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Leseprobe aus: ISBN: 978-3-498-00185-8 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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ISBN: 978-3-498-00185-8Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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Alex Ross

Die Welt nach WagnerEin deutscher Künstler und

sein Einfluss auf die ModerneAus dem Englischen von Gloria

Buschor und Günter Kotzor

Rowohlt

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel«Wagnerism» bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

Deutsche ErstausgabeVeröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg«Wagnerism» Copyright © 2020 by Alex Ross

Lektorat Tobias Schumacher-Hernández und Martin KulikAlle Zitate, für die keine Übersetzung ins Deutsche existiert bzw.

die nicht zugänglich sind, wurden von den Übersetzern übertragen.Innengestaltung Daniel Sauthoff

Satz Abril Text bei Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinDruck und Bindung C. H. Beck GmbH, Nördlingen, Germany

ISBN 978-3-498-00185-8

Die Rowohlt Verlage haben sich zu einer nachhaltigenBuchproduktion verpflichtet. Gemeinsam mit unseren Partnern

und Lieferanten setzen wir uns für eine klimaneutraleBuchproduktion ein, die den Erwerb von Klimazertifikaten

zur Kompensation des CO2-Ausstoßes einschließt.www.klimaneutralerverlag.de

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InhaltInhaltVorspiel: Der Tod in Venedig

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InhaltVorspiel: Der Tod in Venedig 11

1. Rheingold. Wagner, Nietzsche und der Ring 272. Der Tristan-Akkord. Baudelaire und die Symbo-

listen 833. Schwanenritter. Das viktorianische England und

das Gilded Age in Amerika 1334. Der Gralstempel. Der esoterische, dekadente und

satanische Wagner 1875. Die Heilge Deutsche Kunst. Das Kaiserreich und

Wien im Fin de Siècle 2256. Nibelheim. Wagner und Rasse 2717. Venusberg. Wagner, Gender und Sexualität 3258. Brünnhildes Fels. Willa Cather und der Sänger-

roman 3779. Feuerzauber. Die Moderne: 1900 bis 1914 41510. Nothung. Der Erste Weltkrieg und der junge Hit-

ler 46711. Ring der Macht. Die Revolution und Russland 

50312. Der Fliegende Holländer. Ulysses, The Waste

Land, The Waves 54713. Siegfrieds Tod. Thomas Mann und die National-

sozialisten 59714. Walkürenritt. Wagner im Film: Von The Birth

of a Nation bis Apocalypse Now 65515. Die Wunde. Wagnerismus nach 1945 707

Nachwort 761

Chronologie Wagners Leben 767Anmerkungen 771

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Danksagung 877Personenregister 883Bildnachweis 897Über den Autor 907

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Vorspiel: DerTod in Venedig

Traulich und treuist’s nur in der Tiefe:

falsch und feigist was dort oben sich freut!

Am Ende des Rheingold, dem ersten Teil von WagnersOpernzyklus Der Ring des Nibelungen, betreten die Göt-ter den neuerbauten Palast Walhall unter dem Klagege-sang der Rheintöchter, die wissen, dass Walhall auf ei-nem korrupten Fundament ruht. Das Gold, mit dem fürseine strahlende Pracht bezahlt wurde, gehört in die Tie-fe des Flusses.

Am Abend des 12. Februar 1883, drei Jahrzehnte nachder Vollendung von Rheingold und sieben Jahre nach derersten Gesamtaufführung des Rings, spielte Wagner dieKlage der Rheintöchter auf dem Klavier. Als er zu Bettging, bemerkte er: «Ich bin ihnen gut, diesen unterge-ordneten Wesen der Tiefe, diese[n] sehnsüchtigen».

Wagner war 69 Jahre alt und bei schlechter Gesund-heit. Seit September 1882 wohnte er mit seiner Familiein einem Seitenflügel des Palazzo Vendramin-Calergi amCanal Grande in Venedig. In seiner «blauen Grotte», ei-nem mit buntem Satin und weißer Spitze geschmücktenRaum, schrieb er an einem Aufsatz mit dem Titel «Überdas Weibliche im Menschlichen». Danach wollte er da-mit anfangen, Symphonien zu komponieren.

Am nächsten Tag arbeitete Wagner im rosafarbenenMorgenrock weiter an dem Aufsatz. Am Rand einer lee-ren Seite vermerkte er: »Gleichwohl geht der Prozeßder Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zu-

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ckungen vor sich. Liebe – Tragik». Cosima Wagner, diezweite Frau des Komponisten, spielte im Nebenzimmerauf dem Klavier das Schubertlied «Lob der Tränen», ineiner Bearbeitung ihres Vaters Franz Liszt.

Kurz nach zwei Uhr schrie Wagner auf und verlang-te nach Cosima und seinem Arzt Friedrich Keppler. Erwand sich vor Schmerzen und fasste sich an die Brust.Ein Hausmädchen und ein Diener trugen ihn zu einemSofa an einem Fenster mit Blick auf den Kanal. Als derDiener versuchte, ihm den Rock auszuziehen, fiel etwasauf den Boden, und Wagner sprach seine angeblich letz-ten Worte: «Meine Uhr!» Gegen drei Uhr nachmittagskam Dr. Keppler und stellte den Tod des Meisters fest.Der Zauberer von Bayreuth, der Schöpfer des Rings,von Tristan und Isolde und Parsifal, der Mann, der nachFriedrich Nietzsche «einem vulkanischen Ausbruche desgesammten ungetheilten Kunstvermögens der Natur sel-ber» glich, den Thomas Mann «wahrscheinlich das größ-te Talent aller Kunstgeschichte» genannt hatte, war tot.

Am späten Nachmittag hatte sich eine Menschenmengeam Straßeneingang des Palazzo Vendramin versammelt.Dr. Keppler trat vor die Tür und sagte: «Richard Wagnerstarb vor einer Stunde an einem Herzinfarkt». Man hör-te: «Richard Wagner, tot, tot». Die Nachricht verbreite-te sich rasch in der regennassen Stadt: «Riccardo Wag-ner il famoso tedesco, Riccardo Wagner il gran Maëstrodel Vendramin è morto!» John W. Barker zitiert in seinemBuch Wagner and Venice den ersten Nachruf, der amnächsten Morgen in der Zeitung La Venezia erschien:

Gestern verstarb in unserer Stadt das musikalische Ge-nie Deutschlands.Der Komponist des Lohengrin weilte einige Monate mitseiner Gattin und seinen reizenden Kindern bei uns in

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der Hoffnung, dass die milde Luft unseres Himmels sei-ne Gesundheit wiederherstellen würde, die seit einigerZeit angegriffen war ( … )Gestern Abend gingen wir zum Palazzo Vendramin-Cal-ergi, um Neues zu erfahren.– Riccardo Wagner ist tot  – hörte man dort  – und sei-ne Witwe kniete neben dem Leichnam, außer sich vorSchmerz. Sie konnte nicht glauben, dass ihr geliebterGefährte in die ewige Ruhe eingegangen war!Wie viele Erinnerungen drängen sich auf – welch kühneKämpfe hat er ausgestanden, welch grandiose Siege hater erzielt – die Kunst, die er schuf – die erbitterten Fein-de – die fanatischen Anhänger, die ihn wie einen Gottverehrten – die gekrönten Könige, die vor ihm knieten!Nie mehr – ein Leichnam!Aber aus ihm spricht eine Stimme, die nicht sterbenwird – die mit der Zeit vielleicht stärker wird, geachte-ter, geliebter.

In den folgenden vierundzwanzig Stunden wurdenangeblich fünftausend Telegramme aus Venedig ver-schickt. Die Nachricht verbreitete sich bis nach Dunedinin Neuseeland, wo Fergus Hume ein Sonett verfasste,das Wagners «Æschylean Music» feierte.

Umfangreiche Nachrufe befassten sich mit dem er-eignisreichen Leben des Komponisten: die bürgerlicheHerkunft; die frühen Kämpfe an den verschiedensten Or-ten; sein gescheiterter erster Versuch, Paris zu erobern;seine Jahre als progressiver Operndirektor in Dresden;sein Engagement in der Revolution von 1848/49; dasSchweizer Exil; über ein Vierteljahrhundert die immerwieder unterbrochene Arbeit am Ring; sein turbulentesPrivatleben mit zwei Ehen und endlosen finanziellen Kri-sen, die wundersame Rettung durch König Ludwig II.von Bayern; der Bau des Festspielhauses in Bayreuth;

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dort die Uraufführung des Rings im Jahr 1876 im Bei-sein von zwei Kaisern und zwei Königen; und schließlich1882 der mystische Abschied mit Parsifal. «Das LebenRichard Wagners zeigt auf bemerkenswerte Weise, wiedurch andauernde Bemühung die Inspiration des Genieszur Vollendung gebracht werden kann», schrieb die NewYork Times. Die abstoßenderen Charakterzüge Wagnerswurden in der Regel nicht erwähnt. Im Nachruf der NewYork Daily Tribune fand sich auf einer eng bedrucktenSeite nur ein einziger Satz zu seinen bösartigen Angrif-fen auf die Juden.

Radikale Wagnerianer hielten die üblichen Huldigun-gen für völlig unzureichend. Der amerikanische Heiß-sporn Benjamin Tucker schrieb in seiner Zeitschrift Li-berty: «Keine Zeitung erwähnt im Nachruf für RichardWagner, den bedeutendsten Komponisten, den die Weltje gesehen hat, die Tatsache, dass er Anarchist war. Aberdas ist die Wahrheit. Lange Zeit war er Michail Baku-nin eng verbunden und machte sich die Begeisterungdes russischen Reformators für die Zerstörung der al-ten Ordnung und die Schaffung einer neuen zu eigen».Ähnlich äußerte sich Moncure Conway, ein Freigeist, Ab-olitionist und Pazifist aus dem amerikanischen Südenbei einem Gedenkgottesdienst in London: Durch Künst-ler wie Wagner sei «die alte Ordnung unwirklich gewor-den».

Andere Komponisten waren über Wagners Ablebenentsetzt – unabhängig von ihrer Einstellung zu ihm. «Va-gner è morto!!!», schrieb Giuseppe Verdi, Wagners ita-lienischer Widerpart. «Als ich gestern die Nachrichtenlas, war ich erschüttert, das muss ich Ihnen sagen! Essteht außer Frage: Eine große Persönlichkeit ist von unsgegangen! Ein Name, der unauslöschliche Spuren in derGeschichte der Kunst hinterlässt!!!» Johannes Brahms,den man in Deutschland als bedeutendsten Gegenspie-

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ler Wagners betrachtete, schickte zur Beerdigung ei-nen großen Lorbeerkranz. Junge Schwärmer waren ver-zweifelt. Gustav Mahler lief weinend durch die Straßenund rief: «Der Meister ist tot!» Pietro Mascagni schlosssich mehrere Tage ein und komponierte in großer Ei-le die Elegia per orchestra in morte di R. Wagner. Lisztverewigte seinen Schwiegersohn mit einem eigentümli-chen Klavierstück, R. W. – Venezia, das zwischen empha-tischer Bestätigung der Durtonalität und Abschweifun-gen in harmonische Unbestimmtheit schwankt. EinigeMonate später komponierte er ein düsteres, gespensti-sches Stück mit dem Titel Am Grab Richard Wagners.

Es entstanden zahlreiche und oft schlechte Gedichtezu Wagners Gedächtnis. «He hath ascended in the MagicCar» (Er stieg empor im Zauberwagen), schrieb der ame-rikanische Pädagoge Henry Venable in «Wagner Dead».Herausragend ist Algernon Charles Swinburnes Elegie«The Death of Richard Wagner», mit Alliterationen, diean den bardischen Sprachstil des Komponisten erinnern:

Trauer auf Erden, wie wenn sich dunkle Stunden senkenHerab vom Himmel, die Schwingen weit mit Plagen;Freud’ und HoffnungSchwinden, und keine Lippen tadeln oder mahnen, Trau-er auf Erden.Die Seele, die uns sang Geburt und Tod,Dunkel und Licht, so oft zum Klang verschmolzen,Jetzt still, sie nimmt der ganzen Welt an Wert.

Der 38-jährige Nietzsche befand sich zu dieser Zeit inRapallo, wo er den ersten Teil von Also sprach Zarathus-tra vollendete, in dem er den Tod aller Götter und dieAnkunft des Übermenschen verkündete. Nietzsche sagtespäter, er habe sein Werk «in jener heiligen Stunde» be-endet, «in der Richard Wagner in Venedig starb». Nach-

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dem er am nächsten Tag die Zeitungen gelesen hatte, lager mehrere Tage krank und wie betäubt im Bett. Nietz-sches Schwager Bernhard Förster erreichte die Nach-richt in Asuncíon in Paraguay, wo er eine arische Kolonieerrichten wollte. Förster trauerte um Wagners Eingangins «Nirwana», ohne zu wissen, dass der Komponist ei-nige Tage vor seinem Tod Zweifel an dem Projekt in Pa-raguay geäußert hatte.

Auf beiden Seiten des Atlantiks fanden Gedächtnis-konzerte statt. «Die ganze Welt war da», sagte Ma-ry Gladstone, die Tochter William Gladstones, über einWagnerkonzert im Londoner Crystal Palace. Vier Tagenach Wagners Tod änderte das Boston Symphony Or-chestra das Programm und veranstaltete eine «Wagner-nacht». Vier Institutionen in New York – die New YorkAcademy of Music, die Philharmonic Society, die Brook-lyn Philharmonic Society und die New York Chorus So-ciety  – zollten dem Komponisten Tribut, wie auch diePariser Orchester Colonne, Pasdeloup und Lamoureux.Doch die außergewöhnlichste Ehrung fand am 19. April1883 passenderweise in Venedig statt. Vor dem PalazzoVendramin spielte unter der Leitung von Anton Seidl einOrchester in den bissone, den prunkvollen Zeremonien-booten Venedigs, mit Hunderten von Zuhörern in Gon-deln. Siegfrieds Trauermarsch, das instrumentale Grab-denkmal aus der Götterdämmerung, erklang auf demCanal Grande.

Die amerikanische Essayistin Sarah Butler Wister be-suchte ein Gedenkkonzert in Paris. Ihr Interesse warvermutlich durch ihren musikinteressierten Sohn Owengeweckt worden, dem späteren Autor des Westernklas-sikers The Virginian (Der Virginier). Im darauffolgen-den Jahr veröffentlichte Wister einen anschaulichen Be-richt im Atlantic Monthly, in dem sie nicht nur überdie Bewunderung der progressiven Konzertteilnehmer,

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sondern auch über den Hass der konservativen Patrio-ten schrieb, die Wagners chauvinistische Hetze währenddes Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 nichtvergessen hatten:

Die Musik hatte uns lebend verschlungen, wie in einemStrudel. Das erregbare Publikum war zur Raserei ge-bracht, was nicht nur musikalische Gründe hatte. EinigeZuhörer hegten echte Antipathie gegen den Komponis-ten, andere gegen ihn als Deutschen, und diese Vorur-teile kämpften heftig gegen die überwältigende Machtder Musik und die verzückte Begeisterung bei der Mehr-zahl der Besucher. Die Großartigkeit des Tannhäuser,der Reiz des Chors der Spinnerinnen im Fliegenden Hol-länder, der Ernst und die Faszination des Vorspiels zumParsifal hielten die Abtrünnigen im Zaum bis zu demwilden Galopp der Walküren. Die strengen Töchter Od-ins ritten auf dem Wirbelsturm über dem Schlachten-lärm und rissen die Sterblichen mit sich in ihrem atem-losen Lauf. Dann brach ein anderer Sturm aus – mit Zi-schen, Johlen, Stampfen, schrillem Pfeifen, Rufen, Ge-schrei und Gegengeschrei: «Das ist keine Musik!» «Bra-vo! Bravo! Bravissimo!» «Wenn die Deutschen das hörenwollen, sollen sie es daheim hören!» «Bis! Bis!» (Noch-mal, nochmal.) «Es reicht!» «Superb! Großartig!» «Auf-hören!» «Raus mit den Raben!» (für die Männer mit denTrillerpfeifen.) «Nieder mit den Zirkusreiterinnen!»

In den deutschsprachigen Ländern waren die Nachrufeleidenschaftlich und oft politisch motiviert. Junge pan-germanische Österreicher, die sich für die Vereinigungdieser Länder unter einer Flagge einsetzten, fühltenemotionale Verbundenheit mit Wagner. Wie der Schrift-steller Hermann Bahr berichtete, erklärten sich jungeWiener zu Wagnerianern, ohne einen einzigen Takt sei-

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ner Musik gehört zu haben. Einer von Bahrs Freundenhatte einst drei Tage vor einem Bahnhof ausgeharrt, indem irrtümlichen Glauben an die Ankunft des Meisters.

Am 5. März veranstaltete die deutsche Studentenver-einigung in Wien einen Festakt zu Ehren Wagners imSophiensaal, in dem früher die Strauß-Dynastie Tanz-abende mit Wiener Walzern abgehalten hatte. Untermehreren tausend Teilnehmern nahm im Verlauf desAbends die pangermanische Rhetorik zu, man hörte an-tisemitische Verunglimpfungen. Bahr, der damals zurBurschenschaft Albia gehörte, hielt eine feurige Rede.Als Höhepunkt verwendete er eine Metapher aus Parsi-fal, er verglich Deutschland mit Wagners keuschem Hel-den und Österreich mit der verstoßenen Kundry: «Es[Deutschland] möge sich doch endlich erbarmen und derschwer büßenden Kundry nicht länger vergessen, diejenseits der Grenzen noch immer sehnsüchtig des Er-lösers harrt!» Dieser Satz verursachte einen Aufruhr,die Studenten sangen «Die Wacht am Rhein» und dasDeutschlandlied. Die Polizei musste einschreiten. Jahr-zehnte später erinnerte sich Bahr, dass Georg von Schö-nerer, der prodeutsche und antijüdische Volksverhetzer,einen Knüppel geschwungen und vor Zorn gegeifert hat-te.

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Die Ankunft von Wagners Sarg in München

Der Vorfall veranlasste einen jüdischen Alumnus der Al-bia, die Burschenschaft unter Protest zu verlassen. Erwar besorgt, weil die Wagner-Gedenkfeier zu einer an-tisemitischen Demonstration geworden war. Er schrieb:«Es fällt mir nicht ein, hier gegen diese rückschrittlicheMode des Tages zu polemisiren; ich will nur beiläufigerwähnen, dass ich vom Standpunkte der Freiheitsliebeselbst als Nichtjude eine Bewegung verurtheilen müss-te, der sich allem Anscheine nach auch meine Burschen-schaft angeschlossen hat. Allem Anscheine nach; dennwenn man gegen Vorgänge solcher Art nicht vernehm-lich protestirt, so haftet man solidarisch mit. Qui tacet,consentire videtur! [Wer schweigt, stimmt zu!]». Der Au-tor war Theodor Herzl, der zukünftige Architekt des zio-nistischen Staats. Auch er fühlte sich zu Wagner hin-gezogen, der Antisemitismus des Komponisten schreck-te ihn nicht. Während er 1895 in Paris am Judenstaatschrieb, besuchte er häufig Vorstellungen von Tannhäu-

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ser, Wagners Geschichte eines Wanderers auf der Su-che nach Erlösung. Herzl erinnerte sich später: «Nur anden Abenden, wo keine Oper aufgeführt wurde, fühlteich Zweifel an der Richtigkeit meiner Gedanken».

Während sich die Nachricht von Wagners Tod verbreite-te, wurden seine sterblichen Überreste nach Bayreuthüberführt, der fränkischen Stadt, die er für seine Fest-spiele und als Wohnsitz gewählt hatte. Der Sarg wurdeauf dem Wasser vom Palazzo Vendramin zum Bahnhofvon Venedig gebracht, danach mit der Eisenbahn überÖsterreich nach Deutschland, am 17. Februar erreichteer Bayreuth. Für die Kränze benötigte man drei weite-re Waggons. Siebenundzwanzig Feuerwehrmänner hiel-ten über Nacht am Bahnhof Wache. Das Begräbnis be-gann am folgenden Tag um vier Uhr, ein Militärorches-ter spielte Siegfrieds Trauermusik. Nach den Grabredenzog eine lange Prozession durch die Stadt zu der Villa,die Wagner Wahnfried genannt hatte. Der Verstorbenewurde im Park hinter dem Haus bestattet, neben demGrab seines Lieblingshunds, dem Neufundländer Russ.

Die Zeitung La Venezia hatte nicht übertrieben,wenn sie schrieb, dass Cosima Wagner «außer sich vorSchmerz» war. Nachdem die Trauergäste abgereist wa-ren, stieg die Meisterin, wie sie von da an genannt wur-de, in das Grab und legte sich neben den Sarg. Sie hattesich von ihren Töchtern die Haare abschneiden lassen,ihre Locken wurden in einem Samtkissen auf die Brustdes Toten gelegt. Sie schien mit ihm sterben zu wollen.Siegfried, ihr dreizehnjähriger Sohn, konnte sie schließ-lich überreden, ins Haus zurückzukommen. Sie lebte bis1930 und machte Bayreuth zum Kulturdenkmal.

Wagners Ruhestätte wurde ein Ort der Vereh-rung. Ein Sonettdichter schrieb von einer «verwundert’Schar / von müß’gen Pilgern, die verzaubert war». John

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Philip Sousa, der amerikanische König der Marschmu-sik, konnte die Haushälterin von Wahnfried nur mit Mü-he überreden, ihn in Abwesenheit von Cosima einzulas-sen. Viele Besucher wollten ein Andenken. Die BostonerKunstmäzenin Isabella Stewart Gardner nahm ein Blattvon dem Efeu über dem Grab und bewahrte es in ihremSammelalbum auf. Auch die Komponisten Anton Bruck-ner und Emmanuel Chabrier nahmen Efeu mit. Chab-rier verwahrte seinen Wagner-Efeu in einem Schaukas-ten. Reverend Hugh Haweis, der Autor des erfolgreichenTraktats Music and Morals, brach einen Tannenzweigab, der über dem Grab hing. Eine Romanfigur in UptonSinclairs King Midas nimmt einen Kieselstein mit nachHause.

Einige Pilger waren weniger sentimental. Der afro-amerikanische Schriftsteller und BürgerrechtsaktivistW. E. B. Du Bois ging zweimal täglich am Grab vorbei, alser 1936 die Festspiele besuchte. Obwohl Du Bois das ras-sistische Vermächtnis des Komponisten kannte, schrieber: «Die Musikdramen Wagners erzählen von menschli-chem Leben wie er es lebte und niemand, sei er weißoder schwarz, kann es sich leisten, sie nicht zu kennen,wenn er etwas über das Leben erfahren will». Als Leo-nard Bernstein am Grab stand, scherzte er, die Grabplat-te sei groß genug, um darauf zu tanzen. Zweifellos dach-te Bernstein dabei nicht nur an Wagner, sondern auchan Adolf Hitler, der bei seinem ersten Besuch im Jahr1923 lange allein am Grab stand.

In der Villa Wahnfried ist heute das Richard WagnerMuseum untergebracht. Das venezianische Sterbesofakann im oberen Stockwerk besichtigt werden. Der Palaz-zo Vendramin ist jetzt das Casinò di Venezia, unter demMotto «unbegrenzte Emotionen» kann man dort Poker,Blackjack und Roulette spielen. Am Canal Grande gibt eseine Gedenktafel, für die der Schriftsteller und Politiker

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Gabriele d’Annunzio 1910 einen angemessen enigmati-schen Text verfasste:

In diesem Palasthören die Seelenden letzten Atem Richard Wagnersunablässig wie die Flutdie den Marmor umspült.

Wagners Grab in Wahnfried

Die unzähligen Trauerfeiern des Jahres 1883 zeigten,welchen ungeheuren Schatten Wagner auf die Welt ge-worfen hatte. Außergewöhnlich ist allerdings, dass die-ser Schatten nach seinem Tod noch größer wurde. Derchaotische posthume Kult, den wir unter dem NamenWagnerismus kennen, war keineswegs ausschließlichoder auch nur überwiegend ein musikalisches Phäno-men. Er fand unter allen Künsten Verbreitung – Poesie,

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Erzählliteratur, Malerei, Theater, Tanz, Architektur undFilm. Er beeinflusste auch die Politik. Sowohl für die rus-sischen Bolschewiki als auch für die deutschen National-sozialisten war Wagners Musik die Begleitmusik zu ih-rem Versuch, die Menschheit neu zu formen. Der Kom-ponist wurde zum kulturellen und politischen Unterbe-wusstsein der Moderne – ein ästhetisches Kriegsgebiet,in dem die westliche Welt mit ihren krassen Widersprü-chen kämpfte, mit ihrer Sehnsucht nach Schöpfung undZerstörung, mit ihrem Hang zu Schönheit und Gewalt.Wagner hat maßgeblich das bürgerliche Jahrhundert ge-prägt, von der Blütezeit um 1900 bis zum verhängnisvol-len Niedergang.

Er wurde vor allem deshalb zum Leviathan des Fin deSiècle, weil er nicht nur Komponist gewesen war. Als ei-genwilliger und fähiger Dramatiker schrieb er die Tex-te für alle seine Opern, er verband spektakuläre Hand-lungssequenzen mit komplexen psychologischen Studi-en. Er war ein produktiver – allzu produktiver – Essay-ist und Polemiker, dessen Begriffsrepertoire – Gesamt-kunstwerk, Leitmotiv, «unendliche Melodie», «Kunst-werk der Zukunft»  – den intellektuellen Diskurs übermehrere Jahrzehnte prägte. Er war der Theaterdirek-tor und -theoretiker, der für die moderne Bühne eineneue Form fand. Die Aufführungen in seinem Festspiel-haus nahmen das Kino vorweg und beschworen im Dun-kel alte Sagen herauf. Schließlich dilettierte er auch aufverhängnisvolle Weise in der Politik und half damit, ei-ne pseudowissenschaftliche Form des Antisemitismus zuverbreiten. Die Summe all dieser Aktivitäten lässt sichermitteln. «Das Wesen der Wirklichkeit» liegt in «unend-licher Vielheit», schrieb Wagner 1854. «Nur was Wech-sel hat, ist wirklich».

Als der Begriff «Wagnerianer» zum ersten Mal auf-kam, hatte er einen ironischen Beigeschmack. In Chem-

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nitz schrieb 1847 ein Kritiker vom «Triumph der Wagne-rianer, von denen wir hier mehrere Prachtexemplare zubesitzen das Glück haben». Zuerst bedeutete das WortAnhänger oder Bewunderer. Später kennzeichnete eseine künstlerische Qualität, eine ästhetische Richtung,ein kulturelles Symptom. In seiner polemischen Schrift«Entartung» schrieb der Sozialkritiker Max Nordau überden Wagnerismus: «Von allen Verirrungen der Gegen-wart ist die Wagnerei, wie die verbreitetste, so die wich-tigste». Schließlich wurde wagnerianisch gleichbedeu-tend mit «grandios», «bombastisch», «überwältigend»oder einfach «sehr lang». Vieles wurde als «wagneria-nisch» bezeichnet: der Kultfilm «Fight Club», das Ge-räusch von brechendem Eis, die All-Ireland Gaelic Foot-ball Championship von 1956, der Streit zwischen Boe-ing und der EADS um ein Geschäft mit Tankflugzeugenim Umfang von 35 Milliarden Dollar, die Portionsgrö-ßen von Wurst und Schnitzel in der deutschsprachigenSchweiz, das Röhren eines Lamborghini V10, und sogarder Monsun in Mumbai. Ähnliche Listen ließen sich für«Leitmotiv» und «Gesamtkunstwerk» erstellen. Die All-gegenwart dieser Begriffe, wie unzutreffend sie auch an-gewendet werden, zeugt von Wagners bleibendem Ein-fluss.

Selbst wenn der Begriff Wagnerismus enger gefasstwird, hat er viele Facetten. Im vorliegenden Werk kanner bedeuten: eine moderne Kunstform auf der Grund-lage von Mythen nach dem Beispiel Wagners. Er kannbedeuten: die Nachahmung von Aspekten der musikali-schen und poetischen Sprache Wagners. Er kann bedeu-ten: die Verschmelzung von Gattungen auf dem Weg zumGesamtkunstwerk. Er kann eine Gestalt annehmen, dieich mit dem Begriff Wagner Scenes bezeichne – Szenenin Romanen, Gemälden oder Filmen, in denen seine Mu-sik gespielt oder besprochen wird oder im Hintergrund

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zu hören ist, häufig bei einer Verführung. Obwohl Wag-ner sich mit dem deutschen Nationalismus identifizier-te, verbrachte er einen Großteil seines Lebens als euro-päischer Nomade, und seine Wirkung war international.Für die Zeit um 1900 lässt sich der Komponist mit ei-nem riesigen Himmelskörper mit großer Masse verglei-chen, der einige Gestirne in eine Umlaufbahn zwingt,während er andere nur wenig von ihrer eigenständigenBahn ablenkt. Kämpferische Apostasie kann auch inver-tierter Wagnerismus sein, wie am Beispiel Nietzscheszum ersten Mal klar wurde. Bei den Neuerern des frü-hen 20. Jahrhunderts war der Agon – der Wettstreit – mitWagner so weit verbreitet, dass er fast schon zum Mar-kenzeichen wurde.

Dies ist ein Buch über den Einfluss eines Musikers aufNicht-Musiker – Resonanz und Nachklang einer Kunst-form in anderen Bereichen. Wagners Wirkung auf dieMusik war gewaltig, doch sie war nicht größer als dievon Monteverdi, Bach oder Beethoven. Aber seine Wir-kung auf andere Kunstformen war beispiellos und istseither nicht wieder erreicht worden, auch nicht im Be-reich der populären Kunst. Die größte Faszination üb-te er auf Vertreter der «stummen Künste» aus – auf Ro-manschriftsteller, Dichter und Maler, die ihn um die kol-lektiven Gefühlsausbrüche beneideten, die er im Klangentfesseln konnte.

Dialoge zwischen den Gattungen sind nicht immerüberzeugend oder kohärent. Der Bühnenvisionär Adol-phe Appia schrieb: «Eine Art von Überwanderung derWagnerschen Idee in ganz anders geartete Werke stehtim Widerspruch mit der Idee selbst». In gewisser Wei-se ist das vorliegende Buch die Geschichte missglück-ter Analogien. Der Wagnerismus ist reich an fehlerhaf-ten Auslegungen, und die allgegenwärtigen Gesamt- undLeit-Wörter führen seit langem ein Eigenleben. (Wag-

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ner verwendete den Begriff «Gesamtkunstwerk» mehr-mals im Jahr 1849 und ließ ihn dann mit den Wortenfallen: «Genug davon!») Aber Fehldeutungen können ih-rerseits auch schöpferisches Potenzial bergen, wie Ha-rold Bloom in The Anxiety of Influence (Einflußangst)gezeigt hat. Ein angeblich tyrannischer Künstler wirdfür den Zuschauer völlig überraschend zu einer leerenProjektionsfläche. Charles Baudelaire schrieb dem Kom-ponisten: «Sie erinnern mich an mein jüngeres Selbst».Nietzsche sagte später über seinen jugendlichen Über-schwang: «an allen psychologisch entscheidenden Stel-len ist nur von mir die Rede».

Entscheidend für diese Erfahrungen ist, dass Wag-ner gleichermaßen Ambiguität und Gewissheit vermit-telt. Was auch immer im Geist eines Menschen aufblitzt,wird durch die tiefe Bindung an die Musik verstärkt. DerBehemoth flüstert jedem ein anderes Geheimnis ins Ohr.Obwohl Wagner klare Vorstellungen von der Bedeutungseiner Werke hatte, waren diese Vorstellungen alles an-dere als unveränderlich, und Ambiguität war die not-wendige Folge seiner dramatischen Methode, die letzt-lich aus der Manipulation von Mythen bestand. «Das Un-vergleichliche des Mythos ist, dass er jederzeit wahr undsein Inhalt bei dichtester Gedrängtheit für alle Zeitenunerschöpflich ist», schrieb er. Sein Schatz an entlehn-ten, abgewandelten und erfundenen Archetypen – derSeefahrer auf seinem Geisterschiff, der namenlose Ret-ter, der verwünschte Ring, das Schwert im Baum, dasneugeschmiedete Schwert, der Jüngling mit erstaunli-chen Kräften und vieles mehr – , das ist sein unvergäng-liches Erbe.

In den ersten Kapiteln dieses Buchs findet sich eineVielzahl von Mythologien: Nietzsches Vorstellung vom«Übermenschen», die poetischen Mysterien der Pari-ser Symbolisten, die pseudomittelalterlichen Phantasien

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der Präraffaeliten oder Thomas Manns Erzählungen vomVerfall der Bourgeoisie. Die Wagnermanie gewinnt nichtnur in den Opernhäusern an Dynamik, sondern auchin okkulten Schreinen und anarchistischen Zellen. Daszweite Drittel befasst sich mit Themen wie Rasse, Gen-der und Sexualität. Wir durchstreifen die wagneriani-schen Prärien Willa Cathers und untersuchen die vielfäl-tigen Reaktionen von Schriftstellern der Moderne wie Ja-mes Joyce, Marcel Proust, T. S. Eliot und Virginia Woolf.Im letzten Abschnitt durchqueren wir die bloodlands deszwanzigsten Jahrhunderts und tauchen ein in die Traum-welten von Hollywood, von The Birth of a Nation (Die Ge-burt einer Nation) bis Apocalypse Now. Einige der aufge-führten Künstler waren mit dem Werk Wagners vertraut,andere kannten es nur flüchtig. Entscheidend ist, dasses über mehrere Generationen hinweg allgegenwärtigwar. Der Historiker Nicholas Vazsonyi schreibt: «Es gibtkeinen Weg in das 20. Jahrhundert – im Guten wie im Bö-sen – , der an Wagner vorbeiführt».

Die Version der Nationalsozialisten ist die bekanntes-te Ausprägung des Wagnerismus. «Der Begriff ‹protofa-schistisch› wurde praktisch für Wagner geprägt», sagtder Philosoph Alain Badiou. Dieser Zusammenhang istkein Zufall. Der Fokus auf «Hitlers Wagner» in den ver-gangenen Jahrzehnten war ein notwendiges Korrektivzu dem langen Schweigen der Wagnerianer, sei es ausnachklingenden NS-Sympathien oder nur weil man dasThema vermeiden wollte. Trotz ihrer inneren Widersprü-che war die Weltanschauung des Komponisten die Keim-zelle der NS-Ideologie. Das Wagner-Hitler-Narrativ hataber auch Schwächen. Es birgt die Gefahr dessen, wasder Literaturwissenschaftler Michael André Bernsteinals backshadowing bezeichnet hat – die Angewohnheit,die deutsche Geschichte als unumkehrbaren Marsch inden Abgrund zu betrachten. Über die Literatur des Ho-

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locaust schreibt Bernstein: «Wir versuchen eine histori-sche Katastrophe zu erklären, indem wir sie – nach ei-nem streng teleologischen Muster – als den Höhepunkteines bitteren Weges zu einem unvermeidbaren Endebetrachten». Die Gefahr der ständigen Koppelung vonWagner mit Hitler liegt darin, dass sie dem «Führer»einen späten kulturellen Sieg verschafft – den Alleinan-spruch auf den Komponisten, den er liebte. Schon 1943fragte der linksintellektuelle Theaterkritiker Eric Bent-ley: «Hat Hitler immer recht bei Wagner?»

Wie immer die Einschätzung Wagners als «Proto-Na-zi» zu bewerten ist – sein Nachruhm hat eine tragischeKomponente. Ein Künstler, der wie Aischylos oder Sha-kespeare universelle Anerkennung in greifbarer Nähehatte, wurde erfolgreich auf eine kulturelle Abscheulich-keit reduziert – auf die Begleitmusik des Genozids. Unddoch überlebte der Wagnerismus Hitlers Liebe. In derNachkriegszeit brachten radikale Regisseure neue In-terpretationen von Wagners Opern auf die Bühne. Fan-tasy-Epen wie The Lord of the Rings, Star Wars und Ga-me of Thrones verwendeten bewusst oder unbewusstWagners mythische Kunstgriffe. Die Mystik des Parsifaldurchzieht die letzten Romane von Philip K. Dick. Mu-sikwissenschaftler und Historiker haben halbvergesseneBewertungen des Komponisten ausgegraben, und dieseralternative Wagnerismus ist das Herzstück des vorlie-genden Buchs: der Sozialist Wagner, der Feminist Wag-ner, der schwule Wagner, der schwarze Wagner, dertheosophische Wagner, der Satanist Wagner, der Dada-ist Wagner, der Science-Fiction-Wagner, Wagnerismus,Wagnerismo und Wagnérisme. Ich kenne die Grenzenmeiner fachlichen und sprachlichen Kompetenz. Nietz-sche bezeichnete Wagner als Dilettanten, aber sein Erbeist so vielfältig, dass jeder, der sich damit auseinander-setzt, zwangsläufig zum Dilettanten wird. Dieses Buch

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zu schreiben, war die größte intellektuelle Bereicherungmeines Lebens.

Man muss den Menschen Wagner oder seine Musiknicht lieben, um das atemberaubende Ausmaß seinerLeistung zu erkennen. Auch Menschen, die ihn ihr gan-zes Leben bewundert haben, sind manchmal von ihmentnervt oder abgestoßen. Wie George Bernard Shawin seiner bekannten Abhandlung The Perfect Wagneri-te (Ein Wagner-Brevier) schreibt: «Ein echter Wagneria-ner zu sein, bedeutet ( … ) nicht, Wagner gegenüber wieein Hund seinem Herrn nur treu ergeben zu sein». Mankann die Gefühle von Stéphane Mallarmé teilen, der von«le dieu Richard Wagner» sprach, und dennoch auch W. H. Audens Charakterisierung als «absolute shit» akzep-tieren. Wagners Vielseitigkeit, seine grenzenlose Fähig-keit, Menschen zu erzürnen und zu verwirren, ist Teilseiner Attraktion. Die meisten Reaktionen von Künstlernauf sein Werk hätten ihn verblüfft, ganz zu schweigenvon den modernen Opernaufführungen. Vor allem aberhätte er über das Fortleben seiner Musik in einer frem-den Welt gestaunt. Cosima Wagner schrieb in ihrem Ta-gebuch: «Er glaubt, daß nach seinem Tode sie seine Wer-ke gänzlich sekretieren werden und er nur wie ein Phan-tom im Gedächtnisse der Menschheit leben wird». In die-ser Hinsicht, wie auch in vielen anderen, irrte er sichgewaltig.

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