Leiharbeitnehmer bei den Eingangsschwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung

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Dr. André Zimmermann, LL.M., RA/FAArbR Leiharbeitnehmer bei den Eingangsschwellen- werten der Unternehmensmitbestimmung Seit ein paar Jahren ist die Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei arbeitsrechtlichen Schwellenwerten im Wandel. Das BAG zählt regelmäßig eingesetzte Leiharbeitnehmer zunehmend mit, vor allem bei den wichtigen Schwellenwerten der Betriebsverfas- sung. Da sich die zivilrechtliche Rechtsprechung in der Vergangenheit an die Zählweise des BAG gehalten hat, stellt sich die Frage, ob auch bei den Eingangsschwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung mit einem entsprechenden Rechtsprechungswandel zu rechnen ist. I. Einleitung Unternehmen, die knapp unter den Eingangsschwellenwerten der Un- ternehmensmitbestimmung von 2 000 (§ 1 Abs. 1 MitbestG) oder 500 (§ 1 Abs. 1 DrittelbG) Arbeitnehmern liegen, wählen nicht selten ge- zielt die Arbeitnehmerüberlassung als Beschäftigungsform. Die Vor- teile: Sie können die Leiharbeitnehmer – anders als „freie Mitarbei- ter“ – wie „eigene“ Arbeitnehmer einsetzen. Zugleich zählen Leihar- beitnehmer nach der Rechtsprechung bislang nicht mit für die ge- nannten Arbeitnehmerzahlen. Letzteres ist allerdings fraglich geworden, nachdem das BAG seit 2011 seine Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern für Schwellenwerte der Betriebsverfassung (§§ 9, 111 BetrVG) und des Kün- digungsschutzes (§ 23 Abs. 1 KSchG) geändert hat. 1 Das Gesetz wird diese Frage nicht in naher Zukunft beantworten: Laut Koalitionsvertrag soll nur die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei den betriebs- verfassungsrechtlichen Schwellenwerten gesetzlich geregelt werden. 2 II. Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz In Unternehmen, die in der Rechtsform einer AG, einer KGaA, einer GmbH oder einer Genossenschaft betrieben werden und in der Regel mehr als 2 000 Arbeitnehmer beschäftigen, haben die Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 1 MitbestG ein Mitbestimmungsrecht im Aufsichtsrat. § 4 Abs. 1 MitbestG ergänzt die erfassten Rechtsformen um typische Formen der Kommanditgesellschaft, vor allem die GmbH & Co. KG. Bei diesen Unternehmen ist ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden, der sich zur Hälfte aus Vertretern der Anteilseigner und der Arbeit- nehmer zusammensetzt. 1. Entwicklung der Rechtsprechung Bis Anfang 2014 war zu der Frage, ob Leiharbeitnehmer für den Schwellenwert des § 1 Abs. 1 MitbestG zu berücksichtigen sind, keine Rechtsprechung veröffentlicht. Allerdings existierte Rechtsprechung zu den Schwellenwerten des § 9 MitbestG. Danach findet die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer eines Unternehmens mit in der Regel mehr als 8000 Arbeitnehmern als Delegiertenwahl statt, sofern nicht die wahlberechtigten Arbeitnehmer die unmittelba- re Wahl beschließen. a) Rechtsprechung zu § 9 MitbestG Das Hessische LAG lehnte zu § 9 MitbestG im September 2011, also vor der Entscheidung des BAG zur Berücksichtigung von Leiharbeit- nehmern beim Schwellenwert des § 111 S. 1 BetrVG, 3 in einem einst- weiligen Verfügungsverfahren eine Berücksichtigung von Leiharbeit- nehmern ab. 4 Es untersagte dem Hauptwahlvorstand im Wege einst- weiliger Verfügung, die Wahl als Delegiertenwahl durchzuführen. Der Hauptwahlvorstand war von einer Delegiertenwahl ausgegangen. Er hatte eine Zahl von mehr als 8 000 Arbeitnehmern errechnet, weil er Leiharbeitnehmer mitgezählt hatte. Das Arbeitsgericht Hanau hatte den Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Unterlassung der Einlei- tung der Delegiertenwahl noch abgelehnt. 5 Es fehle an einer offen- kundig nichtigen oder anfechtbaren Wahl. Es sei nämlich streitig, ob Leiharbeitnehmer, die auf dauerhaft besetzten Arbeitsplätzen einge- setzt würden, als Arbeitnehmer im Sinne des § 9 Abs. 1 MitbestG zu berücksichtigen seien. Das LAG erließ hingegen die beantragte einstweilige Verfügung. Leih- arbeitnehmer seien bei der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl nach § 9 Abs. 1 und 2 MitbestG nicht zu berücksichtigen. Das Eilverfahren sei nicht der richtige Ort, von einer feststehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung ohne die Möglichkeit von Rechtsmitteln abzuwei- chen. Da es nach § 3 Abs. 1 MitbestG auf den betriebsverfassungs- rechtlichen Arbeitnehmerbegriff ankomme und das BAG in ständiger Rechtsprechung eine Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern man- gels Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher für die betriebsverfassungs- rechtlichen Schwellenwerte ablehne („Zwei-Komponenten-Lehre“), könne für § 9 MitbestG nichts anderes gelten. Im August 2012 entschied das Arbeitsgericht Offenbach im zugehöri- gen Hauptsacheverfahren, dass wahlberechtigte Leiharbeitnehmer bei der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl nach § 9 Abs. 1 MitbestG mit- zuzählen sind. 6 Es verwies hierbei auf die Entscheidung des BAG vom 18.10.2011 7 und führte als Begründung den Wortlaut und Sinn und Zweck der Norm an. Die in § 9 MitbestG vorgesehene Differenzierung zwischen einer De- legiertenwahl in Unternehmen mit in der Regel mehr als 8000 Arbeit- nehmern und einer unmittelbaren Wahl in Unternehmen mit in der Regel nicht mehr als 8 000 Arbeitnehmern beruhe auf der Erwägung, Betriebs-Berater | BB 20.2015 | 11.5.2015 1205 Aufsätze | Arbeitsrecht 1 Vgl. dazu zusammenfassend Zimmermann, DB 2014, 2591. 2 Vgl. Zürn/Maron, BB 2014, 631 f. 3 BAG, 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, BB 2012, 969 m. BB-Komm. Fandel/Zanotti, BB 2013, 2431 m. BB-Komm. Lipinski. 4 LAG Hessen, 22.9.2011 – 9 TaBVGa 166/11, BeckRS 2013, 66922. 5 ArbG Hanau, 31.8.2011 – 1 BVGa 5/11, n. v. 6 ArbG Offenbach, 22.8.2012 – 10 BV 6/11, BeckRS 2012, 75531. 7 BAG, 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, BB 2012, 969 m. BB-Komm. Fandel/Zanotti, BB 2013, 2431 m. BB-Komm. Lipinski. 1 / 5

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Dr. André Zimmermann, LL.M., RA/FAArbR

Leiharbeitnehmer bei den Eingangsschwellen-werten der Unternehmensmitbestimmung

Seit ein paar Jahren ist die Rechtsprechung zur Berücksichtigung von

Leiharbeitnehmern bei arbeitsrechtlichen Schwellenwerten im Wandel.

Das BAG zählt regelmäßig eingesetzte Leiharbeitnehmer zunehmend

mit, vor allem bei den wichtigen Schwellenwerten der Betriebsverfas-

sung. Da sich die zivilrechtliche Rechtsprechung in der Vergangenheit

an die Zählweise des BAG gehalten hat, stellt sich die Frage, ob auch bei

den Eingangsschwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung mit

einem entsprechenden Rechtsprechungswandel zu rechnen ist.

I. Einleitung

Unternehmen, die knapp unter den Eingangsschwellenwerten der Un-

ternehmensmitbestimmung von 2000 (§ 1 Abs. 1 MitbestG) oder 500

(§ 1 Abs. 1 DrittelbG) Arbeitnehmern liegen, wählen nicht selten ge-

zielt die Arbeitnehmerüberlassung als Beschäftigungsform. Die Vor-

teile: Sie können die Leiharbeitnehmer – anders als „freie Mitarbei-

ter“ – wie „eigene“ Arbeitnehmer einsetzen. Zugleich zählen Leihar-

beitnehmer nach der Rechtsprechung bislang nicht mit für die ge-

nannten Arbeitnehmerzahlen.

Letzteres ist allerdings fraglich geworden, nachdem das BAG seit 2011

seine Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern für

SchwellenwertederBetriebsverfassung (§§ 9, 111BetrVG)unddesKün-

digungsschutzes (§ 23 Abs. 1 KSchG) geändert hat.1 Das Gesetz wird

diese Frage nicht in naher Zukunft beantworten: Laut Koalitionsvertrag

soll nur die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei den betriebs-

verfassungsrechtlichenSchwellenwertengesetzlichgeregeltwerden.2

II. Mitbestimmung nach demMitbestimmungsgesetz

In Unternehmen, die in der Rechtsform einer AG, einer KGaA, einer

GmbH oder einer Genossenschaft betrieben werden und in der Regel

mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigen, haben die Arbeitnehmer

nach § 1 Abs. 1 MitbestG ein Mitbestimmungsrecht im Aufsichtsrat.

§ 4 Abs. 1 MitbestG ergänzt die erfassten Rechtsformen um typische

Formen der Kommanditgesellschaft, vor allem die GmbH & Co. KG.

Bei diesen Unternehmen ist ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden,

der sich zur Hälfte aus Vertretern der Anteilseigner und der Arbeit-

nehmer zusammensetzt.

1. Entwicklung der RechtsprechungBis Anfang 2014 war zu der Frage, ob Leiharbeitnehmer für den

Schwellenwert des § 1 Abs. 1 MitbestG zu berücksichtigen sind, keine

Rechtsprechung veröffentlicht. Allerdings existierte Rechtsprechung

zu den Schwellenwerten des § 9 MitbestG. Danach findet die Wahl

der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer eines Unternehmens

mit in der Regel mehr als 8000 Arbeitnehmern als Delegiertenwahl

statt, sofern nicht die wahlberechtigten Arbeitnehmer die unmittelba-

re Wahl beschließen.

a) Rechtsprechung zu § 9 MitbestGDas Hessische LAG lehnte zu § 9 MitbestG im September 2011, also

vor der Entscheidung des BAG zur Berücksichtigung von Leiharbeit-

nehmern beim Schwellenwert des § 111 S. 1 BetrVG,3 in einem einst-

weiligen Verfügungsverfahren eine Berücksichtigung von Leiharbeit-

nehmern ab.4 Es untersagte dem Hauptwahlvorstand im Wege einst-

weiliger Verfügung, die Wahl als Delegiertenwahl durchzuführen.

Der Hauptwahlvorstand war von einer Delegiertenwahl ausgegangen.

Er hatte eine Zahl von mehr als 8000 Arbeitnehmern errechnet, weil

er Leiharbeitnehmer mitgezählt hatte. Das Arbeitsgericht Hanau hatte

den Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Unterlassung der Einlei-

tung der Delegiertenwahl noch abgelehnt.5 Es fehle an einer offen-

kundig nichtigen oder anfechtbaren Wahl. Es sei nämlich streitig, ob

Leiharbeitnehmer, die auf dauerhaft besetzten Arbeitsplätzen einge-

setzt würden, als Arbeitnehmer im Sinne des § 9 Abs. 1 MitbestG zu

berücksichtigen seien.

Das LAG erließ hingegen die beantragte einstweilige Verfügung. Leih-

arbeitnehmer seien bei der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl nach

§ 9 Abs. 1 und 2 MitbestG nicht zu berücksichtigen. Das Eilverfahren

sei nicht der richtige Ort, von einer feststehenden höchstrichterlichen

Rechtsprechung ohne die Möglichkeit von Rechtsmitteln abzuwei-

chen. Da es nach § 3 Abs. 1 MitbestG auf den betriebsverfassungs-

rechtlichen Arbeitnehmerbegriff ankomme und das BAG in ständiger

Rechtsprechung eine Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern man-

gels Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher für die betriebsverfassungs-

rechtlichen Schwellenwerte ablehne („Zwei-Komponenten-Lehre“),

könne für § 9 MitbestG nichts anderes gelten.

Im August 2012 entschied das Arbeitsgericht Offenbach im zugehöri-

gen Hauptsacheverfahren, dass wahlberechtigte Leiharbeitnehmer bei

der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl nach § 9 Abs. 1 MitbestG mit-

zuzählen sind.6 Es verwies hierbei auf die Entscheidung des BAG vom

18.10.20117 und führte als Begründung den Wortlaut und Sinn und

Zweck der Norm an.

Die in § 9 MitbestG vorgesehene Differenzierung zwischen einer De-

legiertenwahl in Unternehmen mit in der Regel mehr als 8000 Arbeit-

nehmern und einer unmittelbaren Wahl in Unternehmen mit in der

Regel nicht mehr als 8000 Arbeitnehmern beruhe auf der Erwägung,

Betriebs-Berater | BB 20.2015 | 11.5.2015 1205

Aufsätze | Arbeitsrecht

1 Vgl. dazu zusammenfassend Zimmermann, DB 2014, 2591.2 Vgl. Zürn/Maron, BB 2014, 631 f.3 BAG, 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, BB 2012, 969 m. BB-Komm. Fandel/Zanotti, BB 2013,

2431 m. BB-Komm. Lipinski.4 LAG Hessen, 22.9.2011 – 9 TaBVGa 166/11, BeckRS 2013, 66922.5 ArbG Hanau, 31.8.2011 – 1 BVGa 5/11, n. v.6 ArbG Offenbach, 22.8.2012 – 10 BV 6/11, BeckRS 2012, 75531.7 BAG, 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, BB 2012, 969 m. BB-Komm. Fandel/Zanotti, BB 2013,

2431 m. BB-Komm. Lipinski.

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dass in großen und oft auch weit verzweigten Unternehmen oder

Konzernen eine Wahl durch Delegierte transparenter sei und eher

auch den Belegschaften kleiner Betriebe und Unternehmen eine wirk-

same Einflussnahme ermöglichen könne als die unmittelbare Wahl

von Aufsichtsratsmitgliedern, die den Arbeitnehmern oft kaum be-

kannt seien würden. Während der Gesetzgeber in Unternehmen mit

nicht mehr als 8000 Arbeitnehmern davon ausgehe, dass die Wahlbe-

rechtigten die Kandidaten zur Aufsichtsratswahl noch kennen könn-

ten, oder auch sonst im Rahmen einer unmittelbaren Wahl Einfluss

auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nehmen könnten, werde

ab einer Größenordnung von mehr als 8000 Arbeitnehmern davon

ausgegangen, dass die Wahlberechtigten effektiveren und für sie trans-

parenteren Einfluss über die Wahl von Delegierten auf die Aufsichts-

ratszusammensetzung nehmen könnten. Da die Differenzierung

damit auf die Zahl der am Wahlprozess beteiligten Wahlberechtigten

abstelle, sei es konsequent, bei der Interpretation des Begriffs des Ar-

beitnehmers in § 9 MitbestG alle wahlberechtigten Arbeitnehmer mit-

zuzählen, also auch die wahlberechtigten Leiharbeitnehmer nach § 7

S. 2 BetrVG i.V.m. § 10 Abs. 2 S. 2 MitbestG bzw. § 18 S. 2 MitbestG.

Das Hessische LAG hat diese Entscheidung im April 2013 bestätigt.8

Eine am Sinn und Gesetzeszweck orientierte Gesetzesauslegung führe

dazu, dass Leiharbeitnehmer bei der Berechnung der Überschreitung

des Schwellenwertes des § 9 MitbestG mitzuzählen seien.

Sinn und Zweck des § 9 Abs. 1 und 2 MitbestG zielten auf eine Steige-

rung der Transparenz und eine wirksamere Einflussnahme der Arbeit-

nehmer in kleineren undmittleren Betrieben auf dieWahl. Hierfür ma-

che es keinen Unterschied, ob die Arbeitsplätze mit eigenen Arbeitneh-

mern oder Leiharbeitnehmern besetzt seien, zumal es bei § 9 MitbestG

um das Wahlverfahren und nicht wie bei § 7 MitbestG um die Größe

des Aufsichtsrats gehe. Das gelte umsomehr, als Leiharbeitnehmer nach

§ 10 Abs. 2 S. 2 und § 18 S. 2 MitbestG i.V.m. § 7 S. 2 BetrVG wahlbe-

rechtigt seien und dadurch die Möglichkeit haben sollten, auf die Zu-

sammensetzung des Aufsichtsrats Einfluss zu nehmen.

Das entspreche – wie § 5 Abs. 1 S. 3 BetrVG zeige – auch einer geän-

derten Auffassung in der Gesetzgebung. Auch die in § 5 Abs. 3 S. 3

BetrVG genannten Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes gölten im

Rahmen der Betriebsverfassung als Arbeitnehmer. Dieses Auslegungs-

ergebnis werde bekräftigt durch die gewachsene Bedeutung der Ar-

beitnehmerüberlassung im Arbeitsleben. Die Beschäftigung in der

Zeitarbeit in Deutschland sei in den letzten Jahren mit hoher Dyna-

mik gewachsen. Das könne bei der Bestimmung des Arbeitnehmerbe-

griffs in § 9 Abs. 1 und 2 MitbestG nicht ignoriert werden.

Zur konkreten Feststellung der Unternehmensgröße verweist das LAG

auf einen Referenzzeitraum von sechs Monaten bis zwei Jahren, für den

Rückblick undPrognose vorzunehmen seien. Fürdie Frage der regelmä-

ßigen Beschäftigung nimmt das Gericht Bezug auf den Beschluss des

BAGvom18.10.20119und stellt darauf ab, obLeiharbeitnehmernorma-

lerweisewährenddes größtenTeils eines Jahres, also länger als sechsMo-

nate beschäftigt werden. Zukünftige Entwicklungen könnten berück-

sichtigtwerden,wenn sichVeränderungenkonkret abzeichneten.10

Gegen den Beschluss ist Rechtsbeschwerde zum BAG eingelegt wor-

den.11 Hierfür ist der Siebte Senat zuständig, derselbe Senat, der den

Rechtsprechungswandel zu § 9 BetrVG eingeläutet hatte.12

b) OLG Hamburg, Beschluss vom 31.1.2014Als erstes OLG seit Änderung der Rechtsprechung des BAG zu § 9

BetrVG hat das OLG Hamburg Ende Januar 2014 eine Berücksichti-

gung von Leiharbeitnehmern für den Schwellenwert des § 1 Abs. 1

MitbestG abgelehnt.13

Leiharbeitnehmer und Stammbelegschaft seien in Bezug auf die un-

ternehmerische Mitbestimmung unterschiedlich betroffen. Der Auf-

sichtsrat, dessen Tätigkeit auf die langfristige Unternehmenspolitik

und die Kontrolle strategischer Entscheidungen der Geschäftsführung

gerichtet sei, wahre das mittel- und langfristige Unternehmensinte-

resse. Das sei für die Leiharbeitnehmer von geringerer Bedeutung als

für die Stammbelegschaft, da sie zum Verleiher zurückkehren. Sie sei-

en auch deshalb weniger direkt von unternehmerischen Entscheidun-

gen des Einsatzunternehmens betroffen, weil eine betriebsbedingte

Kündigung durch den Verleiher nicht ohne Weiteres auf den Wegfall

des Beschäftigungsbedarfs beim Entleiher gestützt werden könne.

Auch deshalb seien Leiharbeitnehmer in Bezug auf die durch die Mit-

bestimmung bezweckte Konkretisierung der Sozialbindung des Eigen-

tums anders betroffen als Stammarbeitnehmer.

Das OLG hat die Rechtsbeschwerde zum BGH wegen grundsätzlicher

Bedeutung zugelassen.14 Der BGH hat die eingelegte Rechtsbeschwer-

de aber aus formellen Gründen verworfen.15

2. StellungnahmeDer Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG ist offen. Er lässt die Be-

schäftigung von Arbeitnehmern genügen.16 Eine darüber hinausge-

hende Zuordnung der Arbeitnehmer zum Unternehmen verlangt der

Wortlaut – anders als die betriebsverfassungsrechtlichen Schwellen-

werte –17 nicht. Da Leiharbeitnehmer Arbeitnehmer sind (§ 1 Abs. 1

S. 1 AÜG) und im entleihenden Unternehmen beschäftigt werden,

würde der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG sie erfassen.

Dieser Fokus auf den Wortlaut, so insbesondere der Ansatz des Hessi-

schen LAG zu § 9 MitbestG,18 überzeugt aber nicht. Mit der strengen

Wortlautauslegung würden auch Arbeitnehmer erfasst werden, die im

Rahmen von Dienst- und Werkverträgen eingesetzt werden.19

Eine systematische Auslegung spricht gegen die Berücksichtigung von

Leiharbeitnehmern. § 3 Abs. 1 MitbestG verweist auf den allgemeinen

Arbeitnehmerbegriff des § 5 BetrVG. Betriebsverfassungsrechtlich sind

Leiharbeitnehmer nicht dem Entleiherbetrieb zugeordnet sondern dem

Verleiherbetrieb.Das folgt aus § 14Abs. 1AÜGund aus einemUmkehr-

schluss zu § 5 Abs. 1 S. 3 BetrVG. Diese Argumentation hat das BAG in

seiner geändertenRechtsprechung zu§ 9BetrVG20 freilich aufgegeben.

Ebensowenig wie die Zuerkennung des aktiven Wahlrechts nach § 7

S. 2 BetrVG zur betriebsverfassungsrechtlichen Zuordnung des Leih-

arbeitnehmers zum Einsatzbetrieb führt, führt sie zur Unternehmens-

zugehörigkeit des Leiharbeitnehmers zum Einsatzunternehmen. Das

wird bestätigt durch die Wahlordnungen zum Mitbestimmungsgesetz.

Hier wird ausdrücklich unterschieden zwischen Arbeitnehmern des

Unternehmens und wahlberechtigten Arbeitnehmern.21

1206 Betriebs-Berater | BB 20.2015 | 11.5.2015

Arbeitsrecht | AufsätzeZimmermann · Leiharbeitnehmer bei den Eingangsschwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung

8 LAG Hessen, 11.4.2013 – 9 TaBV 308/12, BeckRS 2013, 70446.9 BAG, 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, BB 2012, 969 m. BB-Komm. Fandel/Zanotti, BB 2013,

2431 m. BB-Komm. Lipinski.10 LAG Hessen, 11.4.2013 – 9 TaBV 308/12, BeckRS 2013, 70446.11 7 ABR 42/13. Termin ist anberaumt auf 4.11.2015.12 BAG, 13.3.2013 – 7 ABR 69/11, BB 2013, 2045 m. BB-Komm. Bissels.13 OLG Hamburg, 31.1.2014 – 11 W 89/13, BB 2014, 1469 m. BB-Komm. Mückl.14 II ZB 7/14.15 BGH, 27.1.2015 – II ZB 7/14, NZG 2015, 438.16 Vgl. Krause, ZIP 2014, 2209, 2211.17 Etwa § 9 S. 1 BetrVG: „in Betrieben mit in der Regel … Arbeitnehmern“.18 LAG Hessen, 11.4.2013 – 9 TaBV 308/12, BeckRS 2013, 70446.19 Vgl. Braun, ArbRB, 2013, 239; Lambrich/Reinhard, NJW 2014, 2229, 2230.20 BAG, 13.3.2013 – 7 ABR 69/11, BB 2013, 2045 m. BB-Komm. Bissels.21 Vgl. Lunk, NZG 2014, 778, 779; Künzel/Schmid, NZA 2013, 300, 301 f.

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Dass ein Arbeitsverhältnis mit dem Unternehmen erforderlich ist, bei

dem die Wahl eines arbeitnehmermitbestimmten Aufsichtsrats in

Frage steht, folgt systematisch aus §§ 4 und 5 MitbestG. Nach diesen

Zurechnungsvorschriften gelten Arbeitnehmer unter bestimmten

Voraussetzungen als Arbeitnehmer des persönlich haftenden Gesell-

schafters einer Kommanditgesellschaft bzw. des herrschenden Unter-

nehmens eines Konzerns. Die Formulierung „gelten … als Arbeit-

nehmer des …“ macht deutlich, dass es einer Zuordnung der Arbeit-

nehmer zu dem Unternehmen bedarf, bei dem der Aufsichtsrat

gewählt wird, auch wenn sich dem Possessivgenetiv „des“ zugegebe-

nermaßen nicht entnehmen lässt, dass die Zuordnung nur durch eine

arbeitsvertragliche Verbindung erfolgen kann.22

Entsprechend verweist § 7 Abs. 2 MitbestG für die Zahl der Aufsichts-

ratsmitglieder auf „Arbeitnehmer des Unternehmens“. § 7 Abs. 3 S. 1

MitbestG verlangt eine mindestens einjährige Unternehmensangehö-

rigkeit der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Schließlich wird

das Erfordernis der Unternehmenszugehörigkeit der Arbeitnehmer

aus § 9 MitbestG deutlich, der die Art der Wahl der Arbeitnehmerver-

treter – unmittelbare Wahl oder Delegiertenwahl – abhängig von der

Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer bestimmt und da-

bei auf Unternehmen „mit in der Regel (nicht) mehr als 8000 Arbeit-

nehmern“ abstellt.

Dass Leiharbeitnehmer nicht Arbeitnehmer des Unternehmens sind,

machen §§ 10 Abs. 2 S. 2 und 18 S. 2 MitbestG klar, die für die Wahl-

berechtigung von Leiharbeitnehmern auf § 7 S. 2 BetrVG verweisen.

Wären Leiharbeitnehmer Arbeitnehmer des Unternehmens, wären sie

schon nach §§ 10 Abs. 2 S. 1 und 18 S. 1 MitbestG wahlberechtigt.

Der Sonderregelungen hätte es nicht bedurft.

Auch spricht die historische Auslegung gegen die Berücksichtigung

von Leiharbeitnehmern für den Schwellenwert. 2001 hat der Gesetz-

geber im Rahmen der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes das ak-

tive Wahlrecht für Leiharbeitnehmer in §§ 10 Abs. 2 S. 2 und 18 S. 2

MitbestG i.V.m. § 7 S. 2 BetrVG aufgenommen. Obwohl in der Zwi-

schenzeit sowohl das Betriebsverfassungsgesetz als auch das Arbeit-

nehmerüberlassungsgesetz geändert wurden, hat der Gesetzgeber da-

von abgesehen, eine Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern beim

Schwellenwert des § 1 Abs. 1 MitbestG gesetzlich zu regeln.23

Sinn und Zweck gebieten keine Einbeziehung von Leiharbeitneh-

mern. Leiharbeitnehmer dürften kein Interesse daran haben, die lang-

fristige Unternehmenspolitik des Entleihers über den Aufsichtsrat zu

beeinflussen, wie das OLG Hamburg in seinem Beschluss aus Januar

2014 zutreffend ausführt.24 Dann ist es nur folgerichtig, sie für den

Schwellenwert des § 1 Abs. 1 MitbestG nicht zu berücksichtigen.

Schließlich würde einer richterrechtlichen Berücksichtigung von Leih-

arbeitnehmern bei dem Schwellenwert des § 1 Abs. 1 MitbestG Art. 7

Abs. 2 der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG entgegenstehen. Danach

können25 die Mitgliedstaaten unter den von ihnen festgelegten Bedin-

gungen vorsehen, dass Leiharbeitnehmer im entleihenden Unterneh-

men bei der Berechnung des Schwellenwertes für die Einrichtung der

nach Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht oder in den Tarifver-

trägen vorgesehenen Arbeitnehmervertretungen im gleichen Maße

berücksichtigt werden wie Arbeitnehmer, die das entleihende Unter-

nehmen für die gleiche Dauer unmittelbar beschäftigen würde. Unter

den Begriff der Arbeitnehmervertretungen sind auch die Arbeitneh-

mervertreter im Aufsichtsrat zu fassen.26

Zur Ausübung der Regelungsoption durch einen Mitgliedstaat reicht

Richterrecht nicht aus. Es bedarf einer Umsetzung durch Gesetz.27

Eine gesetzliche Regelung zur Berücksichtigung von Leiharbeitneh-

mern im Einsatzunternehmen bei Schwellenwerten fehlt aber sowohl

im Mitbestimmungsgesetz als auch im Arbeitnehmerüberlassungsge-

setz – Letzteres obwohl die AÜG-Reform 2011 explizit der Umsetzung

der Leiharbeitsrichtlinie diente.28 Dass der Gesetzgeber eine Regelung

zur Anrechnung von Leiharbeitnehmern in Ansehung des Art. 7

Abs. 2 der Leiharbeitsrichtlinie bei deren Umsetzung in nationales

Recht nicht aufgenommen hat, spricht dafür, dass er eine Anrech-

nung nicht gewollt hat.29

3. Auswirkung auf die PraxisEs spricht dennoch einiges dafür, dass der Siebte Senat seine neue

Rechtsprechung zu § 9 BetrVG auf § 9 MitbestG übertragen wird.

Das dürfte dann auch für § 1 Abs. 1 MitbestG gelten. 30

Eine Entscheidung des Senats aus März 2013 zum aktiven Wahlrecht

nach dem Drittelbeteiligungsgesetz im Gemeinschaftsbetrieb weist in

diese Richtung.31 Hier war wesentliches Argument für die Anerken-

nung des Wahlrechts der mit einem Unternehmen arbeitsvertraglich

verbundenen Arbeitnehmer bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter

in den Aufsichtsrat bei jedem Trägerunternehmen, dass die Arbeit-

nehmer eines Gemeinschaftsbetriebes nicht nur durch die Entschei-

dungen desjenigen Unternehmens betroffen seien, mit dem sie einen

Arbeitsvertrag geschlossen haben, sondern gleichermaßen von den

unternehmerischen Entscheidungen der weiteren am Gemeinschafts-

betrieb beteiligten Unternehmen. Nachdem das BAG die „Zwei-Kom-

ponenten-Lehre“ für den drittbezogenen Personaleinsatz ausdrücklich

aufgegeben hat und hier die vertragliche Beziehung zu einem Träger-

unternehmen ausreichen lässt, spricht einiges dafür, dass der Siebte

Senat diese Begründung auf Leiharbeitnehmer übertragen und sie bei

dem Schwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung mitzählen

wird.

Möglicherweise wird das BAG anknüpfen an eine Entscheidung zum

Gemeinschaftsbetrieb aus 1961.32 Danach soll es keine Rolle spielen,

wie die vertraglichen Beziehungen der einzelnen Arbeitnehmer be-

schaffen sind. 33 Wichtig sei nur, wie viele Arbeitnehmer beschäftigt

werden. Es sei auf die ständig besetzten Arbeitsplätze abzustellen.34

Größe und wirtschaftliche Bedeutung eines Unternehmens könnten

nach dem Arbeitsanfall, den ständig besetzten Arbeitsplätzen oder

den Arbeitspensen bestimmt werden. Deshalb müssten außer den in

einem Arbeitsvertragsverhältnis zu den betreffenden Unternehmen

stehenden Arbeitnehmern auch diejenigen hinzugezählt werden, die

Betriebs-Berater | BB 20.2015 | 11.5.2015 1207

Aufsätze | ArbeitsrechtZimmermann · Leiharbeitnehmer bei den Eingangsschwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung

22 Vgl. zu § 5 Abs. 2 S. 1 DrittelbG BAG, 13.3.2013 – 7 ABR 47/11, BB 2013, 2298 m. BB-Komm. Mückl.

23 Vgl. Künzel/Schmidt, NZA 2013, 300, 302.24 Vgl. zuvor schon zum DrittelbG OLG Hamburg, 29.10.2007 – 11 W 27/07, BeckRS 2007,

19416; zu §§ 76, 77, 77a BetrVG 1952 OLG Düsseldorf, 12.5.2004 – 19 W 2/04 AktE, 19 W2/04 AktE, BeckRS 2004, 07727.

25 Vgl. Schüren/Wank, RdA 2011, 1, 7; Wank, in: ErfK, 15. Aufl. 2015, Einl. AÜG, Rn. 35c.26 A. A. Krause, ZIP 2014, 2209, 2218.27 Vgl. zu § 111 BetrVG Rieble, NZA 2012, 485, 487; a. A. Hay/Grüneberg, NZA 2014, 814,

817; Krause, ZIP 2014, 2209, 2218.28 Vgl. Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes

– Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung v. 31.12.2010, BR-Drs.847/10, 1 f., 5 f., 12.

29 Haas/Hoppe, NZA 2013, 294, 297 f.; Wank, in: ErfK, 15. Aufl. 2015, Einl. AÜG, Rn. 35 f.30 Vgl. Boemke, in: Boemke/Lembke, AÜG, 3. Aufl. 2013, § 14 AÜG, Rn. 65; Kock, BB 2013,

884; Krause, ZIP 2014, 2209, 2217.31 BAG, 13.3.2013 – 7 ABR 47/11, BB 2013, 2298 m. BB-Komm. Mückl; bestätigt durch BAG,

14.8.2013 – 7 ABR 46/11, AP Nr. 2 zu § 5 DrittelbG.32 Vgl. Löw, BB 2012, 3135; dazu auch unten III. 1.33 BAG, 1.12.1961 – 1 ABR 15/60, AP Nr. 1 zu § 77 BetrVG.34 BAG, 1.12.1961 – 1 ABR 15/60, AP Nr. 1 zu § 77 BetrVG.

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Page 4: Leiharbeitnehmer bei den Eingangsschwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung

in dieses eingegliedert sind und in diesem Arbeiten verrichten, sei es

auch als Leiharbeiter oder in ähnlicher Form. Wer ihr vertraglicher

Arbeitgeber ist, so damals der Erste Senat, ist nicht entscheidend.35

Knüpft das BAG an diese Rechtsprechung an, dann werden Leihar-

beitnehmer für die Schwellenwerte der Unternehmensmitbestimmung

zählen, wenn sie auf dauerhaft bestehenden Arbeitsplätzen eingesetzt

werden.

Zu beachten ist aber, dass die Gerichte für Arbeitssachen nur zustän-

dig sind für Anfechtungssachen (§ 22 Abs. 1 MitbestG). Hier ist das

Beschlussverfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, 80 ff. ArbGG

durchzuführen. Im Übrigen sind nach § 6 Abs. 2 MitbestG i.V.m.

§§ 97f. AktG für das Statusverfahren die Zivilgerichte zuständig. Es

bleibt daher abzuwarten, ob die Zivilgerichte die Entwicklung der ar-

beitsgerichtlichen Rechtsprechung nachvollziehen werden. Das OLG

Hamburg hat das zwar im Januar 2014 abgelehnt.36 Das letzte Wort

wird aber der BGH haben.

Wie bei den betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten sind die

Interessen von Arbeitnehmervertretung und Arbeitgeber gegenläufig:

Die Arbeitnehmervertreter möchten den Schwellenwert erreichen

und möglichst viele Leiharbeitnehmer berücksichtigt wissen. Der Ar-

beitgeber wird Leiharbeitnehmer restriktiv behandeln wollen.

Erreicht das rechtsformmäßig erfasste Unternehmen den Schwellen-

wert nur unter Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern, ist es erst

verpflichtet, das Statusverfahren nach § 6 Abs. 2 MitbestG i.V.m. § 97

AktG durchzuführen, wenn die Berücksichtigung von Leiharbeitneh-

mern für den Schwellenwert höchstrichterlich geklärt ist.37 Ist der

Arbeitgeber hingegen der Auffassung, dass der Schwellenwert auch

bei Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern nicht erreicht wird, ist

er nicht verpflichtet, das Statusverfahren einzuleiten. War diese Auf-

fassung nicht richtig, bleibt die unterbliebene Einleitung des Status-

verfahrens sanktionslos.38

III. Mitbestimmung nach demDrittelbeteiligungsgesetz

Nach § 1 Abs. 1 DrittelbG haben Arbeitnehmer ein Mitbestimmungs-

recht im Aufsichtsrat nach Maßgabe dieses Gesetzes in AG, KGaA,

GmbH, VVaG und Genossenschaften mit in der Regel mehr als 500

Arbeitnehmern. Bei diesen Unternehmen ist ein zu einem Drittel aus

Arbeitnehmervertretern bestehender Aufsichtsrat zu bilden. Kom-

manditgesellschaften sind nicht erfasst.

1. Entwicklung der RechtsprechungHöchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, ob Leiharbeitneh-

mer bei den Schwellenwerten des § 1 Abs. 1 DrittelbG zu berücksich-

tigen sind, existiert nicht.

Zwar hatte das BAG 1961 zur Vorgängervorschrift für den VVaG

(§ 77 Abs. 2 BetrVG 1952) obiter dicta entschieden, dass „Leiharbei-

ter“ auf ständig besetzten Arbeitsplätzen zu berücksichtigen sind.39

Zu diesem Zeitpunkt war das AÜG aber noch nicht in Kraft getre-

ten.40 Daher bestand keine Gewissheit, ob nicht die Zuordnung der

Leiharbeitnehmer zum Verleiherbetrieb durch § 14 Abs. 1 AÜG an

dieser Rechtsprechung etwas geändert hatte.41

Mit Blick auf die alte Rechtsprechung des BAG zu §§ 9 und 38 Abs. 1

BetrVG spricht viel dafür, dass es bis zu seiner Rechtsprechungsände-

rung zu § 9 BetrVG eine Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern

für die Schwellenwerte in § 1 Abs. 1 DrittelbG abgelehnt hätte, da § 3

Abs. 1 DrittelbG den betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitnehmerbe-

griff des § 5 BetrVG zugrunde legt.

Die OLG berücksichtigen bislang Leiharbeitnehmer für die Schwel-

lenwerte in § 1 Abs. 1 DrittelbG nicht.42 Leiharbeitnehmer seien be-

triebsverfassungsrechtlich nicht dem Einsatzbetrieb zuzuordnen –

hier wurde Bezug genommen auf die alte Rechtsprechung des BAG zu

§§ 9 und 38 Abs. 1 BetrVG. In Folge des Gleichlaufs zwischen Drittel-

beteiligungsgesetz und Betriebsverfassungsgesetz, wie er in § 3 Drit-

telbG zum Ausdruck komme, seien Leiharbeitnehmer auch nicht bei

der Ermittlung der Schwellenwerte in § 1 Abs. 1 DrittelbG zu berück-

sichtigen.43

Zudem zeige die Aufgabe des Aufsichtsrats, dass mittel- bis langfristi-

ge unternehmerische Entscheidungen des Entleihers wie Standort-

schließungen oder -verlegungen kaum von Interesse für die kurzfristig

im Unternehmen eingesetzten Leiharbeitnehmer seien. Die tatsächli-

che Eingliederung führe nicht zu einer typischen mitbestimmungsre-

levanten Interessenbetroffenheit.44

2. StellungnahmeDa § 3 Abs. 1 DrittelbG auf § 5 BetrVG verweist, muss der Begriff

„Arbeitnehmer“ so ausgelegt werden, wie er auch im Betriebsverfas-

sungsrecht ausgelegt wird. Danach zählen Leiharbeitnehmer aber

richtigerweise nicht zu den Arbeitnehmern des Entleihers, weil § 14

Abs. 1 AÜG sie ausdrücklich dem Verleiherbetrieb zuordnet.

Für dieses Ergebnis spricht auch die Gesetzessystematik. § 2 Abs. 2

DrittelbG enthält eine besondere Zurechnungsvorschrift für nicht un-

ternehmensangehörige Arbeitnehmer. Arbeitnehmer von Konzernun-

ternehmen gelten als solche des herrschenden Unternehmens, wenn

ein Beherrschungsvertrag besteht oder das abhängige Unternehmen

in das herrschende Unternehmen eingegliedert ist. Nur in diesen Fäl-

len werden Arbeitnehmer der Tochtergesellschaften dem herrschen-

den Unternehmen zugerechnet. So soll die Mitbestimmung dort statt-

finden, wo die für die Arbeitnehmer wesentlichen Entscheidungen ge-

troffen werden. Diese Leitungsmacht muss nach § 2 Abs. 2 DrittelbG

aber gesellschaftsrechtlich ausgestaltet sein.45

Auch Sinn und Zweck der Unternehmensmitbestimmung gebieten es

nicht, Leiharbeitnehmer für den Schwellenwert zu berücksichtigen.

Ziel der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat ist, eine

Mitwirkung der Arbeitnehmer an unternehmensbezogenen Entschei-

dungsprozessen sicherzustellen, bei der die für die Arbeitnehmer we-

sentlichen unternehmerischen Entscheidungen getroffen werden. Un-

ternehmensbezogene Entscheidungsprozesse, die die Leiharbeitneh-

mer betreffen, finden aber beim Verleiher statt.46

Schließlich würde einer richterrechtlichen Berücksichtigung von Leih-

arbeitnehmern bei dem Schwellenwert wiederum Art. 7 Abs. 2 der

Leiharbeitsrichtlinie entgegenstehen, der eine gesetzliche Regelung

1208 Betriebs-Berater | BB 20.2015 | 11.5.2015

Arbeitsrecht | AufsätzeZimmermann · Leiharbeitnehmer bei den Eingangsschwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung

35 BAG, 1.12.1961 – 1 ABR 15/60, AP Nr. 1 zu § 77 BetrVG.36 OLG Hamburg, 31.1.2014 – 11 W 89/13, BB 2014, 1469 m. BB-Komm. Mückl.37 Vgl. zum Gemeinschaftsbetrieb Hohenstatt/Schramm, NZA 2010, 846, 849.38 Vgl. zum Gemeinschaftsbetrieb Lüers/Schomaker, BB 2013, 565, 569.39 BAG, 1.12.1961 – 1 ABR 15/60, AP Nr. 1 zu § 77 BetrVG; vgl. dazu schon oben II. 3.40 Vgl. zur historischen Entwicklung z. B. Schüren, in: Schüren, AÜG, 4. Aufl. 2010, Einl.,

Rn. 53 ff.41 Vgl. Boemke, in: Boemke/Lembke, AÜG, 3. Aufl. 2013, § 14 AÜG, Rn. 58.42 OLG Hamburg, 29.10.2007 – 11 W 27/07, BeckRS 2007, 19416; zu den Vorgängervor-

schriften §§ 76, 77, 77a BetrVG 1952 OLG Düsseldorf, 12.5.2004 – 19 W 2/04 AktE, 19 W2/04 AktE, BeckRS 2004, 077270.

43 OLG Hamburg, 29.10.2007 – 11 W 27/07, BeckRS 2007, 19416.44 OLG Düsseldorf, 12.5.2004 – 19 W 2/04 AktE, 19 W 2/04 AktE, BeckRS 2004, 077270.45 Vgl. zum Gemeinschaftsbetrieb Hohenstatt/Schramm, NZA 2010, 846, 848.46 Vgl. OLG Düsseldorf, 12.5.2004 – 19 W 2/04 AktE, 19 W 2/04 AktE, BeckRS 2004, 077270.

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Page 5: Leiharbeitnehmer bei den Eingangsschwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung

Betriebs-Berater | BB 20.2015 | 11.5.2015 1209

Aufsätze | ArbeitsrechtUlrici · Verdeckte Arbeitnehmerüberlassung und Vorratserlaubnis

der Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern im entleihenden Unter-

nehmen bei der Einrichtung von Arbeitnehmervertretungen ver-

langt.47

3. Auswirkung auf die PraxisIm Hinblick auf die neue Rechtsprechung des BAG zu § 9 BetrVG ist

zweifelhaft, ob die Gerichte zukünftig an der Nichtberücksichtigung

von Leiharbeitnehmern noch festhalten werden.48 Es gilt insoweit

dasselbe wie zu § 1 Abs. 1 MitbestG.49 Da auch im Bereich der Drit-

telmitbestimmung die Zivilgerichte zuständig sind (§§ 97f. AktG)

und die Gerichte für Arbeitssachen nur die Anfechtungssachen bear-

beiten (§ 11 Abs. 1 DrittelbG i.V.m. § 2a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 i.V.m.

§§ 80ff. ArbGG), ist hier ebenfalls abzuwarten, ob die Zivilgerichte

die Entwicklung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung nachvollzie-

hen werden.

IV. Fazit

In der Unternehmensmitbestimmung ist eine klare Tendenz in der

jüngeren Rechtsprechung der Gerichte für Arbeitssachen erkennbar,

Leiharbeitnehmer bei den Schwellenwerten zu berücksichtigen.

Höchstrichterlich ist das noch nicht entschieden. Das BAG wird zum

Mitbestimmungsgesetz voraussichtlich 2015 entscheiden. Die Ge-

richte für Arbeitssachen sind allerdings nur zuständig für Anfech-

tungssachen. Im Übrigen sind die Zivilgerichte zuständig. Es bleibt

daher abzuwarten, ob die Zivilgerichte die Entwicklung der arbeitsge-

richtlichen Rechtsprechung nachvollziehen werden. Das OLG Ham-

burg hat zuletzt die Gefolgschaft verweigert.

Dr. André Zimmermann, LL.M., RA/FAArbR, ist Counsel imFrankfurter Büro von King & Wood Mallesons LLP. Er verfügtüber besondere Expertise im Bereich Fremdpersonaleinsatz.

Priv.-Doz. Dr. Bernhard Ulrici, RA

Verdeckte Arbeitnehmerüberlassungund Vorratserlaubnis

Aus verschiedenen Gründen entscheiden sich Unternehmen dafür, Leis-

tungen nicht durch eigene (Stamm-)Arbeitnehmer erledigen zu lassen.

Da der Rückgriff auf Leiharbeitnehmer zuletzt aufgrund eines sich än-

dernden rechtlichen Umfelds unattraktiver geworden ist, erscheint in

vielen Fällen stattdessen die Fremdvergabe von Leistungen im Rahmen

von Werkverträgen als wirtschaftlich sinnvolle unternehmerische Maß-

nahme. Hiermit einher geht aber das Risiko, dass Gerichte einen Werk-

vertrag anhand in Rechtsprechung und Literatur in großer Vielzahl

benannter, rechtlich allerdings nur unzureichend angebundener Indi-

zien als verdeckte Arbeitnehmerüberlassung identifizieren mit der Fol-

ge, dass die eingesetzten Arbeitnehmer bei Fehlen einer Überlassungs-

erlaubnis die Begründung eines Stammarbeitsverhältnisses zum Ein-

satzunternehmen geltend machen. Die Praxis begegnet diesem Risiko,

indem der Einsatz auf Werkvertragsbasis vorsorglich durch eine Über-

lassungserlaubnis unterlegt wird. Zuletzt wurde die Tauglichkeit dieser

Absicherung aber in Zweifel gezogen. Nachfolgend wird aufgezeigt,

dass diese Zweifel vollständig unbegründet sind und in einem weit

verbreiteten Missverständnis des AÜG wurzeln. Zugleich soll ein Beitrag

dazu geleistet werden, dass der Gesetzgeber das betreffende Missver-

ständnis nicht fortschreibt und auf dieses keine Gesetzesänderungen

gründet.

I. Einführung und Meinungsstand

Die h.A. geht davon aus, dass eine Überlassungserlaubnis im Falle der

(gleichviel ob bewusst kollusiv oder versehentlich) unter dem Deck-

mantel eines Werkvertrags praktizierten Arbeitnehmerüberlassung ge-

eignet ist, die Begründung eines Arbeitsverhältnisses zwischen Arbeit-

nehmer und Einsatzunternehmen nach § 10 Abs. 1 AÜG zu hindern.1

Entsprechende sog. Vorratserlaubnisse2 sind in der Praxis als Mittel

zur Vermeidung unerwünschter Rechtsfolgen fest etabliert.3 Im Ein-

klang hiermit hat das ArbG Stuttgart im Jahr 2014 die auf eine ver-

schleierte Arbeitnehmerüberlassung gestützte Klage eines Arbeitneh-

mers auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher unter

Hinweis auf das Vorliegen einer Erlaubnis abgewiesen.4 Das derzeit

herrschende Verständnis wird mutmaßlich auch vom Gesetzgeber ge-

47 Vgl. Künzel/Schmidt, NZA 2013, 300, 302; vgl. oben II. 2.48 Vgl. Boemke, in: Boemke/Lembke, AÜG, 3. Aufl. 2013, § 14 AÜG, Rn. 65.49 Vgl. oben II. 3.

1 Lembke, in: Boemke/Lembke, AÜG, 3. Aufl. 2013, § 10, Rn. 22; Brors/Schüren, NZA 2014,569, 572; Hamann, jurisPR-ArbR 14/2015 Anm. 1; ders., jurisPR-ArbR 9/2015 Anm. 1;ders., jurisPR-ArbR 2/2015 Anm. 3; ders., jurisPR-ArbR 22/2014 Anm. 1; Rein, BB 2015,320; Seier, DB 2015, 494. – Als breiter Überzeugung entsprechend anerkannt von Brose,DB 2014, 1729, 1741.

2 Zum Begriff vgl. nur Seier, DB 2015, 494.3 Rein, BB 2015, 320.4 ArbG Stuttgart, 8.4.2014 – 16 BV 121/13, BB 2014, 1980, 1982 ff. m. BB-Komm. Scharff,

jurisPR-ArbR 22/2014 Anm. 1.

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