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Alexander Bertsch Jean-Paul Sartre (1905-1980) Vortrag im Kleist-Archiv Sembdner am 17. Oktober 2005 (Gemeinschaftsveranstaltung von Literarischem Verein Heilbronn und Kleist-Archiv Sembdner) Redaktion und technische Produktion: Kleist-Archiv Sembdner · Berliner Platz 12 (K3) · 74072 Heilbronn · www.kleist.org Als Jean-Paul Sartre 1980 im Alter von 75 Jahren starb, folgten ihm 50.000 Men- schen auf seinem letzten Weg zum Fried- hof Montparnasse in Paris. Einer der ein- flußreichsten französischen Philosophen, Schriftsteller, Intellektuellen des 20. Jahr- hunderts, dessen Wirken sich ja keines- falls auf Frankreich beschränkte, wurde zu Grabe getragen. Von vielen als Jahr- hundert-Intellektueller verehrt und ge- priesen, von anderen aber auch abge- lehnt, bekämpft oder verachtet. Dies mag sich daraus erklären, daß Sartre wie kaum ein anderer, wie einmal gesagt wurde, fast alle Widersprüche des 20. Jahrhun- derts in sich vereinigt hat. Die Nachfolgenden hatten es nicht leicht, sich von diesem ›Über-Intellektuellen‹ zu lösen, der für eine ganze Epoche stand, die nun mit Sartres Tod endgültig vorbei war. Der im Oktober 2004 verstorbene Philo- soph Jacques Derrida hat 1983 in einem Interview geäußert: »Was für eine Gesell- schaft muß die unsrige sein, damit ein Mann (Sartre), der auf seine Art derartig viele theoretische und literarische Ereig- nisse seiner Zeit – kurz gesagt, die Psy- choanalyse, den Marxismus, den Struk- turalismus, Joyce, Artaud usw. – entwe- der abgelehnt oder mißverstanden hat, der über Heidegger und manchmal auch über Husserl den unglaublichsten Unsinn wiederholt oder verbreitet hat, derart die kulturelle Szene dominieren und sogar zu einer Berühmtheit werden kann?« Ein vernichtendes Urteil. Allerdings füg- te Derrida hinzu, daß man, um eine sol- che Frage überhaupt zu klären, minde- stens »einige Dutzend Bücher« schreiben müßte. Wer war dieser kleine schielende Mann, der sich selbst für häßlich hielt und schon sehr früh einen unbändigen Willen ent- wickelte, etwas Besonderes zu werden, eine Berühmtheit, ein Mann, zu dem man aufsah, dessen Meinung die Welt wahr- zunehmen hatte – und der bei den Frau- en Erfolg haben wollte. Und wodurch war das alles zu bewerkstelligen? Durch Schreiben, immer wieder schreiben – wie ein Besessener, sein ganzes Leben hin- durch. Jean-Paul Sartre, der am 21. Juni 1905 in Paris geboren wurde, verlor mit zwei Jah- ren seinen Vater, und seine praktisch mit- tellose Mutter zog wieder zu ihren Eltern, der Familie um Charles Schweitzer, der für den kleinen »Poulou«, wie Jean-Paul von seiner Mutter und von seinen Ver- wandten genannt wurde, eine wichtige Bezugsperson war. Charles Schweitzer, aus dem Elsaß stammend, sollte nach dem Willen seines Vaters ursprünglich Pastor werden. Statt dessen wurde er nach mehreren Umwegen Deutschlehrer, ein ›Professor‹, der Bücher schrieb und der eine riesige Bibliothek besaß. Übri- gens gab es in der Familie Schweitzer dann in der Gestalt von Charles’ Bruder Louis doch noch einen Pfarrer, der sei- nerseits wiederum einen solchen erzeug- te: Albert Schweitzer. Etwas wird für Sartres spätere Reflexio- nen über die Sozialisation des Heran- wachsenden wichtig: Das Kind fühlt sich von Anfang an als eben so ›aufgenom- men‹, es ist ein Eindringling, kann sich nie sicher fühlen, es ist nur geduldet und diese Duldung kann jederzeit zu Ende sein. Das sind Ängste, die traumatisch ge- wirkt haben müssen. Lassen wir Sartre selbst zu Wort kom- men, nämlich in den Wörtern, Les mots, die 1964, in demselben Jahr, in dem er den Nobelpreis bekam und ablehnte, erschie- nen. »Die Wörter« sind keine üblichen Kindheitserinnerungen, sondern Sartre geht hier völlig andere Wege und bietet eine ungewöhnlich schonungslose Selbst- analyse. Das Buch beinhaltet in etwa die Jahre bis 1917. »Es gibt keine guten Väter, das ist die Re- gel; die Schuld daran soll man nicht den Menschen geben, sondern dem Band der Vaterschaft, das faul ist. Kinder machen, ausgezeichnet; Kinder haben, welche Un- bill! Hätte mein Vater weitergelebt, er hät- te mich mit seiner ganzen Länge überragt und dabei erdrückt. Glücklicherweise starb er sehr früh; inmitten so vieler Män- ner, die gleich dem Äneas ihren Anchises auf dem Rücken tragen, schreite ich von einem Ufer zum andern, allein und vol- ler Mißachtung für diese unsichtbaren Erzeuger, die ihren Söhnen das ganze Leben lang auf dem Rücken hocken: ich ließ hinter mir einen jungen Toten, der nicht die Zeit hatte, mein Vater zu sein, und heute mein Sohn sein könnte. ... Ich stimme gern der Deutung eines bedeu- tenden Psychoanalytikers zu: ich habe kein Über-Ich.« Wenn wir uns den autokratischen, patri- archalischen Über-Großvater vergegen- wärtigen, weiß ich nicht, ob der Autor selbst völlig recht hat. Auf jeden Fall: Es gab die vielen Bücher in der Bibliothek des Großvaters, und schon im Alter von acht Jahren begann der Junge selbst Bücher zu schreiben, kleine ›Romane‹ im Stil der ihm zugäng- lichen Abenteuergeschichten. Er wurde vom Großvater ermuntert, von der Mut- ter bewundert. Das Kind schaute sich die Erwachsenen genau an, imitierte sie, d.h. es übernahm eine Rolle. Dennoch war das Erstaunliche daran, daß dieser Wunsch des Schreiben-Wollens keine Kinderlaune darstellte, sondern einen grundlegenden Entschluß bedeutete, eine Wahl, ein Be- griff, auf den wir später noch näher ein- gehen werden, eine Wahl seiner Existenz, die ihn in diesem Fall sein ganzes Leben lang bestimmen wird. Sartre spricht spä- ter von einer sogenannten »Urwahl«, ei- ner choix fondamentale, von der alle Ver- wirklichungen und Entwürfe im Laufe seines Lebens ausgehen. Zunächst also das Annehmen einer Rol- le. Daraus wurde später eine Verpflich- tung, die unmittelbar mit seiner Existenz verbunden war. Es kam zur Akzeptanz und zur absoluten Selbstverantwortung. Seine spätere Gefährtin Simone de Beauvoir schrieb 1957: »Sartre lebte, um zu schreiben. Er war berufen, von allen Dingen Zeugnis abzulegen und sie, un- ter dem Primat der Notwendigkeit, den- kend neu zu erschaffen ... Der Mensch mußte neu geschaffen werden, und die- se Erfindung würde zum Teil unser Werk Literarische Landschaft Heilbronn · Flugschrift N° 2

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Alexander BertschJean-Paul Sartre (1905-1980)Vortrag im Kleist-Archiv Sembdner am 17. Oktober 2005 (Gemeinschaftsveranstaltung von Literarischem Verein Heilbronn und Kleist-Archiv Sembdner)Redaktion und technische Produktion: Kleist-Archiv Sembdner · Berliner Platz 12 (K3) · 74072 Heilbronn · www.kleist.org

Als Jean-Paul Sartre 1980 im Alter von 75Jahren starb, folgten ihm 50.000 Men-schen auf seinem letzten Weg zum Fried-hof Montparnasse in Paris. Einer der ein-flußreichsten französischen Philosophen,Schriftsteller, Intellektuellen des 20. Jahr-hunderts, dessen Wirken sich ja keines-falls auf Frankreich beschränkte, wurdezu Grabe getragen. Von vielen als Jahr-hundert-Intellektueller verehrt und ge-priesen, von anderen aber auch abge-lehnt, bekämpft oder verachtet. Dies magsich daraus erklären, daß Sartre wie kaumein anderer, wie einmal gesagt wurde,fast alle Widersprüche des 20. Jahrhun-derts in sich vereinigt hat.Die Nachfolgenden hatten es nicht leicht,sich von diesem ›Über-Intellektuellen‹ zulösen, der für eine ganze Epoche stand,die nun mit Sartres Tod endgültig vorbeiwar.Der im Oktober 2004 verstorbene Philo-soph Jacques Derrida hat 1983 in einemInterview geäußert: »Was für eine Gesell-schaft muß die unsrige sein, damit einMann (Sartre), der auf seine Art derartigviele theoretische und literarische Ereig-nisse seiner Zeit – kurz gesagt, die Psy-choanalyse, den Marxismus, den Struk-turalismus, Joyce, Artaud usw. – entwe-der abgelehnt oder mißverstanden hat,der über Heidegger und manchmal auchüber Husserl den unglaublichsten Unsinnwiederholt oder verbreitet hat, derart diekulturelle Szene dominieren und sogar zueiner Berühmtheit werden kann?«Ein vernichtendes Urteil. Allerdings füg-te Derrida hinzu, daß man, um eine sol-che Frage überhaupt zu klären, minde-stens »einige Dutzend Bücher« schreibenmüßte.Wer war dieser kleine schielende Mann,der sich selbst für häßlich hielt und schonsehr früh einen unbändigen Willen ent-wickelte, etwas Besonderes zu werden,eine Berühmtheit, ein Mann, zu dem manaufsah, dessen Meinung die Welt wahr-zunehmen hatte – und der bei den Frau-en Erfolg haben wollte. Und wodurchwar das alles zu bewerkstelligen? DurchSchreiben, immer wieder schreiben – wie

ein Besessener, sein ganzes Leben hin-durch.Jean-Paul Sartre, der am 21. Juni 1905 inParis geboren wurde, verlor mit zwei Jah-ren seinen Vater, und seine praktisch mit-tellose Mutter zog wieder zu ihren Eltern,der Familie um Charles Schweitzer, derfür den kleinen »Poulou«, wie Jean-Paulvon seiner Mutter und von seinen Ver-wandten genannt wurde, eine wichtigeBezugsperson war. Charles Schweitzer,aus dem Elsaß stammend, sollte nachdem Willen seines Vaters ursprünglichPastor werden. Statt dessen wurde ernach mehreren Umwegen Deutschlehrer,ein ›Professor‹, der Bücher schrieb undder eine riesige Bibliothek besaß. Übri-gens gab es in der Familie Schweitzerdann in der Gestalt von Charles’ BruderLouis doch noch einen Pfarrer, der sei-nerseits wiederum einen solchen erzeug-te: Albert Schweitzer.

Etwas wird für Sartres spätere Reflexio-nen über die Sozialisation des Heran-wachsenden wichtig: Das Kind fühlt sichvon Anfang an als eben so ›aufgenom-men‹, es ist ein Eindringling, kann sichnie sicher fühlen, es ist nur geduldet unddiese Duldung kann jederzeit zu Endesein. Das sind Ängste, die traumatisch ge-wirkt haben müssen.Lassen wir Sartre selbst zu Wort kom-men, nämlich in den Wörtern, Les mots, die1964, in demselben Jahr, in dem er denNobelpreis bekam und ablehnte, erschie-nen. »Die Wörter« sind keine üblichenKindheitserinnerungen, sondern Sartregeht hier völlig andere Wege und bieteteine ungewöhnlich schonungslose Selbst-analyse. Das Buch beinhaltet in etwa dieJahre bis 1917.»Es gibt keine guten Väter, das ist die Re-gel; die Schuld daran soll man nicht denMenschen geben, sondern dem Band derVaterschaft, das faul ist. Kinder machen,ausgezeichnet; Kinder haben, welche Un-bill! Hätte mein Vater weitergelebt, er hät-te mich mit seiner ganzen Länge überragtund dabei erdrückt. Glücklicherweisestarb er sehr früh; inmitten so vieler Män-

ner, die gleich dem Äneas ihren Anchisesauf dem Rücken tragen, schreite ich voneinem Ufer zum andern, allein und vol-ler Mißachtung für diese unsichtbarenErzeuger, die ihren Söhnen das ganzeLeben lang auf dem Rücken hocken: ichließ hinter mir einen jungen Toten, dernicht die Zeit hatte, mein Vater zu sein,und heute mein Sohn sein könnte. ... Ichstimme gern der Deutung eines bedeu-tenden Psychoanalytikers zu: ich habekein Über-Ich.«Wenn wir uns den autokratischen, patri-archalischen Über-Großvater vergegen-wärtigen, weiß ich nicht, ob der Autorselbst völlig recht hat.Auf jeden Fall: Es gab die vielen Bücherin der Bibliothek des Großvaters, undschon im Alter von acht Jahren begannder Junge selbst Bücher zu schreiben,kleine ›Romane‹ im Stil der ihm zugäng-lichen Abenteuergeschichten. Er wurdevom Großvater ermuntert, von der Mut-ter bewundert. Das Kind schaute sich dieErwachsenen genau an, imitierte sie, d.h.es übernahm eine Rolle. Dennoch war dasErstaunliche daran, daß dieser Wunschdes Schreiben-Wollens keine Kinderlaunedarstellte, sondern einen grundlegendenEntschluß bedeutete, eine Wahl, ein Be-griff, auf den wir später noch näher ein-gehen werden, eine Wahl seiner Existenz,die ihn in diesem Fall sein ganzes Lebenlang bestimmen wird. Sartre spricht spä-ter von einer sogenannten »Urwahl«, ei-ner choix fondamentale, von der alle Ver-wirklichungen und Entwürfe im Laufeseines Lebens ausgehen.Zunächst also das Annehmen einer Rol-le. Daraus wurde später eine Verpflich-tung, die unmittelbar mit seiner Existenzverbunden war. Es kam zur Akzeptanzund zur absoluten Selbstverantwortung.Seine spätere Gefährtin Simone deBeauvoir schrieb 1957: »Sartre lebte, umzu schreiben. Er war berufen, von allenDingen Zeugnis abzulegen und sie, un-ter dem Primat der Notwendigkeit, den-kend neu zu erschaffen ... Der Menschmußte neu geschaffen werden, und die-se Erfindung würde zum Teil unser Werk

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sein. Unseren Beitrag dazu würden wirjedoch ausschließlich in Büchern leisten.«(La force de l’âge, In den besten Jahren).Wir können weitere Punkte nennen, diein seiner späteren Philosophie eine Rollespielen werden:a) Das Kind verliert trotz freundlicherAufnahme bei den Großeltern nie dasGefühl, ein Fremdling zu sein, ein Gast,der nur geduldet wird. Es muß sich dieseAufnahme durch entsprechendes Verhal-ten verdienen. Die Konsequenz daraus:Sartre wird nie ein Gefühl für so etwaswie Eigentum entwickeln: Man kann al-les jederzeit wieder verlieren, nichts istsicher, noch nicht einmal der Ort der Exi-stenz. Bei den Großeltern und auch nachder Wiederheirat seiner Mutter, als er beiihr und seinem Stiefvater in La Rochelle(1916-1919) lebte, hat er sich nie ›zu Hau-se‹ gefühlt.b) Es geht nicht nur um Haben oder Nicht-Haben, sondern um die Rechtfertigungder eigenen Existenz: Es wird einemnichts geschenkt. Man muß seine Existenzleisten und rechtfertigen. Und eben dieseRechtfertigung wird zu einem Haupt-punkt seiner Deutung der menschlichenExistenz. ›Wir existieren nur insofern, alswir unser Sein zu rechtfertigen vermö-gen‹, dadurch, was wir im einzelnen tunund wie wir uns verhalten.c) Ein letzter Punkt, ohne auf Vollständig-keit zu plädieren, könnte hier noch er-wähnt werden: Der Blick des anderen. Inseinem Hauptwerk dieser ersten soge-nannten existentialistischen Epoche, DasSein und das Nichts (1943), hat Sartre indem Kapitel ›Der Blick‹ dieses Phänomenbehandelt, das ebenfalls bereits in derKindheit für ihn eine Rolle gespielt habenmuß: Das Kind, das angeblickt und da-durch beurteilt wird.»Das vaterlose und dadurch familienlose,heimlose Kind ist immer der Kritik dererausgesetzt, die es sozusagen auf Bewäh-rung aufgenommen haben. Es ist eine ArtEindringling und muß ständig trachten,das zu überspielen, vergessen zu lassen.Der Eindringling fühlt sich ständig beob-achtet.« (Walter Biemel) Er fühlt sichdurch Blicke ertappt. Später wird Sartreausführen, wie dieses ›Angeblickt-Wer-den‹ zu einer Begrenzung der Freiheitführt. Im Blick des anderen werde ich zueinem puren Objekt, zu einem ein für al-lemal festgelegten Ding.Damit sollten nur ein paar Punkte er-wähnt werden, die sich später in seinerPhilosophie wiederfinden. Daneben na-türlich eine Menge von Einflüssen, dievon anderen Philosophen, Schriftstellern,Intellektuellen herrühren, deren Spurenwir hier nicht im entferntesten aufzeigenkönnen.Ich werde mich mit einer kurzen biogra-phischen Notiz begnügen. Für die bürger-liche Schicht, aus der er stammt, wird ersein Leben lang immer Verachtung emp-finden. Aber er hat nun einmal, ganz an-

ders als beispielsweise Camus, eine ent-sprechende Ausbildung genossen. Von1924 bis1928 studiert er an der geisteswis-senschaftlichen Eliteschule in Frankreich,der École Normale Supérieure in Paris, lerntdort seine spätere Lebensgefährtin Simo-ne de Beauvoir kennen. Er wird Gymna-siallehrer in Le Havre, der Stadt ›Bouville‹(Dreckstadt) in seinem späteren RomanDer Ekel, offensichtlich für ihn so etwaswie ein öder Ort. 1933/34 ist er als Philo-sophie-Stipendiat in Berlin. Ab 1937 ist erPhilosophielehrer am Lycée Pasteur in Pa-ris. 1938 dann der Roman, der seinen Na-men bekannt machen wird: La Nausée, DerEkel. Zwei Jahre später gerät er für zehnMonate in deutsche Kriegsgefangen-schaft, kehrt nach Paris zurück und ver-öffentlicht 1943 sein erstes philosophi-sches Hauptwerk, Das Sein und das Nichts,und sein erstes Theaterstück, Die Fliegen.Seit Kriegsende lebt und schreibt er inParis, Saint-Germain-des-Prés, wird Her-ausgeber, Chefredakteur, Dauerschreiberfür die politisch-literarische Zeitschrift LesTemps Modernes, bereist den halben Erd-ball, mischt sich überall ein, bezieht per-manent Stellung, greift, wenn es ihm rich-tig erscheint, auch die Politik seines eige-nen Landes scharf an, zum Beispiel wäh-rend des Algerienkriegs – er wird fast soetwas wie eine weltweite moralische In-stanz: Das hat er mit einem anderen Jean-Paul, nämlich Johannes Paul gemeinsam,allerdings mit gewissen Unterschieden.Im Laufe der 60er Jahre bahnt sich im phi-losophischen Denken ein Wandel an. Diepolitischen Schwerpunkte verschiebensich, all das, was den Bewußtseinswandeldurch die von den USA ausgehenden Stu-dentenunruhen (Vietnam-Krieg) auslöst,setzt neue Maßstäbe im Denken, das zu-nehmend politischer wird. Aber ein wei-terer Grund könnte auch sein, daß Sartreselbst, der jede Festlegung haßt undlängst schon wieder auf dem Sprung ist,durch eine neue Wahl (seines Bewußt-seins) in neue Bereiche aufbricht, selbstden Existentialismus teilweise hinter sichläßt und intensiv den Marxismus für sichvereinnahmt.Man sieht deutlich: es gibt nicht nur einenSartre, sondern noch einen zweiten. Wieist das möglich? Bernard-Henri Lévyschreibt in seiner Sartre-Biografie, die2000 erschienen ist: »Eine zweite Seele inderselben Brust. Ein zweites Werk, dasunter demselben Namen publiziert wird.Als würde Sartre von nun an auf zwei Fre-quenzen senden, wobei die eine Stimmedie andere ständig überlagert, stört,manchmal auch erstickt – und das bis ansein Lebensende.«

Ich möchte mich zunächst dem Sartre zu-wenden, der heute, fünfundzwanzig Jah-re nach seinem Tod, eben immer noch alseiner der wichtigsten Vertreter der philo-sophischen Richtung angesehen wird, dieden Namen ›Existenzialismus‹ erhalten

hat. Daß sich unter diesem Begriff einmaleine ausgesprochene Mode-Richtung ent-wickeln konnte, läßt sich kaum mehrnachvollziehen, aber man muß einfach be-denken, daß die beiden großen Katastro-phen des 20. Jahrhunderts zum einen denBoden für eine solche Philosophie berei-tet haben, und zum anderen wirkt die Phi-losophie ihrerseits wieder auf die Zeitzurück – das ist immer ein wechselseiti-ges Sich-Bedingen, wenn wir beispiels-weise den Kantschen ›Weltbegriff‹ derPhilosophie zugrundelegen.Ich möchte nun auf ein paar Thesen vonSartres Philosophie hinweisen und an ei-nigen Beispielen zeigen, wie sich seinephilosophischen Gedanken in seinem li-terarischen Werk widerspiegeln. Im Ver-gleich zu anderen Schriftstellern und Phi-losophen soll auch auf Sartres besondersradikalen Ansatz in seiner Auffassungvon Freiheit hingewiesen werden.Neben seiner ungeheuer reichhaltigenphilosophischen Produktion ist Sartre vorallem durch seine literarischen Publika-tionen bekannt geworden: Novellen, Ro-mane, Theaterstücke, Drehbücher, dane-ben noch politische Essays, Polemiken,umfangreiche journalistische Tätigkeitusw. Sartre ist sich in einem Punkt seinganzes Leben lang treu geblieben: Er hatsich permanent eingemischt – der enga-gierte Literat hat Stellung zu beziehen, hateine Position einzunehmen, sei es beiMenschenrechtsverletzungen, sei es beiKriegen oder sonstigen menschlichen Ka-tastrophen. Er engagiert sich gegen denKrieg in Vietnam, aber auch gegen denAlgerienkrieg seiner eigenen Landsleute.Allerdings war er für eine sehr lange Zeitblind gegen die Menschenrechtsverlet-zungen Stalins, oder wenn er in Stamm-heim einen ›Mann der revolutionärenTat’, Andreas Baader, besucht. Allerdingsverlief diese Begegnung am 4. Dezember1974 für die Beteiligten nicht sehr zufrie-denstellend. Zunächst wollte Sartre einZeichen gegen diese Art von Isolations-haft setzen. »Nach der Menschenrechts-konvention bleibt ein Häftling einMensch, der die gleichen Eigenschaftenwie ein freier Mensch besitzt«, erklärte ervor der Presse. Doch zunächst machte erBaader seine Einwände deutlich, sagteihm, daß der Terrorismus, der beispiels-weise in Lateinamerika gerechtfertigtwerden könne, auf die Länder Westeuro-pas nicht übertragbar sei. Die Ermordungdes Richters Drenkmann ... sei eine poli-tisch falsche Tat gewesen. Baader sei wü-tend geworden. Offiziell wird aber zu-nächst von diesen Aussagen nichts be-kannt. Sartre ist eben aufgrund seinesNamens immer wieder benutzt worden –oder hat sich allzu bereitwillig benutzenlassen. Ich sagte es bereits zu Beginn mei-ner Ausführungen: Sartre vereinigt fastalle Widersprüche des 20. Jahrhunderts insich.

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Aber nun ein paar Thesen seiner Philoso-phie. Was heißt das zunächst: Die Exi-stenz geht der Essenz voraus?Sartre meint, man müsse von der Ichheitausgehen. Der Mensch ist zunächstnichts, er wird erst in Zukunft etwas aussich machen. Er existiert zuerst, begegnetsich in der Welt und definiert sich erstdanach. Der Mensch also als ein Wesen,das existiert, bevor es durch irgendeinenBegriff definiert werden kann. Sartreschreibt: »Der Mensch ist lediglich so, wieer sich konzipiert ... wie er sich nach derExistenz konzipiert ... der Mensch istnichts anderes als wozu er sich macht.«In diesem Sinne gibt es für ihn keinemenschliche Natur, denn es gibt nieman-den, der sie entworfen haben könnte. Nurder Mensch selbst ist in der Lage sich zudefinieren, sich zu entwerfen.Wenn wir also von dieser These ausge-hen, daß die Existenz der Essenz voraus-geht, dann ist der Mensch auch verant-wortlich für das, was er ist. Und Sartregeht noch einen Schritt weiter, indem erhinzufügt, daß diese Verantwortlichkeitnicht nur unsere Individualität ein-schließt, sondern der Mensch sei verant-wortlich für alle Menschen.Sartre sagt, der Mensch sei zuerst ein Ent-wurf, der sich subjektiv lebt ... nichts exi-stiere diesem Entwurf vorweg, nichts seiim Himmel, und der Mensch werde im-mer zuerst das sein, was er zu sein ge-plant hat, nicht was er sein wollen wer-de. Und nun kommt er zu einem Begriff,der für ihn dieses sogenannte ›Wollen‹ an-tizipiert, nämlich die Wahl.Der Mensch wählt sich – das wäre derursprünglichste, unmittelbarste Schrittzur Verwirklichung unserer Existenz. DerEntwurf des Menschen ist durch mehr ge-kennzeichnet als durch den Willen: Ertrifft eine spontane Wahl. Jeder unter unswählt sich: Einmal ist es die Wahl des in-dividuellen Subjekts durch sich selbst –und zum anderen die Wahl als ein positi-ves Gerichtet-Sein auf alle Menschen.Der Wille selbst ist für Sartre dumpf undunbestimmt, wichtig als Drang zur Ver-wirklichung, aber die Wahl steht schließ-lich als Ausdruck des ›sozialen‹ Individu-ums über dem Willen.Durch diese Wahl, wie Sartre meint, bin-den die Menschen einander – dies bedeu-tet für ihn eine humanistische, sozialeKomponente; der Wille ist demnach nurindividuell.Die willentliche Überlegung sei immerverfälscht. Sartre weist auf zwei Willens-möglichkeiten hin: »Der bewußte Wille«und »der schlechte Wille«. Letzterer be-deutet für ihn so etwas wie ein unreflek-tierter Wille. Was bedeutet nun ›reflektier-ter‹, ›bewußter‹ Wille im Zusammenspielmit der Wahl? Auch dieser Wille wäre derWahl gleichsam untergeordnet, denn dieWahl ist eine Wahl unseres Bewußtseins.Die ursprüngliche Wahl geht also jedemEntschluß voraus. Daraus kann man nicht

folgern, daß die ursprüngliche Wahl un-serer selbst unbewußt sei – sie kann des-halb nicht unbewußt sein, weil die Wahlnach Sartre unser Bewußtsein selbst ist:nicht nur »Sich-Wählen« und Sein sind fürSartre identisch, sondern auch Wahl undBewußtsein.Übrigens: auch das ›Sich-nicht-Wählen‹ist für Sartre eine Art Wahl, es ist dieWahl, vor der Wahl auszuweichen, siehinauszuschieben, sie unbestimmt zu las-sen – ein Phänomen, das Sartre später inseinem Stück Die schmutzigen Hände ander Figur des Intellektuellen Hugo de-monstriert. Oder beispielsweise auch dasHinausschieben und Verzögern der ei-gentlichen Wahl bei der Figur desMathieu in der Romantrilogie Die Wege derFreiheit.Man muß deutlich sehen, daß viele sol-cher Begriffe in der Geschichte der Philo-sophie eine Umdeutung erfahren oder inden Denksystemen einen eigenen Stellen-wert haben.Beleuchtet man einmal den Begriff desWillens, so wird man immer wieder aufunterschiedliche Deutungen stoßen. Den-ken wir dabei an Jean-Jacques Rousseau,der beispielsweise zwischen dem empi-risch feststellbaren Willen aller und demnormativ verstandenen Willen aller unter-scheidet (volonté de tous und volontégénérale). Aber es geht natürlich vor allemum den individuellen Willen. So kannRüdiger Safranski in seiner Schiller-Biografie schreiben: »Bei Schiller war derWille das Organ der Freiheit. Die Frage,ob es einen freien Willen geben könne, be-antwortete er (Schiller) eindeutig: Wiesollte er nicht frei sein, dieser Wille, dajeder Augenblick einen Horizont von er-greifbaren Möglichkeiten eröffnet. Manhat zwar stets begrenzte aber unerschöpf-liche Möglichkeiten vor sich. Insofern istFreiheit offene Zeit.« Und an anderer Stel-le: »Das Abenteuer der Freiheit war Schil-lers Leidenschaft, und deshalb wurde erzu einem Sartre des späten 18. Jahrhun-derts.« Schillers Idealismus gründe aufder Überzeugung, daß es möglich sei, dieDinge zu beherrschen, anstatt sich vonihnen beherrschen zu lassen. Und da sindoffenkundige Parallelen zu Sartre, wennSafranski in Bezug auf Schiller ausführt:»...Es kommt darauf an, etwas aus demzu machen, wozu man gemacht wurde.«Wenn man sich vor Augen hält, welchesWerk Schiller im Laufe seines 45jährigenLebens seinem bekanntermaßen krankenund gebrechlichen Körper abgetrotzt hat,vermag man etwas von der Kraft einessolchen Willens zu erahnen.Schopenhauer entwickelt in seinemHauptwerk Die Welt als Wille und Vorstel-lung seine Sichtweise des Willens: Für ihnist der Wille ein dunkler, blinder Drang,ohne jede Vernunft. Das Wesen des Men-schen liegt für ihn nicht in der Vernunft,im Bewußtsein oder im Intellekt. Was wirauch immer an Entschlüssen fassen, an

Vorstellungen entwickeln oder auch alsCharaktereigenschaften erkennen wollen,alles geht auf diesen dunklen Willen inuns zurück. Die Menschen seien von ei-nem unbewußten Willen zum Leben ge-trieben. Der Wille sei ein starker Blinder,der einen Sehenden, aber Gelähmten aufseinen Schultern trage.Hat nicht Kleists Michael Kohlhaas etwasvon einem solchen ›dunklen‹ Willen, derihn auf seinem Weg der Rache voran-treibt, an dem jedes Vernunftargumentabprallt? Oder denken wir an Penthesi-lea, wo der dunkle Drang in Raserei um-schlägt, ein Weg, an dessen Ende nur derTod stehen kann.Schließlich Nietzsche, der von Schopen-hauer den Gedanken des Willens über-nimmt, ihn aber in eine neue Richtungdeutet. Der Wille ist für ihn, im Gegen-satz zu Schopenhauer, nicht blind, son-dern ist zielgerichtet: der Wille zur Selbst-erhaltung und der Gewinn von Stärkeund Macht. »Diese Welt, ein Ungeheuervon Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, einefeste eherne Größe von Kraft ... Diese Weltist der Wille zur Macht – und nichts au-ßerdem!«Der Wille zur Macht wird von Nietzschezunächst als lebenskonstituierendes Prin-zip gesehen und schließlich überhaupt alsPrinzip alles Seienden.Und nun Sartre: Er setzt vor diesen Wil-len die Wahl, diese Wahl ist für ihn iden-tisch mit dem Bewußtsein. Sein Begriff derWahl ist wichtiger als ein dumpfer, unbe-wußter Wille und ist außerdem seinerMeinung nach dem biologistisch-sozial-darwinistischen Prinzip des Willens zurMacht überlegen.Nun zum Begriff der Freiheit bei Sartre.Wenn die Existenz der Essenz voraus-geht, so gibt es keine Vorausbestimmungmehr, der Mensch ist frei, gänzlichbindungslos, der Mensch ist Freiheit.Wenn Gott nicht existiert, so befinden wiruns nach Sartre keinen Werten und kei-nen Geboten gegenüber, die unser Betra-gen rechtfertigen. Wir sind allein, ohneEntschuldigung. So kommt Sartre schließ-lich zu der Behauptung: Der Mensch istverurteilt, frei zu sein!»Verurteilt, weil er sich nicht selbst er-schaffen hat (er wurde ja nicht gefragt, ober auf die Welt kommen wolle), aber ...dennoch frei, da er, einmal in die Weltgeworfen, für alles verantwortlich ist, waser tut.« Der Mensch erfährt nach Sartreseine Freiheit in dem unerbittlichenZwang, in jedem Augenblick seines Da-seins wählen und sich entscheiden zumüssen. Er ist nicht nur einfach da, wiedie Dinge (An-sich-Sein), sondern er hatzu sein, d.h. er muß sich selbst schaffen.Er wurde nicht und wird niemals gefragt,ob er frei sein wolle. Er wurde vielmehrvon Anfang an dazu verurteilt, frei seinzu müssen. »Der Mensch ist das Wesen,das aus sich ein Nichts hervorbringenkann, durch das es von anderen Wesen

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und Dingen abgesondert und in die Lageversetzt wird, das Seiende zu befragenund es in Frage zu stellen.«Für Sartre ist die Freiheit die Grundlagefür jede Tätigkeit – »Tätig sein heißt, dasAntlitz der Welt verändern.« Tätigkeit istgrundsätzlich intentional (Husserl), beab-sichtigt. Nur die Menschen können sichzu sich selbst verhalten, nur sie kennenIntentionalität. Sartre definiert die Tätig-keit als intentionalen Akt, d.h. als bewuß-te, zielgerichtete Handlung. Ziele und Ab-sichten kann nur haben, wer etwas alsMangel empfindet, Vollkommenheit wür-de Untätigkeit bedeuten. Im Mangel stelltdas Bewußtsein sich etwas vor, was nichtist, es vollzieht also einen Akt der Nega-tion – dabei wird die Unzufriedenheit mitdem Bestehenden nicht vorausgesetzt,sondern erst erzeugt. Freiheit zu handelnheißt also: Ich brauche Freiheit, um mirdie Welt anders vorstellen zu können, alssie ist.Das Tätigwerden setzt voraus, daß etwasgeschaffen werden soll, was vorher nichtda war, d.h. es setzt einen Mangel vor-aus, eine Negiertheit, etwas (noch) Nicht-Seiendes. Ich möchte meine Situation än-dern, möchte hinterher zufriedener,glücklicher sein als vorher. Oder ich willeinen unangenehmen Zustand ändern –diese Fähigkeit zur Negation setzt Frei-heit voraus, also: Tätigkeit bedeutet Frei-heit.Aber es geht auch um die Freiheit meinerMitmenschen. Ein Zitat Sartres, wie er dieFreiheit des andern verstanden wissenwill: »Wir wollen die Freiheit um der Frei-heit willen und durch jeden besonderenEinzelumstand hindurch. Und indem wirdie Freiheit wollen, entdecken wir, daß sieganz und gar von der Freiheit der andernabhängt, und daß die Freiheit der andernvon der unsern abhängt. Gewiß hängt dieFreiheit als Definition des Menschen nichtvom andern ab, aber sobald ein Sich-binden vorhanden ist, bin ich verpflich-tet, gleichzeitig mit meiner Freiheit die derandern zu wollen, und ich kann meineFreiheit nicht zum Ziel nehmen, wenn ichnicht zugleich die Freiheit der andern zumZiel nehme.« (Ist der Existentialismus einHumanismus?)

Wenden wir uns nun einigen literarischenBeispielen zu. Sartre hat ja in Theaterstük-ken, Romanen und Erzählungen seinephilosophischen Gedanken verarbeitet.All diese Werke sind ohne seine großenphilosophischen Entwürfe nicht denkbar.Diese Werke wurden geschrieben, umseine philosophischen Gedanken zu ver-deutlichen. Daß sich dabei auch seine Be-gabung zum Dramatiker und Romancierzeigt, ist noch einmal eine andere Sache.Es sind vor allem zwei Hauptpunkte, umdie es ihm in seinem ersten TheaterstückLes mouches, Die Fliegen, geht. Einmal umdas Phänomen der Freiheit, und zum an-deren geht es auch um die politische Si-

tuation im Frankreich des Jahres 1943. Sar-tre bedient sich des Atriden-Mythos, dervon den griechischen Dramatikern immerwieder aufgegriffen wurde, zuerst in derOrestie von Aischylos, 458 v.Chr.Es geht um die Rache von Orest undElektra an ihrer Mutter Klytämnestra undihrem Geliebten Ägist, die ihren VaterAgamemnon umgebracht haben, nach-dem er aus Troja zurückgekehrt war.Sartre geht es natürlich nicht um die Wie-derbelebung der antiken Tragödie mit ih-rer Schicksalhaftigkeit und allem Drumund Dran, sondern er möchte aufzeigen,was sich in den Köpfen der einzelnen Per-sonen abspielt. Und wenn sie ihre Gedan-ken äußern, fliegen existentialistischeThesen durch den Raum.Orest kehrt unerkannt nach Argos zu-rück. Die Einwohner sind abweisend, tra-gen Trauerkleidung, verschließen ihreTüren. Jupiter, der als Gott von vornher-ein ironisch leicht gebrochen erscheint, in-formiert Orest inkognito, was in Argos vorsich geht. Einmal im Jahr findet, seit demMord an Agamemnon, eine große Trau-erfeier statt, deren besondere Zeremoniedarin besteht, daß die Bürger sich öffent-lich anklagen, ihre Schuld eingestehenund vor allem Reue zeigen. Selbst derKönig gesteht in aller Öffentlichkeit sei-ne Mordschuld ein. Die Fliegen, die seitdieser Tat in Myriaden über die Stadt her-gefallen sind, symbolisieren die Gewis-sensbisse. Durch die Herrschaft der Flie-gen lebt die Bevölkerung in ständigerAngst, es ist die Angst vor den Toten. Da-bei sind es gar nicht die Toten der Ein-wohner von Argos. Jupiter gefällt dieseSituation: Er hat die Fliegen geschickt, umdie Menschen in der Knechtschaft zu hal-ten, sozusagen um die Angst der Leuteauszunutzen und um die HerrschaftÄgists aufrechtzuerhalten. Der Mord anAgamemnon hat sich als gute Gelegenheitangeboten, die Menschen der Knute derGewissensbisse auszuliefern. Sind sienicht ebenfalls schuldig, weil sie nichtsgegen Ägist unternommen haben?Sartres Orest kommt ursprünglich nichteinmal mit Rachegedanken in seine Hei-matstadt zurück, ein junger Mann, der einDurchschnittsleben geführt hat, ein Le-ben, wie Heidegger sagen würde, »in derverfallenen Form des Man«, jemand, dernichts anderes tut, als das, was alle tun,mit Verantwortung hat man nichts zu tun.Der Umschwung kommt durch die Begeg-nung mit seiner Schwester Elektra, er er-fährt, wie sie am Hofe behandelt wird,ihre Demütigungen und ihre Einsamkeit.Es wird aufgezeigt, wie sich Orest allmäh-lich zum Rächer verwandelt: Er trifft sei-ne Wahl, die in der unerhörten Tat ihrenAusdruck findet. Orest wird zum Han-delnden – und findet seine Freiheit. Andieser Figur des Dramas demonstriertSartre seine Philosophie der Freiheit.Jupiter versucht noch, den müden Ägistzu überreden, er solle Orest und Elektra

verhaften lassen. Und Jupiter sagt zuÄgist die bezeichnenden Worte:

Das schmerzliche Geheimnis der Götter undder Könige: daß nämlich die Menschen freisind. Sie sind frei, Ägist. Du weißt es, und siewissen es nicht ... Wenn einmal die Freiheit ineiner Menschenseele aufgebrochen ist, könnendie Götter nichts mehr gegen diesen Menschen.Denn das ist eine Menschenangelegenheit, undes ist Sache der anderen Menschen – und nurihre – , ihn laufen zu lassen oder ihn zu er-würgen.

Nur der Freie hat keine Furcht mehr vorder Obrigkeit – und die Götter machenihm keine Angst mehr.Nach der Tötung von Ägist und Klytä-mnestra bringt Orest sein Freiheits-bewußtsein zum Ausdruck. Wir erinnernuns: Tätig-Werden bedeutet Freiheit!

Orest: Ich bin frei, Elektra! Die Freiheit hatmich getroffen wie der Blitz.Elektra: Frei? Ich, ich fühle mich nicht frei.Kannst du machen, daß das alles nicht gewe-sen ist? Etwas ist geschehen, und wir sind nichtmehr frei, es ungeschehen zu machen. Kannstdu es verhindern, daß wir die Mörder unsererMutter sind?Orest: Glaubst du, ich wollte es verhindern?Ich habe meine Tat getan, Elektra, und dieseTat war gut. Ich werde sie auf meinen Schul-tern tragen, wie ein Fährmann die Reisendendurchs Wasser trägt, ich werde sie ans andereUfer bringen und darüber Rechenschaft abge-ben ... (Die Fliegen)

Elektra hat es nicht durchgehalten: Siesteht zu ihrer Tat nicht, sie verfällt der Un-freiheit, die Gewissensbisse haben siewieder im Griff. Und Orest wird die Ver-antwortung für seine Tat übernehmen.Wenn er Argos verläßt, befreit er die Stadtvon den Fliegen (Erinnyen). Frei ist der,der sich entschieden hat und für seineEntscheidung einsteht. So lange ich kei-nen selbstgewählten Weg habe, bin ichnicht frei – ich bin strenggenommen garnicht. Ich lebe, aber ich existiere nicht. Erstwenn ich die Verantwortung für meineTat übernehme, ist sie meine Tat. – Die Flie-gen erscheinen im selben Jahr wie seinphilosophisches Hauptwerk Das Sein unddas Nichts, 1943.Orests Freiheitsgedanken in Verbindungmit dieser Tat stehen natürlich auch in en-gem Zusammenhang mit der Résistance,die während der deutschen Besatzungebenfalls der Überzeugung war, daß diebestehenden Verhältnisse nur mit Gewaltbeseitigt werden könnten – und daß einsolches Vorgehen keine Gewissensbisseverursachen dürfe.Sartre schreibt in Die Republik des Schwei-gens – Paris unter der Besatzung: »Niemalswaren wir freier als unter deutscher Be-satzung. Wir hatten alle unsere Rechteverloren und in erster Linie das Recht zusprechen; jeden Tag warf man uns Schmä-hungen ins Gesicht, und wir mußten

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schweigen ... überall an den Mauern, inden Zeitungen, auf der Leinwand begeg-neten wir dem abscheulichen und fadenGesicht, das unsere Unterdrücker uns vonuns geben wollten: auf Grund all dessenwaren wir frei. Da das Nazigift bis in un-ser Denken eindrang, war jeder richtigeGedanke eine Eroberung; da eine all-mächtige Polizei versuchte, uns zumSchweigen zu zwingen, wurde jedes Wortkostbar wie eine Grundsatzerklärung; dawir verfolgt wurden, hatte jede unsererGesten das Gewicht eines Engagements.«»Niemals waren wir freier als unter deut-scher Besatzung!« Das bedeutet die Wahlin einer gefährlichen Situation, einerGrenz-Situation. Da geht es wirklich dar-um, Farbe zu bekennen, ob ich mich derObrigkeit, dem Vichy-Regime, das mitden Deutschen gemeinsame Sache macht,anpasse – oder ob ich in den Widerstandgehe. Mit Sicherheit hatten Die Fliegen dieBotschaft des Widerstands an seineLandsleute zu vermitteln. Und das wirdim Grunde auch verstanden. Sartre willseinen Franzosen Mut machen.Im Dezember 1943 erscheint im offiziel-len Organ der Résistance, den Lettresfrançaises, ein Artikel von Michel Leiris, indem es u.a. heißt: »Jeder von uns sollte eswie Orest machen und den Sprung wa-gen, indem er, auch wenn es gefährlichist, seiner eigenen Entscheidung folgendden so begonnenen dornigen Weg fort-setzt ... Vom Opfer des Schicksals ist Orestzum Helden der Freiheit geworden. Wenner tötet, wird er nicht mehr von dunklenMächten getrieben, sondern er tut es mitvollem Bewußtsein der Gründe, um einegerechte Handlung auszuführen und beidieser entschlossenen Parteinahmeschließlich als ein Mensch zu existieren.«Unter diesen Aspekten muß man die Tatvon Orest sehen. In Paris wurde am 22.August 1941 ein deutscher Offizier in derMetrostation Barbès mit drei Schüssen auseiner Pistole niedergestreckt. Der dama-lige Kommandant der deutschen Trup-pen, General von Stülpnagel, ordnete ent-sprechende Gegenmaßnahmen an.Pucheu, Innenminister der Vichy-Regie-rung, stimmte, wie Annie Cohen-Solalschreibt, »der Einführung rückwirkenderGesetze zu, damit Unschuldige, in ersterLinie Juden und Kommunisten, verurteiltwerden können ... 16. September 1941:Exekution von zehn Geiseln in Paris; 22.Oktober 1941: Exekution von achtund-neunzig Geiseln, davon siebenundzwan-zig Erschossene in Châteaubriant.«Vor einem solchen historischen Hinter-grund müssen die Worte von Orest ver-standen werden: »Ich habe meine Tat ge-tan, Elektra, und diese Tat war gut!«Natürlich geifert die offizielle Kollabora-teur-Presse gegen das Stück. Lassen aberwir noch einmal Michel Leiris von der Ré-sistance zu Wort kommen: »Orest lehntden Königsthron ab und verläßt seineHeimatstadt ohne Rückkehrabsichten, mit

ihm verschwinden die Fliegen, die dieStadt verpesteten. ... Orest begeht einenMord, den er nicht bereut und der ihndeshalb erfüllt, weil es sich für ihn letzt-lich weder um Rache noch um persönli-che Ambitionen, sondern um eine frei be-gangene Tat handelt ... Orest ist aus demfatalen Kreis ausgebrochen, hat den Wegfreigelegt, der vom Reich der Notwendig-keit ins Reich der Freiheit führt.«

Ein weiteres Stück, Huis clos – Geschlosse-ne Gesellschaft, das ein Jahr nach dem Er-scheinen von Das Sein und das Nichts ur-aufgeführt wird, am 27. Mai 1944, ist ge-wissermaßen ebenfalls eine Umsetzungeiniger Grundgedanken von Sartres phi-losophischem Hauptwerk. Es geht vor al-lem um die Kapitel »Der Blick« und »DieUnwahrhaftigkeit«.In einem schäbigen Empire-Stil-Salon be-finden sich drei ›tote‹ Personen, zweiFrauen und ein Mann, die sich auf Gedeihund Verderb ausgeliefert sind. Die koket-te Estelle, deren ganzes Streben danachgerichtet ist, den Mann Garcin für sich zugewinnen, wird wiederum von der lesbi-schen Ines begehrt – eine ausweglose Si-tuation in diesem Salon, der zu einem Ortder Verdammnis wird. Zur Hölle wird derOrt erst durch die Menschen. Keine Per-son kann etwas tun, ohne daß sie von derjeweils anderen angeblickt wird. Estelle,eine Kindsmörderin, sie hat ihre Tochtervon ihrem Geliebten umbringen lassenund ist an Lungenentzündung gestorben;Ines, die für den Tod des Mannes ihrerFreundin verantwortlich ist, hat sich mitGas umgebracht und schließlich der In-tellektuelle Garcin, ein Deserteur, der beiKriegsbeginn auf der Flucht erschossenworden ist. Bis in alle Ewigkeit sind sichdiese Menschen ausgeliefert, unfähig sichzu entkommen. Aber hier ist es nicht nurder Blick des andern, der die Freiheit jedeseinzelnen eingrenzt, sondern es kommtnoch etwas anderes hinzu: nämlich dieUnaufrichtigkeit (manchmal wird derfranzösische Begriff der ›mauvaise foi‹auch mit Unwahrhaftigkeit übersetzt).Denn diese Personen, die ihr Leben hin-ter sich haben, besitzen keine Chancemehr für eine Korrektur, und dennocherfinden sie ein Bild von sich selbst, dasnichts anderes als eine Lebenslüge dar-stellt. Estelle erfindet für sich eine rühr-selige Geschichte, die über ihr tatsächli-ches Leben hinwegtäuschen soll, Garcinversucht sich als Helden und Pazifistenhinzustellen, der er natürlich keineswegswar, und Ines, die vielleicht noch am we-nigsten ihren wahren Charakter verleug-net, nimmt Zuflucht zu ihren sadistischenSpielchen. Garcin sagt gegen Ende desStückes:

Also, dies ist die Hölle. Niemals hätte ich ge-glaubt ... Ihr entsinnt euch: Schwefel, Scheiter-haufen, Bratrost ... Ach, ein Witz! Kein Rosterforderlich, die Hölle, das sind die andern.

Die Hölle ist für Sartre kein Totenreich imtraditionellen Sinne, sondern ein Ort imErfahrungsbereich der zwischenmensch-lichen Beziehungen. Er äußerte sich spä-ter einmal zu diesem Schlüssel-Satz: »Wirbeurteilen uns mit den Mitteln, die die an-deren ... uns zu unserer Beurteilung ge-geben haben. ... Wenn meine Beziehun-gen schlecht sind, begebe ich mich in dietotale Abhängigkeit vom anderen. Unddann bin ich tatsächlich in der Hölle.«In Das Sein und das Nichts wird deutlich,daß Sartres Bestreben, das Wesen des Be-wußtseins zu deuten, von diesem ent-scheidenden Begriff der mauvaise foi, derUnaufrichtigkeit, geprägt ist. In diesemTheaterstück spielt die Selbsttäuschungeine große Rolle. Wir könnten natürlichsagen: Das ist doch bekannt, daß die Men-schen dazu neigen, unangenehme Dingezu verdrängen. Doch Sartre begnügt sichdamit nicht. Auf vielen Seiten seines nichtgerade einfach zu lesenden philosophi-schen Hauptwerks entwickelt er seine Ge-danken im Zusammenhang mit der Un-aufrichtigkeit. Im Stück selbst kann ernicht mit seiner philosophischen Fach-terminologie argumentieren. Aber es wirddennoch deutlich, wie beispielsweise beiden Lebensberichten der Figuren zu-nächst die Selbstlüge dominiert und wiedann im Laufe der Zeit ein Prozeß der›fortschreitenden Aufhebung der Selbst-täuschung‹ stattfindet. Die drei tun so, alswären sie aus Versehen oder aus einemdummen Zufall in der Hölle gelandet.Dann wird allmählich der eine oder an-dere kleine Fehler eingestanden, doch die-se menschlichen Makel treten nicht durchzunehmende Selbstbekenntnisse oderSelbsterkenntnisse zutage, sondern im-mer nur in der Interaktion. Eine Selbst-täuschung ist kein auf das Ich beschränk-tes Geschehen, sondern vollzieht sich imUmgang mit den Mitmenschen.Es handelt sich um den ständigen Ver-such, die anderen über sich selbst zu täu-schen: Man möchte ein möglichst gutesBild von sich vermitteln. Man möchte sichnun mal in einem positiven Licht darstel-len.

Garcin Ines’ Schultern fassend: Hör mich an, einjeder hat sein Ziel, nicht? ... Ich ... ich pfiff aufdas Geld, auf die Liebe. Ich wollte ein Mannsein. Ein Kerl. Ich habe alles auf ein einzigesPferd gesetzt. Ist es möglich, daß man ein Feig-ling ist, wenn man sich die gefährlichsten Wegeerwählt hat? Kann man ein Leben nach einereinzigen Tat beurteilen?Ines: Warum nicht? Dreißig Jahre hast du dichin dem Traum gewiegt, du habest Mut; du lie-ßest dir tausend kleine Schwächen hingehen,weil den Helden alles erlaubt ist. Wie bequemdas war! Und dann, in der Stunde der Gefahr,als du Farbe bekennen Solltest ... nahmst duden Zug nach Mexiko.Garcin: Von solchem Heldentum habe ichnicht bloß geträumt. Ich habe es erwählt. Manist, was man will.

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Ines: Beweise es. Beweise, daß es kein Traumwar. Nur die Taten entscheiden über das, wasman gewollt hat.Garcin: Ich bin zu früh gestorben. Man hat mirkeine Zeit gelassen, meine Taten zu tun.Ines: Man stirbt immer zu früh – oder zu spät.Aber das Leben ist nun einmal da zu Ende; derStrich ist gezogen, es gilt, die Rechnung abzu-schließen. Du bist, was dein Leben ist. (Huisclos)

Garcin äußert an einer Stelle: »Man ist,was man will.« Das ist wiederum eineausgesprochen existentialistische Aussa-ge. Jemand ist das, was er gewählt hat.Aber Ines läßt Garcin gnadenlos auflau-fen. Garcin hat den Helden gewählt, aberdeshalb ist er noch lange kein Held. Sar-tre will klarmachen, daß es nicht genügt,sich für einen besonderen Weg zu ent-scheiden, wenn man nicht in der Lage ist,ihn durchzuhalten. Entscheidend ist alsonicht von vornherein die Wahl eines ent-sprechenden Weges, was man ist, sondernes kommt darauf an, welche Taten aufdiesem eingeschlagenen Weg erfolgen.Wenn man sich nur immer wieder auf die-se Wahl zu berufen versucht, unterliegtman wiederum der Selbsttäuschung,wenn man letztlich keine einschlägigenTaten vorweisen kann.Wir können uns an dieser Stelle an Elektrain den Fliegen erinnern: Sie, die ihr gan-zes Leben lang vom Vollzug der Rache ge-träumt und sie intensiv herbeigewünschthat, verfällt der Reue, steht also zu ihrerWahl nicht, hat sie nicht durchgehaltenund wälzt die Verantwortung auf Jupiterab.Es dreht sich in dem Stück GeschlosseneGesellschaft alles in einem Kreis gegensei-tiger Erniedrigung und Verzweiflung –die menschliche Gesellschaft selbst ist dieHölle in einer sinnentleerten und verkom-menen Welt. Und hier werden eben dochwieder auch die Zeitbezüge deutlich. DieTheaterstücke und teilweise auch die Ro-mane von Sartre haben heute nicht mehrganz diese Wirkung, die sie in den 50erund 60er Jahren des vorigen Jahrhundertshatten. Andererseits muß man anmerken,daß so bestimmte Phänomene wie bei-spielsweise die ›Unaufrichtigkeit‹ nachwie vor ein signifikantes Merkmal auchunserer heutigen Gesellschaft ist. KönnenSie sich heute Politik ohne Selbsttäu-schung vorstellen?Aber keinesfalls nur in der Politik. Über-all in unseren Gesellschaften läßt sich die-se Haltung nachweisen, sei es mitPrestigeobjekten, Imponiergehabe usw.:Es macht sich immer gut, sich selbst einwenig in die Tasche zu lügen, um vor denandern in einem möglichst günstigenLicht zu stehen. Doch mit der Selbstlügeläßt sich kein Entwurf auf etwas Zukünf-tiges vollziehen. Dies kann nur mit derHaltung der Ehrlichkeit möglich sein, abernicht mit der Unaufrichtigkeit.Kommen wir noch einmal auf den Blick

zurück. Weder bei Husserl noch beiHeidegger hat Der Blick eine so zentraleBedeutung bei der Betrachtung des We-sens des Menschen wie bei Sartre. Er gehtvon der Tatsache aus, daß der Mensch nurim Zusammensein mit anderen existierenkann – und die Erörterung des Blicks zeigtdie Dimension des Mit-Seins auf. UnserLeben spielt sich nun mal im Zusammen-sein mit unseren Mitmenschen ab. Undnun betrachtet Sartre den Blick nicht ein-fach als ein physiologisch beschreibbaresPhänomen, auf die Netzhaut fallen ebenoptische Eindrücke und Bilder, sonderndas Blicken wird als wichtiger Vorganggesehen, bei dem ›etwas geschieht’. Esgeht aber nicht nur um den eigenen Blick,es geht auch um das Erblickt-Werdendurch den anderen. Der Blick des ande-ren, mag er auch ganz zufällig sein, ent-hüllt mir etwas von mir selbst. »Das›Vom-Anderen-gesehen-Werden‹ ist dieWahrheit des ›Den-Anderen-Sehens’«,schreibt Sartre. Das bedeutet nichts ande-res als: In dem Moment, wo mich der an-dere wirklich anblickt, kann ich in ihmeinen Mitmenschen sehen. Und für dasVerständnis der Grundsituation des Stük-kes Geschlossene Gesellschaft kommt nochein weiterer Punkt dazu. Im Erblickt-Wer-den durch den anderen erstarrt eine Per-son zum Objekt, sie ist dem Urteil desanderen ausgeliefert.In Das Sein und das Nichts macht Sartre die-ses ›Ausgeliefert-Sein‹ am Beispiel desLauschers und Spähers am Schlüssellochdeutlich. Der Lauscher wird von einemanderen gesehen, wird überrascht, fühltsich ertappt. Er sieht sich plötzlich als den,der er ist. Er wird vielleicht rot, er schämtsich. Das Sich-Schämen ist nach Sartre einAkt des Wiedererkennens.Wenn ich mich schäme, erkenne ich dasUrteil des anderen an. Der Blick des an-deren ist ein Richter. Das sich dabei zei-gende Ausgeliefertsein an den anderenkann aber durchbrochen werden, wenndas angeblickte Individuum sich nämlichin seinem Bewußtsein auf seine Möglich-keiten hin entwirft. Dies bringt es wiederzur Erfahrung seines Selbst-Seins zurück,das es in erster Linie durch sein ›Nicht-der-Andere-Sein‹ erfährt. Das heißt nichtsanderes, als daß es sich der Erstarrung,die er durch den Blick des anderen erfah-ren hat, durch die Freiheit seines Entwurfswieder entziehen kann. Allerdings nichtin Geschlossene Gesellschaft: Diese drei Per-sonen sind sich gegenseitig auf ewig ih-ren Blicken ausgeliefert – in der Höllekann man diesen Teufelskreis nun einmalnicht durchbrechen.

Wie schon erwähnt: Bernard-Henri Lévyhat von einem zweiten Sartre gesprochen.Abgesehen von gesellschaftspolitischenEntwicklungen, die bereits angedeutetwurden, könnte man natürlich auch Sar-tres eigenes Bewußtsein bemühen:

Er ist an einem bestimmten Punkt ange-kommen, an dem sich etwas ›totgelaufen‹hat. Er fühlt sich als Philosoph der Exi-stenz festgelegt, er erfährt seine Freiheitdes Entwurfs, die ihn zu neuen Möglich-keiten bringt. Sartre hat zwei Begriffe ver-wendet, die in diesem Zusammenhang zunennen wären, nämlich Faktizität undTranszendenz. Faktizität bedeutet diesenAugenblick der Erstarrung, des absolutenFestgelegt-Seins. Zur Faktizität gehörenmeine nationale Identität, meine verschie-denen Anlagen usw. Mit dem Begriff derTranszendenz vermittelt Sartre natürlichetwas völlig anderes als in der traditio-nellen Metaphysik darunter verstandenwurde. Transzendenz bei ihm bedeutet»das Vermögen des Menschen, sich aufMöglichkeiten zu entwerfen, Möglichkei-ten zu wählen und zu verwirklichen« (W.Biemel). Diese Fähigkeit des menschli-chen Bewußtseins bewirkt, daß derMensch eben nicht ein für allemal auf einbestimmtes Sein fixiert ist, sondern erkann jeweils sein Sein durch einen ent-sprechenden Entwurf überschreiten (tran-szendieren!).So beginnt Sartre ein intellektuelles Aben-teuer durch die Koppelung von Existen-tialismus und Marxismus.1960 erscheint die Kritik der dialektischenVernunft, sein zweites philosophischesHauptwerk. Auch hierzu ein paar Über-legungen. Zum ersten geht in diesemWerk die Kategorie der Existenz mehrund mehr in die Kategorie der Praxis über.Die menschliche Tätigkeit zielt nun aufeine Veränderung der Welt und befaßtsich nicht mehr primär mit der Wahl unddem Entwurf des Individuums. Schonlange steht Sartre dem Marxismus sehrpositiv gegenüber, hat aber natürlich sei-ne Schwierigkeiten mit den real existie-renden sozialistischen Systemen. Er nenntden Marxismus eine »unüberholbare Phi-losophie der Zeit«.Und nun tritt der Revolutionär an die Stel-le des individuellen Bewußtseins, um sichmit »dem Insgesamt der sozioökonomi-schen Bedingungen« zu befassen(Kampits). Sartre sagt, daß im orthodoxenMarxismus ein »versteinertes Verhältnis«von Theorie und Praxis herrschten. Dieskönne nur durch das Hereinnehmen ei-niger existentialistischer Grundgedankenverändert werden.Das Individuum werde mit einer aus rei-nen Vernunftgründen abgeleiteten Ge-schichtskonstruktion konfrontiert. Die Be-dingungen der menschlichen Existenzund ihrer Freiheit sollen sich »zu einer ArtLogik der schöpferischen Aktion« verbin-den. Peter Kampits schreibt: »Um die Frei-heit zu bewahren, gilt daher eigentlich dasGesetz einer spontanen und permanentenRevolte, die, sobald sie institutionalisiertwird, sich wieder in entfremdete Freihei-ten einzelner Praxen auflöst. Das Ideal,das der Gruppenbildung innewohnensollte, wäre eine organische Einheit der

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Praxis, die allerdings immer wieder in dieUnüberwindlichkeit des Konflikts des In-dividuellen mit dem Gemeinsamenführt«.Die Beziehung des Ichs zum anderen wirdhier wieder aufgegriffen und variiert.Ging es in Das Sein und das Nichts darum,wie der andere mich durch seinen Blickvorübergehend erstarren läßt, so daß ichmeine Transzendenz verliere, so geht esin der »Kritik« darum, daß der andere mirdas rauben möchte, was für meine Exi-stenz lebensnotwendig ist. Sartre kommtauf den allgemeinen Mangel zu sprechen,womit er aber nun nicht das Fehlen einesbestimmten Rohstoffes meint, sondern,wie Susanne Möbuß sagt:»Der Mangel kennzeichnet ... grundsätz-lich jede Relation des Menschen, ganzgleich, ob er diese zu seinem Gegenüberoder zu seiner Umwelt eingeht«. Es ist fürSartre klar, daß viele Menschen eben ent-sprechende Bedürfnisse haben und daßdas Verhältnis zu ihnen dadurch belastetwird. Sartre schreibt: »... und vor allemist der Mangel, obwohl er universal ist,im gleichen historischen Moment nachden jeweiligen betrachteten Gebieten ver-schieden ... Aber es bleibt die Tatsache,daß drei Viertel der Erdbevölkerung nacheiner mehrtausendjährigen Geschichteunterernährt sind. Daher ist der Mangeltrotz seiner Kontingenz eine grundlegen-de menschliche Beziehung zur Natur undzu den Menschen«. Erneut also das Auf-brechen des Konflikts in meinem Verhält-nis zum anderen. Sartre meint, durch denMangel sei »die bloße Existenz eines je-den als ständige Gefahr der Nicht-Exi-stenz für einen anderen und für alle be-stimmt«.Ich möchte diese Problematik hier nichtvertiefen, weil dies auch den Rahmen die-ser Veranstaltung sprengen würde. Einpaar Hinweise sollten genügen, worum esdem Philosophen in der »Kritik der dia-lektischen Vernunft« geht.Zum Schluß meiner Ausführungen woll-te ich noch auf den Konflikt Sartres mitAlbert Camus zu sprechen kommen. Mankonnte vor einigen Jahren, nicht nur in derfranzösischen Presse, die Schlagzeile le-sen: »Camus hat Recht behalten!« DieseAussage ist vor allem beim Zusammen-bruch der sozialistischen Systeme imOsten immer wieder aufgetaucht. – Wor-um ging es bei dieser Auseinanderset-zung?Anders als Sartre, der niemals Mitgliedgewesen ist, war Camus 1934 in die Kom-munistische Partei eingetreten. Allerdingsverließ Camus die Partei bereits ein Jahrspäter wieder. Die ersten Berichte überden stalinistischen Terror waren durch-gesickert.Zunächst gibt es durchaus eine gegensei-tige Wertschätzung bei den beiden Auto-ren. Sie schreiben sehr positiv über dieersten Bücher. Camus über La Nausée undLe Mur, Sartre über L’Étranger. Sartres

Stück Geschlossene Gesellschaft sollte zuerstvon Camus inszeniert werden. Sartre ar-beitet an Camus’ Zeitung Combat mit undbietet Camus die Mitarbeit bei Les TempsModernes an. Es handelt sich schon um soetwas wie Freundschaft, die in den Jah-ren 1943/44 beginnt, aber es gibt immerwieder Spannungen. 1952 kommt es zumendgültigen Bruch zwischen den beiden.Sartres Biografen führen eine Fülle vonBegründungen ins Feld, die für diesesZerwürfnis eine Rolle gespielt haben. Seies eine unterschwellige Rivalität der bei-den Literaten, sei es, daß ihre unterschied-liche Herkunft eine Rolle gespielt habeoder sonstige Gründe, die eben mit derUnterschiedlichkeit dieser Schriftstellerzusammenhängen.Aber belassen wir es beim Hauptgrund:Es handelt sich um den üblen Verriß vonCamus’ 1951 erschienenem Buch DerMensch in der Revolte (L’homme révolté).Sartre schreibt den vernichtenden Artikelin Les Temps Modernes nicht selbst, son-dern beauftragt einen Mitarbeiter damit,Francis Jeanson.Camus hat in L’homme révolté vor allemdie Auflehnung des Menschen gegen dieabsurden Bedingungen seines Daseinsthematisiert. Die Basis jeden Auf-begehrens muß aber die Identifikation mitdem Leid anderer Menschen sein, es wirddabei eine unbedingte Solidarität einge-fordert. Der Einzelne vermag sein eigenesSchicksal zu transzendieren, indem er sichgegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit aufder Welt einsetzt. Es gibt für Camus inder Menschheitsgeschichte natürlich auchBeispiele für das Mißlingen der Revolte,wo deren Wurzeln in der Solidarität undder Absurdität vergessen werden undMenschen für ein zu erwartendes Endzielvernichtet werden. Der Bezug zum Stali-nismus ist überdeutlich, dessen men-schenverachtende Politik hier angepran-gert wird.Als Gegengewicht möchte Camus danndas ›mittelmeerische Denken des Maßes‹setzen, unter Einbeziehung der griechi-schen Mythologie. Dieses Denken stehefür eine humane Gesellschaft.Wir sehen auch, daß Camus vom Absur-den aus eine Wendung nicht zur Negati-on vollzieht, sondern eine Richtung insPositive anvisiert. Sein berühmter SatzWir müssen das Leben mehr lieben als denSinn des Lebens steht dafür ebenso ein wiedie These am Schluß seines Sisyphos-Es-says: »Wir müssen uns Sisyphos als einenglücklichen Menschen vorstellen«. Dennder Kampf gegen die Absurdität des Da-seins »kann ein Menschenherz ausfüllen«.Erwähnen könnte man sicher auch, daßCamus es versteht, das Leben zu feiern,der Absurdität unendliche Glücks-momente abzutrotzen oder Landschaftam Meer zu beschreiben. Sartre hat sichnie groß um Landschaft gekümmert, ›Na-tur‹ ist für ihn ein Fremdwort gewesen.Ähnlich Descartes hat er in einem Hund

wohl eher eine Maschine gesehen.Noch etwas hebt Camus immer hervor,nämlich die absolute Ablehnung der Ge-walt als Mittel der Politik. Und der Tota-litarismus des Stalinismus ist für ihn vondem des Faschismus nicht wesentlich ver-schieden.Vieles davon muß den WiderspruchsgeistSartres auf den Plan rufen. Nicht nur sei-ne Priorität der philosophischen Negati-on oder seine doch sehr lange anhaltendeSympathie für den Sowjet-Kommunis-mus. Die KPF steht ihm allerdings stetssehr mißtrauisch gegenüber, und es bleibtimmer ein Spannungsverhältnis zwischenden beiden Positionen bestehen.Bei seinen vielen Reisen in die Sowjetuni-on hat er sich meistens ziemlich anerken-nend über diesen Staat geäußert. Wobeiihm natürlich ganz gezielt nur das vorge-führt wurde, was er sehen sollte. Er istschlicht auf so manche Propaganda her-eingefallen.Zwar hat er durchaus, wie bereits er-wähnt, auch die Schattenseiten das Sy-stems gesehen.Mit versteinertem Dogmatismus konnteselbstredend auch er nichts anfangen.Aber es ist natürlich etwas anderes, wenner kritisiert oder die bürgerliche Seite, dieihm eben immer verhaßt war. Camus, derwirklich kein reaktionärer Bürger war,wird von Sartre ein wenig an deren Seitegestellt. Camus wird mangelndes Ge-schichtsbewußtsein, Unkenntnis der ge-sellschaftlichen Praxis oder philosophi-scher Dilettantismus vorgeworfen. Auchwenn Sartre zweifelsohne mehr der›Schulphilosoph‹, der wissenschaftlich si-cher weiter gebildete Philosoph (Norma-lien) von beiden gewesen ist, wird Camus’Position bis heute auch in der Fachweltkeinesfalls als naiv oder gar dilettantischangesehen. Camus ist jedenfalls zutiefstgetroffen, zuerst von der vernichtendenKritik Jeansons und dann von Sartres Ant-wort an Camus.»... Aber sagen Sie mal, Camus, wie solldas zugehen, daß man nicht über Ihre Bü-cher diskutieren kann, ohne die Mensch-heit ihrer Daseinsgrundlage zu berauben?Welches Wunder läßt die gegen Sie erho-benen Einwürfe alsbald zu Gottesläste-rungen werden ...« (Situations, IV; Sartre;›Portraits und Perspektiven‹)

Das sind böse Sätze. Und fügen wir gleichhinzu: Sartre gibt hier mitnichten einegute Figur ab. Man hat selbstverständlichviel herbeibemüht: die Hypothese der Ei-fersucht zwischen zwei berühmten Auto-ren, die politische Auseinandersetzung.Oder, wie Bernard-Henry Lévy schreibt:»Die Verachtung des Absolventen derÉcole normale gegenüber dem Autodidak-ten. Die Verachtung des Frankreich-franzosen gegenüber dem dahergelaufe-nen Algerienfranzosen. Die Verachtungdes Großen, des Kulturaristokraten undSprößlings der Familie Schweitzer gegen-

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über dem sehr ›ungezogenen und frechen... kleinen Gassenjungen aus Algier‹, derden Philosophen spielt.«Doch all diesen Bösartigkeiten zum Trotz– oder gerade deshalb: Camus hat Rechtbehalten, auch wenn ihm sein früher Todschon dreißig Jahre vor dem Zusammen-bruch des Sowjetsystems diese Genugtu-ung nicht mehr gewährt hat.Doch wie geht es mit Sartre weiter? Trotzseiner Sympathien für marxistisch ange-hauchte Staaten wird er sich weiterhineinmischen: beim Ungarn-Aufstand 1956,dessen Niederschlagung durch sowjeti-sche Panzer auch ihn zutiefst empört hat.Bei dieser Gelegenheit sagt er über dieFührer der Kommunistischen ParteiFrankreichs, daß »jede ihrer Phrasen, jedeihrer Handlungen das Ergebnis von drei-ßig Jahren Verlogenheit und Verknöche-rung« sei.Doch erst nach dem Einmarsch in derTschechoslowakei 1968, als der PragerFrühling wiederum von Panzern der So-wjetarmee ausgelöscht wird, trifft, in derZeit danach, Sartre wieder eine neueWahl. Sie findet auch unter dem Eindruckder Pariser Mai-Revolte des Jahres 1968statt. Sartre sympathisiert ganz eindeutigmit der Studentenbewegung. DanielCohn-Bendit oder Alain Geismar: Ent-sprechen sie nicht ganz eindeutig denProtagonisten in seinen Theaterstückenund Romanen? Seinen politischen Ideen?Seinem Haß auf das kapitalistische Bür-gertum mit seinen verknöcherten Struk-turen? Und haben diese jungen Menschennicht eigentlich das richtige Bewußtsein?Bewußtsein und Wahl sind identisch.Und für ihn selbst? Der Stalinismus ist tot!Es lebe Mao! Sartre wird Maoist, fungiertschließlich sogar als Herausgeber der il-legalen maoistischen Zeitung La Cause duPeuple, die er selbst auch in den Straßenvon Paris an Passanten verteilt.Sartre, der in den dreißiger Jahren, zurZeit der Volksfront Léon Blums, als nahe-zu unpolitisch gegolten hat, wird, je älterer wird, politisch immer radikaler. DieZeitung ist illegal, ruft zu politischer Ge-walt auf. Er wird nicht verhaftet, genießteine Art Sonderstatus, während die an-deren Herausgeber und Verteiler hinterGitter wandern. Noch zur Zeit des Alge-rienkriegs, wo er in den Jahren 1957-1962ebenfalls ganz eindeutig gegen seineLandsleute Stellung bezogen hat, weil erden Kolonialismus für überholt und die-sen Krieg für völlig ungerecht hält, hat deGaulle einmal auf die Frage, warum erSartre nicht ins Gefängnis werfe, geant-wortet: »Einen Voltaire verhaftet mannicht!«

Berühmt geworden ist sein Artikel Vousêtes formidables! Ihr seid prächtig, 1957 inLes Temps modernes, wo er die Franzosenaufgrund ihres Vorgehens in Algerien mitden Nazis vergleicht.Aber nun, als Maoist. Ist das noch Voltai-re – oder handelt es sich nicht auch einbißchen um einen älteren Menschen, dersich zum politischen Narren macht? Ganzsicher ist er benutzt und übrigens von denjungen Leuten auch nicht immer ganzernst genommen worden. Aber er hat sichnicht nur instrumentalisieren lassen. Es istauch seine Wahl.Und in diesen sehr politischen Jahren von1968 bis 1972 arbeitet er wie besessen aneinem Riesenwerk, das er nicht ganz ab-schließen wird: Der Idiot der Familie –Gustave Flaubert, 1971 erscheinen die er-sten beiden Bände, 1972 der dritte Teil.Tausende von Seiten. Im Herbst des dar-auffolgenden Jahres erblindet Sartre. Einschneller Alterungsprozeß setzt ein, dasErgebnis eines zeitlebens rücksichtslosenUmgangs mit seinem Körper, der dieserastlose Schreibfabrik aushalten mußte, indie Aufputschmittel, Alkohol und sonsti-ges hineingestopft wurde, damit dasFließband Tag und Nacht weiterlaufenkonnte.

Seit seinem Tod 1980 ist es ein wenig stillum diesen Philosophen geworden. Dochin gewissen Abständen wird natürlich im-mer wieder die Frage gestellt: Was bleibtvon diesem Denker und Schriftsteller?Es wurde schon gesagt, daß so manchesin eine ganz bestimmte Zeit fällt, in dieKriegs- und Nachkriegsjahre, eine Atmo-sphäre, die heute nicht so ohne weiteresnachvollziehbar ist. Andererseits ist esdoch eine Binsenweisheit, daß die Zeitüber alles hinweggeht, die Menschen undauch ihr Denken ändert. Auch der post-moderne Zeitgeist dürfte kaum der Weis-heit letzter Schluß sein.Sartre hat die Selbstschöpfung des Men-schen auf seine Fahnen geschrieben. Dasmußte eine Utopie bleiben. Doch sein Auf-bruch dahin bleibt etwas Bemerkenswer-tes.Ein Zitat von Peter Kampits: »Sartres Den-ken ist über alle zeitgebundenen Entwick-lungen und Ansätze hinaus zweifellos einVersuch, die Strukturen, Möglichkeitenund Grenzen der menschlichen Freiheitphilosophisch auszudrücken. Die Tatsa-che, daß Sartre die Freiheit in den Mittel-punkt seines Denkens rückt, stellt seinPhilosophieren sicherlich in die Traditiondes neuzeitlichen Denkens, deren Statio-nen über Descartes und die Aufklärungzum Idealismus des 19 Jahrhunderts und

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dessen Überwindung führten.«Wie bereits erwähnt: Die Unaufrichtigkeit(mauvaise foi) ist ein durchgängiges Phä-nomen auch unserer heutigen Gesell-schaften.Bemerkenswert ist sicher auch sein abso-lutes ›Anders-Denken‹ und die Kompro-mißlosigkeit, mit der es eingesetzt wor-den ist. Nicht vergessen werden darf der»engagierte Schriftsteller«, der Positionbezieht. Heute vermissen wir manchmaldieses Engagement. Natürlich ist damitnicht gemeint, daß jemand unbedingt einGedicht auf den 11. September schreibenmuß.Oft wird auch argumentiert, daß ein En-gagement für oder gegen eine Sache imGrunde nichts bringe. Aber wenn nie-mand mehr für etwas einsteht, dann be-deutet das doch auch so etwas wie einestillschweigende Duldung der gebündel-ten Probleme unserer Zeit.Natürlich hat es bei Sartre Dinge gegeben,über die man den Kopf schütteln konnteund kann. Man muß, wie seine Biografenmeinen, ja auch längst nicht alles sympa-thisch finden.Er hat versucht, auf die sich auch zu sei-nen Lebzeiten immer deutlicher abzeich-nende Krisensituation zu reagieren, diesich aus dem Spannungsverhältnis zwi-schen wissenschaftlicher Weltbeherr-schung und materiellem Anspruchs-denken einerseits und steigender Armutvor allem bei der Bevölkerung in der Drit-ten Welt ergeben hat. Sartre selbst äußer-te sich 1975 in einem Interview: »Entwe-der geht der Mensch unter – dann wirdman nur sagen können: in den zwanzig-tausend Jahren, seit es Menschen gibt,haben einige vergeblich versucht, denMenschen zu erschaffen –, oder die Re-volution gelingt und erschafft den Men-schen, indem sie die Freiheit verwirk-licht.«Oder eine andere Äußerung: »Ich habemein Werk getan. Ich habe gelebt. DieKultur vermag nichts und niemanden zuerretten, sie rechtfertigt auch nicht. Abersie ist ein Erzeugnis des Menschen, wor-in er sich wiedererkennt, allein dieser kri-tische Spiegel gibt ihm sein eigenes Bild.«Jean-Paul Sartre stirbt am 15. April 1980in einem Krankenhaus in Paris.1978, zwei Jahre vor seinem Tod, sagt er:»Der Tod, daran denke ich nicht. Er istnicht in meinem Leben, er wird außerhalbsein. Eines Tages wird mein Leben auf-hören, aber ich will auf keinen Fall, daßes durch den Tod beladen wird. Ich will,daß mein Tod nicht in mein Leben ein-dringt, es nicht definiert, ich will immerein Aufruf zum Leben sein.«