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Susanne Schriber & August Schwere (Hrsg.)

Spannungsfeld Schulische IntegrationImpulse aus der Körperbehindertenpädagogik

Mit vier kurzen Texten

aus dem Roman «Jakob schläft» von Klaus Merz

Inhalt

Vorwort 9

EinleitungSpannungsfeld Schulische Integration 11

ZUGÄNGE

Susanne SchriberIntegration und Inklusion zirkulär denken:Vom dualen zum pluralistischen BildungssystemVom linearen zum modularen Bildungsweg 15

Klaus MerzUnter der Sonne I 41

STRUKTUREN UND ORGANISATION

August SchwereSchulische Integration mit Unterstützung von Integrationsfachstellen 45

Christina Le KisdarocziIntegration: Zusammenspiel von Mensch, Identität und Organisation 65

Ueli SpeichIntegration durch Separation 83

Klaus MerzUnter der Sonne II 99

SCHNITTSTELLEN UND KOOPERATION

Claude BollierIntegrieren heisst kooperieren 103

Yashi BhallaBegleitung, Vernetzung und Kooperation in der schulischen Integration 121

Ursula ScherrerFür eine Schule ohne Separation 131

Klaus MerzUnter der Sonne III 143

PROZESSE UND INDIVIDUUM

Susanne Schriber und August SchwereICF – ein Beitrag für die Integration? 147

Gabriela Eisserle StuderIntegrationsfähig?Person- und systemorientierte Voraussetzungen 167

Janine DasenUnterstützungsangebote im Schulalltag Integration 181

Klaus MerzUnter der Sonne IV 197

ÜBERGÄNGE

Ines Schlienger «Wir müssen neu denken lernen» –Fachkräfte im Gespräch zu Übergängen in der Integration 201

Anstelle eines SchlusswortesMerk-Blatt: Ein Kind mit Körperbehinderung in der Klasse 219

Dank 227

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Vorwort

In der schweizerischen Bildungslandschaft ist die Diskussion zur Frage, ob die schulische Integration von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf auch ein möglicher Weg anstelle einer Sonderschulung sein könnte, schon bald vierzig Jahre alt. Internationale Deklarationen und Inst-rumente (u. a. die Erklärung von Salamanca der UNESCO 1994, die Interna-tionale Klassifikation der Funktionsfähigkeit der WHO 2001), nationale Ge-setze und neue Abkommen zwischen den Kantonen zur Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik (2007) haben viele Kantone und Schulen in den letzten Jahren dazu veranlasst, mit Konzepten und konkreten Umset-zungen die schulische Integration von Schülerinnen und Schülern mit Be-hinderung zu fördern.

«Spannungsfeld Schulische Integration» ist ein Sammelband mit Beiträgen von Fachpersonen, die alle mit dem Bereich der Körperbehindertenpädago-gik verbunden sind. In diesem Band werden die aktuellen Erfahrungen in Theorie und Praxis mit eben dieser Integration von Schülerinnen und Schü-lern mit einer Körperbehinderung an Regel- und in Sonderschulen darge-stellt, dies mit all ihren denkbaren Formen, mit allen Risiken und Chancen sowie mit allen Möglichkeiten, die bezüglich Organisation und Zusammen-arbeit denkbar sind.

Der Titel deutet es an: Das Feld zwischen dem Pol der Separation und dem der Integration ist nicht einfach spannungsfrei. Diese Spannung ruft nach einem Diskurs, der engagiert und mit Emotionen verbunden, der aber auch – wie in diesem Band – in einer differenzierten und fachlich hochstehenden Art und Weise geführt wird. Dabei sind die Standpunkte der Autorinnen und Autoren nicht immer nur deckungsgleich und ohne Widersprüche. Wi-dersprüche sind jedoch der Motor für Entwicklung und Entwicklung ist auch in diesem Feld weiter notwendig!

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Die Episoden, die der Autor Klaus Merz aus seinem Leben und aus dem sei-nes behinderten Bruders schildert, erinnern manchmal fast schmerzhaft, manchmal mit verstecktem Schalk daran, welchen Zuschreibungen, Ab-wehr- und subtilen Ausschlussversuchen oder aber handfesten Rücksichts-losigkeiten Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörige im Alltag ausgesetzt sind oder welche selbst Angehörige an den Tag legen. Sie erinnern aber auch daran, welcher Gewinn aus dem gemeinsamen Zusammenleben resultiert.

Urs StrasserHerausgeber der HfH-Reihe

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Einleitung

Spannungsfeld Schulische Integration

Spannungsfeld Schulische Integration – ein «ideologisches Minenfeld»? Nein, wir möchten mit diesem Buch keine weiteren Sprengsätze in der Inte-gration-Separation-Diskussion deponieren, im «ideologischen Minenfeld», wie es Otto Speck nennt. Wir leugnen nicht, dass es im Alltag verschiedene Spannungen rund um die schulische Integration gibt. Wir gehen aber davon aus, dass Spannungen, Widersprüchlichkeiten oder sogar Paradoxien auszu-halten sind, ja, dass sie das Leben bereichern und eben auch faszinierend und spannend machen.

In Spannungen liegen Energien, diese können – wenn sie nicht blockiert son-dern transformiert werden – für eine fruchtbare Auseinandersetzung bei der situativen Lösungssuche genutzt werden. August Schwere und Susanne Schriber haben sich in einem gemeinsamen Projekt auf den Weg gemacht, Erfahrungen und Reflexionen, welche die Arbeit der schulischen Integrati-onsbegleitung in der Deutschschweiz veranschaulichen, einzufangen. Dar-aus sind Impulse aus der Praxis für die Praxis entstanden, die Anregungen für die Weiterentwicklung im Fachbereich geben. Verschiedene Autoren und Autorinnen aus den Kompetenzzentren der Körper-, Geistig- und Mehrfach-behindertenpädagogik und der Lehre stellen ihre langjährigen Erfahrungen und Reflexionen dazu zur Verfügung.

Wir sprechen von «Integration», verstehen immer die grösstmögliche Ent-wicklungsunterstützung und Partizipation der Schüler und der Schülerin-nen mit einer Körperbehinderung und deren Familien. Ob Integration oder Inklusion, wir sehen unsere Arbeit als Beitrag zur Veränderung einer Gesell-schaft im Hinblick auf Akzeptanz von Verschiedenheit und gleichzeitiger Teilhabe und Mitgestaltung verschiedenster Menschen in dieser Gesell-schaft. Grundsätzliche und alltägliche Spannungen gehören wohl bei diesem hohen Integrationsanspruch dazu. Die Schule als wichtiger Kulturträger leis-

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tet hier tagtäglich (r-)evolutionäre Arbeit auf dem Weg zur inklusiven Gesell-schaft und ist ein grosses Erfahrungs- und Übungsfeld, wenn es gilt, mit Spannungen entwicklungsförderlich und lösungsorientiert umzugehen.

Drei Themenschwerpunkte sind im Spannungsfeld Schulische Integration von Kindern mit Körper- und Mehrfachbehinderung in den Vordergrund ge-treten. Sie sind zur Grundlage der thematischen Gruppierung der Beiträge geworden. Erstens Strukturen und Organisation, zweitens Schnittstellen und Kooperation und drittens Prozesse und Individuum. Umrahmt werden diese grossen Kapitel durch die Beiträge Zugänge und Übergänge, welche unsere Kulturen und Werthaltungen verdeutlichen. Am Schluss findet sich mit ei-nem Merk-Blatt eine Zusammenfassung wichtiger Aspekte der schulischen Integration von Kindern mit Körperbehinderungen.

In vier Zwischentexten «Unter der Sonne» wirft der Schriftsteller Klaus Merz in leicht bearbeiteten Episoden aus seinem Roman «Jakob schläft» ein Licht auf die Wirklichkeit von Familien mit einem behinderten Kind. Damit blitzt ein Stück Erleben von direkt Betroffenen auf, welches bei der Fokussierung auf die Thematik «Schule» im Schatten steht und vergessen geraten könnte. Die tägliche Bildungsarbeit wird aber bedeutsam von dieser Energie durch-drungen. Wir erfahren dank Klaus Merz erneut in eindrücklicher Weise, dass es ausserhalb der heilpädagogisch gängigen Sprache eine sehr bildhaf-te, ver-dichtete Erzähl- und Schreibweise gibt, um das Phänomen «Behinde-rung» zu erfassen und das Zusammenleben mit besonderen Menschen zu beleuchten.

Bleibt uns allen Menschen zu danken, denen wir während der Bucharbeit be-gegnet sind. Sie haben dazu beigetragen, dass nun ein Sammelband mit reichhaltigen Beiträgen zum Spannungsfeld Schulische Integration vorliegt.

Zürich und Baden, im November 2011Susanne Schriber und August Schwere

ZUGÄNGE

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Susanne Schriber

Integration und Inklusion zirkulär denken:Vom dualen zum pluralistischen BildungssystemVom linearen zum modularen Bildungsweg

Zur Einstimmung: Salomés Bildungsweg

Aus einem Interview von Katrin Moser (2008) mit der Schülerin Salomé und ihrer Mutter erfahren wir:

Salomé ist seit früher Kindheit körperbehindert, ihre Fortbewegung erfolgt mittels eines Handrollstuhls. Salomé besuchte während acht Jahren die öf-fentliche Schule an ihrem Wohnort. Sie war in der Spielgruppe und in den Kindergarten des Wohnortes integriert, die Kindergärtnerin empfahl die Einschulung in die Regelschule. Eltern, Schule und Familien der Mitschüle-rinnen und Mitschüler gaben ihr Bestes, Salomé als Mitschülerin an allen Aktivitäten teilhaben zu lassen. Gleichwohl: Salomé fühlte sich – rückbli-ckend erzählt und aus subjektiver Perspektive beschrieben – schon früh Hänseleien ausgesetzt, die von ihr schliesslich in der Realschule sehr stark empfunden wurden. Sie wechselte auf die Sekundarstufe, in der die sozia-len Beziehungen unter den Schülerinnen und Schülern in ihrer Wahrneh-mung besserten. Dennoch wollte die Schülerin entgegen den Vorstellungen ihrer Eltern einen Schulwechsel. «Salomé wollte von sich aus einen Schul-wechsel. Sie fühlte sich nicht mehr wohl und konnte in dieser Situation nicht mehr sich selber sein» (Moser, 2008, S. 10). Nach einem Schnuppern in der Sonderschule war für Salomé sofort klar, sie wollte künftig in die Sonder-schule. Salomé meint auf die Frage hin, was sich durch den Besuch der Son-derschule verändert habe: «Viel. Man bringt mir viel Verständnis entgegen. Der Umgang unter Schülern ist hier wirklich viel besser. Die Lehrer akzep-tieren einen so, wie man ist, und ich habe Freunde. [...] Ich gehe gern in die Schule hier. Ich fühl mich hier voll integriert» (Moser, 2008, S. 10).

Salomé besuchte dann die dritte und vierte Klasse der Oberstufe an der Son-derschule. Ihr Wunsch war es, nach der Schulzeit eine KV-Ausbildung in der freien Wirtschaft absolvieren zu können (Moser, 2008, S. 11). Die Mutter, ob-wohl sie sich im schulischen Bereich etwas mehr Forderung, ja auch Druck

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wünschte und sie sich fragte, welchen Wert das Abgangszeugnis der Sonder-schule auf dem Bewerbungsmarkt haben werde, meint rückblickend: «Für Salomés Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein war dies wichtiger als die schulische Ausbildung. Selbstvertrauen ist wichtig im Leben» (Moser, 2008, S. 10).

Während die Mutter zusammenfassend dafür plädiert, die Integration un-bedingt zu versuchen, meint Salomé: «Schaut, wo ihr euch wohl fühlt» (Mo-ser, 2008, S. 11).

Salomés Geschichte und Weg überraschen: Eine von aussen gesehen gute schulische Integration am Wohnort ist gelungen. Die Beteiligten waren en-gagiert, von der Spielgruppe über den Kindergarten, die gesamte Primar-schulzeit bis hin zur Real- und Sekundarschule hat Salomé die Schule inte-griert besucht. Kurz vor dem Schulabschluss will sie die «erfolgreiche Inte-gration» verlassen, um an die Sonderschule zu wechseln, weil sie sich sozial isoliert und in ihrer Identität gefährdet fühlt. In der Sonderschule dagegen fühlt sie sich auf Anhieb sozial integriert. Salomé erzählt ihre Geschichte unverkrampft, aus ihrer subjektiven Perspektive, frei von gesellschaftlichen Diskussionen rund um Pro und Kontra derzeitiger Integrationsdebatten. Könnte Salomé eine Protagonistin der Avantgarde offener Schulsysteme der Zukunft sein, wenn in Gesellschaften der Vielfalt, Diversität, Multikultura-lität (vgl. Prengel, 1995), pluralistischer Wertevorstellungen ein Neben-, Nach- und Miteinander verschiedener Schulformen denkbar wird? Salomés Weg soll in den folgenden Abschnitten unter den drei zukunftsweisenden Punkten eines integrativen/inklusiven Schulungsverständnisses betrachtet werden: erstens «Barrierefreiheit», zweitens «Pluralismus der Bildungssyste-me» und drittens «Von der Wahlmöglichkeit zur konsensualen Entschei-dung».

Auf eine Diskussion zur Unterscheidung bzw. Differenzierung von Integra-tion und Inklusion wird in diesem Band verzichtet. Überlegungen und Er-läuterungen dazu finden sich beispielsweise bei Bürli (2009), Ahrbeck (2011) und Haupt (2011).