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Parag Khanna

Unsere asiatische ZukunftAus dem Englischen von Norbert Juraschitz

ROWOHLT · BERLIN

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1. Auflage November 2019Copyright © 2019 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2019unter dem Titel «The Future is Asian.

Commerce, Conflict, and Culture in the 21stCentury» im Verlag Simon & Schuster, New York

Copyright © 2019 by Parag KhannaSatz aus der Arno Pro, InDesign

Gesamtherstellung CPI books GmbH, Leck, GermanyISBN 978-3-7371-0002-1

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 Einleitung Asien zuerst!

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Wann hat das asiatischeJahrhundert angefangen?

Die Prophezeiungen von Asiens Aufstieg zur weltweiten Do-minanz reichen mehr als zwei Jahrhunderte zurück, bis zuNapoleons angeblichem Bonmot über China: «Lasst Chinaschlafen, denn wenn es aufwacht, wird die Welt erzittern.»

Vor einem knappen Jahrhundert, 1924, sagte der deut-sche General Karl Haushofer ein kommendes «pazifischesZeitalter» voraus. Aber Asien ist viel mehr als die Länderam Rand des Pazifiks. Geographisch erstreckt es sich vomMittelmeer und dem Roten Meer über zwei Drittel des eu-rasischen Kontinents bis zum Pazifik, mit 53 Ländern1 und4,5 Milliarden Einwohnern – davon lediglich 1,4 MilliardenChinesen. Somit wird das asiatische Jahrhundert beginnen,wenn Asien zu einem Ganzen verschmilzt, das größer istals die Summe seiner unzähligen Teile. Dieser Prozess istbereits in Gang.

Wenn wir einst aus dem Jahr 2100 auf den Zeitpunkt zu-rückblicken werden, an dem der Grundstein für eine vonAsien angeführte Weltordnung gelegt wurde, so werden wirbeim Jahr 2017 innehalten. Im Mai dieses Jahres trafensich 68 Länder, die zwei Drittel der Weltbevölkerung unddie Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) re-präsentieren, zum ersten Gipfel der Belt and Road Initiati-ve (BRI). Diese Zusammenkunft asiatischer, europäischerund afrikanischer Staatsführer symbolisierte den Start desgrößten koordinierten infrastrukturellen Investitionsplansder Menschheitsgeschichte. Kollektiv sagten die versam-melten Regierungen zu, im kommenden Jahrzehnt Billionenvon Dollar auszugeben, um die weltgrößten Bevölkerungs-zentren in einem Netz des kommerziellen und kulturellenAustauschs zu vereinen – eine neue Ära der Seidenstraße.

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Die BRI ist das bedeutendste diplomatische Projekt des21. Jahrhunderts, vergleichbar mit der Gründung der Ver-einten Nationen und der Weltbank Mitte des 20. Jahrhun-derts und dem Marshallplan zusammen. Der entscheiden-de Unterschied: Die BRI wurde in Asien entworfen, in Asiengestartet und wird von Asiaten geleitet werden.

Es geht um die Geschichte einer ganzen Seite des Pla-neten – der asiatischen Seite – und deren Einfluss auf dieWelt des 21. Jahrhunderts.

Während des größten Teils der dokumentierten Ge-schichte stellte Asien die wichtigste Region des Erd-balls dar. Wie der verstorbene britische Wirtschaftswissen-schaftler Angus Maddison nachwies, erzeugten China, Indi-en und Japan in den vergangenen zweitausend Jahren, bis indie Mitte des 19. Jahrhunderts, gemeinsam ein BIP, das, ge-messen an der Kaufkraftparität (KKP), dem der VereinigtenStaaten, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands undItaliens zusammen entsprach. Mit dem Beginn der indus-triellen Revolution modernisierten die westlichen Gesell-schaften jedoch ihre Volkswirtschaften, dehnten ihre Rei-che aus und unterwarfen den größten Teil Asiens. Nach ei-ner zwei Jahrhunderte währenden europäischen Weltherr-schaft stiegen die Vereinigten Staaten durch ihren Sieg imSpanisch-Amerikanischen Krieg – der den USA die Kontrolleüber Kuba und die Philippinen verschaffte – und durch ihreentscheidende Rolle bei der Beendigung des Ersten Welt-kriegs zu einer Weltmacht auf.

Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg – als die westli-chen Mächte aufhörten, sich gegenseitig zu erobern – ent-stand eine stabile westliche Weltordnung. Verkörpert wur-de sie von der Militär- und Wirtschaftsmacht der Vereinig-ten Staaten, der Nato und internationalen Einrichtungenwie den Vereinten Nationen, der Weltbank und dem Inter-nationalen Währungsfonds. Vor siebzig Jahren hätte nie-mand sagen können, wie lange diese Abkommen und Or-

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gane Bestand haben würden – insbesondere weil der KalteKrieg einen großen Teil der Welt spaltete. Erst am Ende desKalten Kriegs konnte sich der Westen des Triumphs seinesliberalen, demokratischen und kapitalistischen Systems si-cher sein. Und erst in den 1990er Jahren wurde die Welt-ordnung wirklich global, als mehrere ehemalige Sowjetre-publiken in die Europäische Union und in die Nato aufge-nommen wurden, während Dutzende von Entwicklungslän-dern in Gremien wie die Welthandelsorganisation eintra-ten, die den sogenannten Washingtoner Konsens des freienHandels und der ökonomischen Deregulierung propagier-ten. Westliche Gesetze, Interventionen, Gelder und Kulturgaben die globale Agenda vor.

Doch werden die knapp zwei Jahrzehnte seit den Ter-roranschlägen vom 11. September 2001 und dem Irakkrieg2003 über die Finanzkrise 2007/08 bis hin zur Wahl Do-nald Trumps zum US-Präsidenten im November 2016 alsdie Phase eines tiefen Bruchs mit den Jahrzehnten der west-lichen Vorherrschaft in Erinnerung bleiben. Das Scheiternder Kriege in Afghanistan und im Irak, das Missverhältniszwischen Finanzwirtschaft und realer Volkswirtschaft, dieUnfähigkeit, Russland und die Türkei in den Westen einzu-binden, und von Populisten gekaperte demokratische Ge-sellschaften – all dies sind nur einige der ins Auge springen-den Punkte, die viele westliche Eliten veranlassten, die Zu-kunft ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftli-chen Werte in Frage zu stellen. Heute arbeiten sich westli-che Gesellschaften an innenpolitischen Problemen ab: stei-gende Schulden, wachsende Ungleichheit, politische Pola-risierung und Kulturkriege. Die amerikanische Generation Y ist mit einem Krieg gegen Terror, sinkenden mittlerenEinkommen, zunehmenden Rassenkonflikten, willkürlicherWaffengewalt und politischer Demagogie aufgewachsen.Europäische Jugendliche haben mit wirtschaftlicher Auste-ritätspolitik zu kämpfen, mit hoher Arbeitslosigkeit und Po-

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litikern, die den Kontakt zu den Bürgern verloren haben.Der Westen hat von der Telekommunikation bis hin zur Me-dizin erstaunliche technologische Fortschritte erzielt, dochseine Bevölkerung hat von den Vorzügen nicht gleicherma-ßen profitiert.

Während der Westen noch den Kalten Krieg austrug undihn letztlich für sich entschied, holte Asien allmählich auf.Im Laufe der letzten vier Jahrzehnte haben Asiaten dengrößten Anteil am weltweiten Wirtschaftswachstum erzielt,Westler, allen voran gelernte Industriearbeiter, hingegenden geringsten – ein Trend, der auf den Produktionsanstiegin Asien zurückzuführen ist.2 Milliarden Asiaten, die in denletzten zwei Jahrzehnten aufgewachsen sind, haben geo-politische Stabilität, rasch steigenden Wohlstand und an-schwellenden Nationalstolz erlebt. Die Welt, die sie kennen,hat nichts mit westlicher Dominanz zu tun, sondern mit ei-ner asiatischen Vormachtstellung. Im Jahr 1998 veröffent-lichte mein Kollege Kishore Mahbubani in Singapur eineprovokante Aufsatzsammlung mit dem Titel Können Asia-ten denken?. Es handelt sich um eine Warnung an den Wes-ten, dass sich das Blatt derzeit wende und Asien dem Wes-ten ebenso viel beibringen könne wie umgekehrt.3 WennAsiaten inzwischen allem Anschein nach eine gemeinsameWeltanschauung annehmen, ist es an der Zeit auszuloten,was Asiaten denken, nicht ob sie überhaupt denken.

Die Asiaten betrachten sich erneut als Mittelpunkt derWelt, heute wie in der Zukunft. Die asiatische Wirtschafts-zone – von der Arabischen Halbinsel und der Türkei im Wes-ten bis nach Japan und Neuseeland im Osten und von Russ-land im Norden bis nach Australien im Süden – macht heut-zutage 50 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktsund zwei Drittel des globalen Wirtschaftswachstums aus.4Das Wachstum des globalen Konsums der Mittelschichtwird für den Zeitraum von 2015 bis 2030 auf 30 BillionenDollar geschätzt; davon wird lediglich eine Billion aus den

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heutigen westlichen Volkswirtschaften stammen, der weit-aus größte Teil aus Asien.5 Asien produziert und expor-tiert mehr Waren als jede andere Region, und es importiertund konsumiert auch mehr. Zudem handeln und investie-ren Asiaten mehr untereinander als mit Europa oder Nord-amerika. In Asien liegen etliche der weltgrößten Volkswirt-schaften, die höchsten Devisenreserven der Welt, viele dergrößten Bank-, Industrie- und Technologieunternehmen so-wie die meisten Großarmeen der Welt. Asien umfasst au-ßerdem rund 60 Prozent der Weltbevölkerung. Es hat zehn-mal so viele Bewohner wie Europa und zwölfmal so vielewie Nordamerika. Während sich die Weltbevölkerung ei-nem Höchststand von rund zehn Milliarden Menschen nä-hert, wird Asien mehr Menschen beheimaten als der Restder Welt. Jetzt melden sich diese Menschen zu Wort. Be-trachten wir die Welt einmal aus asiatischer Sicht.

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Was ist Asien?Er war gerade dabei, das Pamirgebirge in Kirgisistan zuüberqueren, als ich Paul Salopek, den Forscher von Natio-nal Geographic, erreichte. Salopek war auf halbem Weg sei-ner zehn Jahre dauernden Weltumrundung zu Fuß, auf derer den Pfaden der ersten Menschen folgte. Als modernerMarco Polo (und mehr als das) ist Salopek für seine Re-portagen mit literarischen Auszeichnungen (darunter zweiPulitzer-Preise) überschüttet worden. Doch sein derzeitiger«Out of Eden Walk» ist das wohl ehrgeizigste Unternehmen,ein Projekt, an das sich vorher, wenn überhaupt, nur einigewenige gewagt hatten und das kein Mensch jemals beende-te. Mit einem so großen Teil Asiens hinter sich – und noch soviel vor sich – interessierte mich seine Einschätzung der Re-gion. Er sagte zu mir: «Asien ist so riesig und vielschichtig,dass ich das Gefühl habe, ich würde mich durch ein gewal-tiges Mosaik aus Mikrokosmen bewegen, die lose von Kräf-ten zusammengehalten werden, die jenseits meiner Vorstel-lungskraft liegen.» Diese konkret greifbare und doch zu-gleich spirituelle Beschreibung erfasst elegant Asiens Mi-schung aus enormer Weite und mystischer Einheit.

Die meisten Menschen haben buchstäblich keine Ah-nung, was Asien eigentlich ist – sogar in Asien selbst. DieWeite des Raums und die Reihe eigenständiger Kulturen inVerbindung mit der jüngsten, von westlichen oder innerenProblemen beherrschten Geschichte haben dazu geführt,dass heutzutage die meisten Asiaten widersprüchliche An-sichten zu den Parametern Asiens und der Frage haben,in welchem Ausmaß ihre eigene Nation dazugehört.6 Aberauch wenn Asien die heterogenste Region der Welt ist, exis-tiert in der schwindelerregenden Vielfalt doch ein wachsen-der Zusammenhalt: ein mentales Fundament, eine ästhe-tische Vertrautheit, ein kultureller Faden, der sich durch

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ganz Asien zieht und es von anderen Regionen unterschei-det.

Vom Kindergarten bis in die Militärakademien wird Asi-en immer noch irrtümlich als ein Kontinent bezeichnet, ob-wohl es genau genommen eine Megaregion ist, die sich vomJapanischen bis zum Roten Meer erstreckt.7 In Asien fin-det sich die Hälfte der ihrer Landfläche nach zehn größ-ten Länder der Welt, Russland, China, Australien, Indienund Kasachstan.8 Außerdem liegen in Asien die meisten der20 weltweit bevölkerungsreichsten Länder, darunter Chi-na, Indien, Indonesien, Pakistan, Bangladesch, Japan, diePhilippinen und Vietnam. Asien umfasst, am Pro-Kopf-Ein-kommen gemessen, einige der reichsten Länder der Welt,etwa Katar und Singapur, aber auch einige der kleinsten(Malediven, Nauru), am wenigsten bevölkerten (Tuvalu, Pa-lau) und ärmsten (Afghanistan, Myanmar).

«Asien» ist zuallererst und vor allem ein geographischerBegriff. Wir verteilen häufig bequeme, aber falsche geo-graphische Etiketten, die unsere Vorurteile bedienen. Inden letzten Jahrzehnten haben Russland, die Türkei, Israelund die Länder des Kaukasus allesamt danach getrachtet,sich auf kultureller und diplomatischer Ebene als westlicheStaaten auszugeben (und sich bei den Vereinten Nationenzu Europa zu zählen). Aber nur weil Russen und Australier(größtenteils) von europäischen Ethnien abstammen, heißtdas noch lange nicht, dass sie keine Asiaten sein können.Auch durch eine ethnische Linse sollten Russen und Austra-lier als weiße Asiaten angesehen werden – und sich selbstso sehen. Viele Experten meinen, «Asien» sei ein Synonymfür den «Fernen Osten». Doch eine Definition Asiens kannnicht nur China und Ostasien umfassen. China grenzt anandere große asiatische Subregionen, aber es definiert die-se nicht. Deshalb sollten wir den Begriff «Ostasien» nurverwenden, wenn von der Pazifikküste die Rede ist. Zumales besonders seltsam ist, wenn Amerikaner von «Fernost»

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sprechen, denn die Region liegt westlich von ihnen, jen-seits des Pazifiks. Deshalb sollte man «Osten» als eine re-lative Richtungsangabe und «Asien» zur Bezeichnung dergeographischen Region verwenden. Ganz ähnlich ist vor al-lem im englischsprachigen Raum allzu häufig von «MiddleEast», also dem Mittleren Osten, die Rede, um eine Regionzu bezeichnen, die sich von Marokko bis nach Afghanistanerstreckt und dabei eine Mischung aus nordafrikanischenbis hin zu zentralasiatischen Subregionen umfasst (sogardie internationalen Moderatoren des arabischen Senders AlJazeera verwenden den Begriff «Middle East» – eben weilsie Englisch sprechen). Dabei haben die nordafrikanischenLänder von Ägypten nach Westen hin kaum eine Bedeutungfür Asien, auch wenn sie überwiegend von Arabern bevöl-kert sind. Es ist viel sinnvoller, von Westasien und Südw-estasien zu sprechen, wenn von der Türkei, dem Iran, denGolfstaaten und den Ländern dazwischen die Rede ist. Neu-trale geographische Etiketten sind letztlich sinnvoller alskoloniale Kunstprodukte.

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Asien den AsiatenBereits vor mehr als zweitausend Jahren haben Asiens Kul-turen Handelsbeziehungen geknüpft und sich an Konfliktenbeteiligt, die vom Mittelmeer und dem Kaspischen Meerbis ins Industal reichten. Im 15. Jahrhundert war Asien ei-ne auf diplomatischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebe-ne zusammengehaltene Region, die sich von Anatolien bisnach China erstreckte. Doch der europäische Kolonialismuszerschlug Asien und reduzierte es auf eine Ansammlungbenachbarter Territorien, die zu arm und den westlichenMächten zu untertänig waren, um zu verschmelzen und ih-re Kräfte zu bündeln. Der Kalte Krieg zersplitterte Asiennoch stärker in konkurrierende Einflusssphären. Im Laufder Zeit betrachteten sich Araber und Türken als der «Naheund Mittlere Osten», Chinesen und Japaner hingegen be-zeichneten sich als der «Ferne Osten». Asien war kein zu-sammenhängendes Ganzes mehr.9

Nach zwei Jahrhunderten der Spaltung markiert die heu-tige Epoche nach dem Kalten Krieg den Beginn einer neu-en Phase, in der sich Asien wieder zu einem kohärentenSystem verknüpft. Ein System meint eine Anzahl von Län-dern, die nicht nur geographisch, sondern auch durch Kräf-te der Diplomatie, des Konflikts und des Handels miteinan-der verbunden sind. Die Mitglieder eines Systems sind alle-samt souverän und unabhängig, zugleich aber in wirtschaft-lichen und sicherheitspolitischen Fragen stark aufeinanderangewiesen. Ein System wird durch Bündnisse, Einrichtun-gen, Infrastruktur, Handel, Investitionen, Kultur und ande-re Muster gebildet. Es entsteht, wenn Nationen den Schrittvon einer geographischen Nähe zu maßgeblichen Interak-tionen vollziehen.

Wie die britischen Wissenschaftler Barry Buzan und Ri-chard Little in ihrem Werk International Systems in WorldHistory verdeutlichen, ist die Menschheitsgeschichte zu ei-

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nem großen Teil die Geschichte disparater regionaler Sys-teme.10 Die antiken Stadtstaaten Mesopotamiens, der Deli-sche Bund der Athener und die «Streitenden Reiche» Chi-nas sind allesamt Beispiele für kleine Systeme. Im Gegen-satz dazu beherrschten Imperien wie die der Mongolen undder Briten weiträumige regionale und internationale Syste-me. Erst in den letzten Jahrhunderten hat sich ein globalesSystem herausgebildet, doch besteht es vor allem aus denBeziehungen zwischen zahlreichen regionalen Systemen –die wichtigsten unter ihnen sind Europa, Nordamerika undAsien.

Europa ist heute das wohl am stärksten integrierte re-gionale System. Aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegswurden die Länder Europas nicht einfach nur physischwiederaufgebaut, durch die Europäische Gemeinschaft fürKohle und Stahl verschmolzen auch wichtige Industriezwei-ge miteinander. Damals wusste noch niemand, dass das hal-be Dutzend Gründungsmitglieder – darunter die früherenErzrivalen Frankreich und Deutschland – zu einem Verbundvon fast 30 Mitgliedsländern mit überstaatlichen Institutio-nen, einer gemeinsamen Währung und sogar gemeinsamenmilitärischen Kapazitäten anwachsen würde. Als System istdas heutige Europa weitaus mächtiger als die reine Region.

Nordamerika gehört ebenfalls zu den am stärksten in-tegrierten Systemen. Die Vereinigten Staaten, Kanada undMexiko sind strategische Partner, nicht zuletzt überauswichtige Handelspartner.11 Ihre Grenzübergänge sind diemit Abstand meistgenutzten der Welt. Obwohl das inzwi-schen mehr als zwei Jahrzehnte alte nordamerikanischeFreihandelsabkommen Nafta derzeit neu verhandelt wird,machen die allgemeinen ökonomischen, demographischen,kulturellen und sonstigen Beziehungen die Region de fac-to zu einer nordamerikanischen Union, auch wenn sie sichniemals diesen Namen gegeben hat.

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Asien baut ein eigenes diplomatisches System aufAsiatische Nationen gründen derzeit rasch eigene diplomati-sche Organe, um Angelegenheiten wie Handel, Infrastrukturund Kapitalströme zu koordinieren, zu regulieren und zu steu-ern. Die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank hat fast 90 Mitglieder, und die Regional Comprehensive Economic Part-nership entpuppt sich, gemessen an BIP und Handelsvolumen,als die weltweit größte Freihandelszone.

Ungeachtet der geographischen Weite und kulturellen Viel-falt entwickeln sich Asiens schwach ausgebildete histori-sche und kulturelle Bindungen zu einer stabilen ökonomi-schen Verflechtung mit strategischer Koordination. Im Jahr1993 veröffentlichte der japanische Wissenschaftler undJournalist Yoichi Funabashi in der Zeitschrift Foreign Af-fairs einen vorausschauenden Essay über die «Asiatisie-

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rung Asiens».12 Er sprach von einem neuen regionalen Be-wusstsein  – einem Bewusstsein, das nicht auf dem rück-wärtsblickenden Antikolonialismus beruht, sondern vor-wärtsgerichtet auf den amerikanischen Triumphalismusnach dem Kalten Krieg und Europas einheitlichen Markt re-agiert. Der globalisierte Wettbewerb, argumentierte Funa-bashi ganz richtig, verlange von Asien, dass es asiatischerwerde, angefangen mit der «Stäbchen-Region» um China,Japan, Südkorea und Vietnam, auf längere Sicht bis hin zuLändern im Umbruch wie Indien. Funabashi war überzeugt,dass die Kombination aus Wirtschaftswachstum, geopoliti-scher Stabilität und technokratischem Pragmatismus eige-ne asiatische Vorstellungen zur Weltordnung aufkommenlassen würde.

Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Die gleichen Para-meter, die einst Europas imperiale Vorherrschaft und denAufstieg der Vereinigten Staaten zur Supermacht förder-ten – industrieller Kapitalismus, innere Stabilität, die Suchenach globalen Märkten  – , gelten nun allesamt für Asien.Innerhalb weniger Jahre hat China die USA als weltgrößteVolkswirtschaft (gemessen an der KKP) und Handelsmachtüberholt. Indien ist inzwischen die weltweit am schnells-ten wachsende Volkswirtschaft. Nach Südostasien fließenmehr Auslandsinvestitionen als nach Indien und China. Diewichtigsten Mächte Asiens haben trotz historischer Span-nungen stabile Beziehungen zueinander bewahrt. Sie ha-ben gemeinsame Institutionen wie die Asiatische Entwick-lungsbank, das Regionalforum der Vereinigung Südostasia-tischer Nationen, die Ostasiatische Gemeinschaft, die Re-gional Comprehensive Economic Partnership und die Asia-tische Infrastrukturinvestmentbank ins Leben gerufen, dieden Strom von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Men-schen im ganzen Raum erleichtern und Billionen von Dollaran Finanzmitteln in grenzüberschreitende Handelskorrido-re schleusen werden. Ein Vierteljahrhundert nachdem die

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Vereinigten Staaten den Kalten Krieg gewonnen haben unddie asiatische Ordnung anführten, sind sie nunmehr von na-hezu all diesen Institutionen ausgeschlossen.

Der Aufstieg Ost- und Südostasiens hat wiederum West-asien gezwungen, die geographische Zugehörigkeit zu Asi-en neu zu entdecken. Mein Großvater, ein langjähriger in-discher Staatsdiener und Diplomat, bezeichnete die Golf-staaten stets als «Westasien», nie als «Mittlerer Osten».Das scheint umso angemessener, als die dortigen Ölmonar-chien mit anderen asiatischen Ländern weitaus mehr Han-del betreiben als mit dem Westen.13 Ende der neunzigerJahre fingen die arabischen Erdölproduzenten an, mit denenergiehungrigen asiatischen Mächten ebenso langfristi-ge Verträge abzuschließen wie zuvor mit Europa und denUSA. Dass die ost- und südasiatischen Länder das Weltwirt-schaftswachstum steigern und Westasiaten sich nach ihnenzu orientieren beginnen, führt auch dazu, dass die dazwi-schenliegenden gescheiterten Staaten Asiens wie der Irakund Afghanistan ihr Kapitel der US-Besatzung abschließenund an einer Zukunft innerhalb des asiatischen Systems ar-beiten.

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Das Pro-Kopf-BIP nach KKP: Asiaten zahlen asiatische Preise für asiatischeWarenGemessen an der KKP hat China die Vereinigten Staaten be-reits als größte Volkswirtschaft der Welt überholt, währendAsien insgesamt rund die Hälfte des weltweiten BIP ausmacht.Je intensiver asiatische Volkswirtschaften untereinander Han-del treiben, desto leichter fällt es ihnen, Preise für Waren nied-rig zu halten.

Diese vereinzelten asiatischen Aufbrüche wirken zusam-men. Im Jahr 2014 erklärte der chinesische Präsident Xi Jin-ping auf einem Treffen asiatischer Staats- und Regierungs-chefs in Shanghai: «Es ist Aufgabe der Asiaten, die Ange-legenheiten Asiens zu regeln, die Probleme Asiens zu lö-sen und für die Sicherheit Asiens zu sorgen.»14 Sosehr Chi-nas Nachbarn den kometenhaften Aufstieg und die kosmi-schen Ambitionen des Landes auch fürchten, so teilen siedoch Xis Ansicht. Asiaten spielen nicht gern nach den Re-geln eines Außenstehenden. Keine asiatische Nation – nichteinmal die amerikanischen Verbündeten Japan, Südkoreaund Saudi-Arabien – wird etwas für die Vereinigten Staatentun, das nicht zuerst und vor allem in ihrem eigenen Inter-

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esse liegt. Als würden die Asiaten sagen: «Asien zuerst!»Der vielzitierte Wahlkampfslogan «America first» von US-Präsident Donald Trump ist eine Parole, die trefflich dasGefühl der Vereinigten Staaten einfängt, ökonomisch un-gerecht behandelt zu werden  – insbesondere seitens derasiatischen Volkswirtschaften mit ihren im Vergleich zu denUSA großen Handelsüberschüssen. Auch die Asiaten wollendafür sorgen, dass die globalen Spielregeln ihren eigenenVorstellungen entsprechen, statt zuzulassen, dass sie aus-gebeutet werden.

In ihrer Weltanschauung unterscheiden sich der Wes-ten und Asien allerdings gravierend. Westliche Kommenta-toren bezeichnen die derzeitige geopolitische Landschaftgerne als «globale Unordnung» und verweisen auf eigenefehlgeleitete politische Maßnahmen als Ursache des abneh-menden westlichen Einflusses – sprich: Der Westen wird,sobald die Vereinigten Staaten und Europa wieder an einemStrang ziehen, die Spitze zurückerobern. Asiaten hingegenbetrachten ihre Rückkehr an das Ruder der Geschichte alsnatürliches Schicksal, unabhängig davon, was die USA oderEuropa auch tun mögen. Statt über ein Chaos wachen sieüber den Aufbau einer neuen, asiatisch geführten Ordnung,die die große Mehrheit der Weltbevölkerung umfasst.

Das soll keineswegs heißen, dass Asien frei von Konflik-ten sein wird. Die meisten großen geopolitischen Konflikt-herde liegen in Asien, von der Rivalität zwischen den sau-dischen Sunniten und den iranischen Schiiten bis hin zurgeteilten Halbinsel Korea. China hat territoriale und mari-time Streitigkeiten mit Indien, Vietnam und Japan. Die ara-bischen Staaten und Israel gehen in Syrien gegen Russlandund den Iran in Stellung, und zwischen den Fronten liegtdas zerbrechliche Staatsgefüge des Irak. Paradoxerweisegehört es zum Entstehungsprozess eines Systems, dass sichbenachbarte Staaten eher untereinander bekämpfen, alssich gegen ein auf ihnen lastendes fremdes Joch aufzuleh-

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nen. Krieg ist ebenso Teil eines Systems wie Handel oderDiplomatie. Spannungen sind lediglich ein Indiz dafür, wiewichtig die Mitglieder eines Systems füreinander sind. Mandenke nur daran, dass die europäischen Staaten erst nachden Schrecken des Zweiten Weltkriegs zur EuropäischenUnion verschmolzen, nicht davor. Die Kriege Asiens – dievergangenen, aktuellen und künftigen – und ihre Schlich-tung gehören somit zum Prozess, ein asiatisches Systemaufzubauen.

Trotz der Fülle von Konflikten hat Asien in den letztenJahrzehnten eine umfassende Stabilität bewahrt. Die dreigroßen Mächte Asiens – China, Indien, Japan – haben al-lesamt starke Staatschefs mit langfristigen Mandaten. Siesind nationalistisch, geben immense Summen für das Mili-tär aus und lieferten sich untereinander Scharmützel aufLand und See. Doch sie achten darauf, ihre Auseinander-setzungen nicht bis zu einem Punkt zu treiben, an dem eskein Zurück mehr gibt. Nach wie vor helfen die Vereinig-ten Staaten ihren Bündnispartnern, China in Schach zu hal-ten; asiatische Mächte wie Japan, Indien, Australien undVietnam stärken ihre Bindungen, um einer chinesischen Ag-gression entgegentreten zu können. Unterdessen trägt dieEinbettung Chinas in ein Geflecht neuer Institutionen dazubei, dass es sich gegenüber seinen Nachbarn und Rivalenin Zurückhaltung übt. Je mehr asiatische Nationen in die-ses Lavieren eingebunden werden, desto dynamischer undkomplexer wird das asiatische System werden.

Über ebendiese unablässige, vielschichtige Absicherungzwischen immer mehr asiatischen Länderpaaren wird sichdas diplomatische System Asiens von unten neu aufbauen.Es hat keine ebenso formal festgelegten Regeln wie Europaund wird sie wohl auch nie haben. Es gibt weder ein supra-nationales Parlament noch eine Zentralbank oder gar eineArmee – also keine «Asiatische Union», wie sie der ehema-lige australische Premier Kevin Rudd einmal kühn vorge-

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schlagen hat.15 Vielmehr umfasst der asiatische Integrati-onsansatz den Aufbau von Komplementarität und die Ver-meidung gefährlicher Themen. Generell trachten Asiatennicht nach Eroberung, sondern nach Achtung. GenügendRespekt für die Interessen des jeweils anderen reicht.

Die Nachkriegsjahre Europas weisen den Weg zu einemder elementarsten Aspekte für den Aufbau eines stabilenSystems: die Sozialisierung von politischen Eliten, Unter-nehmen, Akademikern, Thinktanks, Journalisten, Sportver-einen, Jugendorganisationen und anderen Gemeinschaften.Lange Zeit sind vielen asiatischen Bürgern historische Nar-rative von der Feindseligkeit ihrer Nachbarn eingetrichtertworden. Aber auch wenn das Misstrauen und die negati-ven Klischees weiterhin stark sind –  vor allem zwischenIndern und Pakistani, Chinesen und Japanern, Saudis undIranern – , lernen sich asiatische Völker über Diplomatie,Wirtschaft, Tourismus, studentische Austauschprogrammeund regionale Medien immer besser kennen. Von Al Jazeerabis zum chinesischen Fernsehsender CCTV erfahren jungeAsiatinnen und Asiaten mehr über ihre asiatischen Mitmen-schen. Im Laufe der Zeit werden sich die Wahrnehmungenverschieben, Interessen werden neu ausgerichtet, die Poli-tik wird sich ändern und die Koordination sich vertiefen. Jemehr Umgang asiatische Bürger miteinander pflegen, des-to stärker wird die Zuversicht sein, ihre Probleme gemein-sam lösen zu können.

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Asien in der WeltordnungIm Herbst 2017 lud mich Bundespräsident Frank-WalterSteinmeier ein, an einer Podiumsdiskussion zur Zukunftder westlichen Kulturen teilzunehmen. Er begann das Ge-spräch mit der Frage: «Wie sieht man das von Asien aus?»Meine Antwort: In Asien ist man der Ansicht, dass die Ge-schichte nicht zu Ende, sondern zurückgekehrt sei. Asi-en umfasst den größten Teil der Weltbevölkerung und derWeltwirtschaft, es hat sich in die Moderne hineinkatapul-tiert, bewahrt unter den wichtigsten Mächten stabile Bezie-hungen und hat Staats- und Regierungschefs, die wissen,was sie tun müssen – und es auch tun – , um ihre Gesellschaf-ten auf eine komplexe Welt vorzubereiten. Selbstgefälligewestliche Intellektuelle verschmelzen materielle Bedingun-gen und Ideen, als würden Letztere weiterhin den Sieg da-vontragen, obwohl sie Erstere nicht länger liefern. Dabeiwetteifern Ideen nicht etwa in einem Vakuum miteinander,sondern auf der Basis ihrer Wirkung in der realen Welt.

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Prozess des Zusammenwachsens: Europa und Asien bilden die wichtigsteAchse des WelthandelsEuropa und Asien sind die bedeutendsten Regionen im Welt-handel, das Handelsvolumen zwischen beiden ist größer alsdas irgendeines anderen Regionenpaars. Mit der Ausweitunginfrastruktureller Verbindungen und Handelsabkommen be-schleunigt sich der eurasische Handel, der bei weitem denHandel beider Regionen mit Nordamerika übertrifft.

Die größten geopolitischen Ereignisse der vergangenendrei Jahrzehnte sind rasch nacheinander eingetreten: dieAuflösung der Sowjetunion, die Konsolidierung der Euro-päischen Union, der Aufstieg Chinas, die Gewinnung vonÖl aus Schiefergestein in den USA und jetzt die Entstehungeines asiatischen Systems. In der Weltordnung geht es umdie Verteilung und Lenkung von Macht. Der Anker einerWeltordnung muss nicht unbedingt ein einziges Land odereine Reihe von Wertvorstellungen sein, wie es bei der – der-zeit im Schwinden begriffenen  – westlich-liberalen inter-nationalen Ordnung der Fall war. Stattdessen bilden dasUS-amerikanische, das europäische und das asiatische Sys-tem zugleich die Grundlagen der neu entstehenden Welt-ordnung. Jedes einzelne bietet lebenswichtige Dienstleis-tungen auf der ganzen Welt an, etwa militärischen Schutz,finanzielle Investitionen und Entwicklung der Infrastruk-tur. Zum allerersten Mal leben wir in einer wirklich multi-polaren und multikulturellen Ordnung, in der nicht eine Su-permacht mit schwindendem Einfluss allmählich von einemNachfolger abgelöst wird, sondern Nordamerika, Europaund Asien jeweils einen bedeutenden Anteil an der Machtbeanspruchen. Asien löst weder die USA noch den Westenab – aber es formt sie nunmehr ebenso stark, wie diese zu-vor den asiatischen Kontinent geformt haben.

Um zu beurteilen, wie rasch sich die Weltordnung neuausrichten kann, braucht man sich nur den Entwicklungs-bogen der Nachkriegsära vor Augen zu führen. Die Verei-nigten Staaten erbten die Vorherrschaft von ihrem Bünd-

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nispartner Großbritannien und lieferten anschließend denSchutzschirm für Europa, damit es im Laufe des KaltenKriegs wiederaufgebaut werden konnte. Heute ist die Eu-ropäische Union eine größere Volkswirtschaft als die USA,spielt eine bedeutendere Rolle im Welthandel und expor-tiert mehr Kapital. Die Vereinigten Staaten boten im KaltenKrieg auch Japan und Südkorea einen Schutzschirm undermöglichten so deren Volkswirtschaften nach Jahrzehntendes Konflikts einen gewaltigen Aufschwung. Als sich diewirtschaftliche Globalisierung von den 1970er Jahren anbeschleunigte, machte sich China das von den USA angeleg-te Welthandelssystem zunutze, um Japan als Asiens größ-te Volkswirtschaft abzulösen, die Vereinigten Staaten alsweltgrößte Volkswirtschaft zu überholen und zum wichtigs-ten Handelspartner einer im Vergleich zu den USA doppeltso großen Anzahl von Ländern aufzusteigen. Auch wenn derZerfall der Sowjetunion zur Folge hatte, dass die USA alseinzige Supermacht der Welt übrig blieben, entpuppte sichderen «unipolares Moment» der 1990er und 2000er Jahrelediglich als ein Moment gescheiterter Kriege. Zudem ließeine Finanzkrise die großen Reden von der Unbesiegbar-keit in die Angst vor einer imperialen Überdehnung kippen.Unterdessen bestimmen Europa und Asien, die von denUSA in den Nachkriegsjahren protegiert wurden, nunmehrselbst, wo es langgeht. Der Handel zwischen Europa undAsien übersteigt mittlerweile bei weitem deren jeweiligenHandel mit den Vereinigten Staaten. Beide betrachten dieBelt and Road Initiative als Chance, den Handel im ganzeneurasischen Megakontinent anzukurbeln. Um die Beden-ken der USA schert sich dabei keiner von beiden. Das frü-here Fundament der Weltordnung, die transatlantische Be-ziehung, ist mittlerweile zu einer nostalgischen Sehnsuchtgeworden – vergleichbar mit einem Blick in den Rückspie-gel, während man vorwärts fährt. So rasch wandelt sich diegeopolitische Ordnung.

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Unter den Kräften, die derzeit die Weltordnung neu ge-stalten, ist Asien die stärkste. Es baut ein asienzentrier-tes, auf Handel und Diplomatie basierendes System auf, dassich über den ganzen Indischen Ozean bis nach Afrika er-streckt, die Vereinigten Staaten und Europa dazu bringt, ih-re Wirtschaften und Strategien neu auszurichten, und welt-weit den Reiz asiatischer Politik- und Gesellschaftsstan-dards steigert. Geopolitische Analytiker erstellen gerne ei-ne klare globale Hackordnung und fragen stets: «Wer ist dieNummer eins?» Dabei kann man Macht nicht einfach mes-sen, indem man statistische Werte vergleicht. Die Vereinig-ten Staaten sind nach wie vor die weltweit führende Mili-tärmacht mit den weitreichendsten Finanzmärkten und dergrößten Energieproduktion. Was Marktgröße, die Qualitätdemokratischer Institutionen und allgemeine Lebensstan-dards betrifft, liegt Europa weiterhin an der Spitze. Asienallgemein, und insbesondere China, rühmt sich der größ-ten Bevölkerungen und Armeen, der höchsten Sparratenund der größten Devisenreserven. Jeder Raum besitzt ver-schiedene Formen, Mengen und Landschaften der Macht.Es gibt keine definitive Antwort auf die Frage, wer die Num-mer eins ist.

Bemerkenswerterweise käme dem Aufstieg Chinas einegrößere Bedeutung zu, wenn die USA die einzige Super-macht der Welt wären. Jahrzehntelang verfügten die Verei-nigten Staaten über das mächtigste Militär und die größ-te Volkswirtschaft. Sie schützten das weltweite Gemeingut,waren der stärkste Abnehmer internationaler Handelswa-ren und besaßen die einzige große Währung der Welt. Heu-te hingegen weisen nicht nur die USA, sondern auch dieEurozone und China jeweils ein BIP von über zehn Billio-nen Dollar auf. Ein Dutzend weiterer Länder besitzt Volks-wirtschaften mit einem BIP von mehr als einer Billion Dol-lar. Viele Länder verfügen über schlagkräftige Armeen, dieimstande sind, ihr eigenes Territorium allein oder in Part-

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nerschaft mit anderen zu beschützen. China ist eine Super-macht, aber sein Aufstieg bestätigt die Multipolarität derWelt; es löst sie nicht ab.

Ebenso wichtig: Genauso multipolar wie die globaleLandschaft ist auch Asiens Landschaft. Japan war einst diemächtigste Nation Asiens. Heute ist es China. Indien besitzteine jüngere Bevölkerung als China und bald auch eine grö-ßere. Russland und der Iran lassen ebenfalls die Muskelnspielen. Dem Schema von Samuel Huntingtons Kampf derKulturen zufolge sind die meisten Kulturregionen asiatisch– hinduistisch, buddhistisch, chinesisch, islamisch und ja-panisch – , und das gilt auch für einen großen Teil der Or-thodoxie. Keine einzige Region hat jemals mehr als eine deranderen Regionen über längere Zeit beherrscht. Das asia-tische System ist niemals ein asiatischer Block gewesen.Im Gegenteil, der größte Teil der Geschichte war eher vonStabilität und Durchlässigkeit zwischen den vielen asiati-schen Subregionen als von Hierarchie bestimmt. Deshalbwird es keine chinesische Unipolarität geben – weder glo-bal noch auf Asien begrenzt. Asiaten haben viel wenigerProbleme mit der Vorstellung einer globalen Multipolaritätals die Amerikaner, deren jüngste Geschichte (wie auch dergrößte Teil der Forschung) auf unipolare Ordnungen aus-gerichtet war – insbesondere auf die eigene. Aber je multi-polarer die Welt wird, desto stärker ähnelt die globale Zu-kunft Asiens Vergangenheit.

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Endnoten1 Lediglich die afrikanische Gruppe in den Vereinten Na-tionen hat mehr Mitglieder, nämlich 54. Asien beheimatet2301 gesprochene Sprachen und rangiert damit vor Afrikamit knapp über 2100 Sprachen.2 Branko Milanovic, «Global Income Inequality bythe Numbers: In History and Now – An Overview»,World Bank Policy Research Paper, Nr. 6259, No-vember 2012, http://documents.worldbank.org/cura-ted/en/959251468176687085/pdf/wps6259.pdf.3 Kishore Mahbubani, Can Asians Think? Understandingthe Divide Between East and West, New York 2001.4 Asian Development Bank, Key Indicators for Asiaand the Pacific, 2015, Manila: Asian Development Bank2015, https://www.adb.org/sites/default/files/publicati-on/175162/ki2015.pdf.5 Homi Kharas, «The Unprecedented Expansion of theGlobal Middle Class: An Update», Global Economy & De-velopment Working Paper no. 100, Brookings Instituti-on, Februar 2017, https://www.brookings.edu/wp-con-tent/uploads/2017/02/global_20170228_global-midd-le-class.pdf.6 Da die meisten alten Hochkulturen sich für den Nabelder Welt hielten, besaßen asiatische Kulturen Bezeichnun-gen füreinander, aber kein Wort für «Asien». Bis heuteverwenden die Chinesen das Wort «Yaxiya» und die Japa-ner «Ajia» für die Region.7 Der Geograph Harm de Blij legte eine Weltkarte mitzwölf Regionen vor, von denen die Hälfte ausdrücklichasiatisch waren: Südwestasien, Südasien, Ostasien, Süd-ostasien, Australasien und die Pazifik-Inseln. Russlandwurde als separate Region definiert, obwohl es zum größ-ten Teil in Asien liegt.

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8 Nord- und Südamerika zusammen umfassen eine ähnli-che Zahl großer Flächenstaaten: Kanada, die VereinigtenStaaten, Brasilien und Argentinien.9 Wie der Ökonom P. K. Basu in Asia Reborn argumen-tiert: «Der Schirm des Kolonialismus und seine postkolo-nialen und Kalter-Krieg-Nachwirkungen verdeckten dietiefere Einheit des asiatischen Kontinents», vgl. Prasen-jit K. Basu, Asia Reborn. A Continent Rises from the Rava-ges of War and Colonialism to a New Dynamism, New De-lhi 2017.10 Barry Buzan, Richard Little, International Systems inWorld History. Remaking the Study of International Rela-tions, London 2000.11 Für Kanada und Mexiko sind die Vereinigten Staatender wichtigste Handelspartner, aber für die VereinigtenStaaten selbst rangieren Kanada und Mexiko hinter derEuropäischen Union und China.12 Yoichi Funabashi, «The Asianization of Asia», ForeignAffairs 72, Nr. 5 (November / Dezember 1993), S. 75.13 «GCC Trade with Asia Growing and Diversifying»,The Report: UAE: Dubai, Oxford Business Group 2015,https://oxfordbusinessgroup.com/analysis/gcctrade-asia-growing-and-diversifying.14 Xi Jinping, «New Asian Security Concept for NewProgress in Security Cooperation», Äußerungen auf demVierten Gipfel der Konferenz für Interaktion und ver-trauensbildende Maßnahmen in Asien, Shanghai, 21. Mai2014, http://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/zxxx_662805/t1159951.shtml.15 «Kevin Rudd, Toward an Asia-Pacific Union», AsiaSociety, 4. Juni 2008, https://asiasociety.org/kevin-rudd-toward-asia-pacific-union.

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