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LOST IN DIGITALIZATION? TRENDS UND ENTWICKLUNGEN IN DIE NEUEN ARBEITSWELTEN raimund ribitsch , kurt koleznik , susanna boldrino ( hrsg .) Abstracts zum Symposium 2018 der Österreichischen Fachhochschul-Konferenz

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  • L O S T I N D I G I TA L I Z AT I O N ? T R E N D S U N D E N T W I C K L U N G E NI N D I E N E U E N A R B E I T S W E LT E N

    raimund ribitsch , kurt koleznik , susanna boldrino (hrsg .)

    Abstracts zum Symposium 2018 der Österreichischen Fachhochschul-Konferenz

  • Lost in Digitalization? Trends und Entwicklungen in die neuen Arbeitswel-ten. Abstracts zum Symposium 2018 der Österreichischen Fachhochschul-Konferenz.

    Die Herausgeber*innen und die FHK als verlegende Institution habenInhalte nach wissenschaftlichen Standards erstellt und nach bestenWissen und Gewissen auf Fehler und Unklarheiten überprüft. Trotz-dem können für Inhalte leider keine über die gesetzlichen Mindestbe-stimmungen hinausgehenden Haftungen übernommen werden. Au-tor*innen haben der Veröffentlichung in diesem Rahmen zugestimmt.Urheberrechtlich geschützte Inhalte - so solche enthalten sein sollten- werden nur im Rahmen der gesetzlichen Ausnahmen genutzt.

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    Raimund Ribitsch, Kurt Koleznik, Susanna Boldrino (Hrsg.): Lost inDigitalization? Trends und Entwicklungen in die neuen Arbeitswelten, Ab-stracts zum Symposium 2018 der Österreichischen Fachhochschul-Konferenz. Österreichische Fachhochschulkonferenz (FHK), Wien 2018.ISBN: 978-3-200-05739-5.

  • Glücklich sind die Menschen,wenn sie haben,

    was gut für sie ist.— Nach Platon, Symposion [70]

    D A N K S A G U N G

    Engagierte Expert*innen, die Impulse mit der interessierten Fachöf-fentlichkeit teilen bringen immer wieder neue Perspektiven in öster-reichische Fachhochschulen. Menschen, ohne die die Symposien nichtfunktionieren können. Ihnen allen gilt mein Dank!

    Unerlässlich ist bei so einer Veranstaltung die Unterstützung durchden FHK Präsidenten und FHK Geschäftsführer, aktuell vertretendurch Mag. Ribitsch und Mag. Koleznik. Vielen Dank für die Wertschät-zung, die Sie der Ausschussarbeit entgegenbringen und den Rückhaltfür die Aufgaben des Ausschusses.

    Weiters sind die engagierten Ausschußmitglieder hervorzuheben,die sich weit über das Erwartete hinaus der Themen angenommenhaben. Heuer besonders durch Vorträge und Artikel für den Tagungs-band. Besonders ist, dass der Ausschuss der österreichischen Fachhochschul-Konferenz (FHK) für Personal- und Organisationsentwicklung nunmehrseit 20 Jahren besteht. Ein besonderes Dankeschön an die langjährigefreudvolle Zusammenarbeit im Ausschuss.

    Auch den österreichischen Fachhochschulen, die dem Symposium im-mer gerne einen Veranstaltungsort und Rahmen zur Verfügung ge-stellt haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

    Es gibt keine großen Veranstaltungen, ohne dass all die kleinen,aber in Summe entscheidenden Herausforderungen gemeistert wer-den, die bei der Organisation immer wieder auftreten. Hier gilt meinDank den Organisationsteams, allen voran Frau Horvath.

    Weiters möchte ich mich bei allen bedanken, die sich auch im Rah-men der Konzeption des Tagungsbandes eingebracht haben. Darun-ter besonders Gernot Hausar, der mit seiner Expertise aus einzelnenArtikeln eine Publikation zusammengestellt hat, die grafisch und in-haltlich bestens abgestimmt ist. Es ist eine Freude, seiner Arbeit zu-zuschauen.

    Und danke für Ihr Interesse am Tagungsband, der Ihnen ein hof-fentlich einige Gedankenanstöße mitgibt. Schön, dass wie Sie zu un-seren Leser*innen zählen können.

    Mit lieben GrüßenSusanna BoldrinoLeitung FHK PE/OE Ausschuss

    iii

  • I N H A LT S V E R Z E I C H N I S

    i vorwort zu publikation und veranstaltung1 vorwort der herausgeber*innen 2

    1.1 Einleitende Überlegungen zum Thema (R. Ribitsch) 21.2 Entwicklungen in eine neue Welt (S. Boldrino) 3

    1.2.1 Zukünfte und das neue Morgen 41.2.2 Umgestaltung der Arbeitswelten 61.2.3 Tablets sind noch keine Digitalisierung 71.2.4 Fluide und identitätsstiftende Hochschulen 8

    ii digitalisierung in der organisations- und per-sonalentwicklung - lernen

    2 digitales lernen 122.1 Learning by Participation (R. Mayr, D. Wurm) 12

    2.1.1 Partizipation im und für den Lernprozess 122.1.2 Bedarfs- und bedürfnisorientiert Didaktik in Sze-

    ne gesetzt 132.1.3 LeLe 2.0 als partizipativer Prozess auf allen Ebe-

    nen der Hochschule 152.1.4 Ausblick 162.1.5 Zu den Personen 16

    2.2 Digitales Lernen in der Hochschule (M. Lehner) 162.2.1 Unterrichtliche Sicht- und Tiefenstrukturen 172.2.2 Digitale Bildungsformen 182.2.3 Perspektiven für die hochschulische Lehre 202.2.4 Zur Person 21

    2.3 Digitales Lernen in der Hochschule (R. Slanic) 212.3.1 Einblick 212.3.2 Ermöglichungsdidaktik 222.3.3 Ausblick 252.3.4 Zur Person 25

    2.4 Digitalisierungsstrategien Hochschule 2.0 (H. Nacken) 26

    iii digitalisierung in der organisations- und per-sonalentwicklung - arbeiten

    3 digitales arbeiten 283.1 Hybride Professionals in Organisationen (J. Meissner) 28

    3.1.1 Das Selbstverständnis von Hybriden Professio-nals 28

    3.1.2 Bedeutung von Hybriden Professionals für Or-ganisationen 32

    3.1.3 Zur Person 34

    iv

  • inhaltsverzeichnis v

    3.2 Digitalisierung in der Personalentwicklung (Mössen-lechner, Auer) 343.2.1 Personalentwicklung und Digitalisierung 343.2.2 Personalentwicklung und digitale Kompetenzen

    363.2.3 Kompetenzentwicklung mittels digitaler Lern-

    formate 373.2.4 Zu den Personen 38

    3.3 Mobiles Arbeiten (H. Schwarzenberger) 393.3.1 Einleitung 393.3.2 Begriffsbestimmung 393.3.3 Auswirkungen auf organisationaler Ebene - An-

    forderungen an Unternehmen 403.3.4 Auswirkungen auf sozialer Ebene – Vereinbar-

    keit von Beruf und Familie bzw. Privatleben 423.3.5 Auswirkungen auf individueller Ebene – Ein-

    fluss auf Wohlbefinden und Gesundheit 423.3.6 Ausblick 433.3.7 Zu den Personen 44

    3.4 Talent Scouting 4.0 (B. Schmid) 443.4.1 Ausgangssituation Fachhochschule - Industrie -

    Fachkräftemangel 443.4.2 Kooperatives Talent Scouting 453.4.3 Karrierepfad Digital Factory Vorarlberg 463.4.4 Aufgaben und weitere Potenziale 483.4.5 Zur Person 50

    3.5 Candidate Experience Management (S. Gössl) 503.5.1 Begriffsdefinition und Geschichte 503.5.2 Candidate Journey 513.5.3 Nutzen des Candidate Experience Managements 523.5.4 Candidate Experience an der Fachhochschule des

    BFI Wien 533.5.5 andidate Experience im studentischen Aufnah-

    meverfahren 543.5.6 Conclusio und Ausblick 543.5.7 Zur Person 55

    3.6 Employer Branding (G. Mörth) 553.6.1 Bevölkerungsentwicklung 563.6.2 Auswirkungen auf die Hochschullandschaft 573.6.3 Antworten der Wirtschaft und Annäherung an

    das Thema 573.6.4 Employer Branding als ArbeitgeberInnenmarken-

    bildung 583.6.5 Prozess der Erarbeitung einer Employer Value

    Proposition 593.6.6 Zur Person 60

  • inhaltsverzeichnis vi

    3.7 Der dünne Berg steht noch (M. Adam) 603.7.1 Einleitung 603.7.2 Arbeit 4.0 613.7.3 Führen 4.0 623.7.4 Fazit 4.0 633.7.5 Zur Person 64

    3.8 FH Salzburg – On board (S. Leitner) 643.8.1 Sie sind gekommen, um zu bleiben... 653.8.2 Mit Science Buddys zum Science Buster 673.8.3 Das einzig Beständige ist die Veränderung... 683.8.4 In guten wie in schlechten Zeiten... 683.8.5 Zur Person 69

    3.9 Flexibilität im Arbeitsverhältnis (D. Baumgartner) 693.9.1 Neue Arbeitswelten 693.9.2 Flexibilität 693.9.3 Flexible Arbeitszeiten 703.9.4 Örtliche Flexibilität 713.9.5 Aufgabenwechsel 723.9.6 Fazit 723.9.7 Zur Person 72

    3.10 Zusammenarbeit sinnvoll organisieren (R. Pircher) 733.10.1 In Kürze 733.10.2 Die Zukunft der Organisation existiert bereits 733.10.3 Einige Unternehmensbeispiele 763.10.4 Eine Roadmap 783.10.5 Zur Person 79

    iv appendix

    literatur 81

  • A B B I L D U N G S V E R Z E I C H N I S

    Abbildung 2.1 Sicht- und Tiefenstrukturen 18Abbildung 3.1 Gesamtthemenlandschaft Hybride Professionals 29Abbildung 3.2 Lernformate-Mix in der Personalentwicklung

    38Abbildung 3.3 Karrierepfade Digital Factory Vorarlberg 47Abbildung 3.4 Entwicklung der Erwerbspersonen 57Abbildung 3.5 Prozessdarstellung ArbeitgeberInnenmarke. Quel-

    le: Unveröffentl. Präsentation von identitäter ,2018. Mit freundlicher Genehmigung. 59

    Abbildung 3.6 Selbstorganisation - Stärken und Herausforde-rungen 76

    vii

  • Teil I

    V O RW O RT Z U P U B L I K AT I O N U N DV E R A N S TA LT U N G

  • 1V O RW O RT D E R H E R A U S G E B E R * I N N E N

    1.1 einleitende überlegungen zum thema (r . ribitsch)

    Mag. RaimundRibitschPräsident derFachhochschul-Konferenz(FHK)

    Der vorliegende Tagungsband wurde anlässlich des FHK-Symposiums2018 vom PEOE-Ausschuss der FHK – Österreichische Fachhochschul-Konferenz zusammengestellt. Er behandelt ein Thema von aktuellgroßer Bedeutung: „Digitalisation – Trends und Entwicklungen in dieneuen Arbeitswelten“.

    Die Abstracts beschreiben aus unterschiedlichen Sichtweisen Trendsin der Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die fachhochschu-lische Lehre. Strukturen und Abläufe werden näher beleuchtet undVeränderungsprozesse aufgezeigt.

    Rasante Entwicklungen in den Life Sciences, die immer älter wer-dende Gesellschaft, die Wanderungsbewegungen, die Globalisierungund die Digitalisierung beeinflussen das Tätigkeitsfeld, in dem Fach-hochschulen heute agieren müssen, um Bildung weiterhin gestaltenund begleiten zu können.

    Wenn wir uns die Frage stellen, ob man sich in diesen Entwick-lungen auch „verirren“ kann („Lost in Digitalization“), so sind Fach-hochschulen bestens auf neue Trends vorbereitet, sie sind quasi mitVeränderungen groß geworden - als Brücke zwischen Bildung, For-schung, Wirtschaft und Gesellschaft können sie diese Erfahrungenfür alle Akteur*innen im Hochschulbereich einsetzen.

    Die Digitalisierung verändert global Prozesse, Produkte und Hand-lungen. Die Nutzung von digitalen Geräten im Alltag führt dazu,dass immer mehr Vorgänge „digital“ werden.

    Unsere Aufgabe als Fachhochschulen ist es, unsere hochschulischenMitarbeiter*innen sowie unsere Studierenden bestmöglich auf dieseUmwälzung und deren Folgen vorzubereiten. Gleichzeitig müssenwir aber auch unsere Kerntätigkeiten Lehre und Forschung „fit“ fürdie digitale Revolution machen.

    Auf Ebene der FHK wurden beim Symposium 2018 Expert*innenaus dem In- und Ausland mit ihren unterschiedlichen Ansätzen zumThema zusammengebracht, um durch einen intensiven Austauschvoneinander zu lernen. Es ist gerade diese Bereitschaft, die es unsmöglich macht, die von uns erwarteten wichtigen Impulse für Wirt-schaft und Gesellschaft geben zu können.

    Vielen Dank an die Autor*innen für die vielfältigen und profundenBeiträge für den Tagungsband und dem FHK Ausschuss für Personal-und Organisationsentwicklung unter der Leitung von Mag.a (FH) Su-

    2

  • 1.2 entwicklungen in eine neue welt (s . boldrino) 3

    sanna Boldrino für die Gestaltung des Programms des Symposiums2018.

    Besonderer Dank gebührt im Zuge der Realisierung dieses Tagungs-bandes Herrn Mag. Gernot Hausar von der Akademischen Hoch-schulentwicklung an der FH Campus Wien für die graphische Umset-zung und hervorragende administrative Unterstützung. Ohne seineMitarbeit hätte der Tagungsband nicht in dieser Qualität umgesetztwerden können.

    1.2 entwicklungen in eine neue welt (s . boldrino)

    Mag.a (FH)Susanna BoldrinoLeiterin FHKAusschuss fürPersonal-undOrganisationsent-wicklung (FHCampus Wien)

    Digitalisierung ist eigentlich ein alter Hut. Bereits in der zweiten Hälf-te des 20. Jahrhunderts kommt der Computer auf den Markt unddie Informationsgesellschaft beginnt. Dies war der sogenannte fünfteKondratieff Zyklus. 40-60 Jahre umspannende Sinuswellen der Welt-wirtschaft sind Gedankenansätze, um Entwicklungssprünge zu erfas-sen. Lange Wellen werden durch bahnbrechende Erfindungen ange-stoßen und die Basisinnovation ist Auslöser für eine nachfolgendeWertschöpfungskette. Zwischen den Zyklen gibt es Hindernisse undBarrieren der Weiterentwicklung, die durch diese Erfindungen durch-brochen werden.

    Mit der Jahrtausendwende ist die Weltwirtschaft in einen neuenZyklus eingetreten. Die größte Barriere von heute ist kein technolo-gisches, ökologisches oder finanzielles Hindernis. Die soziale Unord-nung stellt das größte Hindernis dar. Ein historisches Paradoxon trittauf. Für die Lösung der aktuellen ökonomischen Probleme muss manmehr in die Gesundung des Menschen investieren.

    Viele früher tödliche Krankheiten können heute wirksam behan-delt werden. Aber die Fortschritte reichen nicht mehr aus, um dieKomplexität des moderneren Lebens angemessen zu bewältigen. DieGesundheitsindustrie ist gerade dabei, die Leitfunktion im 21. Jahr-hundert zu übernehmen. Die Prognose des US-Bureau of Labor Sta-tistics sagt voraus, dass die Gesundheitswirtschaft im Jahr 2024 dergrößte Arbeitsgeber der USA sein wird. Basisinnovationen werden inBiotechnologie und Psychosozialer Gesundheit erwartet. Die gegen-wärtigen Wachstumsbarrieren könnten überwunden werden, wenndie Förderung von Gesundheit auf den ganzen Menschen und seinenatürliche Umgebung ausgerichtet wird.[66]

    Wenn die Digitalisierung eigentlich bereits passé ist, warum ist dasThema dann dermaßen omnipräsent? Es gibt kaum eine Ausstellungohne das Thema Digitalisierung z.B. die Ars Electronica in Linz [2]mit Themen wie Artificial Intelligence als möglicher gigantischer Job-killer oder gar als nächster Schritt in die Evolution. Ein weiteres Bei-spiel ist die Biennale 2017 in Wien mit Fokus auf Roboter, Arbeit undwie wir uns in unserer Zukunft einrichten werden. [94] Es gibt auchkaum eine Veranstaltung oder Konferenz, ohne das Thema Digitali-

  • 1.2 entwicklungen in eine neue welt (s . boldrino) 4

    sierung. So zum Beispiel der NPO Kongress 2017 „Bleibt kein Steinauf dem anderen?!“ [11] mit der Frage, wie digitale und gesellschaft-liche Veränderungen NPOs, öffentliche Verwaltungen und Sozialun-ternehmen beeinflussen. Aus welchem Grund ist gerade heute dieDigitalisierung so ein brennendes Thema?

    Die Digitalisierung nach Kondratieff ist zwar bereits abgeschlossenund der Zukunftsforscher Lars Thomsen empfiehlt, den Trend Digita-lisierung ad acta zu legen [89]. Aber Digitalisierung hat heute eine an-dere Qualität und dringt in alle Lebensbereiche ein, es geht um mehrals darum, die analoge Welt in eine digitale Welt zu transformieren.Digitalisierung wird nunmehr breitenwirksam genutzt. Nicht mehreinzelne Personen oder die Jugend, nein, alle Generationen nutzendigitale Devices und ganze Arbeitswelten werden digital. Digitalisie-rung ist nicht mehr auf berufliche Zeiten beschränkt, Privates undBerufliches verschwimmen. Wir lassen uns vom Smartphone weckenund kochen unsere Eier sekundengenau mit der Stoppuhr des Smart-phones. Dazwischen schreiben wir ein Mail. An Hand der space &time Dimension ist ersichtlich, dass alle Orte digital durchdrungenwerden und zeitlich eine unumschränkte Verfügbarkeit digitaler An-gebote besteht.

    Somit ist sichtbar, dass auch Gesundheit und Digitalisierung engverknüpft sind. Erst die Digitalisierung macht es möglich, Gesund-heitsdaten umfassen zu erheben, den Gesundheitszustand permanentzu scannen, zu optimieren und präventive Zugänge zu entwickeln.Die „Quantified Self“ Bewegung hat das Motto „Selbsterkenntnis durchZahlen“ und behauptet, das Ich bestehe aus nichts weiter als aus ma-thematischen Mustern, die auf Basis von systematisch gesammeltenbiometrischen Daten von Algorithmen analysiert werden können.[36]Der 5. Kondratieff Zyklus ist de facto Voraussetzung für die folgendeSinuswelle Gesundheit.

    Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch kritische Mei-nungen gibt, die den Kondratieff Wellen eine gewisse Beliebigkeitnachsagen. Unbenommen ist, dass eine Umbruchzeit im Raum stehtund Versuche verschiedenster Art stattfinden, die Herausforderun-gen der Zukunft zu erkennen.

    1.2.1 Zukünfte und das neue Morgen

    Das Thema „Zukunft“ ist ein Hype, wie auch das Thema Verän-derung bzw. Transformation. Zukunftsforschung boomt, Vortragen-de zu Trends und Megatrends sind gesucht, Landkarten von Trendsund Megatrends versuchen zukünftige Entwicklungen in ein Systemzu bringen und Anhaltspunkte für Entscheidungen zu liefern. Mankönnte meinen, dass eine genuine die Fachwissenschaften und Diszi-plinen übergreifende Zukunftsforschung in europäischen Hochschu-len angekommen ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Es haben sich ein-

  • 1.2 entwicklungen in eine neue welt (s . boldrino) 5

    zelne Institute und ein Studiengang zu Zukunftsforschung an derFreien Universität Berlin etabliert. Meist erfolgen Prognosen auf Ba-sis von Medienanalysen. Eine systematische Vorgangsweise, die mitder Definition zukunftsrelevanter Fragestellungen beginnt und wis-senschaftlich fundiert bearbeitet wird, wird kaum angewandt. DieSituation in den USA, Japan etc. ist übrigens anders, dort ist die Zu-kunftsforschung im tertiären Bildungssektor verankert.

    Gesicherte Forschung zu Zukunft, Megatrends und Trends bedientsich auf jeden Fall nachvollziehbarer Methoden. Es geht um eine kriti-sche Auseinandersetzung mit Befunden, die auf klaren Fragestellun-gen aufbauen, die mit nachvollziehbaren wissenschaftlichen Metho-den erarbeitet worden sind und in eindeutigen und unmissverständ-lichen Begriffen benannt sind.[77] Das IZT – Institut für Zukunftsstu-dien und Technologiebewertung in Berlin und das AIT – AustrianInstitute of Technology in Wien verwenden z.B. folgende Definitio-nen:

    • Zukunftsforschung: ist die wissenschaftliche Befassung mit mög-lichen, wahrscheinlichen, wünschbaren Zukunftsentwicklungen(„Zukünften“) und Gestaltungsoptionen sowie deren Vorausset-zungen in Vergangenheit und Gegenwart (Rolf Kreibich, IZT).

    • Megatrend: Megatrends stehen für langfristig wirkende, über-greifende Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft.Als treibende Faktoren prägen sie maßgeblich die Umfeldbe-dingungen von Märkten, Kunden und Unternehmen (Burmeis-ter 2008). A megatrend is a long-term, transformational processwith global reach, broad scope, and a fundamental and drama-tic impact (Vielmetter G.2014). Vier Faktoren: Dauerhaftigkeit,Allgegenwart, Universalität, Robustheit.[88]

    • Trend: is a general tendency or direction of a development orchange over time. There is no guarantee that a trend observedin the past will continue in the future (AIT). Trends im Allgemei-nen bezeichnen Faktoren, die sich aus Wandel und Innovationergeben. (IZT)

    • Corporate Forsight: versteht sich als zukunftsorientierter Kom-munikations- und Planungsprozess im Innenverhältnis von Un-ternehmen.[72, S. 9]

    Obwohl es Veränderungen, auch disruptive gewaltige Umstürzeschon seit jeher gegeben hat – ein Beispiel dafür ist etwa die Industria-lisierung – tut sich in diesem Jahrhundert eine neue Dimension auf.Eine neue Welt ist am Entstehen. Zukünfte lassen sich nicht antizipie-ren, nicht einmal erahnen. „Diese Welt entsteht aus der Gleichzeitig-keit von drei globalen Revolutionen, die die Koordinaten der sozialen,politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Welt neu definieren:

  • 1.2 entwicklungen in eine neue welt (s . boldrino) 6

    • die ökonomisch-ökologische Revolution: das Entstehen einer neu-en Ökonomie

    • die sozial-relationale Revolution: das Entstehen der Netzwerk-gesellschaft

    • die kulturell-spirituelle Revolution: das Entstehen eines neuenBewusstseins“.[78, S 103]

    Wir haben es daher mit einer zunehmend komplexen Welt zu tun,die mit dem Acronym „VUCA“ beschrieben wird: Volatility, uncer-tainty, complexity und ambiguity.[32] Der Historiker und Autor YuvalNoah Harari nennt es die neue menschliche Agenda. „Doch am Mor-gen des dritten Jahrtausends wacht die Menschheit auf und machteine erstaunliche Entdeckung. Die meisten Menschen denken seltendaran, doch in den letzten Jahrzehnten ist es uns gelungen, Hunger,Krankheit und Krieg im Zaum zu halten. Natürlich sind diese Pro-bleme nicht vollständig gelöst, aber was einmal unbegreifliche undunkontrollierbare Kräfte der Natur waren, sind jetzt Herausforderun-gen, die sich bewältigen lassen“.[36, S. 10]

    1.2.2 Umgestaltung der Arbeitswelten

    Mit der sich so verändernden Welt gehen neue Arbeitswelten ein-her. Karl Benedikt Frey und Michael A. Osborne analysierten in ei-ner Studie „The Future of Employment“ verschiedene Berufe und dieWahrscheinlichkeit, mit der sie in den nächsten zwanzig Jahren vonComputeralgorithmen übernommen werden. BBC lädt ein, die eigeneTätigkeit in ein Computerprogramm „Will a robot take your job?“ imInternet einzugeben. Mit einer Prozentangabe wird die Wahrschein-lichkeit verdeutlicht, ob der eigene Beruf in naher Zukunft noch exis-tieren wird. Auf der anderen Seite werden neue Berufe entstehen,wie z.B. Designer für virtuelle Welten. Harari spricht allerdings auchdavon, dass im 21. Jahrhundert eine neue Nichtarbeiterklasse entste-hen könnte, die nicht nur beschäftigungslos, sondern gar nicht mehrbeschäftigbar ist.

    Wir leben also in einer Welt, die sich gerade in ihren Grundfestenumgestaltet. Menschen und Unternehmen sind gefordert Resilienz imsozialpsychologischen Sinn zu entwickeln. Resilienz wird als mensch-liche Fähigkeit beschrieben, sich existentiell schwierigen Situationenzu stellen oder sich anpassen zu können und gleichzeitig darauseinen Lernwert zu ziehen. Ein resilientes System kann Irritationenausgleichen oder ertragen und gleichzeitig die eigene Integrität auf-rechterhalten. Dabei spielen die fünf Wirkfaktoren Ruhe, Sicherheit,Selbstwirksamkeit, Verbundenheit und Hoffnung nach Hobfoll et al.(2007) eine besondere Rolle.[85, 15ff.]

    Megatrends helfen uns, in dieser Phase eine Orientierung zu erhal-ten. Voraussetzung ist, dass diese methodisch sorgsam erarbeitet sind

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    und in einem Kommunikationsprozess für ein System spezifisch va-lidiert werden. Eine institutionalisierte weitere Betrachtung des Um-feldes des betrachteten Systems sichert die gezogenen Schlüsse undermöglicht weitere Entwicklungslinien zu erkennen. Auf Basis dessenkönnen Strategien von der Zukunft her gedacht werden.

    Eine Methode dafür ist das Presencing. Das ist eine Bewegung, inder wir unserem Selbst aus einer entstehenden Zukunft heraus be-gegnen und zwar in einem kreativen und schöpferischen Prozess.[78,172 ff.]

    1.2.3 Tablets sind noch keine Digitalisierung

    Und welche Position nehmen nun Hochschulen in dieser neuen Weltein? Neu ist bereits, dass Bildung erstmals im Zentrum der Agendader Europäischen Union steht. Bildung scheint in vielen EU Strategi-en als zentraler Treiber auf und es wird ein hoher Impact in Gesell-schaft und Ökonomie von Hochschulen erwartet. Die „third missi-on“1 wird neben Lehre und Forschung als Eckpfeiler gesehen. Hoch-schulen sollen ihre Innovationskraft steigern und als „Entrepreneu-rial Universities“ [31] proaktiv die anstehenden Herausforderungender Zukunft aufgreifen und Antworten geben. Bei dieser Transforma-tion soll die Digitalisierung eine Kernrolle spielen.

    Digitalisierung läuft aber wie schon erwähnt seit Jahrzehnten, dietechnische und ebenso die nachfolgende damit verbundene organisa-torische Umstellung sollte vorbei sein. Aktuell geht es noch um vielmehr, was so nicht absehbar war. Es zeigt sich eine Geschwindigkeitvon Entwicklungen, die bisher noch nie dagewesen ist. Mittlerweileist eine Datenfülle entstanden, die für Menschen unüberblickbar ge-worden ist. Und grundlegend hat sich verändert, dass Maschinen dasLernen erlernen. Es geht darum, die menschliche Intelligenz nach-zubilden, wobei Teilbereiche der Künstlichen Intelligenz, kurz KI,oder noch präziser gesagt KI-Technologie, bereits Realität und im All-tag bereits angekommen sind. Smartphone, Google-Suchmaschinen,Sprachverarbeitung etc. zeigen bereits, was Systeme leisten können.Wie eine KI-Technologie zu ihren Ergebnissen kommt, ist mittlerweilebei einigen Systemen unbekannt, was uns vor große Probleme stellt.Ethik ExpertInnen pochen auf das „Recht auf Erklärung“, wo Pro-grammierer offenlegen sollen, auf Basis welcher Kriterien der Algo-rithmus eines Computersystems Entscheidungen trifft. Das hat auchdie Europäische Union erkannt und deshalb in der EU-Datenschutz-Grundverordnung, die am 25. Mai 2018 in Kraft tritt, vorgesehen, dasBürgerInnen ein Recht auf Information in Bezug auf Datenverarbei-

    1 „To address the growing societal and economic challenges, there is an increasingdemand for universities to use their knowledge from research and teaching to ful-fil their so-called „Third Mission“ in society and economy. This implies taking re-sponsibility, actively and consciously, for the society on whose behalf they are wor-king.“[92]

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    tung haben. Es gibt das Recht auf Erklärung, wie lernende MaschinenKundInnendaten verarbeiten. Die KI Forschung ist gefordert, dieseBlackbox transparent zu machen.

    Catelijne Muller, Rapporteurin des EU-Meinungsbildungsprozessesüber künstliche Intelligenz und Gesellschaft fordert, dass Menschennicht die Herrschaft über die Technik aufgeben dürfen. KI wird je-denfalls in nahezu allen Bereichen die menschliche Arbeitskraft erset-zen oder zumindest ergänzen. KI wird die Gesellschaft stark verän-dern, und Themen wie Grundeinkommen, Robotersteuer bzw. einegrundlegend andere Schulbildung kommen von einflussreichen Wis-senschaftlerInnen und Unternehmern. Um deutlich zu machen, wieweit die Entwicklung in militärischer Hinsicht gehen könnte, habenkritische KI WissenschaftlerInnen aus aller Welt nach ein Verbot au-tonomer Waffen gefordert und ein drastisches Video auf YouTube ge-stellt. Darin dringen „Slaughterbots“, kleine Drohnen, in eine Univer-sität ein und töten gezielt politisch aktive StudentInnen. Das Videosoll aufrütteln und klar machen, dass KI neben den positiven Ent-wicklungen gefährliche Dimensionen annehmen kann. Positive Ent-wicklungen wie z.B. Watson, das Computerprogramm von IBM, er-möglicht z.B. punktgenaue Behandlungsempfehlungen bei Krebsdia-gnosen. Genome seien der Schlüssel zu individueller und persona-lisierter Medizin. Bisher bleibt aufgrund der Datenmenge rund dieHälfte aller DNA-Untersuchungen bei der Krebsbehandlung ohnekonkretes Ergebnis. Das System Watson kommt bereits in mehr als150 Krankenhäusern zum Einsatz.[7] Doch die Nutzung muss gelerntwerden, um maschinellen Entscheidungsprozessen zu vertrauen.

    Humanoide Roboter werden in etwa zehn Jahren zum Preis ei-nes Kleinwagens zu erwerben sein, 31 Firmen arbeiten derzeit dar-an. Roboter „Sophia“ kann menschliche Emotionen erkennen und istein Medienstar geworden. Sie besitzt mittlerweile die erste RoboterStaatsbürgerschaft in Saudi Arabien.[103] Harari zeichnet in letzterKonsequenz ein düsteres Zukunftsbild, wo die Menschheit durch KIbedroht ist. Auch Stephan Hawking hat vor KI gewarnt, die Mensch-heit müsse lernen ihre Entwicklung zu kontrollieren.

    1.2.4 Fluide und identitätsstiftende Hochschulen

    Hochschulen stehen also vor großen Herausforderungen. Nicht nur,die Digitalisierung in all ihren Facetten in Lehre, Forschung & Ent-wicklung und Organisation zu bringen. Hochschulen müssen agilerund beweglicher werden, benötigen mehr Kollaboration und müssen„soziale Gehirne“ bauen, eine „Wir-Kultur“ entwickeln und Selbstor-ganisation riskieren.[9] Insbesondere müssen sich Fachhochschulen,die berufsfeldorientierte Aus- und Weiterbildungen bieten, in nochhöherem Ausmaß mit der Zukunft und den neuen Arbeitswelten be-

  • 1.2 entwicklungen in eine neue welt (s . boldrino) 9

    schäftigen, da sich Berufsfelder in absehbarer Zeit drastisch ändernwerden.

    Erforderlich wird ein umsichtiger und kontinuierlicher Umgangmit den Themen der Zukunft. Corporate Forsight als strategischeFrühaufklärung, um schwache Signale im Umfeld der Hochschulezu identifizieren und zu analysieren, mit dem Ziel Diskontinuitäten,technologische Trends und Veränderungen im Marktumfeld zu erken-nen. Es wäre zudem zu kurz gegriffen, die Digitalisierung oder besserKI losgelöst von anderen Megatrends zu sehen und isolierte digitaleMaßnahmen zu implementieren. Der Kontext, in dem Digitalisierungreloaded stattfindet, ist von hoher Bedeutung.

    Für Hochschulen haben sich neben der Digitalisierung 4.0 spezifi-sche Megatrends als maßgeblich leitend herausgestellt. Diese Selek-tion ist mit dem Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewer-tung und dem AIT – Austrian Institute of Technology im Rahmeneines von der MA 23 geförderten Projektes erfolgt. Nähere Beschrei-bungen mit Teiltrends sind auf der Website der Wiener Wissensweltzu finden.[100]

    • Die Individualisierung als ein dominierender Megatrend des 21.Jahrhunderts, der das Streben der Menschen nach Autonomieund Selbstbestimmung beschreibt, das in dem Maße zunimmt,wie alte Institutionen und Normen an Bindungskraft verlieren.Individualität bezeichnet die Freiheit der Wahl.

    • Die Flexibilisierung als Prozess auf Gesellschaftsebene. Organisa-tionen und auch Personen begegnen damit den sich rasch ver-ändernden Umweltbedingungen und stellen sich auf die kom-plexer werdenden Bedingungen ein. Insbesondere betrifft Fle-xibilisierung die Aneignung von Wissen und damit auch dieBildung.

    • Der demographische Wandel, auch als Bevölkerungswissenschaftbezeichnet, befasst sich statistisch mit der Entwicklung von Be-völkerungen und deren Strukturen und versucht, Vorhersagenüber künftige Veränderungen in diesen zu treffen. Aktuelle sta-tistisch erfassbare Verschiebungen im Bildungsverhalten lassenPrognose auf das Bildungsverhalten der Zukunft zu und gebendadurch wiederum Aufschluss auf künftig notwendige Ange-bote im Hochschulsektor.

    • Der Megatrend Lebensqualitäten stellt die Frage, wie wir in einersich immer schneller verändernden Welt leben werden. Insbe-sondere die zunehmende Automatisierung und Technisierung,Fortschritte in der Medizin, Klimamigration und eine wachsen-de Schere zwischen Arm und Reich sind wesentliche Triebkräfteim Rahmen dieses Megatrends.

  • 1.2 entwicklungen in eine neue welt (s . boldrino) 10

    • Responsible Education sucht Antworten auf diese Fragen wie ei-ne Gesellschaft Menschen verantwortungsvoll für die zukünfti-gen Herausforderungen ausbildet und wie Bildung Innovationbefördert. Die sich abzeichnenden Entwicklungen bieten neueSichtweisen auf Bildung: So wird neben formeller Bildung auchder informelle Erwerb von Wissen immer wichtiger. DigitalesLernen und diverse Mischformen zwischen regional ortsgebun-denen und globalen Lehr- und Lernräumen sind transformativeKräfte. Auch die Kluft zwischen (Aus-)bildung und Arbeitsle-ben wird immer enger.

    Ein strategisch geplanter Umgang mit Digitalisierung 4.0 ist dem-nach Basis für eine gelungene Transformation einer Hochschule in dieZukunft, um darin nicht verloren zu sein. Und wenn die Förderungder Gesundheit auf den ganzen Menschen und seine natürliche Um-gebung im 6. Kondratieff Zyklus ein zentrales Element der Zukunftsein wird, dann werden Bildung und somit Hochschulen zusätzlichan Bedeutung gewinnen. Erwiesenermaßen trägt Bildung in hohemMaße zur Gesundheit der Menschen bei. Viele Autoren kommen zudem Ergebnis, dass Personen aus höheren Bildungsgruppen bessereChancen haben, ein langes und gesundes Leben zu führen.[18]

    Auch in diesem Sinne werden Hochschulen eine maßgebliche Rollein der Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft einnehmen. Fürden einzelnen Menschen werden Hochschulen Netzwerke bieten undIdentität schaffen. Und vielleicht auch die eine oder andere persön-liche Vision umsetzbar machen. Bildung ist zu einem wichtigen TeilBeziehungsarbeit.

  • Teil II

    D I G I TA L I S I E R U N G I N D E R O R G A N I S AT I O N S -U N D P E R S O N A L E N T W I C K L U N G - L E R N E N

  • 2D I G I TA L E S L E R N E N

    2.1 learning by participation – didaktik in szene gesetzt(r . mayr , d. wurm)

    Maga RoswithaMayrDominik WurmFHGesundheitsberufeOÖ GmbH,Semmelweisstraße34, 4020 Linz,Österreich, +43 6448034429110,roswitha.mayr ATfhgooe.ac.at

    Keywords: Digitales Lernen, Partizipation, Hochschuldidaktik

    2.1.1 Partizipation im und für den Lernprozess

    Durch die Akademisierung des Hebammen- und Pflegeberufs sowieder MTD-Berufe wurde das Anforderungsprofil an Lehrende in ge-sundheitsberuflichen Studiengängen um hochschuldidaktische Kom-petenzen erweitert. Sichtbar wird das beispielsweise in den Leitsätzender FH Gesundheitsberufe OÖ GmbH, die lauten: „Lehrende müs-sen eine hohe Qualität der theoretischen und praktischen Ausbildungin den Gesundheitsberufen sicherstellen und hohen beruflichen undhochschulischen Standards genügen.“

    Studierende der Studiengänge zu Gesundheitsberufen müssen inihren Praktika Wissensformen in praktisches Handeln (Rauner, 2007)[75] überführen. Nach dem Studium müssen sie in der Lage sein, die-se Fähigkeiten und Fertigkeiten weiterzuentwickeln. Lehrende undPraxislehrende haben die Aufgabe, in den Lehrveranstaltungen sowiein den Berufspraktika das Potenzial der Studierenden und zukünf-tigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlicher Berufsfel-der im Gesundheitsbereich hin zur beruflichen Handlungskompetenz(FH-MTD-AV, FH-Pflege-AV, FH-Hebammen-AV, KMK 2017)1 zu ent-wickeln.

    Die befürchtete „Kluft zwischen Wissen und Handeln“ (Mandl &Gerstenmaier, 2000) [55] muss dabei so klein wie möglich gehaltenwerden. Intendierte Lernergebnisse (Schermutzki, 2007) [79] dienenals Bezugspunkt im Lehr- und Lernprozess. Auf die Lernergebnis-se abgestimmte Lehr- und Lernstrategien und zeitgemäße Methodenund Medien unterstützen den Kompetenzerwerb effektiv. Besondersgefragt sind digitale Formate, da sie mehr Mobilität hinsichtlich Zeitund Ort des Lernens und damit auch mehr Partizipation (Griesehop& Bauer, 2017) [29] am Lernprozess erlauben.

    Lernende haben den Status von Stakeholdern bekommen. Sie sol-len vermehrt in die Gestaltung von Curricula und Lernprozessen

    1 FH-Hebammen-Ausbildungsverordnung, BGBI. II Nr.1/2006; FH-MTD-Ausbildungsverordnung, BGBI. II Nr.2/2006; FH-Pflege-Ausbildungsverordnung,BGBl. II Nr. 200/2008.

    12

  • 2.1 learning by participation (r . mayr , d. wurm) 13

    eingebunden werden. Die Partizipation der Studierenden am Unter-richt kann von der Teilhabe bzw. Teilnahme über die Mitwirkung bishin zur Mitsprache und Mitbestimmung reichen (Griesehop & Bau-er, 2017). [29] Sie muss in der Planung, Gestaltung und Evaluierungvon Lernprozessen berücksichtigt werden. Studierende sowie Absol-ventinnen und Absolventen des Master-Lehrgangs Hochschuldidak-tik für Gesundheitsberufe der FH Gesundheitsberufe OÖ GmbH tra-gen sowohl während des Studiums als auch postgraduell mit Fragenund Antworten zu Problemstellungen rund um das Lehren und Ler-nen in den Aus-, Fort- und Weiterbildungen von Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern in Gesundheitsberufen bei. Einige Studierende ha-ben in einem Berufspraktikum und in einem Modul aus dem BereichHochschuldidaktik III an einem Projekt der FH GesundheitsberufeOÖ GmbH mitgewirkt. Dieses Projekt ist in einem partizipativen Pro-zess entstanden und soll in diesem Beitrag vorgestellt werden. Es zieltauf den parallelen Kompetenzaufbau der Lehrenden in den BereichenHochschuldidaktik und digitale Lehr- und Lernmethoden ab.

    2.1.2 Bedarfs- und bedürfnisorientiert Didaktik in Szene gesetzt

    In einem von der Lehrgangsleitung Hochschuldidaktik für Gesund-heitsberufe initiierten und begleiteten Berufspraktikum wurde erho-ben, welche bedarfs- und bedürfnisorientierten Personalentwicklungs-maßnahmen Lehrende in Gesundheitsberufen benötigen, um den zeit-gemäßen Ansprüchen an die Lehre optimal zu entsprechen. In einerBedarfsanalyse wurden unter anderem typische Anforderungssitua-tionen Lehrender, individuelle Qualifikationen sowie organisationaleZiele und Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vergli-chen. Auf den Ergebnissen dieser Bedarfsanalyse aufbauend entstandein auf die FH Gesundheitsberufe OÖ GmbH abgestimmtes Fortbil-dungskonzept, das digitales Lehren und Lernen – ein erklärtes Zielder Organisation – fördern soll. Digitales Lehren und Lernen solltenicht über eine alleinige Konfrontation mit digitalen Medien stattfin-den, sondern über die parallele Weiterentwicklung von hochschuldi-daktischen Kompetenzen und Medienkompetenzen.

    Um ein attraktives Angebot für Lehrende zur Weiterentwicklungihrer hochschuldidaktischen Kompetenz zu schaffen, musste Didak-tik in Szene gesetzt werden. Dazu entwickelten Studierende des Master-Lehrgangs Hochschuldidaktik für Gesundheitsberufe in Lehrveran-staltungen des Moduls Hochschuldidaktik III didaktisch und tech-nisch innovative Web-Based-Trainings (WBTs) und setzten diese indie Praxis um. Die Studierenden realisierten die These „Didaktikmuss die Technologie führen und nicht umgekehrt“ (Handke, 2015)[35] erfolgreich. Die WBTs stellen sich strukturell folgendermaßendar:

  • 2.1 learning by participation (r . mayr , d. wurm) 14

    • Sowohl Lehren als auch Lernen erfordern ein ausgezeichnetesZeit- und Selbstmanagement. Methoden zur Konzentration undFokussierung, verschiedene Tipps zu Organisation und Struktu-rierung und Grundsätzliches zum Thema Zeitmanagement hel-fen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und sind daherBestandteil eines WBTs.

    • In einem WBT dreht sich alles um das Lernen. Der Bogen wirdvon anschaulichen Lernmodellen hin zum intendierten Lern-transfer gespannt. Userinnen und User sollen entdecken, wor-auf erfolgreiches Lehren und Lernen aufbaut und wie Studie-rende am besten gewinnbringend lernen können.

    • Im WBT Neurodidaktik wird vermittelt, wie wir das Gehirnbeim Lernen bestmöglich unterstützen können. Neben Hinter-grundinfos werden Tipps und Tricks fürs Lehren und Lernenvorgestellt.

    • Im WBT Methodenpool geben Expertinnen und Experten be-währte Tipps zur Wahl und zum professionellen Einsatz unter-schiedlicher Methoden, die dem Lernanlass angepasst sind.

    • In einem weiteren WBT werden die Themen “kompetenzorien-tiertes Prüfen, Beurteilen und Benoten” behandelt - Ideen, An-regungen und Erfahrungsaustausch sind hier inkludiert.

    Mit den WBTs werden ausgewählte Felder der Gestaltung von Lehr-und Lernprozessen abgebildet. Partizipative Elemente mussten dabeiberücksichtigt werden. Die WBTs hatten unter anderem folgende An-forderungen zu erfüllen:

    • Lernen soll unabhängig von Zeit und Ort möglich sein.

    • User sollen Wissen abgleichen können, sich neues Wissen aneig-nen, Wissen generieren und Sicherheit gewinnen.

    • Der Lerntransfer in die direkte Berufspraxis soll möglichst effek-tiv gefördert werden. In unserem Fall bedeutet das die eigeneLehre mit didaktisch sinnvoll eingesetzten digitalen Elementenweiterzuentwickeln.

    • Das Konzept des „situierten Lernens“ soll umgesetzt werden.Das bedeutet, dass Aufgaben mit komplexen Problemstellun-gen unter möglichst authentischen Bedingungen einbezogen wer-den müssen.

    • Feedbackelemente müssen in den verschiedensten Varianten an-geboten werden, damit Lernende möglichst frühzeitig auf Feh-ler und Irrwege aufmerksam gemacht werden.

  • 2.1 learning by participation (r . mayr , d. wurm) 15

    • Unterschiedliche Kompetenzniveaus und Erfahrungen sollen be-rücksichtigt werden.

    • Möglichkeiten zur Vertiefung und Erweiterung verschiedenerWissensformen sollten geschaffen werden.

    • User sollen die Möglichkeit haben, selbstgesteuertes Lernen zuerproben und zu evaluieren.

    • Motivationale, volitionale und soziale Aspekte des Lernens müs-sen berücksichtigt werden, um die Entwicklungs- und Verände-rungsbereitschaft der User, in unserem Fall Lehrende, möglichstnachhaltig zu fördern.

    Durch die WBTs wurde eine wichtige Basis für eine interne Fort-bildungsreihe für Lehrende auf E-Learning-Basis durch den Master-Lehrgang Hochschuldidaktik für Gesundheitsberufe geschaffen.

    2.1.3 LeLe 2.0 als partizipativer Prozess auf allen Ebenen der Hochschule

    Aus diesen Vorarbeiten wurde unter Einbeziehung aller Studiengän-ge, sämtlicher Stabsstellen und der Hochschulleitung der FH Gesund-heitsberufe OÖ GmbH das Pilotprojekt Lehren und Lernen 2.0 (LeLe2.0) entwickelt. Die Kerngruppe des Pilotprojekts besteht aus der Stu-diengangsleitung Radiologietechnologie, der stellvertretenden Studien-gangsleitung Biomedizinische Analytik, einem Lehrenden des Stu-diengangs Radiologietechnologie sowie der Leitung des Master-LehrgangsHochschuldidaktik für Gesundheitsberufe als Projektleitung. Das Pi-lotprojekt hat eine Laufzeit von 18 Monaten und wird aktuell umge-setzt, begleitet und evaluiert. Pro Studiengang und Standort nimmtjeweils ein Mitglied des Lehr- und Forschungspersonals in der Pilot-gruppe teil. Insgesamt sind dies 17 Lehrende.

    In diese Fortbildungsreihe für Lehrende werden die oben beschrie-benen WBTs integriert und um Reflexions- und Feedbackphasen er-weitert. Lehren wird dabei kontinuierlich auf das Lernen bezogen.Der Kompetenzerwerb erfolgt in drei Stufen und folgt im Wesentli-chen drei methodischen Zugängen:

    • zuerst als reines E-Learning (Einsatz der WBTs) im Baustein„Basic User“,

    • dann in einer Blended-Learning-Variante im Baustein „Advan-ced User“ und

    • am Schluss in reiner Präsenzlehre und unter Einsatz der Inverted-Classroom-Methode im Baustein „Professional User“.

    Die Stufen spiegeln im Wesentlichen die folgenden taxonomischenEbenen wieder: Zu Beginn liegt der Hauptfokus auf dem Wissens-erwerb bzw. Wissensabgleich, dann auf der Wissenstransformation

  • 2.2 digitales lernen in der hochschule (m . lehner) 16

    und später steht in erster Linie das Generieren von neuem Wissen imVordergrund. Durch dieses mehrstufige Vorgehen können LehrendeErfahrungen aus Sicht der Teilnehmenden sammeln, die jeweiligenVor- und Nachteile dieser methodischen Großformen selbst erlebenund die daraus gewonnenen Erkenntnisse in der eigenen Lehre un-mittelbar nutzen. Im Zuge aller drei Phasen wird versucht, möglichstvorbildlich die Lernenden in den Mittelpunkt zu rücken sowie Leh-ren und Lernen stets auf Lernergebnisse zu fokussieren. Zudem sol-len auch die Fallstricke von digitalen Lehr- und Lernangeboten direkterfahrbar gemacht werden.

    Im Pilotprojekt LeLe 2.0 werden Präsenzworkshops um orts- undzeitunabhängige digitale Lernwege ergänzt ohne den sozialen Aspektdes Lernens zu vernachlässigen. Die Teilnehmenden erfahren, wie sieselbstorganisiertes und aktives Lernen fördern können. Ebenso hilf-reich ist das Erleben einer veränderten Lehrendenrolle. Dabei wirddie Zentrierung auf Instruktion zu Gunsten des Arrangements vonLernumgebungen bzw. –situationen aufgegeben. Nicht zuletzt rundetein erweitertes Repertoire an Methoden die Ergebnisse des ProjektsLeLe 2.0 ab.

    2.1.4 Ausblick

    Bei den am Pilotprojekt LeLe 2.0 teilnehmenden Lehrenden findetein paralleler Kompetenzaufbau in den Bereichen Hochschuldidaktikund digitales Lernen statt. Dieser soll in der Folge dazu führen, dassin den Lehrveranstaltungen der FH Gesundheitsberufe OÖ GmbHein noch breiteres Repertoire an Methoden und Medien zum Einsatzkommt. Lehrende sollen vermehrt den Mut haben, digitales Lernenzu integrieren ohne den Fokus auf Lernergebnisse zu verlieren.

    2.1.5 Zu den Personen

    Autor*innen-informationMaga Roswitha Mayr ist die Leiterin Master-Lehrgang Hochschuldi-

    daktik für Gesundheitsberufe sowie die Bologna Koordinatorin ander FH Gesundheitsberufe OÖ GmbH.Dominik Wurm ist Mitglied des Lehr- und Forschungspersonals inder Radiologietechnologe an der FH Gesundheitsberufe OÖ GmbH.

    2.2 digitales lernen in der hochschule (m . lehner)

    FH-Prof. Priv.-Doz.Dr. Martin LehnerFH TechnikumWien,Höchstädtplatz 6,1200 Wien,+43/1/3334077-446,lehner ATtechnikum-wien.at

    Keywords: Hochschuldidaktik, Digitales Lernen, TiefenstrukturenFür das FHK-Symposium 2018 adaptierte Kurzfassung.2

    2 Martin Lehner, Lehren und Lernen an der Hochschule der Zukunft. In: Ullrich Ditt-ler/Christian Kreidl (Hrsg.): Hochschule der Zukunft: Beiträge zur zukunftsorien-tierten Gestaltung von Hochschulen, Wiesbaden 2018, S. 167-186.

  • 2.2 digitales lernen in der hochschule (m . lehner) 17

    2.2.1 Unterrichtliche Sicht- und Tiefenstrukturen

    Hochschulisches Lehren und Lernen ist inzwischen keine „terra inco-gnita“ mehr. In den letzten Jahrzehnten hat sich – auch aufgrund derintensiv betriebenen empirischen Lehr-/Lernforschung – ein umfang-reiches Wissen über die Merkmale erfolgreicher Lernprozesse unddie dafür hilfreichen (hochschul-)didaktischen Gestaltungsfaktoreneingestellt. Dabei ist davon auszugehen, dass es „keine grundlegen-den qualitativen Unterschiede zwischen Hochschullehre und anderenArten von Unterricht“ gibt, zudem lassen sich auch keine generellenUnterschiede zwischen den einzelnen Fächern ausmachen.[80, 5f]

    Unstrittig ist, dass Lernen ein aktiver Prozess ist, bei dem die Stu-dierenden „ihre Aufmerksamkeit auf das Lernmaterial richten, neueInformationen mit bereits vorhandenem Wissen abgleichen, aktiv Pro-bleme lösen, und somit ihre Wissensstrukturen ausbauen und erwei-tern. Eine solche Art zu lernen erfordert eine aktive Auseinanderset-zung mit den Lerninhalten. In der Lehr-Lernforschung ist man sicheinig, dass ein solches higher order thinking der zentrale Schlüssel ist,um langfristig eine gut vernetzte und transferfähige Wissensstrukturaufzubauen.“ [53, S. 86] Um diese hochschuldidaktischen Herausfor-derungen in einem Lehr-/Lernarrangement verorten zu können, er-weist sich die Unterscheidung von unterrichtlichen Sicht- und Tiefen-strukturen als hilfreich [68]:

    • Sichtstrukturen bezeichnen alle unterrichtlichen Merkmale, die(auch für Außenstehende) durch Beobachtung leicht zugänglichsind: im Wesentlichen didaktische Methoden einschließlich derjeweiligen Sozialformen.

    • Tiefenstrukturen fokussieren eher die Qualität der inhaltlichenAuseinandersetzung oder der Interaktionen: kognitive Aktivie-rung und individuelle Unterstützung der Studierenden (sieheAbbildung 2.1)3

    Die Unterscheidung von Sicht- und Tiefenstrukturen ist für das Ver-ständnis unterrichtlicher Arrangements aufschlussreich, „da die For-schung zur Effektivität von Unterricht zeigt, dass das Vorliegen be-stimmter Sichtstrukturen und die Qualität der Tiefenstrukturen weit-gehend unabhängig voneinander variieren, dass also innerhalb dergleichen Sichtstruktur Aufgabenstellungen oder die Interaktion zwi-schen Lehrenden und Lernenden völlig unterschiedlich gestaltet seinkönnen.“ Ebenfalls empirisch gut belegt ist zudem, „dass die Tiefen-strukturen des Unterrichts das Lernen (...) deutlich stärker beeinflus-sen als die Sichtstrukturen, also die Organisationsformen oder Me-thoden“.[53, S. 65, S.76]

    3 Eigene Darstellung, angelehnt an: Mareike Kunter/Ulrich Trautwein: Psychologiedes Unterrichts, Paderborn 2013, S. 77.

  • 2.2 digitales lernen in der hochschule (m . lehner) 18

    Abbildung 2.1: Sicht- und Tiefenstrukturen

    Eine der zentralen Konsequenzen aus der Differenzierung zwischenden wirksamen Tiefenstrukturen und den weniger wirksamen Ober-flächenstrukturen besteht darin, dass es die beste oder wirksamstedidaktische Methode nicht gibt. Prinzipiell lässt sich mit allen didak-tischen Methoden – vom Impulsvortrag über das Gruppenpuzzle biszum Flipped Classroom – gute Lehre gestalten, sofern es den Hoch-schullehrenden gelingt, die Studierenden zum Denken herauszufor-dern. Entscheidend ist letztlich, ob durch das jeweilige methodisch-didaktische Arrangement aktive Denkprozesse ausgelöst werden.

    2.2.2 Digitale Bildungsformen

    Grundsätzlich darf man festhalten, dass gegenwärtig bereits vieleelektronisch gestützte Techniken und Methoden (online bzw. offline)Eingang in die hochschulische Lehre gefunden haben. Beispielhaft ge-nannt seien etwa die ARS (Audience Response Systeme), die den Vor-tragenden die Möglichkeit geben, während einer Veranstaltung Fra-gen mit mehreren Antwortmöglichkeiten an die Studierenden zu stel-len, die diese dann mithilfe eines Klickers oder einer auf dem Mobil-telefon installierten App zu beantworten. Zudem gibt es die Möglich-keit, screen casts bzw. video casts zu erstellen, die Folienpräsentatio-nen, Ausschnitte aus Vorlesungen usw. in einer audio-visuellen Formdarbieten. Erklärvideos zu zentralen Themen der Lehrveranstaltungkönnen zur Vorbereitung der Studierenden beitragen, wie dies et-wa im Flipped Classroom-Ansatz geschieht. Im Rahmen von socialmedia-Anwendungen kann kollaboratives Lernen, beispielsweise un-ter Einsatz von peer grading, stattfinden. MOOCs in allen Formenund Ausprägungen, das heißt nicht nur als abgefilmte Vorlesung, son-dern auch mit interaktiven Lernaktivitäten, kollaborativen Elementenund Prüfungsteilen, runden das elektronisch geprägte Spektrum ab.

    Offensichtlich haben diese digitalen Bildungsformen und -produkteEingang in die hochschulische Lehre gefunden. Ganz unaufgeregt

  • 2.2 digitales lernen in der hochschule (m . lehner) 19

    darf man mit SCHNEIDER/MUSTAFIĆ festhalten, dass sich etwaim Vergleich der Effektivität von Präsenz- und Fernstudienangebo-ten (mit Nutzung digitaler Medien) keine nennenswerten Unterschie-de feststellen lassen: „Die in den Einzelstudien gefundenen Effektstär-ken hingen stärker von der didaktischen Qualität der Angebote ab (...)als von ihrer technologisch-medialen Qualität (...) Eine gute didakti-sche Aufbereitung der Lerninhalte ist also wichtiger als die Qualitätder medialen Umsetzung, die wiederum wichtiger ist als die Frage,ob es sich um Online- oder Präsenzlehre handelt.“ [80, S. 26] Ergän-zend darf man festhalten, dass sich auch viele didaktische Methodenin einer eLearning-Variante abbilden lassen: Aus dem Portfolio wirddas ePortfolio, die Murmelgruppe bzw. Miniaufgabe wird über einMoodle Forum abgewickelt, und die Elevator Pitch kann über einOnline-Conference-System abgehalten werden.

    Doch auch angesichts der Omnipräsenz elektronisch gestützter Tech-niken und Methoden, entsprechender Infrastruktur und Hardwaresowie einer Vielzahl an Open Educational Resources stehen Hoch-schulen vor der Aufgabe, Entscheidungen über den Einsatz von hoch-schuldidaktischen Methoden zu fällen. Dabei ist das System einesStudiengangs bzw. Lehrgangs von besonderer Relevanz, denn hierist zu prüfen, ob eine bestimmte didaktische Methode systemüber-greifend eingesetzt werden soll oder ob sie eher einen Beitrag zur me-thodischen Vielfalt im Studiengang leisten darf. Entwicklungen ausder hochschuldidaktischen Historie illustrieren dies: In den 1990erJahren begannen einzelne Hochschullehrende – insbesondere an denFachhochschulen –, die Studierenden bestimmte Arbeitsergebnissepräsentieren zu lassen. Die Resonanz war zunächst positiv, und soübernahmen viele Kollegen und Kolleginnen aus der Lehre diesenAnsatz. Doch in dem Moment, wo die Studierenden in fast jeder Ver-anstaltung präsentieren durften, änderte sich die Einschätzung – ausder sinnvollen Gelegenheit, auch studentische Leistungen vorzustel-len, wurde die dann als wenig lernförderlich und eher langweiligempfundene permanente Präsentationskultur. Gleiche Überlegungengelten beispielsweise für den Projektunterricht, so dass durchaus zufragen ist, wie sich der flächendeckende Einsatz von Klickern, ePort-folios oder Flipped Classroom-Veranstaltungen auswirken mag.

    Zudem sind Neuigkeitseffekte zu bedenken, denn eine bestimm-te didaktische Intervention mit Neuerungscharakter wirkt eben auf-grund dieses Neuigkeitseffekts positiv. Das Erklärvideo ist hier zu-nächst interessanter als der persönliche Vortrag, und der Eintrag inein Wiki reizt mehr als der in ein gewöhnliches Textverarbeitungs-dokument. Diese Überlegungen sprechen eher für einen dosiertenEinsatz hochschuldidaktischer Methoden denn für den singulärenEinsatz bestimmter Methoden, der quasi eine „hochschuldidaktischePlanwirtschaft“ begründen könnte. Obgleich sich auch einzelne Hoch-schulen finden, die sich einer methodisch-didaktischen Monokultur

  • 2.2 digitales lernen in der hochschule (m . lehner) 20

    verschrieben haben (z. B. Project Based Learning, Problem Based Lear-ning), scheint doch sowohl auf der Studienprogramm- wie der Hoch-schulebene eine didaktische Breite bzw. Vielfalt stimmig.

    2.2.3 Perspektiven für die hochschulische Lehre

    Anstelle der großen Entwürfe („Die digitalen Innovationen sind Weg-bereiter einer neuen Pädagogik. . . “ [16, S. 160]), die völlig veränderteRollen der Lehrenden postulieren („von Wissensvermittlern zu Lern-begleitern“ [16, S. 163]),4 sind die Hochschulen aufgefordert, innova-tive methodische Elemente, insbesondere aber auch solche digitalerArt, in die Lehre zu integrieren. Sowohl auf der Ebene der Lehrver-anstaltungen wie der der Studienprogramme ließe sich hier begrün-det von einem Anreicherungskonzept sprechen, das weder den Blicknach innen auf das Erfordernis einer kognitiven Aktivierung und dieMöglichkeit persönlicher Betreuung noch den Blick nach außen aufdie zunehmende Digitalisierung und Eigenheiten zukünftiger Gene-rationen von Studierenden scheut. Die methodische Diversität derLehr-/Lernsettings betrifft also sowohl (a) die einzelnen Lehrveran-staltungen als auch (b) die gesamten Studienprogramme.

    Mit Blick auf eine singuläre Lehrveranstaltung lassen sich viele me-thodische Entscheidungen treffen, u. a. auch in welchem Maß Online-Elemente in die Lehre integriert werden. Gewöhnlich unterscheidetman (1) die Anreicherung der Präsenzlehre durch Online-Elementenwie Klicker-Aufgaben, Foren, Chats, Online-Selbstlernkontrollen usw.,(2) die Integration („Verzahnung“) von Online- und Präsenzphasenüber Blended Learning-Kurse mit Folienskripten, Erklärvideos, WebBased Trainings (WBT), Online-Prüfungen, Screencasts, Wikis usw.und (3) den Ersatz von Präsenzangeboten durch reine Online-Angebote(Virtualisierung), die beispielsweise als Online-Kurse oder MOOCs(allein, tutoriell begleitet oder kooperativ) durchgeführt werden. Essei erneut darauf verwiesen, dass es die beste oder wirksamste didak-tische Methode nicht gibt und dass man Lehre auf unterschiedlicheWeise gut machen kann.

    Mit Blick auf die Studienprogramme ließe sich entscheiden, in wel-cher Weise eine Profilbildung in der hochschulischen Lehre vorge-nommen werden soll. Denkbar sind Szenarien, die ein einziges hoch-schuldidaktisches Setting für alle Lehrveranstaltungen favorisieren,beispielsweise Project Based Learning oder Flipped Classroom als me-thodische Großform für alle Lehrveranstaltungen eines Studienpro-gramms oder – auf der Ebene der methodischen Kleinformen – min-destens eine Online-Konferenz oder einen Online-Test pro Lehrver-

    4 Diese Formulierung findet sich bereits bei Michele Eschelmüller: Lerncoaching:Vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter, Mülheim 2008; ähnlich bei: MartinLehner/Klaus-Dieter Ziep: Phantastische Lernwelt – Vom Wissensvermittler zumLernhelfer, Weinheim 1991.

  • 2.3 digitales lernen in der hochschule (r . slanic) 21

    anstaltung vorsehen. Bei diesen Entscheidungen ist zu bedenken, in-wieweit eine methodische Diversität im jeweiligen Studienprogrammeinen Beitrag zum inhaltlichen Charakter einer Lehrveranstaltungund zur Motivation der Studierenden leisten kann.

    2.2.4 Zur Person

    Autor*innen-informationMartin Lehner, FH-Prof. Priv.-Doz. Dr. phil., Promotion und Habilita-

    tion in Erziehungswissenschaft, ist Vizerektor für Lehre an der Fach-hochschule Technikum Wien. Er leitet das Institut für Sozialkompe-tenz und Managementmethoden und zeichnet für den Bereich Hoch-schuldidaktik verantwortlich. Nach seiner Tätigkeit als Personalent-wickler bei IBM war er mehrere Jahre lang selbständiger Trainer undBerater, anschließend Prozess-Coach bei der TUI. Von 1998 bis 2005war er Professor an der Fachhochschule Vorarlberg, drei Jahre langauch Vizerektor. Er leitet seit vielen Jahren didaktische Seminare undWorkshops und ist Autor einschlägiger Veröffentlichungen, zuletzterschienen: Erklären und Verstehen, UTB 2018; Viel Stoff – schnellgelernt, UTB 2015; Viel Stoff – wenig Zeit, 4. Aufl. Haupt 2013.

    2.3 digitales lernen in der hochschule (r . slanic)

    MMag. Dr.Reinhard Slanic,MSc MBAPersonalentwicklung,BundesministeriumfürLandesverteidigung

    Keywords: Ermöglichungsdidaktik, Kompetenzentwicklung, Lernar-rangement, Lernort

    2.3.1 Einblick

    Im Beruf, bei den Freizeitaktivitäten, in der Familie, im Verein, in derSchule, an der Fachhochschule und an der Universität erwerben wir –‚handelnd‘ – Kompetenzen. Kompetenzentwicklung lässt sich kaumverhindern. Die zentralen Orte der Kompetenzentwicklung sind heu-te die Tätigkeitsfelder im sozialen Umfeld, in Familie, Verein, Ehren-amt usw. und insbesondere die Hochschulen und die die Arbeitsweltsowie das Netz. In vielen informellen Situationen werden Kompeten-zen gleichsam ‚nebenher‘ angeeignet.

    Berufsrelevantes Handeln kann man nur handelnd erlernen. Wasbedeutet diese Erkenntnis für den Aufbau von Kompetenzen? DieAntwort auf diese Frage finden wir, wenn wir für uns den wichtigs-ten Lernort definieren. Lernen findet dort statt, wo Herausforderun-gen zu lösen sind. Diese Erkenntnis kann folglich am Beispiel der be-ruflichen Bildung mit „Arbeiten ist Lernen und Lernen ist Arbeitenumschrieben“ werden. Lernen und Handeln fließen zusammen, derArbeits-, der Handlungsprozess selbst wird zum wichtigsten Lern-ort.[57, S. 20]

  • 2.3 digitales lernen in der hochschule (r . slanic) 22

    Unsere derzeit gängigen Bildungsmaßnahmen in Form von Unter-richt, Vorlesung oder Seminaren haben in der Regel nur ein geringesoder gar kein Potenzial, um kontinuierliches Lernen und Kompeten-zentwicklung zu fördern. Sie verhindern eher ein selbstmotiviertesund -organisiertes Lernen.

    Es ist jedoch ganz einfach. Um Kompetenzentwicklung für alle Al-tersstufen anzuregen und zu fördern, bedarf es Lernumgebungen, diemotiviertes, anwendungsnahes Lernen beim Bearbeiten von realenHerausforderungen unterstützen. Warum lassen wir unsere Studie-renden nicht ‚natürlich‘ lernen?

    2.3.2 Ermöglichungsdidaktik

    In den 1970er-Jahren stand noch eine „Belehrungsdidaktik“ mit beha-vioristischen und kognitivistischen Lehrkonzepten im Vordergrund.Heute gewinnen Lernansätze mit einer Verlagerung von Wissens- zuKompetenzzielen, vom formellen und fremdgesteuerten Lehren zuminformellen und selbstorganisierten Lernen und einer Rückbesinnungauf den Lernort Arbeitsplatz sowie das Lernen im Netz an Bedeutung.Zwischen Lehren und Lernen kann eine strenge Kausalität nicht mehraufrechterhalten werden.[81, S. 2] Es ist zunehmend ein Lernen erfor-derlich, das als selbstorganisierter, konstruktivistischer Aneignungs-prozess verstanden wird, also nicht als Aufnahme belehrender, defacto nicht möglicher Wissensvermittlung.

    Wir benötigen deshalb eine grundlegende inhaltliche Neuorientie-rung des Lehrens und Lernens. Es geht dabei im ersten Schritt vorallem um die Didaktik, das „Was“ des Lernens, das heißt die Bedarfs-erhebung, die Lernzielformulierung und die Definition der Inhalte.Nach dem Primat der Didaktik können dann daraus die geeignetenLern- und Sozialformen sowie Medien, die Methodik, das „Wie“, ab-geleitet werden. In kompetenzorientierten Lernarrangements wird ei-ne Ermöglichungsdidaktik benötigt, die zum Ziel hat, den Lernendenalles an die Hand zu geben, damit sie ihre Lernprozesse problemori-entiert und selbstorganisiert gestalten können.

    Es muss eine integrative Bildung innerhalb eines Ermöglichungs-rahmens angestrebt werden, deren Ziel nicht die Vermittlung vonWissen oder die Erzeugung von Kompetenzen, sondern die Ermög-lichung von Kompetenzentwicklung ist. Die Ermöglichungsdidaktikist die Antwort auf die wirtschafts- und bildungspolitisch propagierteForderung nach lebenslangem Lernen. Wie ein Lernarrangement aufeine/n Lernende/n wirkt, wie sie/er den Input aufnimmt und inter-pretiert, wie sie/er verarbeitet, was sie/er wahrgenommen hat, undwie viel sie/er davon später, wenn sie/er ihr/sein Wissen anwendenmöchte, überhaupt noch zur Verfügung hat, kann nicht geplant wer-den.[81, S. 2] Es wird nicht mehr der Anspruch erhoben, man könneLernprozesse direkt beeinflussen.[96, S. 206]

  • 2.3 digitales lernen in der hochschule (r . slanic) 23

    Die Lernsituation sollte deshalb nicht mehr vom Inhalt, sondernaus dem Fokus der/des Lernenden als Lernrahmen gestaltet wer-den. Daher müssen die bisherigen für alle Lerner/innen gleichenWissens- und Qualifikationsziele durch individuelle Kompetenzzie-le jeder/s einzelnen Lerners/in ersetzt werden. Bildungsstandardstaugen höchstens als Mindestanforderungen oder als Richtziele. Diegewünschte Handlung am Ende des Lernprozesses ist das Ziel, nichtauswendig aufgesagtes Wissen. Daraus leiten sich natürlich sehr un-terschiedliche Herausforderungen ab, bei deren Bearbeitung Kompe-tenzen entwickelt werden, je nachdem ob man es mit achtzehnjähri-gen Studierenden oder mit fünfzigjährigen Führungskräften zu tunhat. Das Grundprinzip ist aber immer das Gleiche.

    Die Lerner können nunmehr einen Ermöglichungsrahmen nutzen,der ihnen alles bietet, was sie zur Organisation und zur Umsetzungihrer eigenen Lernprozesse benötigen. Dort finden Sie alle Instrumen-te, die sie für

    • ihre Kompetenzmessung,

    • die individuelle Lernplanung,

    • den selbstgesteuerten Aufbau von Wissen und ihre Qualifikati-on,

    • den Austausch von Erfahrungswissen,

    • die gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten sowie

    • die Rückmeldung der Ergebnisse ihrer Lernprozesse

    benötigen. Das können übrigens auch ganz traditionelle Instrumen-te der Kompetenzmessung wie

    • einfache Tests auf Papier,

    • schriftlich ausgearbeitete Lernpläne,

    • brieflicher Austausch von Erfahrungen und

    • Darstellungen der Lernergebnisse

    sein. Auch in früheren Zeitaltern haben Menschen Kompetenzenentwickelt und sich über ihre Kompetenzentwicklung, wenn auch mitanderem Vokabular, ausgetauscht.

    Heute kann man hingegen sehr gut soziale Lernplattformen einset-zen, um die Kompetenzentwicklung im Netz zu ermöglichen. Diesekollaborative Lerninfrastruktur im Web ermöglicht formelles und in-formelles Lernen, insbesondere im Prozess der Arbeit. Den Rahmendafür bilden sogenannte Communities of Practice. Die Lerner wählendabei selbst die Ziele, Inhalte, Strategien, Methoden und Kontroll-mechanismen ihrer Lernprozesse und kommunizieren überwiegend

  • 2.3 digitales lernen in der hochschule (r . slanic) 24

    über die Soziale Lernplattform miteinander. Es entsteht damit eine in-formelle soziale Struktur, die von den Lernern geprägt wird. Häufigwerden dabei Web2.0-Kommunikationsinstrumente wie Wikis oderBlogs, also Social Software, genutzt, sodass soziale Lerngemeinschaf-ten entstehen können. Communities of Practice entwickeln sich häu-fig auch aus Learning Communities im Rahmen formeller Lernpro-zesse und werden nach Abschluss einer Qualifizierung durch dieTeilnehmer/innen selbst organisiert. Diese Übergänge können durchErfahrungsberichte, Best Practices, die gemeinsame Bearbeitung vonErfahrungsberichten, etwa aus Projekten, den Aufbau und die Weiter-entwicklung eines Wissenspools mit Erfahrungswissen, Dokumentenund Links sowie durch die Erarbeitung von Arbeitshilfen, beispiels-weise Checklisten, gefördert werden.

    Jede/r Lerner/in gestaltet in der sozialen Lernplattform ihr/seinpersönliches E-Portfolio mit einer digitalen Sammlung von Doku-menten, insbesondere persönlichen Arbeiten, und dokumentiert ih-re/seine Lernergebnisse (Produkt) und den Lernweg (Prozess) ih-rer/seiner Kompetenzentwicklung. Diese Unterlagen können Office-Dokumente, Weblogs, Wikis, Podcasts sowie Audio- oder Videomit-schnitte aus Vorträgen oder Diskussionen sein. Das Ziel ist hierbei,mit diesen Werkzeugen die Wahrscheinlichkeit für die angestrebtenLernerfolge möglichst hochzusetzen. Weiterhin umfasst das E-Portfolioeinen Bereich, in dem die/der Lerner/in ihre/seine Lernprozessereflektiert (‚mein Spiegel‘) sowie das persönliche soziale Netzwerk(Freunde/innen) pflegt. In einigen Jahren werden wir wie selbstver-ständlich unser E-Portfolio, quasi wie unsere persönliche Lerntasche,mitnehmen, wenn wir die Bildungsinstitution oder den Arbeitgeberwechseln.

    Menschen in der wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft müs-sen lernen, mit ungesicherten Situationen und Problemstellungen um-zugehen. Weiterhin ist es im digitalen Zeitalter mit den neuen Bil-dungstechnologien nicht mehr notwendig, sich an einem Ort zu ver-sammeln, um sich Wissen im Präsenzunterricht anzueignen. Die kost-baren Kontaktzeiten mit Lehrkräften und Mitlernenden können viel-mehr dazu genutzt werden, komplexere Erfahrungen mit sich selbstund im Umgang mit anderen Menschen zu sammeln, darüber zu re-flektieren und neue Handlungsweisen auszuprobieren. Also ein kla-res Bekenntnis zu Blended Learning in unserem Verständnis, wie wires auch in der betrieblichen Bildung umsetzen.

    Die Lehrenden wandeln ihre Rolle. Sie eröffnen den Lernern/innenZugänge zu Wissensquellen und zu Lernlandschaften und begleitendie Lernenden auf ihrem Weg der Suche, Erprobung und Aneignung.Die Lernplaner, also die bisherigen Schul-, Akademie- oder Personal-entwicklungsleiter und -leiterinnen, konzentrieren sich deshalb zu-künftig auf die Entwicklung, die Implementierung und laufende Op-timierung dieses Lernrahmens. Die Lernbegleiter/innen, die bisher

  • 2.3 digitales lernen in der hochschule (r . slanic) 25

    Lehrer/innen, Dozent/innen oder Trainer/innen genannt wurden,schaffen in diesem Umfeld die Bedingungen für die Selbstorganisa-tion der Lernenden und ermöglichen damit die selbstorganisiertenLernprozesse der Lerner/innen.[84, S. 90]

    Es reicht deshalb nicht aus, einfach teilnehmerorientierte, koopera-tive Lernphasen in den bisherigen Unterricht zu integrieren. Die Ler-ner/innen müssen vielmehr die Freiheit erhalten, ihre individuellenLernprozesse, ausgerichtet auf ihre Herausforderungen in Projektenoder in der Praxis, in diesem Ermöglichungsrahmen selbstorganisiertzu gestalten.

    Die Lernbegleiter/innen können dabei selbstorganisierte Lernpro-zesse unterstützen, indem sie kompetenzorientierte Lernszenarien er-möglichen, Eigenverantwortung der Lerner/innen zulassen und dassoziale Lernen mit Lernpartnern/innen und in Netzwerken fördern.Ihre Kernaufgabe besteht darin, vielfältige Erprobungs- und Hand-lungsmöglichkeiten zu schaffen, indem sie herausfordernde Praxispro-jekte initiieren oder die Zusammenführung von Lernen und Arbeitensowie vielfältige Formen des Erfahrungsaustausches und der Kom-munikation ermöglichen.

    2.3.3 Ausblick

    Dieser Ansatz der Ermöglichungsdidaktik wird teilweise infrage ge-stellt, weil die Menschen mit dieser Konzeption und der damit ver-bundenen Selbstorganisation überfordert wären. Kinder und Jugend-liche bis zum Senior sind sehr wohl in der Lage, ihre Lernprozesse in-dividuell und selbstorganisiert zu gestalten, sofern sie in ein entspre-chendes Lernnetzwerk und eine Lerninfrastruktur eingebettet sind.

    Jugendliche und Erwachsene müssen jeden Tag ihre Herausforde-rungen im Alltag selbstorganisiert lösen, warum dann nicht auchihre Herausforderungen im Lernbereich? Verantwortliche Bildungs-theorie und Didaktik dienen somit nicht allein den Anforderungenvon Bildung, Arbeitsmarkt und Gesellschaft, sondern zugleich und inerster Linie der Förderung und Begleitung der Individualisierung.[1,S. 65]

    2.3.4 Zur Person

    Autor*innen-informationMMag. Dr. Reinhard Slanic, MSc MBA ist Psychologe, Pädagoge, Kom-

    munikationswissenschaftler, Trainer und Mediator. Er arbeitet in derPersonalentwicklung im Ministerium für Landesverteidigung. In sei-nen Publikationen beschäftigt er sich mit Personalentwicklung. Siehebeispielsweise:Slanic, R. [Hrsg.] et al (2015). Kompetenzen und Tugenden. Herbst-symposium 2014. Militärwissenschaftliche Schriftenreihe Armis & Lit-teris Bd 32, Heeresdruckzentrum. Wien. S. 239-250.

  • 2.4 digitalisierungsstrategien hochschule 2 .0 (h . nacken) 26

    Slanic (2016). Kompetenzdiagnostik und -entwicklung: Das Tool KODE.in: BMLVS (2016). Entscheiden können, wollen, dürfen, müssen ...Führungsqualität vermehren, vertiefen, verbessern ... Herbstsympo-sium 2015. Militärwissenschaftliche Schriftenreihe Armis & LitterisBd 34, BMLVS, Heeresdruckzentrum. Wien. S. 138-149.

    2.4 digitalisierungsstrategien für die lehre 2 .0 - neueherausforderungen für hochschulen (h . nacken)

    Univ.-Prof. Dr.-Ing.Heribert NackenRWTH AachenUniversity, Rekto-ratsbeauftragterBlended Learning &ExploratoryTeaching Space

    In der Hochschulwelt schwanken die Auffassungen zu den notwen-digen Änderungsprozessen zwischen disruptiven Innovationen undkleinschrittigen Evolutionen.

    Unabhängig davon, wo sich die jeweilige Hochschule auf dieserSkala einreiht, besteht für sie die Notwendigkeit in den nächsten 2-3Jahren eine Digitalisierungsstrategie für die Lehre zu entwickeln underfolgreich zu implementieren. Diese wird unter anderem benötigt,um auch zukünftig der Generation der Digital Natives ein qualitativhochwerte Lehre bieten zu können und in der Folgezeit hochwertigeForschungsleistungen erbringen zu können.

    Auf diesem Weg gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten und Optio-nen. An der RWTH Aachen ist es ein Kernziel festzustellen, welcheFormate der digitalen Wissensvermittlung tatsächlich die Qualität derLehre verbessern und welche Formate diesen Beweis schuldig bleibenund somit in erster Instanz nur kostenträchtig sind. Dabei zeigt sich,dass sich die Formate nicht generalisieren lassen; Formate, die z.B.für die Ingenieure geeignet sind, erleiden Schiffbruch bei den Wirt-schaftswissenschaftler. Notwendig ist es somit den fachspezifischenNutzen herauszufinden.

    Auf diesem Weg spielen die Dozierenden eine ganz entscheidendeRolle und der Vortrag wird anhand von Beispielen (an der RWTH)aufzeigen, welche Herausforderungen und Chancen auf die Dozie-renden im Kontext der Digitalisierungsstrategie zugekommen wer-den. Entscheidend auf dem Weg jeder Digitalisierungsstrategie ist esGestaltungsfreiheit zu bewahren.

  • Teil III

    D I G I TA L I S I E R U N G I N D E R O R G A N I S AT I O N S -U N D P E R S O N A L E N T W I C K L U N G - A R B E I T E N

  • 3D I G I TA L E S A R B E I T E N

    3.1 hybride professionals in organisationen – eine kurz-darstellung (j. meissner)

    Prof. Dr. JensMeissnerHochschule Luzern,Professor fürOrganisationaleResilienz, Ko-LeiterZukunftslaborCreaLab

    Bezüglich neuer Arbeitsformen zeigt die aktuelle Literatur zeigt eineimmense Vielzahl an Unterscheidungen Konzepten. In diesem Bei-trag geht es um Hybride Professionals. Sie sind eine spezielle Formder Portfolioarbeiter (Mallon, 1998) [54] und sind hochqualifizierteGrenzüberwinder (u.a. Kaiser, Süß & Winter, 2013) [46], die Nutzennicht aus ihren einzelnen Aktivitätsfeldern ziehen, sondern aus demAkt der Grenzüberwindung selbst. Daher sind Grenzen eine notwen-dige Vorbedingung für diesen Arbeitstyp und sie folgen aktiv einem„Grenzreichen“ Karrierepfad (Inkson, Gunz, Ganesh & Roper, 2012)[43], um Wissenstransfers auszulösen, die zu innovativen neuartigenund stark vernetzten Problemlösungen führen (Meissner, Wolf & Har-boe, 2015) [62]. Die aktuelle Literatur leistet keine robuste Aussageüber das Selbstkonzept dieser Personen, ebenso wenig wie über dieBeziehungs- und Interaktionsmuster, die in spezifischen Lebens- undArbeitssituationen zur Geltung kommen.1

    3.1.1 Das Selbstverständnis von Hybriden Professionals

    3.1.1.1 Methode

    Bevor es zu den Ergebnissen geht, eine kurze Ausführung zur Me-thode der Datenerhebung. Diese Darstellung kann aufgrund des Um-fangs der Empirie nicht vollständig sein, legt aber im Sinne besterQualitativer Forschung Wert auf Relevanz und die Einhaltung vonGütekriterien sozialkonstruktivistischer Forschung (Cooper 2005, Dach-ler & Hosking 1995, Gergen 1985) [12, 14, 26]. Den Ausführungen liegteine qualitative Untersuchung zu Grunde. In zwei Fokusgruppenbefragten wir 18 hochqualifizierte Personen mit mindestens einemteritären Bildungsabschluss und mindestens zwei unterschiedlichen,aber gleichzeitigen und inhaltlich zusammenhängenden Arbeitsenga-gements. Die Fokusgruppenworkshops dauerten je 2 Stunden, wur-den von zwei Forschern durchgeführt und anschließend wortwört-lich transkribiert. Die Transkripte wurden dann von je drei Forschen-den nach hervorstehenden Themen analysiert. Die zentralen Themenwurden in einer Themenliste aufbereitet und mit den jeweils markan-testen Zitaten angereichert. Die Themen und ihre Zusammenhänge

    1 Der vorliegende Beitrag ist ein angepasster Auszug aus Meissner, Jens O. (2016) [60].

    28

  • 3.1 hybride professionals in organisationen (j. meissner) 29

    waren ebenso Gegenstand der Analyse und führten zu einer The-menlandschaft, in der dieselben abgebildet und als „semantisches“Netz dargestellt sind. Den Fokusgruppen wurden im Rahmen einesoffenen Dialogs problemzentrierte Fragen (Witzel 2000) [101] gemäßeines Schemas (Helfferich 2011) [39] zum Thema hybrides und mobi-les Arbeiten gestellt. Das gesamte Forschungsvorgehen entsprach denGütekriterien der Qualitativen Sozialforschung, wie bei Flick (2010)[23] und Mayring (2007, S. 117ff.) [56] beschrieben. Der Forschungs-prozess folgt einem mehrstufigen Vorgehen (siehe Meissner 2009, Meiss-ner & Tuckermann 2007, Meissner 2007) [58, 59, 61] anhand verschie-dener Forschungsstudien. Besonderes Interesse galt dem Entdeckenneuartiger Aspekte, die durch die bestehende Literatur noch nicht ab-gedeckt wurden. Daher stand insbesondere Mayrings Qualitätskrite-rium der „Nähe zum Gegenstand“ im Zentrum der Aufmerksamkeit.Im Folgenden wird die resultierende Themenlandschaft beschrieben,um die Lebens- und Arbeitsrealität von Hybriden Professionals plas-tischer darzustellen.

    3.1.1.2 Themenlandschaft

    In der Gesamtschau lassen sich die Themen in einer überblicksartigenThemenlandschaft miteinander vernetzen (siehe Abbildung 3.1).

    Abbildung 3.1: Gesamtthemenlandschaft Hybride Professionals

    Zunächst fällt auf, dass die meisten Interviewten bestätigen, sie sei-en in die hybride Form mehr oder weniger geplant hineingerutscht.Die Wahl eines solchen Lebensentwurfes scheint zwar bewusst ge-troffen zu werden, nicht so aber die ersten Schritte in eine hybrideArbeitssituation. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass dieses Hinein-schlittern nicht fremddominiert ist (z.B. durch eine Kündigung oderden Auslauf eines Vertrags), sondern eher eine Folge der vielfältigenberuflichen Optionen, welche man als Hochqualifizierter verfolgenkann. Auch durch die sehr hohe Flexibilität und leichte Zugänglich-

  • 3.1 hybride professionals in organisationen (j. meissner) 30

    keit zu den Arbitrage- und Wertschöpfungsmöglichkeiten des Inter-nets gewinnen Hybride Professionals an Rückenwind.

    Zudem widerstrebt es den Interviewten, organisiert zu werden. Die ge-wählte Selbstbestimmung soll nicht nur die Möglichkeit ausdrücken,proaktiv selber entscheiden und gestalten zu können. Sie ist viel-mehr auch ein Kennzeichen des Widerstands gegen zweifelhafte Ma-nagementanweisungen und plumpe Organisationsversuche von Vor-gesetzten und bürokratischen Systemen. Zusammen mit dem voran-gehenden Thema fällt auf, dass sich die Hybriden Professionals vonder Optionenvielfalt verleiten lassen, dabei aber recht genau wissen,was sie nicht wollen.

    In jedem Fall sind die Arbeitsstile der Hybriden Professionals nichtmöglich ohne ein aktives Medienmanagement. Dies umfasst eine geziel-te Erreichbarkeit und Abgrenzung über elektronische Kommunikati-onsmedien, aber auch den außerordentlich bewussten Umgang vonBotschaften. Die Interviewten wissen genau, dass Medien zur Ablen-kung und Verzettelung beitragen und arbeiten kontinuierlich daran,sich Plätze der Konzentration zu erhalten. Medien ermöglichen dabeidie Selbstorganisation, die in Kauf genommen wird, um nicht fremd-organisiert zu werden.

    Ein bewusster Umgang mit Medien und Erreichbarkeit führt dannauch zur Home Office Readiness, d.h. der Frage, ob man im Heim-büro – oder auch mobil arbeitend – ausgerüstet und entsprechendeingestellt ist. Das Arbeiten nicht vom traditionellen Arbeitsplatz auswird als Frage der Einrichtung (geeignetes Arrangement Zuhause)und der individuellen Grundhaltung (Möchte ich überhaupt so arbei-ten?) verstanden.

    Dabei sticht den Interviewten immer wieder der Konflikt mit demParadox Zeitbewirtschaftung ins Auge. Eine solche ist den meisten Be-fragten zwar vorgeschrieben. Aber aufgrund des hohen Qualifikati-onsniveaus und der starken Einbindung in Projektarbeiten, dient dieZeiterfassung häufig eher dem Projektcontrolling und nicht der Kon-trolle der Arbeitszeit als solcher. Für viele Mitarbeitenden hingegenstellt die Zeiterfassung klar eine Dokumentation der geleisteten Ar-beit dar. Innerhalb des Projektteams kommt es daher zum Kommu-nikationsparadox, da Arbeitszeit einerseits inputorientiert und ande-rerseits outputorientiert verstanden wird. Auch kann ein sehr wichti-ger Arbeitsschritt eines Projekts bei Nutzung aller Synergien in kur-zer Zeit erledigt sein, auch wenn bei anderer Herangehensweise einVielfaches an Arbeit angefallen wäre. Eine dringende Notwendigkeitfür Hybride Professionals ist daher die Entkopplung von rechtlich re-levanter formaler Arbeitszeiterfassung und wirtschaftlich wichtigemProjektcontrolling.

    Die Befragten sehen dabei Teilzeit (immer noch) als Abweichungdes Regelfalls verstanden. Hybride Professionals sind produktiv, d.h.sie arbeiten. Eine 60%ige Tätigkeit gibt es eigentlich nicht. Da es keine

  • 3.1 hybride professionals in organisationen (j. meissner) 31

    klare Abgrenzung der Arbeit gibt, kann auch keine klare Pensums-grenze gezogen werden. Wohl gibt es Tendenzen (Montag bis Mitt-woch arbeite ich für x, Donnerstag für y), aber eine Teilzeitstrategieim Sinne von „nur“ 50% Arbeiten verfolgte keiner der Befragten.

    Die Aspekte des Reinrutschens, der Home Office Readiness undder Zeitbewirtschaftung zeigen auf, dass im Grunde für quasi alle Be-teiligten eine unklares Verständnis des Arbeitsstils vorliegt. Man schaffteinfach so und es gefällt – oder führt auch zu Problemen, die be-wältigt werden wollen. Das allgemein unklare Verständnis des Stilsführt auch dazu, dass eine außerordentliche Vielfalt abgedeckt wer-den kann, aber auch dazu, dass es für Organisationen fast unmöglichist, diese Unterschiedlichkeit in einem organisatorisch geregelten Ar-beitsverhältnis unterzubringen.

    Auf der anderen Seite ist die Frage wichtig: „Wer mit wem und wannim Büro?“ Da Hybride Professionals viel an anderen Orten arbeiten,wird die Frage wichtiger, warum man überhaupt ins Büro gehen soll-te. Die Befragten beantworteten dies nicht nur damit, der Isolationzuhause entgehen zu können. Vielmehr war eine wesentliche Triebfe-der, im Büro (oder am Arbeitsplatz) die Leute zu treffen, mit denenman gerne arbeitet. Zudem soll der Arbeitsplatz grundsätzlich arbeit-sorientiert optimal ausgestattet sein.

    Hier wird schon ersichtlich, dass in diesem Kontext Räume für Wich-tiges bewirtschaftet werden. Das bedeutet, dass sich die Befragten auf-grund ihrer Home Office Erfahrung sehr klar darüber sind, dassRaum Geld kostet. Und dieser Raum will gut für das Wichtige ge-nutzt sein. Aus dieser Motivation kommt auch eine allgemeine Ab-neigung gegen ungenutzte Räume, sobald diese Kosten verursachen,die von einem geleiteten Projekt getragen werden müssen.

    Generell wird in der Raumnutzung auch die außerordentlich hoheAufmerksamkeit gegenüber einer optimalen Aufgaben-Kontext-Passungdeutlich. Hybride Professionals suchen sich aktiv die Kontexte, diezur Aufgabe passen. So kommt es regelmäßig vor, dass ein Berichtam Wochenende in der Berghütte oder während der Zugfahrt insTessin entsteht. Oder dass eine Konzentrationsphase bewusst einenArbeits-Freizeit-Rhythmus umfasst (morgens arbeiten, nachmittagsSkifahren, abends arbeiten), um durch die Dialektik „den Kopf wie-der frei“ zu bekommen.

    Dabei zählt die echte Zusammenarbeit (nicht nur das Aufteilen derArbeit) als wichtiger Imperativ. Der Kollaborative Geist ist als Schlüsselder erfolgreichen, aber eben auch lustvollen Zusammenarbeit zu se-hen. Die Kollegen müssen eben potenziell auch Freunde sein können,mit denen es auf der Beziehungsebene gut funktioniert. Erst dannlässt sich im Team so arbeiten wie gewünscht. Dabei fällt auf, dassdie Befragten Hybriden Professionals tendenziell als Freigeister undMitglieder der „kreativen Klasse“ einzustufen sind. Als solche brau-chen sie Kreativräume, die sie mit anderen teilen können. Häufig ver-

  • 3.1 hybride professionals in organisationen (j. meissner) 32

    bringen sie längere Zeit mit Socializing (augenscheinlich untätig), umabends oder nachts einen wichtigen Schritt zur Entwicklung einesProjektes oder einer Idee zu machen.

    Die bisher genannten Themen verdeutlichen, dass im organisatori-schen Kontext gegenüber hybrid Arbeitenden eher eine unklare Füh-rung und Strategie zu finden ist. Diese Mitarbeitergruppe sprengt dasorganisatorische Arrangement, welches sie zur Produktivität benötigt.Die teilweise unüblichen Herangehensweisen durch die interdiszipli-näre Arbeitshaltung erfordern auch ebenso unübliche Maßnahmen,was eine Dauerbaustelle in den beteiligten Organisationen darstellt.

    Über das gesamte Sample hinweg fällt auf, dass Hybride Professio-nals

    • eine Art von lustvoller Produktivität suchen, die inspirierendaber anstrengend zugleich ist,

    • nicht-lineare Lebensläufe als positiv wahrnehmen, nicht als „Karriere-Knick“

    • eine hochprofessionelle Form von Generalismus verfolgen

    • ihre Position mit ihrer persönlichen Rollenfindung und Visionverschränken

    • auf hochaktuellen Themen arbeiten und nicht an Lösungen vongestern interessiert sind,

    • gelungene Projekte stets als Zwischenschritt für eine größereEntwicklung verstehen, und

    • grundsätzlich ihren Wertbeitrag formell oder informell in Rech-nung stellen wollen.

    Die vorgestellte Landschaft erlaubt es nun, nun die Grundlage fürdie weitere Diskussion dar.

    3.1.2 Bedeutung von Hybriden Professionals für Organisationen

    Welche Unterscheidungsmuster bringt der Einsatz von Hybriden Pro-fessionals in Organisationen mit sich? Hier fallen folgende Aspekteins Auge:

    Der Einsatz Hybrider Professionals wirkt als Maßnahme zur Kom-plexitätssteigerung. Viele Dinge werden komplizierter. Die im Großenund Ganzen doch noch eher kleine Mitarbeitergruppe will gesondertbehandelt werden. Sie haben eigene Vorstellungen über Beziehungs-gefüge, infrastrukturelle und vertragliche Einbettung sowie über or-ganisatorische Führungsmechanismen. Diese Aspekte müssen bear-beitet werden und stellen die Organisation erst einmal vor eine größe-re Herausforderung. Nur mit Einrichtung eines Cafeteria-Prinzips bei

  • 3.1 hybride professionals in organisationen (j. meissner) 33

    der Entlohnung wird es nicht getan sein. Zudem werden die anderen,„traditioneller“ arbeitenden Mitarbeiter die Sonderbehandlung beob-achten und ihre eigene Situation mit dieser Abweichung kontrastie-ren – eine Situation, auf die das Personalmanagement eine Antwortparat halten oder über die sie zumindest informieren muss. Das Ein-gehen auf Hybride Professionals steigert also die Komplexität.

    Jedoch kann gemäß Ashby (1956) [3] nur Komplexität zur Beob-achtung und Bearbeitung von Komplexität eingesetzt werden. Dasbedeutet, in dynamischeren Märkten mit größerer Unübersichtlich-keit kommen Organisationen nicht umhin, ihre Komplexitätsverarbei-tungsfähigkeit zu steigern. Der vornehmliche Modus hier besteht inder Regel im Einsatz neuer und stärker vernetzter Informationstech-nologien, die aber menschliche Verarbeitungsfähigkeit im Kern ledig-lich komplementieren können. Die Zusammenarbeit mit HybridenProfessionals bedeutet zwar die Steigerung von Komplexität, diesstellt aber auch einen Aufbau der Verarbeitungskompetenz für die-selbe dar.

    Damit kann die Organisation besser mit Ambivalenz und Unsicher-heit umzugehen lernen. Es folgt eine Steigerung der Ambiguitätsto-leranz. Kurz: Beschäftigt ein Unternehmen Hybride Professionals, sowird deren „unübliche“ Arbeitsweise mit der Zeit eine übliche undbekannte Arbeitsweise. Aus „Zauberei“ wird System. Aus umständ-licher Arbeitsweise eventuell eine langfristig bessere Lösung. Dieskann man beispielsweise im Bereich von Designern finden, deren„Design Thinking“ der Lösung eines Problems am Anfang eher imWege steht, da mehr Zeit für die iterative Entwicklung der Lösungbenötigt wird. Am Ende ist eine solche Lösung aber oft sinnvollerund nachhaltiger.

    Auch kann man beim Einsatz von Hybriden Professionals seitensder Organisation eine um ein Vielfaches stärkere Vereinnahmung derpersönlichen Ziele und Interessen der Mitarbeiter feststellen. Die Fle-xibilität, mit den persönlichen Bedürfnislagen der Mitarbeitenden um-zugehen, bringt am Ende eben auch mit sich, dass diese sich voll ein-setzen. In der Gesamtaufstellung der Hybriden Professionals bedeu-tet das neben der Gefahr der Arbeitshäufung eine viel intensivere Bin-dung für den Zeitraum eines Projekts. Dies ist per se nicht schlecht,ruft aber nach systematischer Begleitung, da die Gefahr der „interes-sierten Selbstgefährdung“ (Krause, Dorsemagen & Peters 2010) [51]lauert, die auch einem Hybriden Professional längerfristig schadenkann.

    Zuletzt kann man in den Beziehungen zwischen Unternehmen undHybriden Professionals verkürzte Bindungsryhthmen entdecken. Ge-wiss ist der Bedarf nach einer flexiblen Mitarbeiterschaft seitens vie-ler Organisationen vorhanden. Die radikale Lösung wäre die Erhö-hung des Anteils rein externer Mitarbeitender. Diese Peripheriebil-dung wird seit Jahrzehnten schon vorgenommen, zeigt aber auch de-

  • 3.2 digitalisierung in der personalentwicklung (mössenlechner , auer) 34

    ren Grenzen auf. Wenn man diese Externalisierung der Mitarbeiter-schaft nicht mehr vorantreiben kann, so besteht eine andere Möglich-keit in der „Projektisierung“ des Geschäfts und der beteiligten Mitar-beitenden. Hybride Professionals tragen hierzu bei und ermöglicheneine weitere Verflüssigung von Wissen und Mitgliedschaft.

    Wir dürfen bezüglich der Rolle von Hybriden Professionals für Or-ganisationen schliessen, dass sie der Organisation einen mindestenszweifachen Nutzen stiften: Erstens verwendet sie ihr Talent zur pio-nierhaften Bearbeitung herausfordernder und neuartiger Aufgaben-stellungen, andererseits stellt das Arbeiten mit Hybriden Professio-nals auf der Metaebene eine Beobachtung zweiter Ordnung der Or-ganisation dar, welche ihr ermöglicht, relevante Wandelaspekte über-haupt erst einmal zu erkennen und entsprechende Impulse und In-itiativen zu setzen.

    3.1.3 Zur Person

    Autor*innen-informationProf. Dr. Jens Meissner ist Professor für Organisationale Resilienz an

    der Hochscule Luzern und Ko-Leiter des Zukunftslabors CreaLab.

    3.2 digitalisierung in der personalentwicklung (c . mös-senlechner , b . auer)

    FH-Prof. Dr.ClaudiaMössenlechnerMag. Brigitte AuerManagement CenterInnsbruck,Universitätsstraße15, 6020 Innsbruck,clau-dia.moessenlechnerAT mci.edu;brigitte.auer ATmci.edu

    Keywords: Digitalisierung, Personalentwicklung, digitale Kompeten-zen, digitale Lernformate

    3.2.1 Personalentwicklung und Digitalisierung

    Der rapide technologische Wandel und die Arbeit im digitalen Raumstellen eine disruptive Veränderung dar, in der sich Arbeitsabläufeund -prozesse aber auch Kommunikation und Kundenbeziehungensowie Business Modelle nachhaltig verändern. Die gewinnbringende