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Sabrina Janesch

Die goldene StadtRoman

Rowohlt · Berlin

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Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Buch wurde vom DeutschenLiteraturfonds e. V. und der Kunststiftung NRW gefördert.

1. Auflage September 2017Copyright © 2017 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, BerlinAbbildungen © S. 7 National Geographic; S. 10/11 Daniel

Buck Collection; S. 13 Rüdiger K. Weng; S. 15 picture allianceSatz aus der Janson, InDesign, bei

Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH, Leck, Germany

ISBN 978 3 87134 838 9

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Inhalt

WidmungMottoLima, Stadt der KönigeI. Teil

1. Flussgold2. Drei Briefe ohne Antwort3. Glühendes Eisen4. Der Albatros

II. Teil5. Callao 18666. Vierzehntausend Fuß über dem Meer7. Harry Poker Singer8. Die Expedition9. Eine Hacienda am Rand der Welt10. La Máquina11. Das feine Lächeln des Inka

III. Teil12. Little Germany, New York13. Durchbruch in Panama14. Sensible Geschäfte15. Huacas del Inca

Der AmerikanerÜber den Helden dieses BuchesDankInhalt

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Für Benjamin und Mila

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Till a voice, as bad as Conscience, rang interminablechangesOn one everlasting Whisper day and night repeated – so:«Something hidden. Go and find it. Go and look behind theRanges –Something lost behind the Ranges. Lost and waiting foryou. Go!»

Rudyard Kipling, The Explorer

Lima, Stadt der Könige

Mit rasendem Herzen und Tintenflecken auf den Händentritt Augusto Berns aus dem Portal des Hotel Maury. Es istsieben Uhr morgens, die Nacht war kurz. Die Sonne stehtbereits am Himmel; ihre Strahlen dringen durch die letztenNebelbänke und lassen die Ausläufer der Anden gleißendhell aufleuchten.

Berns stützt sich auf die Knie. Feiner Pazifikdunst dringtin seine Lunge, gierig atmet er ihn ein, schmeckt Salz undStaub. Sofort wird er durstig. Den Dreiteiler nach Klein-geld abgeklopft: Wie viel ist noch da? Die Münzen werdengezählt und gleiten zurück in die Hosentasche, dann läuftBerns los.

Vor der Calle de Villalta kreuzt eine Pferdebahn, Bernstritt unter die Krone eines ausladenden Flammenbaums.Hier, im Schatten, überkommt ihn einer dieser Momente,in denen alles, was er in den vergangenen Jahren getanhat, auf seinen Schultern lastet. Er setzt sich auf eine naheBank und harrt aus, eine halbe Stunde lang, eine ganze St-unde lang. Die ersten Geschäfte öffnen bereits, Kaufmän-ner hasten zu den Kontoren an der Kreuzung mit der Callede Nuñez. Brotverkäufer ziehen vorbei, immer gefolgt vonsehnigen Nackthunden, die nach allem schnappen, was vonihren Karren fällt.

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Um Berns herum segeln die feuerroten Kelche des Flam-menbaums zu Boden, ein Kolibri schwirrt auf ihn zu undbleibt kurz vor seinem Gesicht in der Luft stehen. Bernsmacht keine Anstalten, den Vogel zu vertreiben. Als er wie-der freier atmen kann, das Gewicht von ihm weicht, stehter auf und begibt sich zum Hauptplatz der Stadt.

Auf dem weitläufigen Gelände vor der Kathedrale unddem Präsidentenpalast verteilen sich Fächerpalmen; Tau-ben wuseln um die Füße der Passanten, die zu den Ge-schäftsstraßen und Regierungsgebäuden eilen. Ein- undzweispännige Kutschen passieren die Arkaden und dieStände der Kräuterhändler, Schreiber, Wahrsager, Wun-derheiler, Hexer und Affenzähmer.

Berns lenkt seine Schritte zum Brunnen in der Mittedes Platzes. Noch immer liegt der Geschmack von Salzund Staub auf seiner Zunge. Er beugt sich hinab, als wol-le er sein Taschentuch anfeuchten, und führt etwas Was-ser zu seinem Mund. Danach wäscht er seine Hände. AlsBerns aufblickt, bemerkt er neben sich eine verschleierteFrau. Sie zwinkert ihm zu und fragt, was denn da sprudle:Schnaps der Helden? Welchen Gegner er denn heute schonbezwungen habe? Lachend geht sie davon, an ihrem Hand-gelenk blitzt ein goldenes Armband.

Berns fallen die Investoren ein, die Kapitalisten, die erangeschrieben hat. Was, wenn sie morgen nicht erscheinen,weil er ein wichtiges Detail übersehen oder den falschenZeitpunkt gewählt hat? Bei dem Gedanken krampft sich et-was in ihm zusammen, so stark, dass er meint, das pana-maische Fieber sei zurückgekehrt.

Ein Blick auf die Uhr: Noch immer bleibt mehr als ei-ne Stunde. Eine Stunde bis zu seiner Verabredung, das istnichts – aber dreißig Stunden bis Huacas del Inca, wie sollman das aushalten?

Der Kiosk am Eingang zur Calle Mantas führt über einDutzend verschiedener Zeitungen und Magazine. Berns

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greift in die Auslage, überfliegt die Titelseiten von El Na-cional, El Comercio, El País, El Ateneo und einiger andererBlätter. Er findet fünf Artikel, die von ihm, Berns, und seinerEntdeckung berichten. Seiner Entdeckung! Da lässt er dieZeitung sinken, sein Blick gleitet hinüber zu den Ausläufernder Anden. Berns spürt, wie seine Handflächen feucht wer-den, vielleicht ist es die Aufregung, oder die pralle Sonne.Er bedankt sich beim Kioskbesitzer, lässt sich vom Schuh-putzer nebenan die Stiefel polieren und geht schließlichzum Café Tortoni an der Calle Valladolid.

Zwanzig Centavos für Kaffee und Zuckerkringel, mehrals doppelt so viel wie in jeder anderen Bar der Stadt. Bernstrinkt und seufzt kaum hörbar, als er in das Gebäck beißt.Er lässt sich ein Glas Eiswasser bringen, zögert den letztenSchluck Kaffee endlos hinaus, tippt noch die kleinsten Zu-ckerkrümel vom Teller.

Eine halbe Stunde später biegt Berns in die Calle de Es-paderos ein, an deren Ende sich der Club Nacional befindet.Korallenbäume säumen das Portal, es ist nicht zu verfehlen.Vor der Treppe bleibt Berns stehen, rückt seine Krawattezurecht, dann erst wagt er es, die Stufen hinaufzusteigen.Zweimal ist er schon hier gewesen, jedoch beide Male inBegleitung eines Clubmitglieds.

Im Empfangsraum fällt der Schein venezianischer Lam-pen auf Wandgemälde, gusseiserne Säulen und BrüsselerTeppiche. Die Lobby erstreckt sich über den gesamten vor-deren Teil des Erdgeschosses; Marmortreppen führen indie oberen Räume, eine weit offen stehende Doppeltür er-laubt den Blick in den blauen Salon. Dort sitzen Herren aufPolstermöbeln und rauchen Zigarre. Berns kneift die Augenzusammen, kann aber auf Anhieb niemanden ausmachen,den er kennt.

In einer Nische zwischen Haupteingang und blauem Sa-lon sitzt wie gewöhnlich der Portier Ignacio Ortiz, berüch-

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tigt für seine Humorlosigkeit und den betrübten Gesichts-ausdruck derer, die am Magen leiden.

«Heute findet kein Publikumsverkehr statt. Diplomati-scher Besuch. Sie haben eine schriftliche Einladung, Se-ñor?»

«Augusto Berns. Ich habe eine Verabredung.»«Ist das so.» Der Blick des Portiers flackert über Berns’

Anzug, die Tasche, den Hut, irgendetwas scheint nicht zupassen. Er zögert, noch bittet er Berns nicht herein. Hin-ter Berns betritt eine Gruppe von soignierten Herren denEmpfangsraum. Die Herren nesteln vielsagend an ihren Ja-cketts herum. Sie räuspern sich.

Da ist er wieder, der Gedanke an den morgigen Tag, undmit ihm kehrt die Nervosität zurück. Berns fährt sich überdie Stirn, die Stimmen aus dem Salon werden lauter.

«Darf ich fragen, mit wem?»Jetzt kommt Leben in die Gruppe am hinteren Ende des

blauen Salons. Man erhebt sich von den Polstermöbeln;wenn Berns sich nicht täuscht, handelt es sich um die bo-livianische Delegation, die seit gestern in der Stadt ist.Inmitten der gedrungenen, penibel gekleideten Bolivianererkennt er seine Verabredung. Langsam bewegt sich dieGruppe auf den Empfangsraum zu.

«Allerdings», sagt Berns und nimmt den Derby ab, ord-net sein Haar.

«Nun?»«Ich treffe den Präsidenten.»«Was Sie nicht sagen.» Ortiz fängt an, in seinen Papie-

ren zu wühlen, aber da ist es schon zu spät. Das Geflüsterder Männer hinter Berns verstummt, denn nun betritt dieDelegation die Lobby, und in ihrer Mitte, einen Kopf größerals die Bolivianer um ihn herum, schreitet der Präsident derRepublik Peru, Andrés Avelino Cáceres. Alle Blicke sind aufseine stattliche Erscheinung geheftet: die blau-weiße Uni-form mit den Epauletten, der ausladende Backenbart, das

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leicht hervorstehende linke Auge, das markante Kinn. DieZeit der Bolivianer ist um, Cáceres muss zum nächsten Ter-min, aber noch immer reden sie auf ihn ein. Cáceres lächelt,Berns denkt: präsidial.

«Señor el Presidente», sagt Berns. Da erst bemerkt ihnCáceres, lacht auf und schiebt sich an den Bolivianern vor-bei.

Die beiden Männer umarmen sich und klopfen einanderauf die Schultern.

«Augusto!», sagt Cáceres. «Ich dachte schon, dukommst nicht mehr.»

«Ich wurde aufgehalten.»Ortiz hat jetzt plötzlich viel Papier, das er sortieren

muss. Da scheint Präsident Cáceres etwas einzufallen. Erbittet um Aufmerksamkeit, schart die Bolivianer in einemHalbrund um sich und Berns.

«Meine Herren, wissen Sie, was ein Held ist?»Stille. Niemand rührt sich.«Ein Held ist einer, der Glück hat. Der sich mit den rich-

tigen Menschen zu umgeben weiß. Auch wenn Sie das viel-leicht nicht glauben – aber ein Held steht niemals allein. Alswir vor über zwanzig Jahren Callao gegen die Spanier ver-teidigten, wer rettete mir da das Leben? Dieser Mann hier!Und danach, wer erkundete dieses Land wie kein Zweiter,vermaß es und verband seine Städte mit der Eisenbahn?Dieser Mann hier! Wer verbrachte Jahre in den Bergen undim Dschungel, wo er eine unglaubliche Entdeckung mach-te? Meine Herren, dieser Mann hier ist Augusto Berns – einMann der Tat, ein Macher, ein ganz großer Realist!»

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I. Teil

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1.Flussgold

Als Kind wäre Rudolph August Berns beinahe an einer Flie-ge erstickt, die in seine Luftröhre gelangt war. Stundenlangkonnte er mit weit geöffnetem Mund und glasigen Augendasitzen: Legionen von Römern zogen dann an ihm vorbeiund überquerten den Rhein ungefähr an der Stelle, an dergerade die Fähre nach Mündelheim ablegte.

Die Römer – was war das jedes Mal für ein Spektakel!Der Rhein war plötzlich kein bleierner Fluss mehr, sondernein reißender Strom, und drüben, auf der anderen Seite,wohnten nicht die Mündelheimer Bauern, sondern wildeGermanen, die ihr Land verteidigen würden – und KlipperEu, unten am Ufer, mit seinem zerrissenen Mantel und derGoldpfanne, war nicht Klipper Eu, sondern Gaius Julius.Gaius Julius und seine Männer hatten ganz Gallien unter-worfen, doch nun stießen sie auf den Fluss, vor dem sie ge-warnt worden waren. Rhenus hieß das Wasser, das sie jetztüberqueren mussten; auf dem Land dahinter lag ein Fluch,und wer es betrete, so hieß es, sei dem Tode geweiht.

Hinter Gaius Julius ging ein Soldat mit Brustschild, derdie römische Standarte trug. Der goldene Adler funkelteund glänzte in der Sonne. Das Trampeln Hunderter Pferdeund Männer war zu hören; von irgendwoher drang ein Lied,sonderbar fern und fremd. Und da: Einige der Soldatenführten Pferde, beladen mit kostbaren Schatullen, Schät-ze mussten sich darin befinden, Gold- und Silbermünzen,schwer genug, einem einfachen Mann ein Loch in die Ho-sentasche zu reißen – und Perlenketten, Edelsteine, Gold-reife, ganze Barren!

Als Gaius Julius auf die Brücke ritt, flatterte und bausch-te sich sein Umhang im Wind. «Barbaricum», sagte er undlegte seine Stirn in Falten. Obwohl er es nur flüsterte, drang

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es bis herüber zum Apfelbaum, auf dem Rudolph saß undhinunter zum Rhein schaute. Dann warf Gaius Julius einenBlick zurück nach Westen und überquerte schließlich dieRheinbrücke. Auf der anderen Seite angekommen, dreh-te er sich ein letztes Mal um und winkte Rudolph zu. Ei-ne kaum wahrnehmbare Bewegung der Hand war das, un-bemerkt von den Soldaten und dem Standartenträger; Ru-dolph aber wusste, dass die Geste einzig ihm galt, überzweitausend Jahre hinweg, und dass Gaius Julius ihn min-destens so klar sah wie er ihn.

Aber bevor Gaius Julius sich wieder abwenden konnte,um mit wehendem Umhang nach Germanien zu reiten, warda diese Fliege. Die überreifen Früchte des Apfelbaumslockten Schwärme von Insekten an. Schmetterlinge, Bie-nen, Wespen und Fliegen tummelten sich auf den Äpfelnund stoben hoch bis zu Rudolphs Platz auf dem Ast. Die Ar-me schlaff, der Mund trocken, war sein Blick in eine andereWelt gerichtet; eine Welt ohne Fliegen, ohne empörtes Auf-summen, plötzlichen Schmerz und Hustenreiz.

Rudolph hustete sich vom Baum herunter, fuhr mit sei-nem Finger in den Mund und weiter in den Rachen, aber dawar nichts zu holen, da war nur die Atemnot, das Röcheln –und plötzlich war da Gaius Julius, der ihn packte und nachoben hievte. Dann kam die Schwärze, die sich nach einerZeit in die Stimme der Mutter verwandelte, in etwas Kühlesunter seinem Hinterkopf, ja, in den Geruch von Bohnensup-pe mit Speck und sogar in das Geheul von seinem kleinenBruder Max. Am Ende aber verblasste auch das, und überRudolph kreiste nur noch der goldene Adler der Legion.

Rudolph August Berns war das erste Kind des KaufmannsJohann Berns und seiner Frau Caroline. Die beiden hat-ten sich in Solingen kennengelernt, wohin der junge Kauf-mann geschäftlich gereist war. Neben einigen vorzüglichenMessern und anderen Stahlwaren hatte er das Bild eines

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Mädchens mitgebracht, das, wie er seinen Eltern versicher-te, protestantischer und häuslicher kaum sein konnte. Manheiratete schnell. Der junge Mann war nicht ganz, was sichdie Eltern des Mädchens vorgestellt hatten. Aber immer-hin führte er gemeinsam mit seinem Vater erfolgreich ei-ne Weinhandlung, und so hatte man zugestimmt. Das jun-ge Ehepaar zog in Johanns Elternhaus in Uerdingen. Es lagumgeben von Obstfeldern, die der Familie Berns seit Jahr-hunderten gehörten. Kaum einen Steinwurf entfernt flossder Rhein an dem kleinen, wohlhabenden Städtchen vorbei,aus dem immer mehr Fabrikschlote gen Himmel ragten.

Das obere Geschoss des Hauses teilten sich Johann undCaroline mit Johanns Vater Wilhelm, der sich die meisteZeit in den Geschäftsräumen im Erdgeschoss aufhielt. DieMutter war schon lange verstorben.

«Das Geschäft kommt zuerst», sagte der alte Berns,wann immer man ihn aufforderte, mit der Familie eineMahlzeit einzunehmen. Meist brachte das Dienstmädchendem alten Mann einen Teller vom Mittagessen hinunterins Erdgeschoss, wo er hastig zwischen Bottichen und Fla-schen aß.

Was wäre die Weinhandlung Berns gewesen ohne denAlten, der über das Treiben wachte und die Kundschaft inGespräche verwickelte? Nach einem Leben in Uerdingenkannte er alles und jeden, eines jeden Eltern, Kinder, Groß-eltern und Haustiere, ja sogar ihre Gebrechen, Vorlieben,Nöte und Sorgen. Gesprochen wurde nur von Wein.

Schon bald nahm Johann Berns zu, ließ sich einen Vollbartwachsen und verkehrte häufiger in den Schänken des Or-tes. Aus dem jungen Berns wurde der Berns, der endlichvon den anderen Kaufmännern beachtet und respektiertwurde. Man besuchte ihn im Geschäft, lud ihn zum Abend-essen ein, und selbst der alte Melcher, Besitzer der größtenDestillerie Uerdingens, schlug ihm eine Zusammenarbeit

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vor. Seitdem führte Berns hauptsächlich Weinbrände ausdem Hause Melcher, und natürlich den Uerdinger Doppel-wacholder. Mehrere Dutzend der braunen Flaschen stan-den jederzeit im Regal; die vorbeiziehenden Arbeiter warendurstig und er, Berns, ein guter Verkäufer. Das Geschäft liefbesser denn je. Nur eines fehlte, und das war ein Sohn.

Rudolph August kam im Jahre des Herrn 1842 auf dieWelt. Rudolph, weil der Vater es so wollte, und August, weilso der Lieblingsbruder der Mutter hieß. Schon nach weni-gen Jahren aber, in denen Elise und Max nachfolgten, zeigtesich, dass Rudolph August wenig vom Temperament seinesOnkels an sich hatte; auch seiner pragmatischen, nüchter-nen Mutter glich er nicht. «Vielleicht kommt er mehr nachdeiner Familie», sagte Caroline zweifelnd zu ihrem Mann,aber wirklich vorstellen konnte sie sich das nicht.

«Hans Guck-in-die-Luft» nannte ihn sein Großvater,nach der Figur aus einem Buch, das er dem Jungen ge-schenkt hatte. Rudolph hatte es studiert und schnell zurSeite gelegt. Ihm war nur das lieb, was er selber fand undfür sich entdeckte. Nur dann, so kam es ihm vor, hatte erwirklich Anspruch darauf, nur dann war es sein und real.

Die meiste Zeit saß der Junge verträumt da und stierteunablässig auf irgendeine Sache, die seine Aufmerksamkeitfesselte. Weckte man ihn aus diesem Zustand und befrag-te ihn nach seinem Tag oder dem Grund für die dreckigeHose oder das fehlende Geld im Portemonnaie, so bekamman die haarsträubendsten Dinge zu hören. Von schwarzenReitern war da die Rede, von Irrlichtern, die ihn hinausge-lockt hätten, von Geistern, die ihm den Weg weisen wolltenzu den Verstecken römischer Schätze, von Seeungeheuern,Drachen und dergleichen mehr. Tatsächlich verspürte Ru-dolph eine sonderbare Verbindung zu den Legenden ver-gangener Zeiten und ihren sagenhaften Reichtümern. Erkonnte es weder sich selber noch sonst irgendwem erklä-

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ren, aber manchmal kam es ihm vor, als sei die Welt in sei-nem Kopf wesentlicher als die, die ihn umgab.

«Lügen», sagte die Mutter. «Ach was», sagte der Va-ter. «Der Junge hat Phantasie!» Aber es half nichts. Auchnicht die Erklärung des Vaters, dass Einfallsreichtum füreinen Geschäftsmann mindestens genauso wichtig sei wiesorgfältige Buchhaltung und die Fähigkeit, kritisch zu den-ken. Die Mutter antwortete bloß, dass er dem Jungen nichtnoch mehr Flausen in den Kopf setzen solle, es sei so schonschlimm genug.

Rudolph spürte, wie etwas Scharfes seine Kehle hinabfloss.Vielleicht schmeckt so der Tod, dachte er. Scharf und süßund zugleich ein wenig nach Wacholder. Ein Ruck gingdurch seinen Körper; er meinte, die Augen zu öffnen, underkannte Vater und Mutter neben sich auf dem Boden. AuchMax und Elise waren da, heulten und versteckten sich hin-ter den gebeugten Rücken der Eltern. Auf der Eckbank hin-ten in der Stube saßen Großvater und Klipper Eu. KlipperEu hielt ein Glas Weinbrand in der Hand, sein Atem hattesich noch immer nicht beruhigt, so schnell war er mit demJungen auf den Armen ins Berns’sche Haus gerannt.

Alles schien wie immer, und doch stimmte etwas nicht:das Haar der Mutter etwa, das beständig die Farbe wech-selte; der Großvater, der plötzlich ganz jung aussah; derBruder, der sich immer wieder in seine Schwester verwan-delte. Außerdem war da ein Soldat, der seelenruhig auf demKaminsims saß und die Beine baumeln ließ. Rudolph hat-te ihn nie zuvor gesehen, und dabei kannte er doch mitt-lerweile so gut wie jedes Gesicht aus der römischen Legi-on. Es gab schmale Gesichter mit hohen Wangenknochen,breite Gesichter mit kräftigem Kinn, olivfarbene Teints, tief-braune, bleiche; Legionäre mit schwarzen Haaren, blon-den, braunen, es war alles dabei. Die meisten trugen rund-liche Helme und Kettenhemden, die von groben Gürteln zu-

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sammengehalten wurden. Aber der hier? Der merkwürdi-ge Herr auf dem Kaminsims schien so gar nicht zu ihnenzu gehören. Die tiefliegenden Augen, der graue Bart unddie scharf geschnittene Nase wären Rudolph aufgefallen,auch trug der Mann einen länglichen Helm, der von einerbreiten Krempe umgeben war. Seine Vorderseite lief spitzzu, obenauf prangten gelbe und rote Federn. Woher kamder Mann, und was machte er auf dem Kaminsims? Abersosehr Rudolph sich auch anstrengte, er schaffte es nicht,den Mund zu öffnen und ihn zu fragen.

Über all der Verwunderung bemerkte Rudolph erst spät,dass er längst seinen Körper verlassen hatte und sich nebenihm befand. Wie sonderbar das war! Ohne jede Anstren-gung stand er auf, ließ seinen Körper hinter sich und be-trachtete den Raum: das Sofa, auf dessen Sauberkeit dieMutter allergrößten Wert legte, die Stickarbeit, die nochauf der Fensterbank ruhte, die Geranien, die zu sehr in derSonne standen und bereits rötliche Blätter bekommen hat-ten. Das war der Raum, wie er ihn kannte, aber gleichzeitigwaren da noch zehn andere Räume – Variationen desselbenRaumes, andere Möglichkeiten seiner selbst. Mal war erwinzig klein, dann wieder unendlich groß, mal erschien erwie auf ein Blatt gemalt, dann wieder bogen sich die Wän-de wie Kautschuk. Plötzlich verwandelte sich das Haus indas Haus der Kradepohls nebenan, dann in Melchers Villa,in Klipper Eus Kate, wurde zu einem Zirkuszelt, einer mon-golischen Jurte, einem Mauseloch – nichts stand fest, alleswar möglich.

«Die Wirklichkeit», sagte auf einmal der merkwürdigeHerr auf dem Kaminsims, «ist in Wirklichkeit nichts wei-ter als der kleinste gemeinsame Nenner beschränkter Geis-ter.» Da erkannte Rudolph, dass es sich bei dem Herrnunmöglich um einen Römer handeln konnte. Der Oberkör-per des Mannes war ja fest eingeschlossen in eine silberneSchale, und anstelle grober Hosen aus Leinen bauschte sich

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rot gestreifter Stoff über engen Stiefeln. Und dann dieseSporen! Sie klirrten, wenn sie einander streiften. Plötzlichwar es Rudolph, als hätte er den Mann bereits irgendwogesehen, doch dieser Eindruck verflog, bevor er ihn ganzfassen konnte.

«Das verstehe ich nicht», wollte Rudolph sagen, aberschon überkam ihn ein weiterer Hustenanfall. Da war eswieder, das Gefühl, im eigenen Körper zu stecken: Blut,das aus Nase und Mund fließt, Luft, die in die Lungenflügeldringt. Er spürte, wie sich dünne Ärmchen um seinen Halsklammerten. Rudolph stemmte sich hoch, dann erst öffneteer die Augen.

Als Erstes schaute er zum Kaminsims. Der merkwürdigeHerr war verschwunden. Nur Klipper Eu saß noch immer inder Ecke, das leere Glas vor sich auf dem Tisch. Großvaterwar eingeschlafen. Max hielt Rudolph noch immer eng um-klammert, so eng, dass der Vater seinen Griff vorsichtig lö-sen musste. Rudolph schmiegte den Kopf in die nach Staubund Kernseife riechende Armbeuge seines Vaters. An derTür erkannte er seine Mutter, die Doktor Lewin hereinließ.

«Atmet er?», fragte der Doktor.«Tut er», sagte Rudolph. Dann übergab er sich.

Den Rest des Tages verschlief Rudolph. Später wurde ihmberichtet, dass er großes Glück gehabt hatte. Die Fliegewar nicht in seiner Luftröhre stecken geblieben, sondernbis in die Lunge eingesogen worden. In den nächsten Ta-gen, so Doktor Lewin, würde Rudolph sie stückchenweiseaushusten. Vorsichtshalber verschrieb der Doktor ihm Ei-erlebertran. Von Fliegen und anderen Insekten solle er sichvorerst fernhalten.

«Da hast du’s», sagte die Mutter, als Lewin mit zwei Fla-schen Cognac unterm Arm gegangen war. «Fernhalten soller sich. Vielleicht wird es Zeit, dass du ihn zu dir ins Ge-schäft nimmst, Johann.»

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«Ja, vielleicht wird es Zeit», sagte Johann Berns. Jedeandere Antwort wäre sinnlos gewesen. Ab morgen würdeder Junge seine Tage in der Weinhandlung verbringen, je-denfalls dann, wenn Caroline im Hause war und aus demFenster der Stube sehen konnte, ob er sich auf der Obst-wiese oder am Rhein herumtrieb. Als Rudolph davon hörte,stieg ein Schluchzen die Kehle hinauf, und er musste sichsehr konzentrieren, es nicht entweichen zu lassen. Er liebteseinen Vater, aber seine Freiheit liebte er noch ein wenigmehr.

Ein bisschen verhielt es sich wie mit dem Kaleidoskop. Va-ter hatte es ihm geschenkt, seither war es Rudolphs liebs-tes Spielzeug. Auf der Hülle der kleinen Röhre waren Kin-der zu sehen, die auf Pferdchen ritten oder Drachen stei-gen ließen. In ihrer Mitte aber, größer als sie alle, standein Kind, das in ein Kaleidoskop blickte. Rudolph spürte,dass dieses Kind mehr wusste und mehr sah als die ande-ren, die in ihr Spiel vertieft waren. Sie waren so stark mitihrer Umgebung verbunden, dass sie gar nicht begriffen,dass die Welt unzählige Formen annehmen und in unter-schiedlichen Varianten gleichzeitig existieren konnte. Da-bei genügte doch ein Blick in das Kaleidoskop, um zu ver-stehen. Sah man durch die Röhre und bewegte sie ein kleinwenig, verwandelte sich sofort, was man sah, es bog sichund nahm eine neue Gestalt an. Das Spiel der Formen undFarben war so reich und mannigfaltig, dass sich nur ein ein-fältiges Gemüt mit einer einzigen Variante zufriedengebenkonnte.

Natürlich brauchte Rudolph das Kaleidoskop schon baldnicht mehr; wann immer er es wünschte, konnte er die Weltvor seinen weit aufgerissenen Augen zum Verschwimmenbringen und ihre zahllosen anderen Entwürfe studieren.Und was gab es dort nicht alles zu sehen! Rudolph blicktestets ein wenig mitleidig auf die anderen Kinder von Uer-

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dingen. Sie spielten Fangen, Verstecken und ahnten nichtsvon dem Reichtum, der sie umgab.

Dann aber kam die Anweisung der Mutter und die Ver-bannung in das Geschäft des Vaters. Die Weinhandlung warein unerträglich langweiliger Ort für einen Jungen wie Ru-dolph. Für einen Erwachsenen, dessen Ambitionen und In-teressen weit über Uerdingen und die Rheinprovinz hinaus-gingen, allerdings auch. Seit Johann Berns die Weinhand-lung vergrößert hatte und bei Melchers Destillerie ein- undausging, schien ihm das Leben plötzlich einfallslos und kal-kulierbar. Nur der Großvater hing an den alten Geschäfts-räumen und klagte über jede Veränderung.

Es war, wie Rudolph sagte: «An diesem Ort steht selbstmein Kopf still.» Denn während Max und Elise mit der Kin-derfrau im Garten spielen durften, war Rudolph in den ewi-gen Schatten der Eichenvertäfelungen und Schnapsbotti-che gefangen. Selbst das Kaleidoskop vermochte kaum ge-gen die Braun- und Schwarztöne, die hier vorherrschten,anzukommen.

Wenn keine Kundschaft im Geschäft war, las der VaterRudolph die Fortsetzungsgeschichten aus der Zeitung vor.Der alte Berns steckte währenddessen seine Nase in die Ge-schäftsbücher und tat so, als würde er sie prüfen. Natürlichwaren seine Augen schon längst zu schlecht dafür. Von denGeschichten hatte vor allem eine das Interesse des Jungengeweckt: die Reiseberichte aus Peru von Johann Jakob vonTschudi.

Das Vorlesen dauerte entsetzlich lange, denn wann im-mer der Vater an eine Stelle kam, über die er sich sehr wun-derte, legte er die Zeitung zur Seite und fuhr sich gedan-kenverloren durch den Bart. Wenn er das tat, zwirbeltensich danach die Härchen auf der linken Seite etwas schie-fer empor, Rudolph kannte das bereits. «Der Mann hat sichwas getraut», sagte der Vater für gewöhnlich, bevor er kurz

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seinen alten Herrn betrachtete und etwas leiser wiederhol-te: «Der hat sich wirklich etwas getraut.»

Die meisten der Geschichten handelten von den wunder-samen Zuständen in den Städten und Dörfern der Anden;von schier unerschöpflichen Silberminen und dem verbor-genen Gold der Inka. Gold! Viele der Berichte schienen Ru-dolph erfunden, so eigentümlich und frei wie seine eigenenTagträume.

«Kann denn das alles wahr sein?», fragte er manchmal,und sein Vater wiegte den Kopf, fuhr sich ein weiteres Maldurch den Bart und sagte, dass man diese Dinge schwerlichüberprüfen könne; so gesehen seien es einfach passable Ge-schichten, wahr oder nicht. Eines jedenfalls stehe fest, unddas sei, dass sich der Mann etwas getraut habe.

Einmal belauschte Rudolph ein Gespräch seines Vaters mitdem alten Melcher. Der Großvater war nicht dabei; er lagoben in seinem Bett, Doktor Lewin war bei ihm. LewinsSorgenfalten wurden immer tiefer, je öfter er bei ihm vor-beisah. Eigentlich wollte Rudolph seinen Vater nicht be-lauschen, das meiste, was besprochen wurde, war sowie-so langweilig und betraf nur den Alkohol – aber dieses Ge-spräch war anders. Schon wie Melcher in das Geschäft ge-kommen war und dem Vater vertraulich auf die Schultergeklopft hatte. Sofort hatte der Vater Rudolph fortgeschicktund einen seiner besten Weine hervorgeholt. Melcher, daswussten alle, hasste Spirituosen und trank selber nur fran-zösischen Weißwein.

«Worüber wir neulich sprachen», sagte Melcher undnahm einen Schluck. Es gehörte durchaus nicht zu sei-nen Angewohnheiten, die Sätze zu vollenden. Jetzt raschel-te Zellophanpapier; der Vater hatte eine Packung teuresFrüchtebrot aus Frankreich geöffnet.

«Ich erinnere mich sehr gut», hörte Rudolph seinen Va-ter sagen. Er selber versteckte sich hinter der angelehnten

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Tür, die zum Lager führte. Aber war das wirklich die Stim-me des Vaters? Plötzlich klang sie angespannt, aufgeregtsogar. Ein bisschen wie Rudolphs eigene Stimme, nur älter,tiefer.

«Hast du mit deiner Frau gesprochen?»Rudolph hörte, wie etwas auf den Boden fiel. Das Miau-

en einer der Katzen, ein Poltern, der Vater fluchte – waser daraufhin zu Melcher sagte, drang nicht bis hinter dieTür zum Lager. Worum ging es? Melcher stellte sein Glasauf den Tresen. Er sprach jetzt etwas lauter, wie mit einemSchwerhörigen. Aber Vater hatte sehr gute Ohren. Ihm ent-ging selten etwas.

Melcher redete immer lauter und lauter auf Vater ein,seine Stimme überschlug sich, man verstand ihn kaum. Esging, so viel ließ sich heraushören, um die Welt, besse-re Möglichkeiten und größere Märkte. Uerdingen! Was seischon Uerdingen!

«Melcher!», sagte der Vater schließlich. «Es ist nochnicht so weit. Geht das in deinen Schädel hinein?»

Rudolph wusste nicht, dass sein Vater sich traute, so mitdem alten Melcher zu sprechen. Ebenso wenig wusste er,was es mit den größeren Märkten auf sich hatte. Eines aberlernte er an jenem Tag, und das war, dass sein Vater mitihm nicht über alles sprach.

«Redest du nicht mehr mit mir?», fragte der Vater später,als Rudolph stundenlang schweigend neben der Tür saß.

«Nein, tue ich nicht. Geht das in deinen Schädel hin-ein?», fragte Rudolph zurück. Und weil er den Blick desVaters nicht ertrug, packte er seine Mütze und rannte ausdem Haus.

Kurz überlegte er, zum Rhein zu laufen, dann entschieder anders. Anstelle der Straße hinab zum Rhein ging erdie Niederstraße hinauf, in Richtung des Marktplatzes. DerPlatz war ihm bisher so weitläufig vorgekommen, dass er

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sich, wann immer er ihn betrat, verloren vorkam. Etwas hat-te sich verändert. Melchers Stimme tönte in seinem Kopf:Uerdingen! Was war schon Uerdingen!

Um auf den Markt zu gelangen, musste man an der Kolo-nialwarenhandlung Herbertz vorbeigehen. Rudolph stock-te und blieb stehen. Säcke voller Kaffee lagen dort hinterdem Schaufenster; Schokoladentafeln türmten sich auf ei-nem Tischchen, und über alldem hing ein ausgestopfter Af-fe von der Decke. Ein echter Affe! Seine Glasaugen warenauf einen unbestimmten Punkt vor dem Schaufenster ge-richtet.

Sie hätten ihm wenigstens ein Stück Schokolade in dieHand geben können, dachte Rudolph und drehte sich er-bost um. Dann fasste er sich ein Herz und ging zur Mittedes Marktplatzes. Jetzt stand er genau den Häusern derGebrüder Herbertz gegenüber. Ach was, Häuser – Paläste!Drei identische Prachtbauten reihten sich da aneinander,mit drei prunkvollen Eingangstüren und drei ausladenden,schmiedeeisernen Balkonen darüber. Sein eigenes Eltern-haus war ungleich schmaler und bescheidener. Rudolphdrehte sich einmal um die eigene Achse. Die Reichtümerder Neuen Welt, von denen Vater gesprochen hatte, kamenihm in den Sinn. Wo wäre einst Platz für seinen Palast? Eswar ja schon alles verbaut, überall wohnte, verkaufte, leb-te man bereits. Vielleicht hatte Melcher recht, und es gabirgendwo größere Märkte als in Uerdingen.

Die Gebrüder Herbertz gehörten zu den reichsten undwichtigsten Familien in Uerdingen, das wusste Rudolph.Der Älteste von ihnen, Balthasar Napoleon Herbertz, hattefür sich und die beiden Jüngeren die Häuser erbaut. Daswollte Rudolph auch. Max und Elise sollten die schönstenund größten Häuser am Platz bekommen, dafür würde erschon sorgen. Max mit seinem Sommersprossengesicht  –immer schaute er stumm zu seinem großen Bruder auf undversuchte, ihm in allem nachzueifern. Und Elise: Elise war

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ein zartes Mädchen, der geringste Windstoß konnte sie um-werfen, auf sie musste man besonders achtgeben.

Natürlich war es einfacher, reich und wichtig zu wer-den, wenn man einen Namen wie Balthasar Napoleon trug.Aber Rudolph August? Es war, als hätten die Eltern nicht be-dacht, welche Wege sein Leben nehmen könnte, als wärensie nicht alle denkbaren Szenarien durchgegangen. Wahr-scheinlich hatten sie sich nicht einmal vorstellen können,dass er später einen wohlklingenderen Namen benötigenwürde. Ja, die Eltern von Balthasar hatten sich freilich et-was einfallen lassen. Nur waren die ja auch auf die Ideegekommen, mit fremdländischen, eigenartigen Produktenzu handeln, und nicht mit Wein und Cognac, so wie al-le. Was war nur los mit seinen Eltern? Rudolph wollte esnicht ganz glauben, aber vielleicht litt auch sein Vater andieser sonderbaren Krankheit, die die meisten Leute imLaufe ihres Lebens befiel: diesem steifen Verharren in derunmittelbaren Umgebung, in all dem, was man seit jeherkannte. Darüber hinaus schien es für sie nichts zu geben;es wurde nichts gesehen, nichts entdeckt, nichts erfundenoder erdacht. Wie ein entstellender Mangel kam dies Ru-dolph stets vor, wie ein tierisches Verbleiben im Ausgangs-zustand, mochte er noch so mickrig und erbärmlich sein.

Nachts lag er häufig wach. Selbst wenn seine Augenbleischwer vor Müdigkeit waren und er Max und Elise be-reits in ihren Betten tief atmen hörte, fand er nicht in denSchlaf. Für gewöhnlich zogen sich auch die Eltern bald inihr Schlafzimmer zurück, nachdem sie die Kinder zu Bettgebracht hatten. Stille kehrte daraufhin im Haus ein. Dannwar Urdingis Zeit gekommen.

Urdingi, das war das alte Uerdingen der Merowinger.Es lag nicht weit entfernt vom heutigen Uerdingen – mittenin den Fluten des Rheins. Nach Überschwemmungen undschweren Wintern mit viel Eisgang hatte der Fluss sein Bett

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nach Westen verlagert, und so war das Urdingi der Germa-nen in den Fluten des Rheins versunken.

Rudolph stellte sich vor, dass eines Nachts, ganz plötz-lich, noch bevor jemand Alarm schlagen oder sich rettenkonnte, der Rhein über das Dorf gekommen war und jedenlebendigen Körper bis zum Bersten mit Wasser gefüllt hat-te. Und weil der Rhein seine Sedimentmassen über das Dorfund alles und jeden hatte rollen lassen, lag noch immer al-les an derselben Stelle, an der es sich seit Hunderten vonJahren befunden hatte.

Von seinem Fenster aus war es nur ein Steinwurf biszu den ersten Häusern Urdingis, tief unten, im Wasser. Inder Nacht, das wusste Rudolph, erwachten die BewohnerUrdingis zum Leben, und je weiter die Nacht fortschritt,desto schwieriger wurde es zu entscheiden, welches Uer-dingen das realere war: das Uerdingen der Gebrüder Her-bertz oder Urdingi, die Siedlung der Merowinger. Vielesglich sich, stellte Rudolph verwundert fest. Ähnlich wie aufdem Markt kamen beim Thing die wichtigsten Männer desDorfes zusammen; und auch in Urdingi lebte eine Familie,die eine besondere Hütte besaß und reicher war als alle an-deren.

Es gab viele große Familien – eine von ihnen zählte min-destens sieben rothaarige Kinder – , einen Verrückten, dervon den anderen gemieden wurde, einige ältere Frauen, dieetwas außerhalb lebten, und eine Familie mit drei Kindernund einem Greis, die ganz nah am Rhein wohnte. Der ältes-te Sohn – ein kräftiger Junge, blitzgescheit, hochgewachsenund stets bei der Sache – musste nur zur Tür hinaustretenund durch den Obstgarten gehen, schon befand er sich amUfer des Flusses. Dort traf er sich häufig mit dem Verrück-ten, seinem besten Freund.

Der Name des Jungen war Thorleif, auch das wusste Ru-dolph. Überhaupt kannte er mittlerweile Thorleif und sei-ne Familie sehr gut. Der Vater war Jäger und liebte sei-

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ne Kinder über alles. Er und Thorleif gingen oft zusammenauf die Jagd, streiften über die Felder und sprachen in ih-rem kehligen, wundersamen Dialekt miteinander. Die Mut-ter war streng und achtete auf Ordnung in der Hütte, sogehörte sich das wohl. Thorleifs Geschwister waren nochklein, er musste auf sie achtgeben, sonst gingen sie ver-loren. Sein Vater und er, sie waren die Männer im Haus.Es war ein ruhiges Leben in Urdingi. Thorleif wuchs heranin dem Bewusstsein, einst der Anführer seines Dorfes zuwerden, wichtige Schlachten zu schlagen, Schätze zu he-ben und Land zu entdecken, das keiner vor ihm entdeckthatte. Auch die anderen im Dorf schienen es zu fühlen undzollten Thorleif den gebührenden Respekt. Wenn er an denMädchen vorbeiging, schlugen sie die Augen nieder; lief erdurch den Wald, verstummten die Vögel, nur um kurz dar-auf noch lauter und schöner zum Gesang anzuheben.

Das war Thorleif, dem ein aufregendes Schicksal in dieWiege gelegt worden war – aber Thorleif wohnte in Urdingi,und nicht in Uerdingen, so wie Rudolph.

Die Tage, an denen Vater mit hinunter an den Rhein kam,gehörten zu den schönsten. Kurz nach Sonnenaufgang gin-gen sie los. Rudolph trug die gusseiserne Pfanne, derenGriff er abmontiert hatte. Seiner Mutter gegenüber hatte erbehauptet, die Zigeuner, die durch Uerdingen gezogen wa-ren, hätten sie gestohlen – zusammen mit ein paar GläsernMarmelade, die ebenfalls aus Mutters Küche verschwun-den waren. Sie hatte ihm kein Wort geglaubt.

Vater trug den Korb mit drei belegten Broten und einerFlasche Weinbrand, eine Schaufel und einen Eimer. Wenner und Rudolph am Fluss ankamen, war Klipper Eu meistschon seit Stunden auf der Kiesbank zugange. Den Flitterließ er in eine leere Sardinenbüchse rieseln.

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«Goldwaschen is wie Fischen», sagte Klipper Eu immer.«Du weißt nie, was du kriegst, und am Ende sind deine Füßekalt.»

Vater gehörte zu den wenigen, die sich mit Klipper Euunterhielten – zumindest wenn es niemand außer Rudolphbemerkte. Er wusste, wie viel dieser sonderbare Mann sei-nem Sohn bedeutete. Während Rudolph sich in Gegenwartanderer Kinder anstrengen und zusammenreißen musste,konnte er mit Klipper Eu so gedankenverloren sein, wie erwollte. In seiner Gegenwart lag nur Gutes, nie hätte er denJungen verspottet, geschubst oder verprügelt. Klipper Euwar ein verlässlicher Freund.

Klipper Eu, hatte Vater einmal erzählt, sei jahrelangauf einem großen Schiff gefahren, und nicht bloß auf demRhein, sondern auf allen Meeren der Welt. Irgendwann ha-be er es da draußen nicht mehr ausgehalten, und deshalbsei er nach Uerdingen zurückgekehrt. Hier aber habe er esgenauso wenig aushalten können, und so sei er eben ver-rückt geworden. Wenn man keine anderen Möglichkeitenmehr habe, dann gebe es immer noch diese eine: verrücktwerden. Rudolph hatte versucht, seinem Vater zu erklären,dass es immer und zu jedem Zeitpunkt eine unvorstellba-re Anzahl von Möglichkeiten gab, aber schon nach einigenwenigen, unzusammenhängenden Sätzen hatte er aufgege-ben. Eines aber war ihm klargeworden – wenn er jemals denEindruck hätte, keine anderen Möglichkeiten mehr zu be-sitzen, dann würde er lediglich falsch denken. Dachte manrichtig, sah man die anderen Versionen deutlich vor sich.«Es ist alles eine Sache der Einstellung», hatte er seinemVater noch gesagt, aber der war längst nicht mehr bei derSache gewesen.

Die Kiesbank war der beste Platz auf der Welt. In einerBiegung des Flusses gelegen, bestand sie aus dunklem Kie-sel und Sand, der schwerer war als der Sand, den man an-dernorts finden konnte. Während Vater Klipper Eu das Brot

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und die Flasche hinlegte, fingerte Rudolph die kleine Phioleaus seiner Jackentasche. Melcher hatte sie ihm einmal ausder Destillerie mitgebracht. Sie war kaum so groß wie Ru-dolphs Daumen, besaß einen bronzenen Verschluss, und inihrem Innern glitzerte Goldstaub.

Rudolph lehnte die Phiole gegen Klipper Eus Sardinen-büchse. Das war das Startsignal. Vater begann mit derSchaufel, ein Loch in den Kies zu graben, und wenn erdie Lage mit Sand erreicht hatte, befüllte er damit denEimer. Rudolph zog seine Schuhe aus, nahm eine Pfannevoll Sand und ging hinab ans Wasser. Das Auswaschen wareine schwierige Angelegenheit. Wenn die Strömung sehrstark war, riss sie alles Material sofort aus der Pfanne her-aus. War sie zu schwach, musste man alles Schwenkenund Auswaschen selber erledigen, und nach kürzester Zeitschmerzten die Handgelenke.

Bei Klipper Eu sah es unendlich leicht aus. Seine riesigenHände ließen die Pfanne mühelos im Wasser kreisen, ganzso, als wöge sie nicht das Geringste. Auch konnte er eineganze Pfanne sehr schnell abziehen – meist war er schonfertig, wenn Rudolph noch nicht einmal den groben, hellenSand aus seiner Pfanne herausgewaschen hatte. War nurnoch schwarzer Sand übrig, nahm ihm der Vater die Pfan-ne aus der Hand und wusch ihn vorsichtig aus. Zu wertvollsei der, um aus Versehen davongespült zu werden, sagte erseinem Sohn und kehrte ihm dabei den Rücken zu. Er warsehr geschickt. Wann immer er mit Rudolph Goldwaschenging, befanden sich am Ende einige Körnchen Gold in derPfanne – ganz anders, als wenn Rudolph alleine ging.

«Dein Vater is ein guter Mann», kommentierte KlipperEu jedes Mal das Schauspiel. «Aber vom Goldwaschen hater keine Ahnung.» Mit Blick auf die Phiole protestierte Ru-dolph. Auf seine Nachfrage hin schwieg Klipper Eu. Er warwohl wirklich so verrückt, wie alle sagten.

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Einmal schenkte Klipper Eu ihm ein daumennagelgroßesStück Katzengold. Vor der Tür zum Berns’schen Haus hatteer den Jungen abgefangen.

«Is nicht echt», hatte Klipper Eu gleich dazugesagt.«Sieht bloß so aus. Kenn eine Stelle, da is alles voll davon.Is aber nicht echt.»

Bis auf die Größe war es wirklich fast unmöglich, einenUnterschied zu den Goldpartikeln in Rudolphs Phiole zu er-kennen. Vielleicht war der Glanz etwas kühler, etwas silb-riger – aber wem würde das schon auffallen? Sicher nichteinem Fünfjährigen, dachte Rudolph. An diesem Tag würdeer nicht zu seinem Vater ins Geschäft gehen und auch nichthinauf zu seinem Apfelbaum. An diesem Tag wollte er Maxeine Freude machen. Der Kleine war noch nie auf der Kies-bank gewesen! Was würde er für Augen machen, wenn erunter dem Stein, den Rudolph ihm zeigen würde, ein StückGold fände … Rudolph spürte ein Kribbeln im Bauch, wenner daran dachte. Max würde sehr, sehr glücklich sein.

Den Stein fest in der Hand umschlossen, lief Rudolphzur Kiesbank. Er hatte sie ganz für sich alleine. Es warMittwoch, Markttag, und niemandem würde es ausgerech-net heute einfallen, Gold zu waschen. Es galt, ein gutesVersteck für das Nugget zu finden. Es durfte weder zu of-fensichtlich sein – Max sollte keinen Verdacht schöpfen –noch zu abgelegen, sonst würde Rudolph es vielleicht sel-ber nicht wiederfinden. Vor allem durfte es nicht zu nah amWasser sein, für den Fall, dass es den Boden plötzlich weg-riss. An jeder Stelle hatte Rudolph etwas auszusetzen, eswar, als gäbe es auf der gesamten Kiesbank kein geeigne-tes Versteck. Da bemerkte er, dass Klipper Eu seine Schau-fel neben einem großen Stein hatte liegenlassen. Vielleichtwar das ein Zeichen.

Rudolph nahm die Schaufel und hob vorsichtig ein klei-nes Loch neben dem Stein aus. Er hockte sich hin, wühl-te aus Vergnügen ein bisschen mit den Händen darin und

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verlor darüber fast das Katzengold. Er bekam es wiederzu fassen und pfiff durch die Zähne. So beschäftigt war er,dass ihm gar nicht aufgefallen war, wie sich ein feiner Herrvon der Böschung aus genähert hatte. Vielleicht ein Spa-ziergänger? Denn wie ein Goldwäscher sah er nun wirk-lich nicht aus. Rudolph wusste, wie der aussah: wie einDüsseldorfer. Die Düsseldorfer, die nach Uerdingen kamen,trugen alle hohe Hüte, weiße Kragen und lange, schwarzeMäntel, und an ihren Fingern blitzten schwere Goldringe.

«Na, was hast du denn da, Junge?» Der Herr war in sei-nen schwarzen Lackschuhen doch wirklich auf den Kies ge-treten!

«Nichts», sagte Rudolph und drehte das Katzengold ver-legen in seiner Hand.

«Ich glaube doch, ich habe etwas in deiner Hand gese-hen.»

Rudolph konnte nicht anders, er musste dem Herrn dasKatzengold zeigen.

«Das ist kein Gold», sagte Rudolph. «Das ist nichts wei-ter, das habe ich nicht gefunden, ich wollte es nur für mei-nen Bruder …»

«Papperlapapp», sagte der Herr. Er nahm Rudolph dasNugget aus der Hand und hielt es vor sein rechtes Auge.

«Ganz bemerkenswert … Wo genau hast du das gefun-den?»

«Nein, der Herr», stotterte Rudolph verwirrt. «Hab ichnicht! Das ist doch gar nichts, das ist nur ein Stein, den mirder Klipper Eu geschenkt hat!»

Jetzt wollte er am liebsten losheulen. Schon spürte er,wie sich seine Kehle zusammenzog. Der Herr wollte einfachnicht begreifen.

«Wo kommt es her, Junge? Wie viel willst du dafür ha-ben? Na los, sag schon!»

Es war zum Verzweifeln, der Herr redete einfach immerweiter. Als könnte er gar nicht hören, was Rudolph sagte.

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Der Wunsch zu weinen wurde immer stärker. Schon verzoges Rudolph den Mund, die Nasenflügel blähten sich – aberda passierte etwas Seltsames: Der Mann steckte das Nug-get in seine Manteltasche und drückte Rudolph einen Talerin die Hand. Dann hastete er die Böschung hoch.

Rudolph blieb noch eine Weile auf der Kiesbank stehenund sah auf das Geld in seiner Hand. Er konnte noch immernicht ganz begreifen, was geschehen war. Was würde nunaus seinem Geschenk für Max? Erst nach einiger Zeit fass-te er einen neuen Entschluss. Sobald seine Schuhe wiedertrocken wären, würde er in die Herbertz’sche Kolonialwa-renhandlung gehen und Max den Affen kaufen.

Und dann kam der Tag, der die Zukunft brachte. Am 29. September 1849 las Vater morgens aus der Zeitung vor:«Die Zukunft ist da! Die Eisenbahn kommt! Was lange vor-bereitet wurde, wird morgen endlich wahr und in die Ge-schichte eingehen. Nicht die Revolutionäre, die Eisenbahnschafft’s! Dies wird schon bald das Ende der morastigenLandwege sein, der betrunkenen Postillione und überlade-nen Kutschen. Uerdingen wird angeschlossen an die Ber-gisch-Märkische-Bahn, und bald schon an ganz Preußen!Gott segne König Friedrich Wilhelm IV.!» Was der König mitder Eisenbahn zu tun hatte, verstand Rudolph nicht ganz.

In der Schule hing eine Daguerreotypie, von der aus derMonarch triefäugig und stumpf auf die Wand gegenüberstierte. Unmöglich, dass so jemand die Zukunft brachte.Die Zukunft, das wusste Rudolph, hatten Männer gebracht,die wochenlang auf den Obstfeldern gearbeitet hatten. Nurdass das jetzt keine Obstfelder mehr waren, sondern Teileder Eisenbahnstrecke. Rudolph hatte die Arbeiten von sei-nem Apfelbaum aus genau verfolgt. Einer der Männer stachbesonders hervor. Anders als die übrigen schleppte er kei-ne Schwellen hin und her oder verlötete Gleisteile, sondernstand mit einem Heft in der Hand daneben, kratzte sich ab

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und zu an der Stirn und brüllte Befehle, so laut, dass sie bisan Rudolphs Versteck im Baum drangen.

Das, so erklärte Vater später, sei der Ingenieur. Und dieIngenieure, so fügte er hinzu, nähmen die Welt nicht hin,wie sie war, sondern bauten sie sich so zurecht, wie es ihnenpasste.

Darüber hatte Rudolph lange nachgedacht. Jetzt wussteer, was er dem Lehrer das nächste Mal sagen musste, wennder die Kinder fragen würde, was sie einmal werden woll-ten. «Schatzsucher» schien kein anerkannter Beruf zu sein,der Ohrfeige nach zu urteilen, die diese Antwort Rudolphbeim letzten Mal eingehandelt hatte.

Rudolph behielt jenen Tag, der die Zukunft brachte, vor al-lem als ein Beben in Erinnerung, das durch die Erde und dieDinge ging. Schon während des Frühstücks war es ihm auf-gefallen: Ein Kitzeln stahl sich von den Fußsohlen bis hin-auf in die Haarspitzen. Niemand am Tisch konnte stillsitzen,auch Vater und Mutter schienen aufgeregt und sprangenimmer wieder auf. Selbst Großvater, der kaum noch gehenkonnte, hatte Vater gebannt zugehört, die Augen weit auf-gerissen, als könne er kaum glauben, was gerade geschah.

Vater trug seinen schwarzen Anzug, sogar die golde-ne Uhr hatte er angelegt; Mutter eilte in einem blassrosaSpitzenkleid umher und suchte nach der Perlenkette ihrerGroßmutter. Auch die Kinder waren hergerichtet worden:Rudolph steckte in einem schon etwas eng sitzenden, dun-kelblauen Hemd, Max trug einen der neumodischen Ma-trosenanzüge, und Elise thronte da in ihrem bauschigenweißen Sonntagskleidchen. Es war ein ungewöhnlich war-mer Tag; sie alle rutschten auf ihren Stühlen hin und her,schwitzten und meinten doch, von einem Beben nichts zumerken. Als Rudolph sie darauf ansprach, verneinten siebloß, und die Mutter fragte, was er schon wieder ausheck-te. Sie erwartete keine Antwort, das wusste Rudolph.

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Draußen auf der Straße erzitterte das herbstwelke Laubder Linden, und durch die Erde ging ein Vibrieren, das sichauf die Häuser und ihre Wände übertrug. Max und Elise be-kamen keinen Bissen hinunter, und er, Rudolph, war ganzdamit beschäftigt, das Fensterbrett zu umklammern undaus dem Fenster zu starren, zu dem das Getrappel der Pas-santen heraufdrang. Dann hielt er es nicht mehr aus.

«Wir müssen los!», schrie Rudolph endlich. Max und Eli-se krähten es ihm nach und verschütteten ihre Milchnu-deln, niemand scherte sich darum. Großvater lachte. Es warwirklich ein besonderer Tag.

Noch nie hatte Rudolph so viele Menschen auf den Straßengesehen. Sie alle zogen zum neuen Bahnhof, an dem in Kür-ze die Eisenbahn eintreffen sollte. Und man ging zu Fuß!Mutters Wangen waren gerötet, das Haar spätestens an derKreuzung von Nieder- und Bahnhofsstraße in Unordnunggeraten. Max und Elise gingen brav an Vaters Händen. Vorlauter Staunen bekam Max den Mund nicht zu: Durch dieBahnhofsstraße wogte ein Meer aus schwarzen Anzügen,Zylinderhüten und festlichen Kleidern.

Die Familie geriet in eine Gruppe von Schlossern, davorliefen die Gebrüder Herbertz mit ihren Gattinnen, außer-dem waren da Kaufmann Holdinghausen, BrauereibesitzerWienges, Doktor Lewin, die Arbeiter aus den Destillerien,die Schmiede – sie alle gingen zusammen.

«Also doch Revolution», sagte der Vater leise, aber au-ßer Rudolph, der nicht von seiner Seite wich, und BäckerStinges, der neben ihnen lief, hatte ihn niemand gehört.

«Der Zukunft entgegen!», brüllte ein junger Mann mitsenfgelbem Mantel und einer Mütze, die aussah wie ein auf-geweichtes Brot. Als sich ein Gendarm nach ihm umdrehte,hantierte er umständlich an seiner Pfeife und ließ sich et-was zurückfallen.

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Der Platz vor dem Bahnhof war in einen riesigen Biergar-ten verwandelt worden. Man nahm auf den Bänken Platz,trank Wienges’ Bier und aß Stinges’ Brötchen. Die Kapellespielte auf, der Bürgermeister sprach zu seinen Bürgern,aber es half alles nichts  – die Bahn ließ auf sich warten.Wienges war vorbereitet. Mehrere Bierkutschen standenabseits, immer bereit, einen Engpass zu überbrücken. Nachkurzer Zeit schon spielte die Kapelle lauter, der Bürger-meister hielt aus dem Stegreif eine bierselige Rede, in deres um Napoleon, Napoleons Bauch und seinen lächerlichenHut ging. Natürlich erinnerte er auch an den Besuch desFranzosen in Uerdingen. Das sei aber gar nichts gewesengegen den heutigen Tag! Die Menge johlte, längst gab eskeine Sitzplätze mehr, die Brötchen waren ausverkauft.

Dafür war das feine Oszillieren der Erde nun deutlich zuspüren. Rudolph packte seine Geschwister und rannte mitihnen am Bahnhofsgebäude vorbei, hin zu einer Stelle anden Gleisen, an der noch nicht so viele Menschen standen.Jetzt hielt es auch die Erwachsenen, die bis dahin auf denBänken sitzen geblieben waren, nicht mehr an ihren Plät-zen: Alles drängte und schubste in Richtung Gleise.

Auch der Vater war aufgestanden und versuchte, zu denKindern vorzudringen, aber die Menschen standen zu engbeieinander, es ging weder nach vorne noch zurück. DieVögel in den Linden schrien, die Hunde jaulten, die Schin-deln auf dem Dach des Bahnhofsgebäudes klapperten; hin-ten, bei den Biertischen, hörte man lautes Lachen und dasSchreien einer Frau, wieder jaulte ein Hund – nein, es warkein Hund, diesmal war es die Bahn, die Bahn am Horizont.

Rudolph ließ seine Geschwister los und ballte die Händezu Fäusten. Das, was wie ein Jaulen geklungen hatte, wurdezu einem ohrenbetäubenden Brüllen; in einiger Ferne sahman eine Rauchwolke aufsteigen, aus der sich langsam dieLokomotive herausschob. Aber genau in diesem Momentwälzte sich der uniformierte Bahnwärter in Rudolphs Blick-

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feld. In seiner Verzweiflung stieß Rudolph den Mann zurSeite und rannte auf die Schienen. Jetzt konnte er sie se-hen: die Lokomotive, sie war es wirklich!

Rudolph fiel es später schwer zu erklären, warum er sichnicht hatte fortbewegen können. Es war, als hätte der An-blick der sich nähernden Lokomotive ihn gelähmt: ein feu-er- und wasserspeiender Koloss, der die ganze Welt um ihnherum in Rauch und Dampf hüllte.

Die Kupplung starrte ihn wie aus zwei aufgerissenen Au-gen an, immer näher kam die Lokomotive, das Stampfen derRäder, das verzerrte Gesicht des Lokomotivführers auf demFührerstand, die Rauchkammer, das aufblitzende Spitzen-signal, der Aufschrei der Menge! Schon türmte sich die Es-se hoch in den Himmel – da packte jemand Rudolph am Armund zog ihn von den Gleisen. Im nächsten Moment schobsich die Lokomotive über die Stelle, an der Rudolph ebennoch gestanden hatte, und kam am Bahnhof mit ohrenbe-täubendem Quietschen zum Stehen.

Rudolph löste sich aus dem Griff seines Retters, dräng-te vor zu den Rädern, sie zu berühren, sie zu umarmen,aber schon kam der Lokomotivführer vom Stand herunter-gesprungen.

«Das Grinsen werd ich dir austreiben!»Er schrie noch etwas, ein goldener Schneidezahn blitz-

te auf, dann schlug er Rudolph ins Gesicht – einmal, zwei-mal, dreimal. Blut spritzte, aber Rudolph war es ganz egal,Rudolph war glücklich. Mit einem Lächeln auf den Lippenverlor er drei Milchzähne. Dann schritt sein Vater ein, imHintergrund spielte die Kapelle wieder auf.

Das Beben hatte nachgelassen.

Von Berlin hörte Rudolph das erste Mal an dem Tag, an demsein Großvater beerdigt wurde. Spät am Abend, die Kin-der waren längst im Bett, tönte es aus dem Schlafzimmer

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der Eltern: Berlin, Berlin, immer wieder Berlin. Das war derBass des Vaters. Max und Elise schliefen einfach weiter, diebeiden hatten viel geweint, so etwas strengt an. Rudolphhatte stumm neben dem offenen Sarg gestanden und dar-auf gewartet, dass es passierte: dass er den Großvater sah,wie er war, und gleichzeitig, in einer anderen Version, alseinen gesunden jungen Mann voller Kraft und Tatendrang –aber nichts dergleichen geschah. Großvater hatte alle an-deren Versionen von sich mit in den Tod genommen.

Dabei hätte Doktor Lewin ihm durchaus noch ein paarMonate zollfrei, wie er sich ausdrückte, zugebilligt, Nieren-leiden hin oder her. Doch es hatte nichts geholfen. Erst warGroßvater blass geworden, dann hatte er unter Schwindelund Übelkeit gelitten, und am Ende war er nicht einmalmehr die Treppe ins Geschäft hinuntergekommen. So sehrhatte es ihn in den Beinen gejuckt, dass er Rudolph auffor-derte, ihn mit einer Gabel zu kratzen. Dann aber waren dieKrämpfe gekommen, und die Zeit der Gabeln war vorbei.Vater hatte am Fenster gestanden, und die Mutter war stän-dig hin und her geeilt. Einzig Rudolph hatte die ganze Zeitauf dem Stuhl neben Großvaters Bett gesessen. Als Groß-vater anfing, nach Luft zu schnappen, wusste Rudolph, dasses bald vorbei sein würde. Die letzten Worte, die Großva-ter sagte, waren «Hans Guck-in-die-Luft», was danach kam,verstand Rudolph schon nicht mehr. Der Tod hatte Großva-ter an der Angel, und er ließ ihn so lange zappeln, bis alleKraft aus ihm gewichen war. «Hans Guck-in-den-Tod», flüs-terte Rudolph, als es vollbracht war. Die Gabeln hatte dieMutter später alle fortgeschmissen.

Und nun also der Streit. Warum mussten Erwachsene im-mer in der Nacht streiten? Wieder dieses Wort: Berlin. Jetzthatte es auch die Mutter ausgesprochen. Merkwürdig an-ders klang es aus ihrem Mund, wie etwas Unfeines, etwas,über das man mit niemandem sprach, weil es sich einfach

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nicht gehörte. Rudolph schlich sich an seinen schlafendenGeschwistern vorbei und hinaus in den Flur.

«Hast du gar kein Schamgefühl?», hörte er da seine Mut-ter fragen. Beinahe hätte er geantwortet, aber die Schlaf-zimmertür der Eltern war noch immer geschlossen, siekonnte ihn unmöglich bemerkt haben.

«Das Geschäft kommt zuerst», sagte Vater. «Aber wirmachen’s anders als der Alte. Wir trauen uns was.»

Rudolph presste sein rechtes Ohr so eng an die Tür, dasser das Mahlen eines Holzwurms hören konnte. Als sich indas Mahlen des Wurms das Weinen der Mutter mischte, be-griff Rudolph, dass eine Entscheidung gefallen war. Warumnur konnte er sich nicht darüber freuen? Berlin klang wieeine große Stadt, viel größer als Uerdingen. Aber wie er davor der Tür der Eltern stand, überkam ihn das Gefühl, dassetwas unwiederbringlich zu Ende gehen würde, etwas, dassich nie wieder herstellen ließe. Verwirrt wischte er sicheine Träne ab, lief zurück in das Kinderzimmer und weckteMax. Zusammen saßen sie bis zum Morgen auf RudolphsBett und zählten die Münzen, die sie mit dem Verkauf vonKatzengold verdient hatten. Nach Berlin durfte man nichtmit leeren Händen fahren, das war klar.

In den nächsten Wochen gab es viel zu tun. Melcher gingbei ihnen nun ein und aus.

«Eine eigene Vertretung in Berlin, das ist doch – !» DerSauerbraten der Mutter schmeckte Melcher besonders gut.Wann immer er kam, schob ihm Rudolph eine von Großva-ters Gabeln hin. Kaum hatte die Mutter sie nach dessen Todfortgeschmissen, hatte Rudolph sie wieder aus dem Müllhervorgeklaubt. Niemand schien es bemerkt zu haben.

Die Eltern waren damit beschäftigt, mit Melcher unddem Notar die Bedingungen eines Kaufvertrags auszuhan-deln. Melcher wollte nicht nur für den Umzug aufkommen,er würde ihnen sogar das Berns’sche Haus samt Geschäft

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zu einem guten Preis abkaufen. Natürlich verpflichtete sichder Vater im Gegenzug, Melchers Waren anzubieten. Sogarein Lokal mit darüberliegender Wohnung hatte Melcher inBerlin aufgetan: ein kleines Geschäft in der Friedrichstadt,und wer etwas von Berlin verstand, wusste, was das hieß.

«Das heißt Profit!», sagte Melcher. «In der Friedrich-stadt, mein Freund, da geht die bessere Gesellschaft ein-kaufen. Und was will die bessere Gesellschaft? Sicher keintrübes, stinkendes, gepanschtes Bier, was, Frau Berns!»

Aber Caroline Berns sah bloß auf ihre Hände und seufz-te. Melcher griff Rudolph am Arm und zog ihn zu sich her-an. Ob der kleine Herr denn eine Vorstellung von Berlin ha-be? Von der großen Stadt? Das sei etwas anderes als Uer-dingen, darauf könne er sich gefasst machen. Eigentlich seidas gar keine Stadt, sondern eine lebendige Kreatur, diesich ständig verändere, sich selber immerfort neu erfinde.Er werde schon sehen!

Klipper Eu saß wie immer auf der Kiesbank. Rudolph er-kannte ihn schon von weitem an seinem zerschlissenenMantel. Bei der umgestürzten Weide hatte er es sich be-quem gemacht. Anders als sonst rannte Rudolph aber nichtdas Ufer entlang, sprang nicht über die Weidenäste undrutschte auch nicht die Böschung hinab. Seine Füße wogenZentner, und jeder Schritt kostete unendlich viel Kraft. Da-bei hatte er sich doch genau zurechtgelegt, was er KlipperEu erzählen wollte: Die Stadt Berlin sei so groß, bis zumHorizont und hinauf zum Himmel reiche sie! Riesige Paläs-te baue man dort, Tunnel, Kanäle, einfach alles! Berlin wür-de von Leuten mit Phantasie erbaut und bewohnt, und des-halb, so wollte er sagen, sei Berlin ein besserer Ort für ihn,Rudolph. Klipper Eu musste es einfach begreifen.

Aber dann war da bloß Klipper Eus wissender Blick, derSchlapphut, der darüber hing, und plötzlich war alles ver-gessen.

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«Wir müssen weg», sagte Rudolph.«Ich weiß», sagte Klipper Eu.«Ich hab Angst.»«Ich weiß.»Stumm reichte Rudolph ihm die Phiole, auf deren gläser-

nem Boden sich der Goldflitter hin und her schob. KlipperEu steckte sie wortlos in die Innentasche seines Mantels.Dann nahm er Rudolphs Hand und steckte etwas hinein. AlsRudolph sie öffnete, fand er darin eine silberne Münze. Siewar uneben und ihre Ecken so scharf, dass man sie als klei-nes Messer hätte benutzen können. Auf einer der Seiten er-kannte Rudolph eine Kornähre, auf der anderen vielleichteinen Kopf, aber mit Sicherheit ließ sich das nicht sagen.

«Hat Gaius Julius hier für dich liegen lassen», sagte Klip-per Eu. «Als er den Fluss überquerte. Is aber schon washer.»

Rudolph umarmte Klipper Eu so heftig, beinahe rutschteer vom Weidenstamm herunter. Er schmiegte sich an Klip-per Eus Hals, dorthin, wo sich Falten tief in die Haut gru-ben und ein verzweigtes Netz bildeten. Wie eine Landkarte,dachte Rudolph. Wie eine Landkarte, die keiner lesen kannaußer mir.

Zum Abschied sagte er Klipper Eu, dass er ihm ganz si-cher schreiben werde, und er solle ihm auch ganz sicherschreiben, und zwar nach Berlin, nach Berlin, ob das in sei-nen Kopf hineingehe? Sicherheitshalber, für den Fall, dasses nicht in seinen Kopf hineinging, steckte er Klipper Eueinen Zettel in die Manteltasche. Darauf stand: Weinhand-lung Berns, Leipziger Straße 72, Berlin.

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