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STEFAN APPELIUS

DIE SPIONINOlga Raue – CIA-Agentin im Kalten Krieg

ROWOHLT

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Die geschilderten Szenen und Dialoge basierenauf Protokollen und Aufzeichnungen, die der Autor

im Laufe seiner Recherchen ausgewertet hat.

1. Auflage Januar 2019Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei HamburgRedaktion Karin Schneider

Satz aus der DTL Albertina, InDesign,bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Druck und Bindung CPI books GmbH, Leck, GermanyISBN 978 3 498 00100 1

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Inhalt

InhaltVorbemerkungEinleitung Ein seltener GlücksfallErstes Kapitel Von Akten und Menschen

Auge in AugeGemeinsame SacheEin Wochenende bei den AmerikanernEine neue ZeitEin Bund fürs LebenEin neuer Freund

Zweites Kapitel GrenzerfahrungenVon Diensten umkreistZwischenweltenVom Winde verwehtEin guter Rat

Drittes Kapitel Alles AuslegungssacheAbgestempeltIn einem BootZukunftsmusikEin kleines BlümeleinPlanspieleFalsche Fährten

Viertes Kapitel Auf die Probe gestelltSpionenehreEine folgenreiche EntscheidungBeziehungen muss man habenDie Freundin von der VolkspolizeiEine große ChanceEin Geständnis

Fünftes Kapitel Ein kleines RädchenOffenkundig?Gewissensbisse

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Ein vielversprechender GenosseWichtige NachrichtenDie Ganoven in der Newa-Bar

Sechstes Kapitel Eine schwierige FrageKollateralschädenEin Auge fürs DetailDer schöne Ire

Siebtes Kapitel DetektivarbeitDas Rätsel um «Hedwig»Auf den LeimDie Sinnfrage

Achtes Kapitel Die WasserstoffbombenfabrikWie ein Gesetz für Heinz Raue umschifft wurdeNeue PläneAusflug nach BorodinoFeierlaune

Neuntes Kapitel Neue Erkenntnisse«Reni»Die verräterische FreundinDas Unheil nimmt seinen Lauf

Zehntes Kapitel Alles unter KontrolleEin Sarg vor der KirchentürErste ZweifelSpione belauern Spione«Keine Erkenntnisse einer Bedrohung»Ein sorgloser SommerEin GeständnisPerfekte BesetzungLeicht gesagt

Elftes Kapitel Die Welt der DiensteDie Freiheit, zu fragenSportlicher EhrgeizZukunftspläneEine SchnapsideeKatz und Maus

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BildteilZwölftes Kapitel Gute Amerikaner und schlechteAmerikaner

Heinz Raues verlorener SohnHoneckers SchwagerRiskantes SpielEin amerikanischer TraumEnglisch ohne MüheEin Besuch im Clausewitz

Dreizehntes Kapitel Ein Denkmal auf der ClayalleeEin gut gemeinter RatschlagDas Spiel ist ausSchwierige EntscheidungenTraue niemandTätige ReueDer Prozess

Vierzehntes Kapitel Amerikanisches FieberWas heißt schon Schuld?Endlich freiErster Kontakt mit dem WestenEin rätselhafter SelbstmordGeschenke erhalten die FreundschaftNeue FreundeZukunftsfragen

Fünfzehntes Kapitel Ein operatives SpielEin Geheimnis wird gelüftetDer Amerikaner kümmert sich nichtGrüße von HänschenSubbotnik in HessenwinkelBesuch vom VerfassungsschutzUm nichts in der Welt

Sechzehntes Kapitel Das geheime NetzwerkEine Illusion wenigerHeinz spielt nicht mehr mitEin Traum zerplatzt

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Epilog Ein Haufen GeldZeitstrahl – Was passiert wann?Kommentiertes Personenregister (Auswahl)Bildnachweis

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EinleitungEin seltener Glücksfall

Ehemalige politische Gefangene aus der DDR sprechennoch heute über die Taten eines tollkühnen Spionageringsder CIA. Ich weiß noch genau, wie ich von dieser Geschich-te erfuhr. Es war an einem Spätsommertag im Jahr 2010,als sie mir ein alter Mann auf einer gemeinsamen Autofahrtnach Bautzen zum «Tag der offenen Tür» in einem frühe-ren Stasi-Gefängnis erzählte. Das Städtchen Bautzen be-findet sich im Dreiländereck nahe den Grenzen zu Polenund der Tschechischen Republik. Hierher, in die berüch-tigte Sonderhaftanstalt Bautzen II, verbrachte der Staats-sicherheitsdienst der DDR als besonders gefährlich einge-stufte Staatsfeinde. Der alte Mann, der neben mir saß, hat-te selber viele Jahre in diesem Gefängnis zugebracht. ImHerbst 1960 waren Heinz Raue, seine Frau Olga Raue undsein Bruder Gerd Raue in einem Geheimprozess zu hohenZuchthausstrafen verurteilt worden. Während Gerd und Ol-ga Raue in der Haftanstalt Hohenschönhausen verblieben,kam Heinz Raue, als Kopf der Gruppe, nach Bautzen II.Mein Gesprächspartner erinnerte sich genau an ihn. DerMann, den er im Sommer 1966 kennenlernte, hatte so garnichts von einem Helden. «Er war eine Zeit lang Kalfaktorund verteilte das Essen. Wenn er in meine Zelle kam, sag-te ich Guten Tag. Er schaute immer erst zum Aufseher, umrauszufinden, ob er den Gruß erwidern durfte. Das werdeich nie vergessen.»

Xing-Hu Kuo arbeitete vor seiner Verhaftung als Über-setzer für die chinesische Botschaft in Ostberlin. Die Staats-sicherheit hatte ihn im Januar 1965 verhaftet, weil er an-geblich DDR-Flüchtlinge im Kofferraum seines schwarzenMercedes 180 in den Westen geschmuggelt hatte. In derUntersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen lernte er da-

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mals einen Gefangenenzahnarzt kennen, von dem sich dieHäftlinge hinter vorgehaltener Hand haarsträubende Husa-renstücke erzählten. Doktor Gerd Raue, so munkelte man,habe Walter Ulbricht persönlich im Auftrag der Amerikanerein Abhörgerät als Plombe in den Mund eingepflanzt. Überseine Schwägerin Olga Raue hieß es, sie habe in Moskaumit Offizieren der Roten Armee geschlafen, um militärischeGeheimnisse auszuspionieren. Sie sei der eigentliche Kopfder Gruppe gewesen. Olga war damals als Leiterin der Of-fiziersküche in der Haftanstalt eingesetzt.

Auch Katharina Leendertse hat Gerd Raue in dieser Zeitkennengelernt. Sie wurde 1964 nach einem gescheitertenFluchtversuch in die Haftanstalt Hohenschönhausen einge-liefert. Frau Leendertse erinnert sich genau an den Mo-ment, in dem sie nicht lange danach von einem Aufseherbegleitet zur Zahnbehandlung geführt wurde:

«Im hinteren Teil des Raumes befand sich der Behand-lungsstuhl, der schräg von links nach rechts ausgerichtetwar. Ich merkte sofort, hier stimmte etwas nicht. Der Zahn-arzt, sein Gesicht lag zunächst im Schatten, kam mir nichtentgegen, sondern stand wie angewurzelt seitlich hinterdem Stuhl. Sein Aussehen passte nicht zu dem üblichenAuftreten seiner Zunft. Die Hosen hatten keine Bügelfalte,er trug kein sauberes weißes gebügeltes Oberhemd, keineKrawatte; der Arztkittel war mehr grau als weiß und hingschlaff an ihm herunter, auch die Schuhe waren seltsam.Die Frau hingegen, die vor dem niedrigen Schrank stand,der sich an der rechten Wandseite befand, war in eine ta-dellose Uniform gekleidet.»

Während Doktor Raue die Zähne von Frau Leendertseinspizierte, verwickelte ihn die Wachhabende in ein Ge-spräch über die alljährliche Großdemonstration am 1. Mai,die auch über die Karl-Marx-Allee führte. Der Arzt antwor-tete ihr sehr einsilbig mit «ja» und «so». Katharina Leen-dertse wusste zunächst nicht, ob dieser Mann frei war oder

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selbst ein Gefangener. Doch während die Wachhabende fürihn eine Salbe im Medizinschrank suchte, berührte er sei-ne Patientin am linken Unterarm und flüsterte ihr rasch insOhr: «Du musst durchhalten! Halte durch!» Diese wenigenWorte haben viel bei ihr bewirkt, erinnert sie sich noch heu-te. Zum ersten Mal seit ihrer Verhaftung war sie wieder ei-nem Menschen begegnet.

«Ich war einfach überwältigt. Nicht nur von meinen Ge-fühlen, auch von diesem Menschen und dem, was die Be-gegnung für mich bedeutete. Jetzt wusste ich, ich bin nichtallein. Ich fühlte mich nicht mehr so verloren. Damals ver-körperte der Zahnarzt von Hohenschönhausen für mich‹Menschsein› – das heißt Liebe, Zugewandtsein, tiefes Ver-ständnis, Trost, Ermutigung. Seine Körpersprache verrietFurchtlosigkeit, Souveränität, aber auch Demut. Wir habenkein Gespräch geführt, und doch war es ein Dialog. Viel-leicht war unsere Begegnung im Sinne von Martin Buberein echtes Gespräch, als wir den jeweils anderen als Duwahrgenommen haben. Liebe ist Verantwortung eines Ichfür ein Du – Doktor Raue hat das gelebt.»

Ich bekomme noch immer eine Gänsehaut, wenn ichmich an diese Schilderungen erinnere. Damals beschlossich, dass ich die wahre Geschichte dieses Spionagerings er-fahren wollte. Vor allem aber interessierte mich, was ausdiesem Zahnarzt, dem ängstlichen Heinz und der myste-riösen Olga geworden war. Es gab keine wissenschaftli-chen Veröffentlichungen über ihren Prozess. Wie aber fin-det man einen Heinz Raue, von dem man kaum etwas weiß?Ich hatte Glück. Denn Xing-Hu Kuo begegnete den beidenBrüdern nach seinem Freikauf in die Bundesrepublik in densiebziger Jahren in Westberlin wieder. Damals fand HeinzRaue mit seiner Hilfe Arbeit im Axel-Springer-Haus. Nichtals Journalist, sondern als Mitarbeiter eines von Axel Sprin-ger Ende der sechziger Jahre gegründeten Firmengeheim-dienstes, der gegen den Osten arbeitete und seinerseits in

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enger Verbindung mit der Westberliner CIA-Führung stand.Man berichtete ausführlich über Fluchten, war mitunter so-gar an deren Durchführung beteiligt und sammelte alle ArtInformationen, die es über die DDR herauszufinden gab.Herr Kuo hat damals eine Weile mit Heinz Raue im selbenBüro in der 16. Etage des Springer-Hauses gearbeitet. IhrChef war der Historiker Herbert Marzian. Vor allem an einDetail erinnerte sich Kuo noch sehr genau. Immer wennRaue zur Toilette musste, stellte er sich in die Ecke des Bü-ros, nahm Haltung an und fragte: «Herr Marzian, darf ichbitte austreten gehen?»

Ich erfuhr, dass Heinz Raue noch bis weit in die neunzi-ger Jahre in Berlin lebte. Doch danach hatten seine frühe-ren Kollegen und Mitgefangenen den Kontakt zu ihm verlo-ren. Es verging eine ganze Weile, bis ich schließlich übereine früher bei Springer beschäftigte Sekretärin heraus-fand, dass Heinz Raue ein paar Monate zuvor in Freiburgim Breisgau verstorben war. Sie hatte ihn immer an seinemGeburtstag angerufen. Der Kontakt war erst im Vorjahr ab-gebrochen. Da hatten andere Leute ihren Anruf entgegen-genommen und die Auskunft erteilt, er sei im Krankenhaus.«Dass er CIA-Agent war, wusste ich nicht. Hätte ich ihm niezugetraut.»

Inzwischen wusste ich auch, dass sein Bruder, der Zahn-arzt, zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze Weile nichtmehr am Leben war. Es gab verschiedene Mutmaßungenüber seinen Tod, die wahlweise darauf hinausliefen, er seivergiftet worden oder er habe sich das Leben genommen.Doch wann und wo das geschehen sein sollte, darüber gabes nicht den kleinsten Hinweis.

Nun sind zeitgeschichtliche Personenrecherchen imZeitalter des allumfassenden Datenschutzes eine zuneh-mend schwierige Herausforderung. Von der Angst beseelt,es könne ein wie auch immer geartetes Geschäftsinteressehinter dem Forscher stehen, wird ein Rechercheweg nach

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dem anderen mit deutscher Gründlichkeit verbaut. SelbstZeitzeugen reagieren am Telefon oft misstrauisch, denn eskönnte ja ein Gauner sein, der ihnen ihr Erspartes aus derTasche ziehen will. Für Wissenschaftler, die sich für ihreAkteure interessieren und nicht mit Bibliothekswissen zu-friedengeben wollen, wird es immer schwerer, diese zu fin-den. Bis man eines nicht mehr allzu fernen Tages gar nichtsmehr über historische Ereignisse und ihre Protagonistenwird herausfinden können.

Meine Recherche schien in eine Sackgasse zu verlaufen,zumal ich bald darauf in Erfahrung brachte, dass die sterb-lichen Überreste von Heinz Raue bereits wenige Monatenach seinem Tod an einen unbekannten Ort überführt wor-den waren. Und in der deutschen Dienststelle in Berlin, inder Informationen über frühere Soldaten der Wehrmachtverwahrt werden, hieß es, die Herausgabe der Akten vonHeinz Raue sei aus Gründen des Datenschutzes frühestens2023 möglich. Ich habe zwar einen langen Atem in meinenRecherchen, aber zehn Jahre zu warten, das schien selbstmir zu lange. War ich zu spät gekommen?

Ich schöpfte erst wieder Hoffnung, nachdem es mir ge-lungen war, das Geburtsdatum von Heinz Raue in Erfah-rung zu bringen. Ich hatte das Unternehmensarchiv desAxel Springer Verlags mehrfach besucht und mich einigeMale mit dem in unmittelbarer Nähe des Springer-Hauseslebenden Xing-Hu Kuo getroffen. Mit diesem Geburtsdatumkonnte ich nach Akten beim Bundesbeauftragten für dieUnterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes derDDR forschen. Ich stellte einen Forschungsantrag.

Schon sehr bald wurde allerdings klar, dass die dort ge-wonnenen Erkenntnisse nicht sehr weit führen würden. Icherfuhr nämlich von einer Vereinbarung der Bundesregie-rung mit der Regierung der USA, dass selbst die Deckna-men früherer in Deutschland tätiger CIA-Offiziere bis heute

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nicht genannt werden dürfen. Und zwar auch dann nicht,wenn diese Decknamen etwa in Veröffentlichungen der Sta-si schon Jahrzehnte zuvor in riesiger Auflage und in al-len möglichen Sprachen publiziert worden waren. Aus die-sem Grunde werden selbst offenkundige frühere Deckna-men längst verstorbener CIA-Leute bis heute geheim gehal-ten. Darüber wacht das Bundesinnenministerium. Gleich-zeitig lernte ich, dass die DDR-Geheimdienstakten in derStasi-Unterlagen-Behörde keineswegs vollständig sind. Ichwusste bis dahin nur, dass die Stasi selbst kurz vor demUntergang der DDR noch viele Akten und Dossiers zerstörthatte. Nun erfuhr ich, dass die westlichen Geheimdienstediese Akten zunächst nach für sie relevanten Fragestellun-gen gefilzt hatten. Das heißt, es waren Akten und Einträ-ge zu Personen, die für diese Dienste von Interesse waren,in unbekannter Größenordnung entfernt und gelöscht wor-den, sodass Recherchen nach ihnen ins Leere laufen, ohnedass der Antragsteller erfährt, warum. Erst kurz vor derVeröffentlichung dieses Buches fand ich die Identität eineshochkarätigen MfS-Agenten heraus, der die CIA Ende derfünfziger Jahre gründlich genarrt hatte. Die Akte war na-türlich weg, obwohl sie im MfS längst im Archiv verstaubtwar.

In der Stasi-Unterlagen-Behörde «nicht erfasst» heißtalso nicht automatisch, dass es zu einer Person bei der Stasinichts gab. Es heißt nur, dass man beim Bundesbeauftrag-ten über diese Person nichts finden wird. Außerdem wur-den die Akten der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) unddes Militärgeheimdienstes der NVA ebenfalls vernichtet –mit der von Rainer Eppelmann vorgetragenen Begründung,man habe die Geheimdienstler im Ministerium für Nationa-le Aufklärung vor strafrechtlicher Verfolgung beschützenwollen. Höchstwahrscheinlich wurde mindestens ein Teildieser Akten zuvor in westliche Geheimdienst-Aktendepotsüberführt.

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Von diesem Zeitpunkt an war mir klar, dass ich Augen-zeugen der Geschichte brauchte. Menschen, die sich an diedamaligen Ereignisse erinnerten und bereit waren, darüberzu sprechen. Heinz und Gerd waren tot. Es blieb mir al-so nur Olga Raue. Sie schien aber wie vom Erdboden ver-schluckt zu sein. In meinem Kopf drehte sich alles um dieFrage, was aus ihr geworden war. Und, falls sie noch lebte,ob sie mit mir sprechen würde.

Inzwischen begann ich die ersten Stasi-Akten zu le-sen. Es handelte sich um über dreißig Bände mit Verneh-mungsprotokollen und einem eigens von der Staatssicher-heit hergestellten Album mit Fotografien von präparier-ten Taschen, Funkgeräten, toten Briefkästen und Geheim-schrifttabletten. Vermutlich wurde dieses Album angelegt,um dem Richter und den Schöffen beim BezirksgerichtFrankfurt an der Oder die Gefährlichkeit der Angeklagtenzu verdeutlichen. Neben diesem penibel beschrifteten Foto-album hat allerdings keines der damals im Gerichtsgebäu-de präsentierten Beweisstücke die Jahrzehnte in einer As-servatenkammer des MfS überdauert. Eine Recherche nachder Handtasche und den eleganten hochhackigen schwar-zen Lackschuhen mit den Geheimverstecken, die die Er-mittler bei Olga Raue fanden, verlief im Sande.

Nun ist es allerdings so, dass kein Geheimdienst derWelt sämtliche Spuren bestimmter Ereignisse oder Per-sonen restlos auslöschen kann. Man findet immer etwas,wenn man nur hartnäckig genug danach sucht. Und mitMenschen zusammenarbeitet, die einen darin unterstützen.Für dieses Buch kam aber noch ein ganz anderer Glücksfallhinzu. Meine Bekanntschaft mit der Hauptakteurin.

Olga Raue entspricht in vielerlei Hinsicht so gar nichtdem Frauenbild, das heute mit den fünfziger Jahren ver-bunden wird. Sie war eine autarke Frau, die sich auf Tech-nik verstand, Medizin studierte und sogar ein eigenes Mo-torrad fuhr. Auf den Fotos sah ich eine gertenschlanke, at-

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traktive junge Frau mit langen dunklen Haaren und dunk-len Augen. Inzwischen steckte schon eine Menge Arbeit inmeinen Recherchen. Und es wurde immer deutlicher, dassdie Fortsetzung dieser Recherchen davon abhing, ob ich siefinden und ob sie mit mir sprechen würde. Keiner der frühe-ren Mitgefangenen aus Hohenschönhausen, mit denen ichsprach, wusste, was aus ihr geworden war. Gerüchteweisehieß es, sie sei nach Westdeutschland gegangen. Schließ-lich erhielt ich von einem alten Herrn, der sie in den sech-ziger Jahren kennengelernt hatte, ein paar Hinweise. Ichhatte eine Spur. Und es gelang mir im Herbst 2014, eineTelefonnummer von Olga Raue ausfindig zu machen. Aberes vergingen noch fast zwei Wochen, bis ich mich endlichdazu durchringen konnte, die Nummer zu wählen. Wiederund wieder hatte ich mir überlegt, wie das Gespräch wohlverlaufen würde. Manchmal schon hatte ich erlebt, dass esden betreffenden Anschluss nicht mehr gab, wenn ich ei-nen endlich aufgefundenen Zeitzeugen anrufen wollte. Abund zu wurde das Telefonat auch nach wenigen Worten ab-rupt beendet. Meistens, wenn ich versuchte, mit einem frü-heren Stasi-Offizier zu sprechen. Aber auch bei einer an-deren Akteurin in dieser Geschichte verlief die Kontaktauf-nahme mit einer unwiderruflichen Absage. Traudel, einefrühere Freundin von Gerd Raue, die ebenfalls zu einer ho-hen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, ließ mir überihren Mann erklären, sie habe mit dem Thema abgeschlos-sen und wolle nicht mit mir sprechen. Als ich anderthalbJahre später noch einmal bei ihr anrief, existierte der An-schluss nicht mehr.

Ich wusste also, dass alles von diesem ersten Gesprächmit Olga Raue abhängen würde.

Anfang Dezember 2014 fasse ich mir schließlich ein Herz.Nachdem das Telefon schon mehrfach geklingelt hat, binich kurz davor, aufzulegen, als der Hörer auf der anderen

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Seite abgehoben wird. Es meldet sich eine Frauenstimme.Kräftig, freundlich, neugierig. Ich stelle mich vor und nennemein Anliegen. Füge ein paar Sätze mit meinen bisherigenRechercheergebnissen hinzu. Sage, warum ihre Geschich-te mich interessiert. Sie reagiert überrascht. Aber nicht inder Weise überrascht, die ich befürchtet hatte. Nein, sie istüberrascht, dass sich überhaupt jemand dafür interessiert.In ihrer Familie habe nie irgendjemand etwas über diesenTeil ihres Lebens wissen wollen, sagt sie. Nicht die Angehö-rigen ihrer Geschwister und auch nicht die vielen Verwand-ten des Mannes, mit dem sie fast vierzig Jahre verheiratetwar. Es klingt so, als freue sie sich, nach so vielen Jahrenendlich einmal nach all dem gefragt zu werden.

Ich berichte ihr, dass Heinz Raue im Vorjahr verstorbenist. Sie weiß es noch nicht, reagiert gefasst. Sie konnte essich denken. Er müsste ja mittlerweile schon neunzig Jahrealt sein, sagt sie. Und dass Heinz Raue ihre gemeinsameGeschichte immer hatte aufschreiben wollen. Mir fällt auf,dass sie ihn nie ihren Mann oder Exmann nennt, sondernstets nur von «dem Raue» spricht. Sie erzählt, dass sie im-mer schon eher etwas für Praktiker übrighatte. «Der Rauewar mehr so ein Spinner», sagt sie und lacht. Als ob es ihrin der Rückschau ein wenig peinlich wäre, ihn gekannt zuhaben.

Dann berichtet sie mir, dass die Amerikaner «dem Raue»für seine Heldentaten einen Orden verliehen hätten. DieserOrden sei ihm bei einer Reise in die USA überreicht wor-den. «Wäre ich mit ihm gereist, hätte ich auch einen Ordenbekommen», fügt sie hinzu, als wäre es die selbstverständ-lichste Sache der Welt, von den Amerikanern mit einem Or-den dekoriert zu werden. Aber sie hätte kein Interesse dar-an gehabt. Und außerdem habe ihr Mann gemeint, sie müs-se mit dieser Geschichte endlich abschließen. An diese Ver-abredung hat sie sich all die Jahre gehalten. Seit damals hat

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sie vieles verdrängt und manches vergessen. Doch mittler-weile ist ihr letzter Lebenspartner selbst verstorben.

Ich habe so viele Fragen an Olga Raue. Weiß sie, wersie damals verraten hat? Doch eine Frage liegt mir ganz be-sonders auf der Zunge. Was wurde aus Gerd, dem Zahnarztvon Hohenschönhausen? «Er hat sich an einem Ostersams-tag vergiftet», sagt sie nur. Das war 1981. Ihr Mann führteeinen sehr genauen Kalender und hat alle alten Kalender inseinem Wandschrank aufbewahrt. Sie sind gemeinsam zurTrauerfeier nach Berlin gefahren. Gerd Raues weißer Sargstand während der Zeremonie vor der Dorfkirche in Kla-dow und nicht im Altarraum. War das nicht der Beweis füreinen Selbstmord? Weil man Selbstmörder von alters hernicht auf dem Kirchhof beerdigte? Viele haben es damalsso interpretiert, sagt sie. Ich nehme mir vor, dieser Frageauf den Grund zu gehen und in Erfahrung zu bringen, ob eseventuell einen Obduktionsbericht gibt.

Noch bin ich ganz am Anfang meiner Recherchen. Ichhabe erst einen Teil der Akten gelesen und die Spurensuchenach Überlebenden hat gerade erst begonnen. Im Momentliegt die Frage nach Gerds Schicksal wieder im Fokus mei-nes Interesses.

Das Telefonat mit Olga Raue lässt mir keine Ruhe. Und auchihr hat es keine Ruhe gelassen, wie ich erfahre, als ich sieschon am nächsten Tag wieder anrufe. Sie hat schlecht ge-schlafen. Meine Fragen haben viele Erinnerungen in ihr ge-weckt. Ich will ihr zeigen, dass ich es mit meinem Vorhabenernst meine und ihr im Zuge dieses Forschungsvorhabensvielleicht auch Dinge erzählen kann, die schöne Erinnerun-gen zurückbringen. Dass ich dabei sehr rasch zu dem Men-schen werde, der ihr Leben besser kennt als alle Nachbarnund die weitläufige Verwandtschaft, lässt ein vertrauens-volles Verhältnis zwischen uns entstehen, und ich bin mirder damit verbundenen Verantwortung bewusst. Von sich

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aus erwähnt Olga Raue, dass sie nach ihrer Haftentlassungaus Hohenschönhausen von der ostdeutschen Spionageab-wehr angeworben wurde. Ich kenne noch keine Akten dar-über und weiß noch nicht, dass die ganze Begnadigung vonOlga und Gerd Raue ebenso wie die Nichtentlassung vonHeinz Raue als Teil eines operativen Spiels zu verstehenwar, mit dem die Staatssicherheit ehemalige amerikanischeTopagenten gegen die CIA einsetzen wollte, um deren Netz-werke zu enthüllen.

Damals hatte ich noch großen Respekt vor der Stasi, diein zahlreichen westdeutschen Buch- und Zeitschriftenver-öffentlichungen als eine Art Megageheimdienst dargestelltwurde. Ein allwissender Krake, vor dem nichts und niemandsicher war. Ich wusste zwar, dass es auch westliche Geheim-dienste gab, aber über deren Aktivitäten zu Zeiten des Kal-ten Krieges ist kaum etwas bekannt. Zwar gibt es ein Infor-mationsfreiheitsgesetz und manchmal sogar eine Histori-kerkommission. Doch wer sich als Wissenschaftler auf die-ser Basis Erkenntnisse verspricht, tappt auch weiterhin imDunkeln, zumal wenn er davon ausgeht, dass die Dienstedes Westens nur mit dem Degen fochten und die schmutzi-gen Tricks allein der Osten anwandte. Heute weiß ich, dassauch den Buchveröffentlichungen westlicher Agenten wieWerner Stiller nur bedingt Glauben zu schenken ist, weilviele relevante Inhalte aus operativen Notwendigkeiten ge-ändert oder gestrichen werden mussten. Ganz davon abge-sehen, dass Stiller kein Agent war, sondern ein Stasi-Offi-zier, der aus bestimmten Gründen in den Westen überlief.Es ist immer eine Verlockung, solche Entscheidungen rück-wirkend mit edlen Motiven auszuschmücken. Ich lernte inGesprächen mit früheren Agenten westlicher Nachrichten-dienste, dass es einen Ehrenkodex gibt, über diese Diensteund ihre Aktivitäten in der Öffentlichkeit nichts verlautenzu lassen. Auch ich kann in diesem Buch nicht über jedesDetail alles enthüllen, was ich erlebt oder herausgefunden

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habe. Das Vertrauen eines früheren Topagenten zu gewin-nen und dessen Geschichte unzensiert erzählen zu dürfenist ein Privileg. Wenn diese Agentin wie in meinem Fall dar-über hinaus auch noch über ein sehr gutes Gedächtnis unddie ein oder anderen Dokumente verfügt, über die sie ei-gentlich nicht verfügen dürfte, haben wir es mit einem sehrseltenen Glücksfall zu tun.

Zu Beginn meiner Recherchen war mir der «amerikani-sche Geheimdienst» noch ebenso unbekannt wie den Sta-si-Offizieren, die die Raues monatelang von früh bis spätverhörten. Das Erste, was ich bei der Lektüre der Berichtefeststellte, war, dass sowohl die Vernehmer als auch die fürdas Abtippen der Vernehmungsprotokolle zuständigen Sta-si-Mitarbeiter offensichtlich keine Englischkenntnisse odernennenswerte Schulbildung besaßen. Wenn sich ein ame-rikanischer Geheimdienstoffizier damals den Decknamen«Siegfried Warfield» gegeben hatte, so landete dieser Sieg-fried wahlweise als Worfield, Worefield oder Worfild in denAkten. An Siegfried den Drachentöter dachte ganz sicherniemand dieser Verteidiger des selbsternannten Arbeiter-und Bauernstaates, weil sie noch nie zuvor von der Nibe-lungensage gehört hatten. Nun mag der Name «SiegfriedWarfield» etwas brachial gewählt sein, er zeigt aber dochauch, dass sein Träger ein Studium der Landeskunde undder Sprache seines Einsatzlandes durchlaufen hat. Und ge-nau in dieser Hinsicht unterschieden sich die amerikani-schen Geheimdienstler in den fünfziger Jahren ganz erheb-lich von ihren ostdeutschen Gegenspielern. Ob man bei derStaatssicherheit wohl ahnte, dass bei der CIA hoch qualifi-zierte Fachleute zum Einsatz kamen, die in allen erdenkli-chen Einzelheiten auf den Gegner im Osten eingestellt wa-ren? Dass die CIA-Leute jeweils nach zwei bis drei Jahrenwieder abgezogen und gegen frisch ausgebildeten Nach-wuchs ersetzt wurden? Jedenfalls wurde keine erkennbareEnergie darauf verwendet, die Identitäten der amerikani-

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schen Geheimdienstoffiziere und ihre Legendierung zu ent-tarnen. Man wusste zwar, dass man es mit dem amerika-nischen Hauptquartier in der Clayallee zu tun hatte, mehraber auch nicht.

Mittlerweile hatte ich herausgefunden, dass die sterblichenÜberreste von Heinz Raue aus dem Breisgau an die Nord-seeküste umgebettet worden waren. Dorthin war die Fraugezogen, die er kurz nach seiner Haftentlassung geheira-tet hatte. Heinz Raue stand gänzlich unter dem Regimentseiner Frau, erinnert sich der frühere Springer-JournalistWalter Scharfenecker. Nur manchmal, in unbeobachtetenAugenblicken, blitzte der alte Schwerenöter noch hervor,der gerne jedem Rock nachguckte.

Damals lebte Heinz Raue mit seiner Frau im vornehmenBerliner Westen. Der Kontakt zu seinem Bruder Gerd warsehr angespannt. Es gibt da diese eine Episode, an die sichXing-Hu Kuo noch so genau erinnert, als habe sie sich ges-tern ereignet. Am 14. Juli 1976 war Kuo mit Doktor Raue imSpringer-Haus zu einem Hintergrundgespräch über «dasPrivatleben der SED-Funktionäre» verabredet. Kuo trauteweder Heinz Raue noch Gerd Raue. Bis zuletzt war er da-von überzeugt, dass die beiden etwas mit der Staatssicher-heit zu tun gehabt haben mussten. Am Ende der Unterhal-tung riet ihm Doktor Raue ganz unvermittelt, gegenüberseinem Bruder etwas vorsichtig zu sein. Was dann folgte,war so brisant, dass Kuo sofort eine detaillierte Aktennotizanfertigte. «Ich wette tausend zu eins, dass meine Schwä-gerin Agentin der Staatssicherheit ist. Auch muss ich dieMöglichkeit erwähnen, dass mein Bruder während der Haftaufgrund seines labilen Charakters und seines Schuldkom-plexes – er hat die ganze Familie in Haft gebracht – eben-falls für den Osten arbeitet. Vielleicht tue ich ihm bitterstesUnrecht, aber ich muss es Ihnen sagen.»

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Kuo war erschüttert. Er war es nämlich gewesen, derHeinz Raue im Jahr zuvor die Anstellung im Springer-Hausverschafft hatte. Wenn etwas an den Anschuldigungen dranwar, dann würde das auch auf ihn zurückfallen. Er würdewomöglich seinen Arbeitsplatz verlieren. Es wäre eine Ka-tastrophe für ihn und seine Familie. Auf Kuos Nachfrage,ob es denn konkrete Anhaltspunkte für diese ungeheurenAnschuldigungen gebe, entgegnete Doktor Raue, ihm seidiese ganze Geschichte schon vor seiner Flucht in den Wes-ten bekannt geworden. Die Bekanntschaft dieser Frau mitseinem Bruder sei vom Staatssicherheitsdienst arrangiertworden.

Schließlich fanden sich die beiden Männer beim Chefre-dakteur des Axel-Springer-Inlandsdienstes ein. Auf die Fra-ge von Johannes Otto, ob Gerd Raue sich der Tragweite sei-ner Anschuldigungen bewusst sei, nickte er nur und sagte:«Schmeißen Sie ihn doch raus, er kann bei mir als Buchhal-ter auch sein Geld verdienen.»

Als mir Kuo diese Geschichte erzählt und zum Beweisseine Kopie der damals von ihm verfassten dreiseitigenHausmitteilung überreicht, scheint ihm der Schrecken er-neut ins Gesicht geschrieben. Natürlich will ich wissen, wiedie Geschichte weiterging. Das ist schnell erzählt: Jeder inder Redaktion habe damals gewusst, dass sich Johannes Ot-to einmal wöchentlich mit dem Westberliner CIA-Chef zumMittagessen traf. Die Amerikaner hätten gleich Entwar-nung gegeben. Heinz Raue durfte bleiben, und auch meinGesprächspartner behielt seinen Job. Der Doktor Raue müs-se völlig übergeschnappt gewesen sein, meint Kuo, als ermich in der einsetzenden Dämmerung durch den Garten inRichtung Straße verabschiedet.

Auf dem Heimweg denke ich darüber nach, was Heinz’Witwe mir wohl erzählen wird. Inzwischen habe ich näm-lich einen Brief von ihr erhalten, in dem sie sich zu einemGespräch bereit erklärt hat.

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Wir sind nicht bei ihr, sondern in einem Café verabredet.Auf neutralem Boden. Ich kann die Wohnzimmer landauf,landab schon gar nicht mehr zählen, die ich im Laufe derJahre bei meinen Recherchen besuchte. Es gab mal, schonvor vielen Jahren, eine alte Dame, die forderte mich hintereiner eingehängten Türkette stehend auf, ihr zuerst meinenPersonalausweis zu zeigen. Während der NS-Zeit war sieals Kommunistin verfolgt worden. Aber auch sie ließ michnach eingehender Musterung und Überprüfung des Doku-ments eintreten. Heinz Raues zweite Ehefrau lässt eine sol-che Annäherung nicht zu. Generell bedeutet ein Treffen aufneutralem Boden, dass der Gesprächspartner misstrauischist und bei aller Neugier nicht zu viel von sich preisgebenmöchte.

Es sei für sie nicht einfach, nach so langer Zeit die Ver-gangenheit wieder aufleben zu lassen. Ihren Mann habesie auch nach –– überführen lassen. Auf seinem Grabsteinsteht: Ruhe in Frieden. Und dabei soll es bleiben, lässt siemich wissen.

Ist das eine Absage? Aber warum will sie sich dann mitmir treffen? Ein Buch über seine Lebensgeschichte habeer nie schreiben können, denn sie hätten eine Verzichtser-klärung unterschrieben, erfahre ich zu Beginn der Unter-haltung. Heinz und sie haben eine Verzichtserklärung un-terschrieben? Was hat sie denn mit dieser Geschichte zutun? Wem hat Heinz das versprochen und was erhielt erim Gegenzug? Diese und andere Fragen gehen mir durchden Kopf, als wir uns schließlich um die Mittagszeit zu ei-nem «klärenden Gespräch» treffen. Ich kläre sie darüberauf, dass ich schon eine ganze Weile über die Raue-Gruppeforsche und als Wissenschaftler natürlich ein Buch darüberschreiben möchte. Sie umgeht den möglichen Konflikt undentschuldigt sich, dass wir uns nicht bei ihr zu Hause ge-troffen haben. Sie hätten beide unterschrieben, dass sie kei-

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ne Memoiren schreiben dürfen, wiederholt sie. Bei wem siedas unterschrieben, wisse sie nicht. Dann erzählt sie, dassHeinz in all den Jahren eine freundschaftliche, fast schonfamiliäre Verbindung zum amerikanischen Generalkonsu-lat in Westberlin hatte. Die Amerikaner seien immer zu ih-nen zum Essen gekommen. Sie konnten sich jederzeit ansie wenden. Einer erzählte, dass er in Indien eingesetzt warund an Tigerjagden mit dem Maharadscha teilgenommenhatte. Insgesamt dreimal sei Heinz Raue in die USA gereist.Er habe dort seinen Patensohn besucht, einen amerikani-schen Offizier, berichtet Frau Raue. Davon, dass die Ame-rikaner ihrem Mann eine hohe fünfstellige Summe für sei-ne Agentendienste zahlten, ist ihr hingegen nichts bekannt.Sie grübelt. Die Frage lässt sie nicht los. Dann kommt ihrder Verdacht, dass Gerd Raue den Betrag unterschlagenhaben könnte. Und ich frage mich, wer wohl dieser ameri-kanische Patensohn ist.

Gerd und Olga Raue haben im Westen Geld von derCIA erhalten, Heinz Raue aber nicht? Wie merkwürdig. Voneiner Verzichtserklärung hat mir bisher auch noch keinehemaliger amerikanischer Agent berichtet. Warum sollteHeinz Raue möglicherweise so ein Papier unterschriebenhaben müssen? Und zu den Amerikanern hatten die meis-ten früheren Spione nach ihrer Übersiedlung in den Westenauch keine Verbindung mehr.

Über die Familie ihres Mannes will sie sich nur mündlichäußern. Wen fürchtet sie denn? Olga Raue? Sie ist die Ein-zige von ihnen, die noch am Leben ist. Ich wage es nicht,diese Frage anzuschneiden. Aber ich kann mir denken, dasses vor allem eine Abrechnung mit dem verhassten Schwa-ger sein wird. An ihrer Deutungshoheit über den verstorbe-nen Heinz Raue lässt sie keinen Zweifel. Sie habe ihn bes-ser gekannt als alle seine Weggefährten von damals.

Weggefährten? Gerd war sein Bruder und Olga seineFrau. Sie hatte mit den hier geschilderten Ereignissen doch

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erst nach Heinz Raues Haftentlassung zu tun. Aber auchdiese Widersprüche lasse ich im Raum stehen. Die Atmo-sphäre zwischen uns hat sich entspannt. Wir trinken Kaffeezusammen, und sie drängt mir die Einladung zum Mittag-essen förmlich auf.

Eine frühere Arbeitskollegin, die damals mit Gerd Raueliiert war, habe sie und Heinz Raue miteinander bekanntgemacht. Es sei Liebe auf den zweiten Blick gewesen, er-fahre ich. Ende 1973 sind Heinz und sie legal aus der DDRin die Bundesrepublik ausgereist.

Olga Raue habe bei ihrer letzten Begegnung im Spät-sommer 1989 gesagt, Heinz habe ihr Leben verpfuscht. Die-sen Vorwurf habe sie nicht im Raum stehen lassen wollenund sich ein heftiges Wortgefecht mit der Exfrau ihres Man-nes geliefert. Außerdem sei diese Ehe für Heinz Raue nurein Zweckbündnis gewesen. Eine wahre Liebe habe ihn indieser Zeit nur mit Theresia verbunden. Von jener Theresia,die Redakteurin beim SED-Zentralorgan Neues Deutsch-land gewesen war, hatte ich kurz zuvor einen Brief erhal-ten, dass sie an einem Treffen mit mir nicht interessiert sei.Um zu dokumentieren, dass es die alte Theresia nicht mehrgibt, hat sie die wenigen handschriftlichen Zeilen an michmit dem Familiennamen ihres Ehemannes unterschrieben.Frau Raue erzählt mir, dass Heinz ihr Anfang der siebzigerJahre einmal durch Zufall in Ostberlin auf der Straße be-gegnete. Theresia habe so getan, als ob sie ihn nicht kenne.

Mir ist längst klar, dass die Rekonstruktion der histori-schen Ereignisse bei den Beteiligten noch immer viele alteWunden aufreißt. Olga Raue wird sich zwar an das Zusam-mentreffen mit Heinz und seiner Frau erinnern, einen Dis-put habe es aber nicht gegeben. Es sei vielmehr ihr Manngewesen, der dazu geraten habe, die alte Bekanntschaftnun endlich zu beenden. Woraufhin sie die vielen Briefe, dieHeinz Raue ihr bis dahin geschrieben hatte, alle weggewor-

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fen habe. Die Verbindung zwischen ihnen sei bald darauf,kurz nach der Wiedervereinigung, endgültig abgebrochen.

Dass Heinz Raue am Ende seines Lebens große Angst vorseiner Exfrau hatte und fürchtete, von ihr vernichtet zuwerden, wie seine Witwe mir bei unserem Mittagessen er-zählt, kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Gleichzeitigberichtet sie nämlich auch, dass sie mit Heinz wenige Jahrevor dessen Tod noch einmal die wichtigen Orte seines Le-bens besuchte und mit ihm auf dieser Reise auch in Grep-pin war. Wenn es einen Grund gab, nach Greppin zu fahren,kann es nur Olga Raue gewesen sein, die dort aufgewach-sen war. Nun aber wird es richtig interessant. Wir kommennämlich auf ihren Schwager zu sprechen, den Gefangenen-zahnarzt von Hohenschönhausen. Frau Raue sagt mir, dassGerhard sie habe umbringen wollen und dass diese Mord-versuche seinerzeit bei der Polizei aktenkundig gewordenseien. Daraufhin habe sie den Kontakt zu ihm ganz abgebro-chen. Darüber, wann genau sich diese Vorkommnisse zu-getragen haben sollen, sagt sie nichts. Ich weiß aber, dasses einige wenige Familienbilder von Doktor Raue gibt, dieaus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre stammen. Aufzwei Fotografien, die in einem Einfamilienhaus unweit desWannsees entstanden, ist das Ehepaar Raue bei Gerd Raueund dessen damaliger Lebensgefährtin Rhea zu Besuch, ei-ner gläubigen Christin, die einen guten Einfluss auf denSchwager gehabt habe. Wann sollen sich diese Mordversu-che denn zugetragen haben? Gerd Raue ist wenig spätergestorben. Die Puzzlestücke ihrer Erinnerung passen offen-bar nicht zusammen.

Inzwischen weiß ich, dass sich das Urnengrab von GerdRaue und seiner Mutter auf dem Bergfriedhof in Steglitzbefindet. Es ist schon seit 2001 abgelaufen und soll in Kür-ze eingeebnet werden. Niemand kann mir eine Auskunft er-teilen, ob es überhaupt noch besteht. Als Nutzungsberech-

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tigter ist Heinz Raue eingetragen, den die Friedhofsver-waltung irgendwann nicht mehr erreichen konnte. Ich ha-be inzwischen aus Gerichtsakten erfahren, dass auch Lot-te Raue, die Mutter von Heinz und Gerd, wegen Spionageangeklagt wurde und einen Teil ihrer Strafe ebenfalls inder berüchtigten Sonderhaftanstalt Bautzen II verbringenmusste. Mit ihr kam als weitere Komplizin Gerd Raues da-malige Ehefrau Christa hinter Gitter. Wie es scheint, wardie ganze Familie für den amerikanischen Geheimdienst tä-tig. Das also meinte Doktor Raue, als er gegenüber Kuo denSchuldkomplex seines Bruders erwähnte, geht es mir durchden Kopf.

Lotte Raue durfte Anfang der siebziger Jahre legal nachWestdeutschland ausreisen. Sie wohnte zuerst eine Weilebei ihrem Lieblingssohn Gerd, der damals eine schwierigeZeit durchlebte. Schließlich machte ihre Krebserkrankungeinen Umzug zu Heinz und der Schwiegertochter erforder-lich. Sie starb im August 1975 in Steglitz.

Manches, was Frau Raue mir erzählt, entspricht nach-weislich der Wahrheit. Ihre eigene Rolle bei dem Bruch zwi-schen den beiden Brüdern blendet sie völlig aus. Sie be-richtet mir, dass ein Haftkamerad namens Wolfgang ihrenMann dazu gedrängt habe, die Ehe mit ihr zu beenden. Dasmuss Wolfgang Veith sein, denke ich.

Ich ahne, dass es früher oder später Ärger mit dieserFrau geben wird. Aber ich habe noch so viele Fragen. Icherkundige mich nach dem amerikanischen Orden, von demmir Olga Raue berichtete, vorsichtshalber ohne das Ge-spräch mit ihr zu erwähnen. Und erhalte sofort die Bestä-tigung. Heinz Raue habe sogar zwei solche Auszeichnun-gen erhalten, sagt sie. Ich will natürlich unbedingt mehrdarüber erfahren. Doch das wird nicht einfach, erkenne ichschon gleich. Der letzte Wille ihres Mannes sei gewesen,diese Orden mit in sein Grab zu nehmen. Weitere Unterla-gen gebe es nicht. Sie habe zwar noch ein Papier gehabt,

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das aber schickte sie schon vor einigen Jahren an die ame-rikanische Botschaft nach Berlin. Sie habe damals dringendHilfe gebraucht, doch die Amerikaner hätten nicht geant-wortet.

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Erstes KapitelVon Akten und Menschen

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Auge in AugeKann man einen anderen Menschen durch Stasi-Akten ken-nenlernen? Man kann vielleicht einen ersten Eindruck ge-winnen, findet ein paar Rahmendaten über den zeitlichenHintergrund heraus. Hundertprozentig verlassen kann mansich auf die Daten in diesen Dokumenten allerdings nicht.Vieles stimmt einfach nicht, zudem war die Aktenführunghäufig nachlässig.

Und wie könnte man Menschen kennenlernen, die heim-lich beobachtet wurden oder die nach ihrer Festnahme auspolitischen Gründen vom Arbeiter- und Bauernstaat als Ver-brecher drangsaliert und schikaniert wurden? Menschen,die verzweifelt waren und Angst hatten. Die sich an jedenStrohhalm klammerten, den man ihnen bot. Das ist es abernicht allein. Was in diesen Akten steht, ist stets aus demBlickwinkel und mit dem Vokabular der «staatlichen Orga-ne» geschrieben. Kennenlernen würde man nicht einmal ei-nen ihrer Hauptamtlichen, wenn man dessen Kader-Aktevor sich hätte.

Ich sitze im Auto und bin auf dem Weg nach Nord-deutschland. Während der mehrstündigen Fahrt, an derenZiel ich Olga Raue persönlich kennenlernen werde, frageich mich, wie es kommt, dass sie mir schon so vertrautist. Ich habe eine Erwartung, eine Vorstellung, was für einMensch sie sein muss. Es wird an den zahlreichen Telefo-naten liegen, die wir in der Zwischenzeit geführt haben. Esergibt sich aber auch aus dem, was ich über Heinz und GerdRaue in Erfahrung gebracht habe. Einer der beiden Brüdersoll die Hauptperson in meinem Buch werden. Wahrschein-lich der charismatische Gerd. Olga Raue jedenfalls nicht.Sie ist ein bescheidener Mensch und steht nicht gerne inder ersten Reihe. Und anscheinend hat sie fast alles verges-sen, was damals geschah.

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Tatsächlich gibt es keinerlei Fremdheit, als sie schließ-lich in ihrer Wohnungstür vor mir steht. Wir begrüßen unswie alte Bekannte. Vor mir steht eine geschmackvoll geklei-dete und gepflegte ältere Dame. Ein bisschen hört man ih-re Herkunft aus Sachsen-Anhalt heraus, obwohl sie schonvor gut sechzig Jahren von dort wegging. Ich sehe wederden Gehstock noch den Rollator, den sie am Telefon immerleicht spöttisch ihren Wagen nennt.

Sie hat Kaffee und Kekse vorbereitet. «Da, auf dem So-fa», zeigt sie mir einen Platz auf der Wohnzimmercouch,gleich beim Fenster. Soll ich mich dort hinsetzen, frage ichmich. Nein. Schon folgt die Erklärung: «Dort saß der Raue,als er mich mit seiner Frau das letzte Mal besuchte. MeineGüte, das ist jetzt auch schon fast dreißig Jahre her. MeineSchwester und mein Mann waren auch dabei. Heute ist janiemand mehr da, der diese alten Geschichten noch kennt.»

Ich liebe es, direkt in eine Geschichte einzutauchen.«Schauen Sie mal. Die habe ich vorhin im Arbeitszimmer

noch gefunden.» Sie hält mir einige alte Postkarten entge-gen. «Die sind vom Raue.» Ich nehme das Päckchen andäch-tig in die Hand und frage, ob ich sie lesen darf. Sie nickt.

Er muss viel auf Reisen gewesen sein, als er im Westenlebte. Die Karten sind aus Österreich, Italien, Norwegen,aus der Schweiz und auch aus den USA. Am 22. April 1981schreibt er ihr aus San Francisco. Das war nur ein paar Ta-ge nach Gerd Raues Tod. Aber seine Frau hatte ihn nichtdarüber informiert, sie wollte ihm seine schöne Reise nichtverderben, hat sie mir erklärt. Oder ahnte sie, dass er selbstdort mit seinen Gedanken noch immer in der Vergangenheitund bei seiner Exfrau war, die er jetzt die «liebe Olga Freun-din» nennt? «Im schönen Kalifornien, in dem wir einst un-sere Zelte aufschlagen wollten, lasse ich wenigstens meineAugen übergehen – und kann nichts finden, was mir nichtgefällt!», schreibt er.

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Ein leichter Schauer überfällt mich, während ich diesemelancholischen Zeilen lese. Im Grunde steht ihre ganzeGeschichte darin, vor allem aber seine Traurigkeit. Und sei-ne Sehnsucht. Sie wollten damals gemeinsam mit ihremFreund Hänschen in die Vereinigten Staaten gehen. Dieamerikanische Staatsbürgerschaft hatten sie schon Jahrevor ihrer Festnahme beantragt.

Auf einer anderen Postkarte ist Weihnachten 1968 alsDatum angegeben. War Heinz Raue da nicht noch inder Sonderhaftanstalt Bautzen II inhaftiert? Tatsächlich. Erschreibt, dass es die einzige Weihnachtskarte ist, die er indiesem Jahr verschicken darf. Die bekommt die Frau, die,wenn ich mich richtig erinnere, ein paar Wochen zuvor dieScheidung von ihm eingereicht hat.

Meine Augen fliegen über die Zeilen. «Ich trage Dir denSchmerz nicht nach, den Du mir zufügen musstest, umselbst glücklich sein zu können. Bitte verzeih auch Du mirallen Schmerz, den ich Dir angetan habe.»

Hat er sie immer geliebt? Bis zuletzt? Und sie hat ihntrotzdem verlassen. Für ihn muss es die Hölle gewesen sein.Ein Wunder, dass er nicht daran zerbrochen ist. Leicht wares sicher auch nicht für sie. Vielleicht spricht sie ja deshalbimmer nur von «dem» Raue. Als wäre er im Grunde immerein Fremder gewesen und nicht ihr Mann. Es ist vielleichteine Art emotionaler Schutzschild. Zudem haben sie in allden Jahren nie zusammengelebt. Hatten nie eine gemein-same Wohnung. Er studierte in Leipzig, sie in Moskau.

Die Postkarten haben mich völlig in ihren Bann gezogen.Im Februar 1978 schreibt er ihr nach einem Besuch in Pon-tresina: «Hier musste ich viel an Dich denken.» 1956 warensie dort gemeinsam mit Hänschen gewesen. Und aus Tirolerinnert er sie im Sommer 1993 an «Bergwanderungen wiezu Hänschens Zeiten».

Ich fühle mich Heinz Raue, je mehr ich über ihn erfahre,eigentümlich verbunden. Kein Wunder, wird mir Olga Raue

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ein paar Minuten später erklären. Er sei ein Schreiber ge-wesen. Ihre Männer aber, die waren Techniker. Die habenHäuser gebaut. Dazu wäre der Raue nie imstande gewesen.Ich auch nicht, denke ich und fühle Solidarität mit HeinzRaue. Mittlerweile hat sie einige alte Fotografien hervorge-holt. Darunter auch eine, auf der sie im Trainingsanzug zusehen ist, wie sie auf einem Feldweg einen Fahrradschlauchflickt. 1952 steht auf der Rückseite. Da waren sie auf einerRadtour in Thüringen. Heinz hatte einen Platten, aber keineAhnung, wie man den Schaden behebt. Wie kann ein Mannnur so unbeholfen sein? In ihrer ersten Nacht in einer gro-ßen Getreidegarbe hätte er wegen der Mäuse keine Ruhegegeben, sodass sie danach immer in Scheunen übernach-ten mussten, erzählt mir Olga Raue mit einem Kopfschüt-teln. Dafür, dass sich ihre Wege schon vor so langer Zeittrennten, dafür, dass es so wenig Gemeinsames in ihremLeben gab, erinnert sie sich doch an eine ganze Menge.

Warum er ein Schreiber war, verstehe ich zuerst nicht.Heinz Raue war Absolvent der Journalistischen Fakultät derKarl-Marx-Universität. Und er hat nach seiner Haftentlas-sung Mitte, Ende der siebziger Jahre bei Axel Springer inWestberlin gearbeitet. Aber keiner seiner Kollegen erinnertsich, dass er dort viel geschrieben hat. Einer sagte mir miteinem verständnisvollen Lächeln, er habe Heinz Raue da-mals für einen Sozialfall gehalten. Wieso also Schreiber?

«Weil er seit seiner Inhaftierung Gedichte schrieb», er-klärt Olga Raue und reicht mir ein gefaltetes, vergilbtesBlatt. «Später hat er auch wunderschöne Märchen undKurzgeschichten geschrieben.» Das wusste ich nicht. An-dächtig entfalte ich das Papier. Es ist mit blauer Tinte be-schrieben, in einer schönen, geschwungenen Handschrift.Unten steht: «Zum 29. Juni 1966». An jenem Tage wurdeOlga Raue achtunddreißig Jahre alt. Das Blatt ist in Baut-zen II entstanden, in seiner Zelle. Es ist ein Liebesgedicht,in dem er ihr schreibt, dass das Leben nur in ihrer Nähe

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ein wirkliches Leben ist. Für einen Augenblick ist es so, alssäße er mit uns gemeinsam am Couchtisch.

Im Laufe unseres Gespräches fallen ihr immer mehr Ein-zelheiten ein. Sie berichtet, dass ihnen die Amerikaner inWestberlin falsche westdeutsche Pässe gaben. «Sie hattenein ganz leicht zu merkendes System. Das Geburtsdatumwurde einfach plus eins geändert. So wurde bei mir ausdem 29. Juni 1928 der 30. Juli 1929», erzählt sie mit einemverschmitzten Lächeln, als wäre sie ein ausgebuffter Gano-ve. «Und unser Deckname war Homann.»

Ich bin beeindruckt. So dezidiert steht es nicht in denAkten. Das System mit den falschen Pässen hat die CIA da-mals in Westberlin nur bei ihren Topagenten praktiziert. Ei-ne Zeitlang vorher galt auch die Regel, dass diese Leute beiihren Aufenthalten in Westberlin keine ostdeutschen Aus-weise mit sich führen durften. Sie sollten nicht durch einenunglücklichen Zufall von der Westberliner Polizei verhaf-tet und aktenkundig werden. Die Amerikaner trauten denwestdeutschen Behörden nicht, sie gingen davon aus, dassdiese Bereiche von der Staatssicherheit durchsetzt waren.Die andere Seite verfuhr übrigens nicht anders. ÖstlicheAgenten folgten bei ihren Einsätzen in Westdeutschlandviele Jahre derselben Regel und hatten nichts bei sich, wasihre ostdeutsche Identität offenbart hätte.

Auch Olga Raue wurde komplett westlich ausstaffiert.Das habe Hänschen persönlich übernommen. «Damit redu-zieren wir das Risiko, dass Leute von drüben Sie zufälligwiedererkennen», habe er ihr erklärt. «Wir werden alleshier für Sie verwahren, sodass Sie, immer wenn Sie zu unskommen, gleichzeitig nach Hause kommen.»

Offensichtlich hatte er Freude an diesem Einsatz,denn die beiden verbrachten einen ganzen Tag auf demKu’damm, Westberlins nobelster Einkaufsstraße, und spa-zierten von einem Geschäft zum nächsten, um Kleider,Schuhe, Handtaschen, Unterwäsche, zwei Mäntel und na-

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türlich auch Kosmetikartikel zu erstehen, erzählt sie amü-siert. Hänschen zeigte eine wahre Engelsgeduld, währendOlga Raue in zahllosen Umkleidekabinen verschwand, spar-te nicht mit Komplimenten und trug all die Schachteln undPakete wie ein Gentleman.

Auf dem Tisch liegt ein Porträtfoto von Heinz Raue. Esist Mitte der fünfziger Jahre in einem Atelier in Leipzig ent-standen. Der Mann trägt einen Anzug mit Krawatte. Er hatsanfte, feine Züge, ein liebenswürdiges Lächeln. Sieht soein Spitzenspion aus? Wenn man mich fragen würde: eherein Musiklehrer oder vielleicht ein Bibliothekar.

Diese Geschichte ist nicht einfach. Je mehr ich weiß, um-so komplizierter wird es. Später erfahre ich, dass der merk-würdige Teddybär, der über der Truheneckbank Eiche rus-tikal thront, ein Geschenk von ihm war. Er hat ihn ihr ausBautzen II in die Haftanstalt Hohenschönhausen geschickt.Und ihre Mitgefangenen haben ihm Häftlingskleidung ge-näht.

Hier hängt auch eine gerahmte Bleistiftzeichnung. Sieträgt das Datum 13. Oktober 1963. Die Vergangenheitscheint doch noch sehr gegenwärtig. Olga Raue bleibt da-vor stehen. «Sehen Sie mal. Das bin ich.» Die Frau hat einenernsten Blick und trägt ein Hemd mit geöffnetem Kragen.«Das wurde von einer Mitgefangenen in Hohenschönhau-sen angefertigt. Aber das erzählen Sie besser nicht, sonstglauben die Leute am Ende noch, wir hätten dort eine schö-ne Zeit verbracht.»

Ich möchte wissen, wie sie das meint. «Na, sehen Siehier.» Sie zeigt mir ein Bild, das nur ein paar Schritte ent-fernt hängt. Es ist ein kleines gerahmtes Ölbild mit ei-ner Landschaft nach van Gogh. «Das kommt auch aus Ho-henschönhausen. Das hat mir eine andere Gefangene ge-schenkt. Es wurde auf einem leeren Zuckersack aus der Of-fiziersküche als Leinwand gemalt. Sonntags gab es Freizeitfür so was.»

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Vorsichtig nimmt sie es von der Wand und hält esmir entgegen. Es ist auf der Rückseite beschriftet. IsoldeThümmler hat es gemalt und Olga gewidmet. Die DEFA-Schauspielerin und spätere «Aktenzeichen XY»-Sprecherinwar wegen Beihilfe zum illegalen Verlassen der DDR verur-teilt. Sie wird sich sofort an das Bild erinnern, wenn ich siedanach frage. Und natürlich an den Gefangenenzahnarzt,diesen «charming boy»: «Er gab mir mal ein Glas Wasserund sagte: Nehmen Sie es als Glas Champagner, Madame.»Der Zuckersack ist allerdings eine Legende, sagt sie. «Eswar richtiges Zeichenpapier.»

Ich hatte nicht erwartet, dass es hier noch so viel gebenwürde, das mit der Geschichte verbunden ist. Und ich be-merke, dass sich Olga Raue, je öfter und je länger wir unsüber die damaligen Ereignisse unterhalten, nach und nachimmer besser erinnert.

Wenn sie mir von dem charmanten Amerikaner namensRaymond erzählt, den sie Hänschen nannten, scheint es füreinen Moment, als habe sich das alles erst kürzlich zuge-tragen. Sie zieht zwei kleine Schwarz-Weiß-Fotos hervor.«Sehen Sie, das ist Hänschen», sagt sie und zeigt mir einenstattlichen Mann mit freundlichem Gesicht. Der Mann aufdem anderen Bild wirkt etwas bullig. «Das ist Keilmann»,sagt sie, bevor ich danach fragen kann. Sie hat tatsächlichFotos der CIA-Leute. Und von Hänschen sogar noch etli-che mehr. Ich sehe mehrere Fotografien auf dem Tisch lie-gen, die aus derselben Serie stammen müssen wie ein Bild,das ich erst kürzlich in der Stasi-Unterlagenbehörde sah. Eszeigt Olga neben Hänschen in Pontresina. Beide Bilder sindsehr ähnlich. Oder ist es sogar das gleiche Bild? Die Sta-si hatte es bei Olgas Mutter entdeckt und beschlagnahmt.Das Bild des Amerikaners darf nicht gezeigt werden, wurdemir in der Behörde eingeschärft. Schließlich gehörte er zueinem befreundeten Dienst.

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Page 36: Leseprobe ausmedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/800/Leseprobe_l... · 2019. 9. 11. · Leseprobe aus: ISBN: 978-3-498-00100-1 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf .

Und nun liegt es hier. Wie sie in den Besitz dieser Bil-der gelangte, ist mir völlig unerklärlich. Wenn sie bei ihrenAufenthalten im Westen Erinnerungsfotos machten, durf-ten die Amerikaner nicht darauf zu sehen sein. Da gab esstrikte Vorschriften. Zudem wurden die Filme von den Ame-rikanern für sie verwahrt. Abzüge mit in den Osten zu neh-men war strengstens verboten. Olga Raue kümmerte dasnicht. Die Stasi kassierte das Foto.

Aber wie kommen diese Bilder auf ihren Wohnzimmer-tisch? Das weiß sie nicht mehr. «Hänschen war unserFreund. Wir vertrauten ihm absolut. Wir alle», sagt sie mitNachdruck in der Stimme.

Er muss eine starke Ausstrahlung und eine große Lie-benswürdigkeit besessen haben. Alle, die ihn kennenge-lernt hatten, schwärmen bis heute von ihm, stelle ich inmeinen Gesprächen mit Zeitzeugen fest. Er, der CIA-Kon-taktmann, hat alles zusammengehalten. An ihn glaubten sieauch noch, als das Spiel längst verloren war.

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