweiten Vatikanischen Konzil und auf-

grund der oben genannten Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen

Religionen bereits im Jahr 1964 von Papst Paul VI. eine entsprechende Einrichtung gegründet

worden ist. Es hieß damals „Sekretariat für die Nichtchristen“. Kein Geringerer als der Erzbi-

schof von Wien, Franz Kard. König, ein namhafter Religionswissenschaftler, war der erste

Präsident dieser Institution. Sie heißt seit 1980 bzw. 1988 „Päpstlicher Rat für den interreligi-

con le altre tradizioni religiose del mondo, Città del Vaticano 1999. Aufschlussreich ist auch die Sammlungvon Texten des Präsidenten des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog, Francis Kardinal Arinze, Re-ligionen gegen die Gewalt. Eine Allianz für den Frieden = Herder spektrum 5267, Freiburg 2002.

11 Zu diesen Bemühungen vgl. M. Seckler, Theologie der Religionen mit Fragezeichen, in: ders., Die schiefenWände des Lehrhauses, 50-70, 214-220; H. J. Pottmeyer, Auf dem Weg zu einer Theologie der Religionen:Ansätze und Perspektiven, in: Das Christentum und die Weltreligionen, hrsg. von R. Göllner = Theologie imKontakt 8, Münster 2000, 127-144 (dort auch weitere Beiträge zum Gesamtthema). Pottmeyer setzt sich vorallem auch mit dem oben bereits zitierten Buch von J. Dupuis (vgl. Anm. 14) „Toward a Christian Theology ofReligious Pluralism“(New York 1997) auseinander, bes. 133-144; J. Ratzinger, Die Vielfalt der Religionenund der Eine Bund = Urfelder Reihe 1, Hagen 1998, bes. 93-121. Weitere Literatur vgl. bei vgl. H. Bürkle,Theologie der Religionen, in: LThK IX, 3. Auflage, Freiburg 2000, 1444-1447 (dort auch die früheren Veröf-fentlichungen z.B. von H. R. Schlette, J. Heislbetz, J. Hick, H. Bürkle). Vgl. auch die schon genannte Text-sammlung „Christentum und nicht christliche Religionen“, hrsg. von K.-J. Kuschel, Darmstadt 1994, H. Wal-denfels, Phänomen Christentum. Eine Weltreligion in der Welt der Religionen, Freiburg 1994; Gottesbegriff,Weltursprung und Menschenbild in den Weltreligionen, hrsg. von P. Koslowski = Diskurs der Weltreligionen1, München 2000 (4 weitere Bände in dieser Reihe der EXPO-Diskurse waren vorgesehen). D.J. Krieger, Dasinterreligiöse Gespräch. Methodologische Grundlagen der Theologie der Religionen, Zürich 1986; R. Hummel,Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland, Darmstadt 1994; Religion und Rationalität, hrsg. von R.Breuninger und P. Welsen, Würzburg 2000.

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ösen Dialog“. Am 11. März 2006 hat Papst Benedikt XVI. die Zusammenlegung mehrerer

„Räte“bekannt gegeben, darunter die Vereinigung des Rates für den Interreligiösen Dialog

und den Rat für die Kultur. Er hat dies, wie es in einer Mitteilung heißt, im Sinne eines „in-

tensiveren Dialoges mit Kulturschaffenden und Exponenten der verschiedenen Religionen“12

begründet. Papst Paul VI. hat in seiner großen Enzyklika „Ecclesiam suam“vom 6. August

1964 über den Dialog der Kirche mit der Welt erklärt, „unsere respektvolle Anerkennung ge-

genüber den geistlichen und moralischen Werten der verschiedenen nichtchristlichen Religio-

nen nicht mehr verweigern zu wollen“, und darüber hinaus „mit dieser Einrichtung diejenigen

Ideale fördern und verteidigen zu wollen, die auf den Gebieten religiöser Freiheit menschli-

cher Brüderlichkeit, der Kultur, der Wohltätigkeit und der Zivilisation gemeinsam sind. Im

Hinblick auf diese gemeinsamen Ideale ist ein Dialog unsererseits möglich, und wir werden es

nicht versäumen, zu ihm einzuladen, wo er in wechselseitigem und loyalem Respekt wohl-

wollend angenommen werden wird.“13

Vor diesem Hintergrund möchte ich nur darauf hinweisen, dass die Dokumente, die zum in-

terreligiösen Dialog aufrufen, und zwar Dokumente des Konzils der Päpste sowie der in Rom

mit diesen Fragen befassten Institutionen, insgesamt einen Band mit fast 900 Seiten füllen.

Wir sind der damit vielfach beschriebenen Aufgabe noch längst nicht gerecht geworden. Eine

Auswahl der wichtigsten Texte in deutscher Sprache wäre wünschenswert, wobei es gut wäre,

die einzelnen Texte im Blick auf ihre Entstehungssituation einzuordnen.

IV.

Ähnliches könnte man gewiss auch von anderen Kirchen und Religionen berichten. Die ka-

tholische Kirche musste immer schon diese Frage des Dialogs mit den nichtchristlichen Kir-

chen in betonter Weise aufgreifen, da sie als Weltkirche vor Ort immer schon in Begegnung

und Auseinandersetzung mit den anderen Religionen lebte. Diese gilt besonders auch für die

Begegnung mit dem Islam in der Zeit des Kolonialismus.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund möchte ich nun in einer Art von Thesenform einige

Überlegungen in prinzipieller Zuspitzung formulieren:

1. Das Gespräch und die Begegnung der Religionen setzen einen universalen und mensch-

heitlichen Horizont voraus. Man muss ins Auge fassen, was den Menschen gemeinsam ist

und sie zur unbegrenzten Gemeinschaft untereinander führt. Dazu gehört auch, dass man

sich in gleicher Weise als Mensch anerkennt und annimmt, was in der gleichen Men-

12 Verschiedene Mitteilungen von Radio Vatikan und vatikanischen Informationsdiensten am 11.3.2006. Es kannhier davon abgesehen werden zu erläutern, warum der Papst diese Zusammenlegungen als „vorläufig“bezeich-net. Vermutlich geht es im Hintergrund um eine größere Kurienreform.13 Vgl. AAS 56 (1964), 560.

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schenwürde und in den Menschenrechten für alle Ausdruck findet. Keine Religion darf

sich von dieser Basis entfernen. Ein Dialog ist nur dann möglich, wenn man sich – unbe-

schadet aller Unterschiede – zunächst einmal als Ebenbürtiger unter Ebenbürtigen akzep-

tiert („par cum pari loquitur“). Der Dialog darf nicht durch Machtansprüche jeglicher Art

verzerrt werden.

Das Fundament für diese Gemeinsamkeit ist nicht nur das eine Menschengeschlecht, das

auf dem ganzen Erdkreis wohnt und eine einzige Gemeinschaft darstellt. Die Religionen

sehen in Gott den Ursprung und das Ziel der Menschheit. Die Güte und Liebe Gottes be-

ziehen sich auf alle Menschen, die Gott einmal in Freiheit und Frieden zum gemeinsamen

Mal der Völker vereinen möchte.

2. Gerade heute müssen die Religionen zwar auf ihre Weise, aber doch in einem gemeinsa-

men Bemühen gegenüber den Fragen und Herausforderungen, angesichts der Nöte und

Leiden der Menschen Zeugnis dafür ablegen, warum es überhaupt Religion gibt und wa-

rum sie dem Menschen dienlich ist. Die elementaren Antworten auf die Frage „Wozu Re-

ligion?“müssen jeweils in Wort und Tat überzeugen. Diese Herausforderungen haben ei-

nen durchaus philosophischen Kern, der umschrieben werden könnte: Woher kommt der

Mensch? Wohin geht sein Weg? Gibt es einen Sinn des Lebens auch jenseits des Todes?

Ich habe schon auf diese Themen von „Nostra aetate“(Art. 1) hingewiesen.

Diese Fragen stellen die Menschen seit jeher. Sie ändern sich nicht grundlegend, auch

wenn der geschichtliche Horizont und die konkreten Problemstellungen sich ändern. Auch

in unserer Zeit stellen Menschen diese Fragen. Freilich beherrschen sie weniger als früher

die Öffentlichkeit unseres Lebens, werden aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und

erst recht aus dem staatlichen Raum eher ausgeklammert und der persönlich-privaten Hal-

tung und Beantwortung übereignet. Mindestens gilt dies sehr stark für die Menschen und

Religionen, die in Ländern mit einer hohen wissenschaftlich-technischen Zivilisation le-

ben. Aber auch da kann die Religion auf Dauer nicht einfach verdrängt werden, wie nicht

zuletzt nach dem Terrorakt des 11. September 2001 und auch bei verschiedenen Katastro-

phen deutlicher erkennbar wurde.

Für die Länder mit einer technisch-wissenschaftlichen Zivilisation spitzt sich diese Prob-

lematik zu. Aber auch hier gibt es wesentliche Grundfragen. Denn entgegen aller Religi-

ons-Kritik und Prophezeiung vom Ende der Religion ist Religion selbst in der säkularisier-

ten Gesellschaft ein unübersehbar einflussreicher Faktor geblieben. Dies gilt auch für die

Frage, ob der Säkularisierungsprozess schlechterdings unumkehrbar ist, wie oft unreflek-

tiert angenommen wird.14 Es ist religionssoziologisch und religionsphilosophisch oft ge-

14 Vgl. schon K. Lehmann, Gegenwart des Glaubens, Mainz 1974, 94-108.

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zeigt worden, dass gerade die Herausforderung durch die „Kontingenzbewältigung“(H.

Lübbe) gegenüber der Kritik der Aufklärung der Religion nicht grundlegend geschadet hat,

und dass in Zeiten von Katastrophen verschiedener Art ein religiöses Suchen und auch eine

religiöse Antwort resistent geblieben sind. Es hat sich auch gezeigt, dass gerade im Zeital-

ter der Ausdifferenzierungen, Spezialisierungen und eines steigenden Expertenwissens die

Integrationsfähigkeit der Religion im Bereich der Lebenswelt nicht einfach ersetzt werden

konnte (J. Habermas). Die Verwandlung von Kontingenz in Sinn durch die Reduktionsleis-

tungen der Religion ist gerade auch im Welthorizont unentbehrlich und behält offensicht-

lich ihre gesellschaftliche Funktion (N. Luhmann).15

Die Religionen müssen dafür sorgen, dass dieser Grund für ihre Existenz auch dem heuti-

gen Menschen einsichtig wird. Dies darf nicht nur apologetisch geschehen, sondern muss

geistig offensiv für Gegenwart und Zukunft geleistet werden.

3. Alle Religionen geben eine Orientierung in der Unübersichtlichkeit und in den Wechsel-

fällen des menschlichen Lebens. Dies muss heute gewiss zwar von der Erfahrung der

Menschen ausgehen, aber eben doch mit Hilfe möglichst rationaler Argumentation ein-

sichtig gemacht werden. Aber es geht nicht nur darum, kognitive Orientierungssysteme

aufzustellen, sondern in der Religion geht es immer auch um die praktische Wahrheit,

nämlich um die Bewährung der religiösen Überzeugung in der Tat des Lebens. Im Johan-

nesevangelium heißt dies schlicht: „die Wahrheit tun“ (Joh 3,21). Deshalb ist Religion

immer auch eine Einheit von Theorie und Praxis, von Erkennen und Handeln, von Fröm-

migkeit und Nächstenliebe. Für die allermeisten Menschen ist eine Religion nur überzeu-

gend, wenn beide Dimensionen zur Deckung kommen und auf diese Weise verstärkte

Evidenz erhalten. Religion spricht darum auch Herz und Sinne an.

4. Wenn der Anspruch der Religion und die faktische Erfüllung bzw. Realisierung prinzipiell

auseinanderklaffen, Wort und Tat sich nicht decken, sondern sogar eher widersprechen, ist

dies für jede Religion von Grund auf schädlich. Da sie auf die Überzeugungskraft in Wort

und Tat, in Theorie und Praxis angewiesen ist, erleidet sie eine große Einbuße an Glaub-

würdigkeit, wenn der Riss zwischen Anspruch und Erfüllung zu groß ist. Dann entsteht

notwendigerweise Religionskritik, sei es im Allgemeinen oder im modernen Sinne. Dies

kann bis zum Vorwurf der Heuchelei gehen. Damit können auch andere als religiöse Inte-

ressen – z.B. Macht politischer oder finanzieller Art – verbunden sein, sodass gegenüber

der Religion ein massiver Verdacht und oft großes Misstrauen entstehen können. Oft sind

auch handfeste Interessen auf verborgene Weise beteiligt. Deshalb muss jede Religion

aufmerksam auf sich selbst bleiben, ob sich in ihrem Anspruch letztlich solche Interessen

an die erste Stelle schieben oder vielleicht auf verborgene Weise wirksam sind. Deshalb 15 Vgl. dazu auch den Artikel Religion, in: LThK VIII, 3. Auflage, Freiburg 1999, 1034-1043 (H. Zirker, H. M.

Schmidinger, H. Bürkle), bes. 1036ff.

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gibt es die notwendige Unterscheidung zwischen Wesen und Unwesen jeder Religion.

Darum gehört zur Religion von Grund auf eine stetige Erneuerung (Reform), die zuerst ei-

nen überzeugenden spirituellen Grund, aber auch konkrete Auswirkungen haben muss für

Organisation und Institution. Sonst kann eine Religion dem Verdacht, letztlich eine Ideo-

logie zu sein und konkrete Interessen weitgehend zu verdecken, heute nicht genügend ent-

gegentreten.

Nach meinem Urteil gilt dies grundsätzlich für alle Religionen. Darum gibt es wohl auch in

jeder Religion immer wieder Erneuerungsversuche und Reformbewegungen aus dem eige-

nen Inneren. Aber gewiss sind das geistige Klima und die kulturelle Prägung eines Landes

sowie einer Gesellschaft wichtig, in welcher Form eine Religion in dieser Hinsicht in Frage

gestellt wird und ob bzw. wie sie darauf reagiert. Am überzeugendsten wirkt dabei das ge-

lebte Zeugnis der Anhänger einer Religion selbst, nicht zuletzt auch aus den authentischen

Reformbewegungen (vgl. die verschiedenen Formen der Mystik und des Mönchtums).

5. Dieser Horizont ist auch dafür maßgebend, wie die Religionen miteinander umgehen. Sie

müssen sich auch gegenseitig angesichts der Verneinung von Religion und ihrer vielfa-

chen Bestreitung wechselseitig kritisch betrachten. Es geht nicht nur um die abstrakte

Gemeinsamkeit einiger religiöser Elemente, sondern auch darum, wie eine Religion als

Ganzes von anderen verstanden wird und gesellschaftlich in Erscheinung tritt.

V.

Dafür gibt es nach meiner Meinungsbildung einige Kriterien, die mir gerade heute wichtig zu

sein scheinen:

In jeder Religion muss erkennbar bleiben, dass sie ganz auf Gott als Grund und Ziel unse-

res Lebens bezogen ist. Ihm allein gebührt Ehre und Anbetung. Er darf nicht verwechselt

werden mit der Absolutsetzung endlicher Dinge. Dies wären nur Idole und Götzen. Damit

ist auch gegeben, dass der Name Gottes nicht instrumentalisiert werden darf für offene o-

der verkappte andere Interessen. Alle, die für eine Religion sprechen und für sie eintreten,

müssen davon Zeugnis geben.

Kein wahrer Glaube ist einfach hin weltlos. Er möchte seine Überzeugungen bei aller Vor-

läufigkeit und Unvollkommenheit in dieser Welt und Zeit verwirklichen. Aber es muss

auch zweifellos immer evident werden, dass die Religion sich nicht in den Interessen in-

nerhalb von Raum und Zeit erschöpft, sondern nach einem verlässlichen, unerschütterli-

chen Sinn des Lebens jenseits des Todes sucht. Eine Religion erfüllt nur die Erwartungen

der Menschen, wenn sie wirklich auf die oben erwähnten existenziellen Fragen eingeht und

eine überzeugende Antwort gibt. Darum muss es auch eine strikte Unterscheidung zwi-

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schen Zeit und Ewigkeit, Geschichte und Transzendenz, Menschenherrschaft und Gottes-

herrschaft geben, die die Religion vor einer Instrumentalisierung schützen hilft.

Eine Religion, die die gleiche Würde der Menschen verletzt und den Rang und Wert der

Menschen nach Rasse und Klasse, Herkunft und Stand, Bildung und Reichtum, ja nach der

Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion einschätzt und absolut setzt, gefährdet sich

fundamental selbst und zerstört in der einen Welt, in der wir immer mehr leben, auch ande-

re Religionen.

Jede Religion muss die recht verstandene Freiheit der Menschen fördern. Gewiss kennt

jede Religion eine eigene Ordnung und Bindung an ethische Normen und religiöse Wei-

sungen. Auch gehören Gehorsam und Gemeinschaftsverpflichtung zu jeder Religion. Aber

ein maßgeblicher Beweggrund für jede Religion besteht in der Überwindung infantiler Be-

vormundung und in der Förderung wahrer Freiheit zu einem guten Leben. Darum muss die

Religion immer auch die Menschen von falschen Autoritäten, Magie und Aberglauben be-

freien und den Menschen zu seiner eigenen Verantwortung führen. Zugleich soll der rechte

Gebrauch von Freiheit, die in ihrer Zügellosigkeit und Willkür für alle schädlich werden

kann, eingeübt werden. Bei aller Notwendigkeit von Orientierung und Weisung, Führung

und Autorität darf ihre Ausübung nicht zur Unmündigkeit und zum Verlust personaler

Verantwortung führen. Die eigene Kritik- und Denkfähigkeit muss gefördert und vertieft

werden. Begeisterung, die dies auslöschen würde, und ein blinder Fanatismus können des-

halb auch sehr fragwürdige Gestalten innerhalb einer Religion werden.

Jede Religion möchte dem einzelnen Menschen und den religiösen Gemeinschaften zum

Finden eines unverlierbaren Lebenssinnes und auch zu einer letzten Geborgenheit verhel-

fen. Sie möchte auch die Annahme und das Bestehen der Grundrisiken des menschlichen

Lebens ermöglichen, wie sie in Armut und Not, Krankheit und Leid sowie im Tod auf den

Menschen zukommen. Die Religion soll den Menschen angesichts dieser oft radikalen Le-

bensgefährdungen vor jeder Verzweiflung bewahren. Sie macht die Menschen darum nicht

weltflüchtig, sondern hilft ihnen, die Gefährdungen dieses Lebens zu bestehen und an ih-

nen nicht zu zerbrechen.

So sehr die Religion dabei dem einzelnen Menschen und den im Glauben verbundenen

Gemeinschaften hilft, so sehr muss sie bestrebt sein, diesen Sinn des Lebens in Wort und

Tat auch anderen Menschen zu vermitteln. Religion steht so fundamental im Dienst des

Menschen und darf sich nicht nur zur Pflege der eigenen Interessen und Ziele zurückzie-

hen. Zu ihr gehören Sendung und Dienst. Aber ihre missionarische Ausrichtung darf nicht

dazu führen, dass sie die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, gefährdet oder verletzt.

Missionarische Sendung gehört zu einer Religion, wenn und solange sie überzeugt ist, dass

sie ihre Orientierung, die den eigenen Mitgliedern und Anhängern kostbar und wertvoll ist,

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14

auch anderen zu ihrem Nutzen weitergeben möchte. Aber in dem Augenblick, in dem diese

missionarische Sendung in irgendeiner Weise mit Gewalt verbunden wird, ist nicht nur die

Würde und Freiheit des Menschen, sondern ist auch Religion zerstört.16

Das Gewaltproblem ist in jeder Religion von ganz elementarer Bedeutung. Wer seine Ü-

berzeugungen mit Macht und Gewalt durchsetzen möchte, scheidet sich selbst aus jedem

verantwortungsvollen Dialog der Religionen untereinander aus. Hier muss sich auch jede

Religion prüfen, wie weit ihr Gottesbild mit dem Ideal einer gewalttätigen Durchsetzung

von Glaubensüberzeugungen oder Interessen einhergeht. Dies kann unter Umständen sehr

subtil sein. Dies hängt auch eng damit zusammen, wie eine Religion das Verhältnis des

Leidens und des Leides zu Gott sieht.

Es gibt im Dialog freilich ein entscheidendes Element, das vielleicht eher sogar zu den

Voraussetzungen des Dialogs gehört.17 Dies ist die theoretische und praktische Frage der

Religionsfreiheit, und dies im Sinne der negativen und positiven Religionsfreiheit. Nach

meinem Verständnis ist das Eintreten für eine allseitige Religionsfreiheit und die prakti-

sche Verwirklichung dieser Religionsfreiheit ein ganz zentrales und wesentliches Kriteri-

um für jeden interreligiösen Dialog. Das Zweite Vatikanische Konzil hat nach langen und

sehr heftigen Debatten in der „Erklärung über die Religionsfreiheit“Dignitatis humanae

eine eindeutige Position bezogen. Dabei geht es um die unverletzlichen Rechte der

menschlichen Person, aber auch um die rechtliche Ordnung der Gesellschaft. Die Aner-

kennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist ein Prüfstein dafür, ob eine Religion

sich den Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens unter heutigen Bedingungen stellt

und auch unterwirft. Im Übrigen ist wichtig: Die moralische Pflicht des Einzelnen, den

wahren Glauben zu suchen und anzunehmen, wird durch die Gewährung der Religionsfrei-

heit keineswegs aufgehoben oder relativiert (vgl. DH 2 und 3), sondern lediglich von den

Eingriffsmöglichkeiten staatlicher Gewalt kategorisch geschieden und gegen sie gesichert.

In diesem Sinne hat die Religionsfreiheit eine zentrale und kritische Rolle auch für die an-

deren Menschenrechte. Nicht zuletzt deshalb haben sich viele Politiker, die persönlich ein

weniger ausgeprägtes Verhältnis zur Religion haben, für die exemplarische Rolle der Reli-

gionsfreiheit in Auseinandersetzung mit totalitären Systemen eingesetzt.18

16 Vgl. dazu M. Seckler, Die schiefen Wände des Lehrhauses, 68f.; K. Lehmann, Vom Ursprung der Mission im

Lebensgeheimnis Jesu Christi. Zur theologischen Begründung des Missionsauftrages der Kirche. Eröffnungs-vortrag beim Missionskolloquium „Die Sendung der Kirche am Vorabend des dritten Jahrtausends“an der U-niversität Fribourg/Schweiz am 22. Oktober 1998, in: Die Sendung der Kirche am Vorabend des dritten Jahr-tausends/La mission à l´aube du troisième millénaire, hrsg. v. Missio/Fribourg, Fribourg/Schweiz 1999, 7-14.

17 „Dialog“muss hier streng und konsequent verstanden werden, dazu K. Lehmann, Vom Dialog als Form derKommunikation und Wahrheitsfindung in der Kirche heute = Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonfe-renz 17, Bonn 1994 (Lit.); leicht zugänglich auch in: K. Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben, Freiburg i.Br.2006 (im Druck).

18 Vgl. dazu K. Lehmann, Religionsfreiheit und staatliche Neutralität (Vortrag bei der Wissenschaftlichen Ge-sellschaft in Freiburg am 10. Dezember 1999), in: Freiburger Universitätsblätter 40 (2001) Heft 154, 5-13.

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15

Dies schließt den Verzicht auf die geschichtlich überkommene Inanspruchnahme staatli-

cher Machtmittel für die Durchsetzung eigener Wahrheitsansprüche und Interessen sowie

die Bereitschaft ein, zur Überzeugung anderer im Geist der Toleranz19 mit den Mitteln bes-

serer Argumentation, überzeugenderer Praxis, bewegenderer Motivationen, attraktiverer

sozialer Gemeinschaft und der wirksamen Anwaltschaft für Arme und an den Rand der

Gesellschaft gedrängte Menschen zu arbeiten. Dies setzt eine selbstkritische Betrachtung

der Religionen im Blick auf bestimmte Praktiken der Wahrheitsdurchsetzung voraus (für

die christlichen Kirchen: Häresie, Inquisition, Mission).

VI.

Unter diesen Voraussetzungen ist heute der interreligiöse Dialog unverzichtbar. Dabei sollte

sich dieser Dialog nicht einfach auf eine minimale Gemeinsamkeit, auf die man sich einigen

kann, beschränken. Dann würden wir von dem Reichtum verschiedener Entfaltungen des

Glaubens in den einzelnen Religionen abstrahieren. Wir würden dann eigentlich alle ärmer.

Es gibt eine fälschliche Interpretation, als ob die Aufklärung einen solchen abstrakten, ver-

dünnten Rest von Religiosität, auf den man sich nun gemeinsam stützt, eher zulassen könnte.

Dies wäre am Ende der Tod des interreligiösen Dialogs. Wir dürfen uns nicht scheuen, in die-

sem Dialog uns auch und gerade mit dem radikal Anderen und Fremden zu beschäftigen. Das

Gespräch und die Auseinandersetzung damit öffnen uns die Augen, erweitern den Horizont

und lassen uns die Mitmenschen besser verstehen.20

Es scheint mir eine sehr gute Maxime zu sein, die das Zweite Vatikanische Konzil für den

interreligiösen Dialog, zunächst gewiss für die Kirche, empfiehlt. Darum soll der schon ange-

führte Passus nochmals in seinem gesamten Umfang angeführt werden, weil er unbeschadet

seiner Knappheit in dichter Form die wesentlichen Elemente enthält: „Die katholische Kirche

lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem

Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die

zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht sel-

ten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unabhängig

aber verkündet sie und muss sie verkünden Christus, der ist ‚der Weg, die Wahrheit und das

Leben‘(Jo 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott

alles mit sich versöhnt hat. – Deshalb mahnt sie ihre Söhne (und Töchter), dass sie mit Klug-

heit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen

sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen

Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren

19 Vgl. als Überblick Das Ende der Toleranz, hrsg. von der Alfred Herrhausen-Gesellschaft, München 2002.20 Zu den Informationen um die Religionen heute vgl. A. Th. Khoury/G. Girschek, Das religiöse Wissen der

Menschheit, Bd. 1-2, Freiburg 1999-2002; P. Antes (Hg.), Die Religionen der Gegenwart, München 1996; M.Hutter, Die Weltreligionen, München 2005.

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16

und fördern.“(NA 2) In diesem Zusammenhang werden auch nochmals mit aller Deutlichkeit

jede Verletzung der Menschenwürde sowie die Förderung von Diskriminierung und Gewalt

entschieden verurteilt (vgl. DH 5).

Man darf und muss wohl auch einen Dialog unter den Religionen für schädlich halten, der im

Grunde die religiöse Frage ausklammert und nur politisch und sozial relevante Themen in

Angriff nimmt. Es wäre geradezu paradox, wenn der interreligiöse Dialog sich um alles

kümmern würde, was zwischen Himmel und Erde ist, aber nicht um die Suche nach Wahrheit

und die Erfüllung dieses Suchens im Glauben an Gott. Der interreligiöse Dialog braucht auch

diese spezifische Herausforderung, denn er darf sich weder gesellschaftlich-politisch noch

kulturell instrumentalisieren lassen. Dafür ist es gut, wenn er um die Unentbehrlichkeit der

Gottesfrage weiß und sich dazu bekennt. Für das katholische Christentum ist es unverzichtbar,

die Fragen nach dem Heil, um das es in der Religion geht, nach ihrer Wahrheit und nach ih-

rem Sendungsanspruch bzw. ihrem Missionszeugnis zu stellen.21

Diesen inhaltlichen Voraussetzungen darf man auf keinen Fall ausweichen. Dies darf man

auch nicht unter Bevorzugung eines mehr pragmatischen Modells, das sich den ethischen und

politisch-gesellschaftlichen Problemen im Welthorizont stellt. Dies heißt freilich nicht, dass

die Probleme der gesellschaftlichen und vor allem der ethischen Gestaltung indifferent seien.

Vielmehr sind sie für die meisten Religionen ein konstitutiver Aspekt ihrer Lehre und Le-

benspraxis. Unter dieser Voraussetzung ist es gewiss anzuerkennen, dass die Religionen sich

gerade darum bemühen müssen, ein verbindendes Ethos zu fördern, das schwierige Konflikte

meidet, ja sie sogar lösen hilft und Solidarität unter den Menschen schafft. In diesem Zusam-

menhang ist ganz unbestritten, dass alle Fragen der Gewaltverhinderung oder wenigstens ihrer

Minimierung, der Beendigung kriegerischer Verhältnisse, der Friedenssicherung, der Einhal-

tung der Menschenrechte usw. zu den vordringlichen Themen des interreligiösen Dialogs ge-

hören müssen.

Hans Küng hat dafür seit vielen Jahren und mit der Unterstützung einer Stiftung ein solches

„Weltethos“auf einen Nenner zu bringen gesucht. Es ist hier nicht möglich, darüber ausführ-

licher zu berichten. Es wäre ein eigener Beitrag dafür notwendig.22 Küngs fünf zentralen Im-

perative sind bekannt. Sie sollen nochmals kurz in Erinnerung gerufen werden:

21 Vgl. dazu M. Seckler, Die schiefen Wände des Lehrhauses, 63-69. Dazu müssen auch die schon genannten

Veröffentlichungen von W. Pannenberg, J. Ratzinger, W. Kasper und K. Rahner herangezogen werden.22 Vgl. H. Küng, Projekt Weltethos, München 1990; H. Küng/K.-J. Kuschel (Hg.), Weltfrieden durch Religions-

frieden, München 1993; H. Küng, Ja zum Weltethos, München 1995; ders., Weltethos für Weltpolitik undWeltwirtschaft, München 1997; H. Küng / K.-J. Kuschel (Hg.), Wissenschaft und Weltethos, München 1998;H. Küng, Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg, München 1999; K.-J. Kuschel u.a. (Hg.), Ein Ethosfür eine Welt? Globalisierung als ethische Herausforderung, Frankfurt 1999; Die Stiftung Weltethos, hrsg. vonder Stiftung, Stuttgart o.J.; H. Küng, Wozu Weltethos? Im Gespräch mit Jürgen Hoeren = Herder spektrum,5227, Freiburg 2002; H. Küng (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002; H. Küng/A. Rinn-Maurer, Weltethos – christlich verstanden, Freiburg i. Br. 2005; J. Rehm, Erziehung zum Weltethos, Göttingen2002.

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1. Kein Zusammenleben auf unserem Globus ohne ein globales Ethos!

2. Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen!

3. Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen!

4. Kein Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ohne Grundlagenforschung!

5. Kein globales Ethos ohne Bewusstseinswandel von Religiösen und Nicht-Religiösen!

Hingewiesen sei auch auf die Erklärung des Parlamentes der Weltreligionen vom 4. Septem-

ber 1993,23 wo sich viele Kurzformeln für das von H. Küng Gemeinte finden.

Man kann gewiss von diesem „Weltethos“, das Hans Küng in vielen Veröffentlichungen ent-

faltet hat, ausgehen – und dies mitten in allen kulturellen Verschiedenheiten. Vielleicht muss

man – besonders am Anfang eines Gesprächs – auch stärker mit einem bilateralen Dialog be-

ginnen, bevor man es multilateral versucht. Beides schließt sich nicht aus. Aber lernen kann

man zuerst und besser beim Gegenüber zweier Partner mit ihrem jeweiligen Profil. Die Poly-

phonie braucht mehr den Meister. Ökumenische Erfahrungen legen ein solches Vorgehen

nahe. Im Übrigen muss auf die intensive Diskussion zum Gedanken des „Weltethos“verwie-

sen werden, der ungeachtet aller kirchenpolitischen Kontroversen immer mehr Beachtung

gefunden hat und im interreligiösen Dialog nicht übergangen werden kann.

In diesem Zusammenhang vernachlässige ich die Frage, wie weit zum interreligiösen Dialog

auch multireligiöse Feiern gehören, wenigstens eingeschränkt auf Christen, Juden und Mus-

lime. Die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz24 sind wichtig für mulikulturelle Fei-

ern, besonders von Juden, Christen und Muslimen in unserem kulturellen Kontext.

Es gibt ja auch in der Tat echte ethische Gemeinsamkeiten. Gegen Ende soll wenigstens ein

konkretes Beispiel erwähnt werden. Die „Goldene Regel“25 ist ein wichtiges Exempel, das

sich in vielen Kulturen, Religionen und ethischen Lebensentwürfen findet: „Was du nicht

willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu!“Damit kann man wenigstens ein-

mal beginnen. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen zu sagen, dass

man auch zunächst einmal einig sein kann in dem, was man ethisch gemeinsam verwirft. Dies

lebt am Ende insgeheim von einem positiven Gegenentwurf, wie es – dies ist die andere Seite

– die Goldene Regel ebenfalls formuliert: „Alles nun, was immer ihr wollt, das euch tun die

Menschen, tut so auch ihr ihnen: Denn dies ist das Gesetz und die Propheten.“(Mt 7,12)

23 Vgl. den Text in H. Küng/K.-J. Kuschel (Hg.), Erklärung zum Weltethos, München 1993, auch in: Wozu

Weltethos?, 172-190.24 Vgl. Leitlinien für multireligiöse Feiern von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschenBischöfe, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (=Arbeithilfen 170), Bonn 2003.25 Zur Grundbedeutung vgl. A. Sand/G.W. Hunold, in: LThK IV, 3. Auflage, Freiburg 1995, 821-823 (Lit.). Eine

umfangreiche Geschichte der „Goldenen Regel“im Blick auf viele Kulturen und Religionen hat veröffentlichtA. Dihle, Die Goldene Regel, Göttingen 1962.

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Der interreligiöse Dialog muss auch dazu führen, dass man seine eigene Religion besser ken-

nen lernt und entschiedener im Leben bezeugt. In diesem Zusammenhang sagt J. Ratzinger,

jetzt Papst Benedikt XVI., zur Verhältnisbestimmung von Religion und Glaube im Christen-

tum bei K. Barth: „Er hatte unrecht, wenn er beides völlig trennen wollte, nur den Glauben als

positiv, die Religion aber als negativ ansah. Glaube ohne Religion ist unwirklich, zu ihm ge-

hört Religion, und christlicher Glaube muss seinem Wesen nach als Religion leben. Aber er

hatte darin recht, dass auch beim Christen die Religion erkranken und zu Aberglaube werden

kann, dass also die konkrete Religion, in der der Glaube gelebt wird, immer wieder von der

Wahrheit her gereinigt werden muss, die sich im Glauben zeigt und die andererseits im Dialog

neu ihr Geheimnis und ihre Unendlichkeit erkennen lässt.“26

VII.

Am Ende möchte ich auf die Formulierung des Titels zurückkommen. Sie stammt nicht von

mir. Dabei müssen zwei Begriffe nochmals bedacht werden. Es geht zunächst um den Begriff

der Verständigung. Dies ist mehr als Verstehen. Verständigung hängt sprachlich auch zu-

nächst eher mit Verstand zusammen. Jedes Gespräch und jeder Dialog zielen grundsätzlich

auf ein Verstehen und in diesem Prozess auch auf einen Konsens. Aber es ist nicht immer

möglich, zu einem vollen Konsens zu kommen. In der ökumenischen Hermeneutik sprechen

wir gerne von einem Teilkonsens. Es gibt auch manchmal Konvergenzen auf einen Konsens

hin, aber dieser ist noch nicht erreicht. Man muss also die Suche nach Verständigung diffe-

renzieren. Oft gibt es nämlich durchaus ein Verstehen des Anderen, aber es ist dann eben

doch noch keine Verständigung im Sinne einer inhaltlichen Übereinstimmung. Dennoch kann

es auch hier Konvergenzen geben, die wenigstens die Richtung einer weiteren gemeinsamen

Suche und einer möglichen Übereinkunft markieren und abzeichnen.

Hier würde ich lieber den Begriff der Anerkennung verwenden. Er ist heute zu einem herme-

neutischen Grundbegriff in der Erörterung dieser Fragen geworden.27 Es geht um die Aner-

kennung dessen, was verschieden ist und bleibt.

Es ist nicht erlaubt, alles nur unter den eigenen Bedingungen des Verstehens zu sehen. Bei

allem Festhalten an den eigenen Überzeugungen sind Absolutheitsansprüche, die anderen

müssten gleich oder ähnlich sein, unerlaubt. Anerkennung heißt immer auch, dass man dem

Anderen seine Eigenheit lässt und auch die damit gegebene Fremdheit aushält. Anerkennung

schließt ein, dass man dem Anderen Rechte zubilligt, die man für sich selbst in Anspruch

nimmt. Dies gilt wenigstens für die Menschenrechte. Es ist bereits ein hohes Ziel der Erzie-

26 Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, 119.27 Vgl. die Studien von A. Honneth, z.B. Kampf um Anerkennung, Frankfurt 1992; Ders., Unsichtbarkeit, Frank-

furt 2003; dazu auch M. Knapp, Verantwortetes Christsein heute, Freiburg i. Br. 2006, 151 ff.

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hung, trotz verbleibender Andersheit und Fremdheit den Anderen anzuerkennen. Damit ist

aber auch deutlich, dass diese Anerkennung wiederum – der Blick geht auf die andere Seite -

Allmachtsansprüche anerkannter Partner wohl zur Kenntnis nehmen, aber nicht annehmen

kann. Der Anerkennende und der Anerkannte sind jeweils partikulare Identitäten, die einen

jeweils eigenen Respekt erfordern. Dies ist eine elementare Voraussetzung für Toleranz und

Religionsfreiheit.

Mit dieser Anerkennung ist nicht bloß eine formelle Zuerkennung z.B. im Sinne der Men-

schenrechte gemeint. Diese Anerkennung ist letztlich nicht möglich, wenn man nicht den

Fremden und das Fremde verstehen will. Dafür gibt es verschiedene Stufen. Aber es gibt ge-

wiss auch eine minimale gemeinsame Basis, wenn man jemanden anerkennen will. Es ist je-

denfalls nicht förderlich, wenn man das Neue und Andere einfach in seiner Fremdheit stehen

lässt, ja es sogar darin regelrecht einschließt. Man kann auf die Dauer die Identität des Frem-

den nur respektieren, wenn man das Anderssein kennen lernen und ein Stück weit durch-

schauen kann. Es gibt dabei oft eine hohe Unwilligkeit, sich auf das Unbekannte einzulassen.

Man lässt nur zu, was man kennt. Es gehört aber zum Menschlichen des Menschen, dass man

seinen eigenen Horizont immer wieder in Frage stellen lässt. Der Mensch ist nicht mehr

Mensch, wenn er in diesem Sinne für immer „fertig“wäre, seine Neugierde vollständig verlö-

re und die Kraft zur Veränderung nicht mehr aufbringen könnte. Der Mensch möchte Fremdes

regelrecht erobern. Er will es dabei nicht zerstören oder nur in seine Gewalt bringen, missio-

nieren und indoktrinieren in einem schlechten Sinne, sondern er möchte in der Andersheit des

Fremden auch dessen Stärke und Überlegenheit spüren. Nur wenn sich das Eigene und das

Fremde so begegnen, gibt es ein wirkliches Verstehen im ursprünglichen Sinne des Wortes.

Die Fremdheit wandelt sich dann, indem man sich nicht mehr vor ihr ängstigt, sondern man

erblickt in ihr etwas für uns selbst Hilfreiches, weil es uns etwas anderes bringt als das, was

wir immer schon kennen. Das Fremde als das Andere kann uns in diesem Sine in ungewöhn-

licher Form bereichern und sogar befreien. Wir können dann auch vielleicht unsere eigene

Identität mit ihren Besonderheiten besser verstehen.

Es ist selbstverständlich, dass z.B. jeder schulische Religionsunterricht diese Leistungen der

Anerkennung des Anderen und des Versuches, Fremdes zu verstehen, wenigstens ansatz- und

stufenweise verwirklichen muss. Es darf nicht bei der uninteressierten Distanz bleiben, denn

sie kann rasch umkippen: von der Gleichgültigkeit über die Angst bis zur Zerstörung durch

Gewalt. Es ist selbstverständlich, dass es dafür vom Kindergarten bis zur Universität in allen

Schularten sehr verschiedene Intensitätsgrade gibt. Der Religionsunterricht in der Schule

nimmt hier nicht nur teil an einem öffentlichen Auftrag zur Vermittlung von Toleranz und

Achtung vor dem Anderen, sondern diese Aufgabe ergibt sich auch, wie noch zu zeigen sein

wird, aus dem eigenen Anspruch und Selbstverständnis.

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Dieses Interesse für einen Anderen besteht aber nicht nur gleichsam in einem nackten Re-

spekt. Es ergeben sich in der Begegnung mit Fremdem auch Entdeckungen wenigstens par-

tieller Gemeinsamkeit. Hinter den Verschiedenheiten werden auch am Horizont gewisse Ge-

meinsamkeiten erkennbar. Sie haben mindestens eine doppelte Gestalt. Auf der einen Seite

gibt es z.B. über die Würde des Menschen eine minimale Ähnlichkeit der Überzeugungen,

was man dann in einer Übereinkunft festlegen kann. Es kann aber auch sein, dass sich hinter

den Verschiedenheiten eine universale Gemeinsamkeit zeigt, die noch weitergehen und ande-

re einschließen kann. Man muss also nicht in der eigenen Identität stecken bleiben oder den

Anderen in seiner Eigenheit ignorieren. Es bedeutet einen Gewinn, wenn man die eigene I-

dentität nicht einfach überspringt und sich nur oberflächlich einem Anderen letztlich auslie-

fert. Es macht aber auch keinen Sinn, wenn man nur seine eigene Identität akzentuiert.

Dies setzt voraus, dass man bei der Anerkennung des Anderen nicht einfach bloß ein formales

Recht ausübt oder verschiedene Deutungsmuster der Welt, des Menschen und Gottes gleich-

sam katalogisiert. Man darf und soll von der eigenen Religiosität her ein erstes, offenes Vor-

verständnis mitbringen, das man gerade wegen der eigenen Bindung nicht aufzugeben braucht

und das durchaus schöpferische Zugänge zum Anderen schafft. Ein solches Verstehen ist

Voraussetzung und Grundlage jeder Kommunikation. Der Fremde ist nicht nur Spiegel mei-

ner selbst. Er darf nicht als Umweg zur Selbstfindung missbraucht werden.

In diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, auf den im Titel verwendeten Begriff „Rela-

tivismus“einzugehen.28 Es gibt gleichsam einen vulgären Begriff von Relativismus, der iden-

tisch ist mit Unverbindlichkeit und Beliebigkeit in einem sehr allgemeinen Sinn. So kann er

im Zusammenhang dieses Beitrags nicht gemeint sein. In der Erkenntnistheorie vor allem des

frühen 20. Jahrhunderts wird Relativismus in losem Anschluss an Kant gern als eine philoso-

phische Auffassung bestimmt, nach der unsere Erkenntnis nur die Beziehungen und Verhält-

nisse der Dinge, nicht aber die Dinge selbst und ihre Eigenschaft umfasst. Danach, so heißt es,

sei etwas nur in bestimmten Relationen und für bestimmte Beziehungen gültig. Wahrheit und

Geltung werden also immer nur für jemanden gesehen, während der so genannte Absolutis-

mus sich weigert, diese Relativierung vorzunehmen.

Die Diskussion um diesen Relativismus ist in jüngster Zeit wieder aufgenommen worden zwi-

schen Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., und dem italienischen Wissenschaftsphiloso-

phen und heutigen Präsidenten des italienischen Senats, Marcello Pera.29 Dabei vertritt der

spätere Papst die Überzeugung: „Der eigentliche Gegensatz, der die Welt heute durchzieht, ist

28 Vgl. vor allem begriffsgeschichtlich G. König, Relativismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.

8, Basel 1992, 613-622 (zahlreiche Literaturangaben).29 M. Pera/J. Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005

(vgl. die italienische Ausgabe, die kurz vor der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst erschienen ist: Senza radici,Mailand 2004); Ders. Glaube-Wahrheit-Toleranz, Freiburg i. Br. 2003, 94 f., 98 f., 102 f., 164 f., vgl. auch 66ff., 95 ff., 174 f.; Ders., Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg i. Br. 2005.

MS 3033 / 2006

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nicht der zwischen verschiedenen religiösen Kulturen, sondern der zwischen der radikalen

Emanzipation des Menschen von Gott, von den Wurzeln des Lebens einerseits und den gro-

ßen religiösen Kulturen andererseits. Wenn es zu einem Zusammenstoß der Kulturen kommt,

so wird er nicht der Zusammenstoß der großen Religionen sein, die immer schon im Ringen

miteinander standen und dabei immer auch gefehlt haben, aber letztlich auch einander beste-

hen ließen, sondern es wird der Zusammenstoß zwischen dieser radikalen Emanzipation des

Menschen und den bisherigen Kulturen sein, die um Werte wussten und wissen, die aus dem

Ewigen kommen und nicht zur Disposition unserer Wünsche stehen ... Der Relativismus, der

den Ausgangspunkt von alldem bildete, wird hier nun seinerseits zum Dogmatismus, der sich

im Besitz der endgültigen Vernunfterkenntnis redend und alles andere nur als eigentlich ü-

berwundene Stufe der Menschheit betrachten kann und daher entsprechend relativiert. Positiv

bedeutet dies, dass wir Wurzeln brauchen, um zu überleben, und dass Gott nicht aus dem

Blickfeld verschwinden darf, wenn die Menschenwürde bleiben soll.“30

Damit ist, so meine ich, eine einstweilen letzte Antwort für diesen Dialog gegeben. Sie zeigt

auch auf eine große Gemeinsamkeit. Vielleicht meint „Relativismus“in diesem Zusammen-

hang31 in der Tiefe auch den Überschuss an Wahrheit, den wir nicht in einem Erkenntnisakt

und auch nicht in einer Theorie einfangen können, sondern der uns immer wieder überschrei-

tet. Wir erkennen deshalb, ohne an Verbindlichkeit und Wahrheitsgehalt zu verlieren, zu-

nächst in Perspektiven, die immer wieder das zu Erkennende in vielen Aspekten und Bre-

chungen beleuchten.32 Dann werden auch die Unterschiede erkennbar. Man kann dann auch

lernen, mit ihnen in einem Diskurs umzugehen. Darunter muss auch die Strenge des Denkens

nicht leiden. Hans Urs von Balthasar hat in diesem Zusammenhang einmal einen auch hier

gültigen Titel für eines seiner Bücher gewählt: Die Wahrheit ist symphonisch.33 Dieser Titel

entspringt nicht einem billigen Harmoniebedürfnis oder gar einer Blauäugigkeit. Er macht es

vielmehr möglich, dass man entschieden zu seiner eigenen Überzeugung und zu seinem eige-

nen Glauben steht,34 aber dennoch fähig ist zu einem grundlegenden Dialog35, der im Interes-

se der Wahrheit auch den Streit nicht fürchtet. Aber dies ist nur für den gültig, der es nicht

aufgibt, die Wahrheit oder wenigstens Wahrheit zu suchen.

30 M. Pera, Ohne Wurzeln, 77 f.31 Zur Begriffsbestimmung vgl. auch M. Pera, Ohne Wurzeln, 20 ff.32 Vgl. manche lehrreichen Beiträge in: Wahrheit in Perspektiven. Probleme einer offenen Konstellation, hrsg.

von I. U. Dalferth/Ph. Stoellger, Tübingen 2004.33 H. U. von Balthasar, Aspekte des christlichen Pluralismus = Kriterien 29, Einsiedeln 1972 (Übersetzungen in

zahlreiche Sprachen).34 Vgl. dazu H. Joas (Hg.), Was sind religiöse Überzeugungen = Preisschriften des Forschungsinstituts für Philo-

sophie Hannover, Bd. I, Göttingen 2003.35 Vgl. dazu K. Lehmann, Absolutheit des Christentums als philosophisches und theologisches Problem, in: W.

Kasper (Hg.), Absolutheit des Christentums = Quaestiones disputatae 79, Freiburg i. Br. 1977, 13-38, bes. ...(vgl. in diesem Band auch die Beiträge von H. U. von Balthasar, W. Breuning, H. Bürkle, G. Lohfink und E.Zenger); H. J. Münk/M. Durst (Hg.), Christliche Theologie und Weltreligionen, Freiburg/Schweiz 2003; L.Weimer, Christsein angesichts der vielen Religionen, Urfeld 2002; K. Hübner, Das Christentum im Wettstreitder Weltreligionen, Tübingen 2003 (zu Toleranz).