Libba Bray Der geheime Zirkel I Gemmas Visionen

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Libba BrayDer geheime Zirkel IGemmas Visionen

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Nach einer Familientragödie wird die 16-jährige Gemma aufein Londoner Internat geschickt, um zu einer heiratsfähigenjungen Dame der viktorianischen Gesellschaft erzogen zuwerden. Trotz Strenge und Intrigen lässt Gemma sich nichtunterkriegen. Ein Lichtblick sind die Kunststunden bei MissMoore, die den Mädchen auch von einem alten mysteriösenOrden erzählt, dessen Mitglieder in ein magisches Reichübertreten konnten. Gemeinsam mit Felicity, Pippa und Anngründet Gemma einen geheimen Zirkel, ganz in der Traditiondieses Ordens. Nachts treffen sie sich zu spiritistischenSéancen und lesen in einem geheimnisvollen Tagebuch, dasebenfalls von dem magischen Reich berichtet. Und dann of-fenbart Gemma, dass sie selbst in Visionen bereits ganz Ähn-liches gesehen hat ...

Libba Bray ist die Autorin von mehrerenTheaterstücken und einigen Kurzge-schichten. ›Der geheime Zirkel – Gem-mas Visionen‹ kam auf Anhieb auf dieBestsellerliste der New York Times.Mittlerweile ist die gesamte Trilogieweltweit auf Erfolgskurs. Heute lebt dieAutorin mit ihrem Mann und ihremSohn in Brooklyn, New York.

Ingrid Weixelbaumer war jahrelang Lektorin und Pro-grammleiterin in Kinder- und Jugendbuchverlagen. Heutelebt sie als freie Übersetzerin in Wien. Für ihre Arbeitenwurde sie bereits zweimal mit dem österreichischen Kinder-und Jugendbuchpreis für Übersetzung ausgezeichnet.

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Libba Bray

Der geheime Zirkel IGemmas Visionen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Weixelbaumer

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Von Libba Bray ist außerdem bei dtv junior lieferbar:Der geheime Zirkel II – Circes Rückkehr, dtv extra 71272Der geheime Zirkel III – Kartiks Schicksal, dtv extra 71327

Mehr über Libba Bray und den geheimen Zirkel unterwww.agreatandterriblebeauty.com

Deutsche ErstausgabeIn neuer Rechtschreibung

6. Auflage Dezember 20092007 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtvjunior.de

© 2003 Martha E. BrayTitel der amerikanischen Originalausgabe:

›A Great and Terrible Beauty‹2003 erschienen bei Delacorte Press,

an imprint of Random House Children’s Books, a division of Random House, Inc., New York

© für die deutschsprachige Ausgabe: 2007 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

MünchenUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: Marion SauerUmschlagfotos: Corbis/Natalie Fobes (Mädchen);

picture-alliance/KPA/HIP (Schloss)Satz: Greiner & Reichel, KölnGesetzt aus der Berling 11/14·

Druck und Bindung: Kösel, KrugzellGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · ISBN 978-3-423-71228-6

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Für Barry und Josh

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Dort sitzt und webt sie Tag und Nachtein Zaubertuch von bunter Pracht. Einst hört’ sie eine Flüsterstimme,verflucht sei sie, hält je sie inne,um hinabzuschaun nach Camelot.Der Sinn des Fluchs ist ihr verborgen,so webt sie gestern, heute, morgenund kaum beschwert von anderen Sorgen,die Lady von Shalott.

In einem Spiegel rein und klar,der vor ihr hängt das ganze Jahrund der sie mit der Welt verbindet,sieht sie die Straße, die sich windethinab zur Burg von Camelot.

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Im Herzen scheint sie froh zu sein,sie webt ins Tuch die Welt hinein.Und oft durch nächtlich stillen Hainein Trauerzug im Fackelscheinzog hin zur Burg von Camelot.Und in so mancher Vollmondnachthat sie der Liebenden gewacht – ein Schatten, der sie traurig macht – die Lady von Shalott.

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Und auf des Flusses dunklem Grundward schließlich ihr die Wahrheit kund.Denn wie in Trance, mit starrem Blick,erkennend all ihr Missgeschick,schaut sie hinab nach Camelot.Die Dämmerung sank schon herab,als sie vom Ufer legte abund sich der Strömung übergab,die Lady von Shalott.

Aus »Die Lady von Shalott« von Alfred Lord Tennyson (1809–1892).

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21. Juni 1895

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Bombay, Indien

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1. Kapitel

B itte sag nicht, dass die zu meinem Geburtstags-essen heute Abend gehört.«Ich starre einer Kobra in die Augen. Eine über-

raschend rosafarbene Zunge züngelt aus ihrem grausamenMund, während ein blinder Inder meiner Mutter seinen Kopfzuneigt und auf Hindi erklärt, dass Kobras eine schmackhafteMahlzeit abgeben.

Meine Mutter streckt einen weiß behandschuhten Fin-ger aus, um die Schlange zu streicheln. »Was meinst du,Gemma? Möchtest du Kobra essen, nun, wo du sechzehnbist?«

Schlangen sind mir ein Gräuel. »Danke, ich glaube nicht.«Der alte, blinde Inder lächelt zahnlos und hält mir die Kobra

näher hin. Ich taumle zurück und stoße gegen einen hölzer-nen Stand voll kleiner Statuen von indischen Gottheiten. Eineder Statuen, eine Frau mit unzähligen Armen und einemfurchterregenden Gesicht, fällt zu Boden. Kali, die Vernich-terin. Vor Kurzem hat mir Mutter vorgeworfen, ich hätte mirdiese Göttin zu meiner persönlichen Schutzpatronin erwählt.Mutter und ich kommen in letzter Zeit nicht besonders gutmiteinander aus. Sie behauptet, das liege daran, dass ich ge-

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rade in einem unmöglichen Alter sei. Ich erkläre jedem, deres hören will, es liege einzig und allein daran, dass sie sichweigert, mich nach London zu schicken.

»Ich habe gehört, in London muss man seinen Mahlzeitennicht zuerst die Zähne ziehen«, sage ich. Wir lassen den Mannmit der Kobra stehen und tauchen in die Menschenmengeein, die sich auf dem Marktplatz von Bombay drängt. Mutterantwortet nicht, scheucht stattdessen einen Drehorgelspie-ler mit seinem Äffchen fort. Es ist unerträglich heiß. Untermeinem Baumwollkleid mit den Reifröcken rinnt mir derSchweiß in Strömen am Körper hinab. Die Fliegen – mei-ne glühendsten Verehrer – schwirren um mein Gesicht. Ichschlage nach einem der geflügelten kleinen Biester, aber esentwischt mir und ich könnte fast schwören, dass ich höre,wie es mich auslacht. Mein Elend nimmt epidemische Aus-maße an.

Über uns ballen sich dicke, dunkle Wolken zusammen, einwarnendes Zeichen, dass wir uns in der Monsunzeit befin-den, wo von einer Minute zur nächsten Regenfluten vomHimmel stürzen können. Der staubige Basar summt von denStimmen der Männer mit ihren Turbanen, sie schnatternund rufen und feilschen und strecken uns mit braunen, son-nenverbrannten Händen Seidenstoffe in leuchtenden Farbenentgegen. Überall sind Karren, behängt mit Strohkörben, indenen alle möglichen Waren und essbaren Dinge zum Kaufangeboten werden – zierliche Kupfervasen, geschnitzte Holz-kästchen mit verschlungenen Blumenmustern und in derHitze reifende Mangos.

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»Wie weit ist es denn noch zum neuen Haus von Mrs Tal-bot? Können wir nicht einen Wagen nehmen?«, frage ich mit,wie ich hoffe, merklicher Verdrossenheit.

»Es ist ein schöner Tag für einen Spaziergang. Und ich wäredir dankbar, wenn du einen höflicheren Ton anschlägst.«

Meine Verdrossenheit wurde sehr wohl bemerkt.Sarita, unsere langjährige Haushälterin, bietet mir in ihrer

ledrigen Hand Granatäpfel an. »Memsahib, die sind sehrschmackhaft. Vielleicht bringen wir sie Ihrem Vater mit, ja?«

Wenn ich eine gute Tochter wäre, würde ich meinem Vaterein paar Granatäpfel mitbringen, würde mich darauf freuen,sein dröhnendes Lachen zu hören, während er die saftige roteFrucht aufschneidet und dann, wie ein richtiger britischerGentleman, die winzigen Samen mit einem Silberlöffel isst.

»Er wird nur seinen weißen Anzug bekleckern«, brummeich. Meine Mutter öffnet den Mund, um etwas zu erwidern,besinnt sich eines Besseren und seufzt – wie üblich. Wir habenimmer alles zusammen gemacht, meine Mutter und ich –alte Tempel besichtigt, die Bräuche der Gegend kennen-gelernt, Hindufeste besucht. Und wir sind oft bis tief in dieNacht aufgeblieben, um die im Kerzenlicht erstrahlendenStraßen zu sehen. Jetzt nimmt sie mich kaum noch zu gesell-schaftlichen Anlässen mit. Es ist, als wäre ich eine Aussätzige.

»Er wird seinen Anzug bekleckern. Das tut er immer«,murmle ich zu meiner Verteidigung, obwohl mir niemandBeachtung schenkt außer dem Drehorgelspieler und seinemÄffchen. Sie folgen mir auf Schritt und Tritt in der Hoffnung,für ihre Darbietungen etwas Geld zu bekommen. Der hohe

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Spitzenkragen meines Kleides ist schweißgetränkt. Ich seh-ne mich nach dem kühlen, saftigen Grün Englands, das ichnur aus den Briefen meiner Großmutter kenne. Briefe vollerKlatsch und Tratsch über Teegesellschaften und Bälle undSkandale in den höheren Ständen, während ich im staubi-gen, langweiligen Indien hocke und dem Äffchen eines Dreh-orgelspielers zusehe, das seit Jahren den gleichen Taschen-spielertrick vorführt.

»Guckt mal, das Äffchen, Memsahib. Wie entzückend esist!« Sarita sagt es, als wäre ich erst drei Jahre alt und hingeam Rockzipfel ihres Saris. Niemand scheint zu begreifen, dassich erwachsene sechzehn bin und nach London will, nein,muss, in die Nähe von Theatern, Bällen und von Männern,die älter als sechs und jünger als sechzig sind.

»Sarita, der Affe ist ein dressierter Dieb, der dir im Hand-umdrehen deinen Lohn aus der Tasche ziehen wird«, sage ichmit einem Seufzer. Wie aufs Stichwort klettert der haarigeBengel auf meine Schulter und streckt seine flache Hand aus.»Wie würde es dir gefallen, dein Leben in einem Geburtstags-eintopf zu beenden?«, frage ich mit zusammengebissenenZähnen. Das Äffchen faucht. Mutter verzieht tadelnd das Ge-sicht über mein schlechtes Benehmen und lässt eine Münze inden Becher des Besitzers fallen. Das Äffchen grinst triumphie-rend und springt über meinen Kopf, bevor es das Weite sucht.

Ein Händler streckt uns eine Maske mit gebleckten Zähnenund Elefantenohren hin. Mutter nimmt sie wortlos und hältsie sich vors Gesicht. »Wo bin ich?«, ruft sie. Es ist ein Spiel,das sie mit mir gespielt hat, seit ich laufen kann – eine Art

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Versteckspiel, um mich zum Lächeln zu bringen. Ein Kinder-spiel.

»Ich sehe immer noch meine Mutter«, sage ich gelangweilt.»Die gleichen Zähne, die gleichen Ohren.«

Mutter gibt dem Händler die Maske zurück. Ich habe sie inihrer Eitelkeit gekränkt.

»Und ich stelle fest, dass es meiner Tochter nicht sehr gutbekommt, sechzehn zu werden«, sagt sie.

»Ja, ich bin sechzehn. Sechzehn. Ein Alter, in dem die meis-ten anständigen Mädchen ihre Schulbildung in London erhal-ten.« Ich lege besondere Betonung auf das Wort anständig, inder Hoffnung, damit an ein mütterliches Grundbedürfnis zuappellieren.

»Die sieht mir noch ein wenig grün aus.« Sie betrachtetkonzentriert eine Mango. Die Inspektion der Frucht nimmtihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Niemand hat versucht, Tom in Bombay festzuhalten«, sageich, den Namen meines Bruders als letzten Trumpf ausspie-lend. »Er ist schon vier Jahre dort! Und jetzt beginnt er mitdem Studium.«

»Bei Männern ist das etwas anderes.«»Das ist ungerecht. Ich werde nie eine Chance haben. Ich

werde als alte Jungfer mit Hunderten von Katzen enden, dieMilch aus Porzellannäpfen trinken.« Ich breche in Tränen aus.Weinen macht hässlich, aber ich bin machtlos dagegen undkann nicht aufhören zu heulen.

»Ich verstehe«, sagt Mutter schließlich. »Möchtest du in denBallsälen der Londoner Gesellschaft wie eine Preisstute vor-

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geführt werden, um deine Zuchtqualitäten abschätzen zu las-sen? Würdest du London immer noch so bezaubernd finden,wenn du wegen des kleinsten Regelverstoßes zum Ziel bös-williger Gerüchte wirst? London ist nicht so idyllisch, wie esin den Briefen deiner Großmutter scheint.«

»Was soll ich dazu sagen? Ich habe es ja nie gesehen.«»Gemma …« Mutters Ton ist beschwörend, auch wenn das

unveränderliche, für die Inder bestimmte Lächeln nicht ausihrem Gesicht weicht. Sie sollen nicht denken, wir Englände-rinnen seien so unfein, Meinungsverschiedenheiten auf derStraße auszutragen. Wir reden nur übers Wetter, und wenndas Wetter schlecht ist, tun wir, als bemerkten wir es nicht.

Sarita kichert nervös. »Wie ist’s möglich, dass Memsahibjetzt eine junge Dame ist? Mir scheint, als hätten Sie gesternnoch im Kinderzimmer gespielt. Oh, schaun Sie nur, Datteln!Ihre Lieblingsspeise.« Sie verzieht den Mund zu einem Lä-cheln voller Zahnlücken, das jede einzelne der tief eingegra-benen Runzeln in ihrem Gesicht lebendig werden lässt. Es istheiß und plötzlich möchte ich schreien und davonlaufen, wegvon allem und jedem hier.

»Diese Datteln sind wahrscheinlich im Innern faulig. Genauwie Indien.«

»Gemma, jetzt reicht es.« Mutter heftet ihre durchdringen-den grünen Augen auf mich. Die gleichen leuchtend grünenAugen mit den hochgewölbten Brauen, die ich auch habe.Die Inder finden sie beunruhigend, verwirrend. Als würdeman von einem Geist beobachtet. Sarita lächelt auf ihreFüße hinunter und zupft mit den Händen an ihrem braunen

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Sari. Ich fühle einen Anflug von schlechtem Gewissen, weilich etwas so Hässliches über ihr Heimatland gesagt habe. Un-sere Heimat, obwohl ich mich gerade nirgendwo wirklich zuHause fühle.

»Memsahib, Sie wollen bestimmt nicht nach London. Grauund kalt ist es da und es gibt keine Datteln. Es würde Ihnennicht gefallen.«

Mit schrillem Pfiff fährt ein Zug in der Nähe der glitzern-den Bucht ins Depot. Bombay. »Gute Bucht« heißt das, ob-wohl mir im Moment nichts Gutes dazu einfällt. DunklerQualm steigt aus der Lokomotive hoch bis zu den dickenWolken hinauf. Mutter sieht gedankenverloren zu.

»Ja, kalt und grau.« Sie führt eine Hand an ihren Hals, be-tastet das kleine silberne Medaillon, ein Auge über einemHalbmond, das dort an einer Kette hängt. Ein Geschenk einesDorfbewohners, sagt Mutter. Ihr Glücksbringer. Ich habe sienie ohne dieses Amulett gesehen.

Sarita legt eine Hand auf Mutters Arm. »Es ist Zeit zu ge-hen, Memsahib.«

Mutter reißt ihren Blick von dem Zug los und lässt dieHand sinken. »Ja, richtig. Mrs Talbot erwartet uns. Es wirdbestimmt ganz reizend werden. Ich bin sicher, sie hat köst-liche Leckereien für deinen Geburtstag vorbereitet …«

Ein Mann mit einem weißen Turban und einem weitenschwarzen Mantel stolpert von hinten in sie hinein und rem-pelt sie hart an.

»Bitte tausendmal um Vergebung, verehrte gnädige Frau.«Er lächelt, verbeugt sich tief zur Entschuldigung für seine

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grobe Unachtsamkeit. Dabei sehe ich hinter ihm einen jungenMann stehen, der den gleichen seltsamen Mantel trägt. Füreinen Moment starren der junge Mann und ich einander indie Augen. Er ist kaum älter als ich, siebzehn schätzungswei-se, mit brauner Haut, einem vollen Mund und den längstenWimpern, die ich je gesehen habe. Ich weiß, ich sollte indischeMänner nicht attraktiv finden, aber ich kenne nicht viele jun-ge Männer und ich spüre, dass ich rot werde, ob ich will odernicht. Er wendet den Blick ab und reckt den Hals, um überdie Menge zu schauen.

»Können Sie nicht aufpassen«, herrscht Sarita den älterenMann an und droht ihm mit erhobenem Arm. »Wehe, Siesind ein Dieb, dann ergeht’s Ihnen schlecht.«

»Nein, nein, Memsahib, ich bin nur schrecklich unge-schickt.« Sein Lächeln erlischt und mit ihm auch die auf-gesetzte Miene des fröhlichen Tollpatschs. Leise, in akzent-freiem Englisch flüstert er meiner Mutter zu: »Circe ist nahe.«

Diese Worte ergeben für mich überhaupt keinen Sinn, ichhalte sie für das bloße Ablenkungsmanöver eines gerissenenDiebes. Das will ich meiner Mutter gerade auch sagen, dochder Ausdruck blanken Entsetzens auf ihrem Gesicht schnürtmir die Kehle zu. Mit wildem Blick fährt sie herum undsucht die überfüllten Straßen ab, als halte sie nach einem ver-lorenen Kind Ausschau.

»Was ist los? Was ist passiert?«, frage ich.Die Männer sind plötzlich fort. Sie sind in der hastenden

Menge verschwunden, nur ihre Fußspuren haben sie im Staubzurückgelassen. »Was hat der Mann zu dir gesagt?«

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Die Stimme meiner Mutter ist scharf wie eine Stahlklinge.»Nichts. Er war offensichtlich verwirrt. Die Straßen sindheutzutage nicht sicher.« Ich habe meine Mutter noch nie sogehört. So hart. So voller Angst. »Gemma, ich glaube, ich geheam besten allein zu Mrs Talbot.«

»Aber … aber was ist mit dem Kuchen?« Es ist lächerlich,das zu sagen, aber heute ist mein Geburtstag, und wenn ichauch nicht darauf erpicht bin, ihn in Mrs Talbots Wohnzim-mer zu verbringen, so will ich mich ganz bestimmt nichtallein zu Hause langweilen, nur weil irgend so ein schwarz ge-kleideter Verrückter und sein Kumpan meiner Mutter einenSchrecken eingejagt haben.

Mutter zieht ihren Schal eng um ihre Schultern. »Wir wer-den später Kuchen essen …«

»Aber du hast versprochen …«»Ja, aber das war, bevor …« Ihre Worte bleiben in der Luft

hängen.»Bevor was?«»Bevor du mich so geärgert hast! Wirklich, Gemma, du bist

heute nicht in der richtigen Stimmung für einen Besuch. Sa-rita wird dich zurückbegleiten.«

»Meine Stimmung ist ausgezeichnet«, protestiere ich, aberder Ton straft meine Worte Lügen.

»Nein, ist sie nicht!« Mutters grüne Augen treffen meine.Da ist etwas, was ich noch nie zuvor darin gesehen habe. Einungeheurer Zorn, der mir den Atem raubt. So schnell, wieer über sie gekommen ist, ist er verflogen und Mutter ist wie-der Mutter. »Du bist übermüdet und brauchst Ruhe. Heute

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Abend wollen wir feiern und ich werde dir erlauben, ein we-nig Champagner zu trinken.«

Ich werde dir erlauben, ein wenig Champagner zu trinken.Das ist kein Versprechen – es ist ein Vorwand, um mich los-zuwerden. Es gab eine Zeit, da haben wir alles gemeinsamgemacht, und jetzt können wir nicht einmal mehr zusam-men über den Basar gehen, ohne uns in die Haare zu kriegen.Ich bin eine Enttäuschung. Eine Tochter, die sie nirgendwo-hin mitnehmen will, nicht nach London und nicht einmalins Haus einer alten Schachtel, die schwachen Tee macht.

Wieder durchschneidet ein schriller Pfiff des Zugs die Luftund lässt Mutter zusammenfahren.

»Hier, du kannst meine Halskette tragen, hmmm? Kommschon, nimm sie. Ich weiß, dass du sie immer bewundert hast.«

Ich stehe still und stumm, während ich ihr erlaube, mirdie Halskette umzulegen, die ich tatsächlich immer habenwollte. Aber jetzt drückt sie mich nieder. Ein Bestechungs-geschenk. Mutter wirft nochmals einen hastigen Blick auf denstaubigen Marktplatz, bevor sie ihre grünen Augen auf mirruhen lässt. »So. Du schaust … richtig erwachsen aus.« Siepresst ihre behandschuhte Hand an meine Wange, hält siedort, als wollte sie sich mit ihren Fingern meine Züge einprä-gen. »Bis später zu Hause.«

Niemand soll die Tränen in meinen Augen sehen, also su-che ich nach dem Gemeinsten, was ich sagen kann. Bevor ichüber den Marktplatz davonstürme, kommt es über meineLippen: »Es ist mir egal, ob du überhaupt wieder nach Hausekommst.«

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