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Maß und Integral I und II SS 2004 und WS 2004/05 Vorlesung von Priv.-Doz. Dr. J. Dippon unter Verwendung einer Vorlesung von Prof. Dr. H. Walk im SS 2003

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Maß und Integral I und II

SS 2004 und WS 2004/05

Vorlesung von Priv.-Doz. Dr. J. Dippon

unter Verwendung einer Vorlesung von Prof. Dr. H. Walk im SS 2003

Inhaltsverzeichnis

Bezeichnungen 3

1 Grundbegriffe der Maßtheorie 4

1.1 Mengensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

1.2 Inhalte und Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.3 Fortsetzung von Maßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Grundbegriffe der Integrationstheorie 12

2.1 Messbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2.2 Integration messbarer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

3 Weitere Eigenschaften von Maß und Integral 19

3.1 Konvergenz von Folgen messbarer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 19

3.1.1 Konvergenz fast uberall und Konvergenz dem Maße nach . . . . . . 19

3.1.2 Konvergenzsatze fur Folgen integrierbarer Funktionen . . . . . . . . 20

3.1.3 Die Raume Lp, Konvergenz im p-ten Mittel . . . . . . . . . . . . . 21

3.1.4 Der Raum L∞, gleichmaßige Konvergenz fast uberall . . . . . . . . 24

3.2 Zerlegungssatze, Satz von Radon-Nikodym,

totalstetige Verteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

3.2.1 Signierte Maße, Jordan-Hahn-Zerlegung . . . . . . . . . . . . . . . 26

3.2.2 Satz von Radon-Nikodym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

3.3 Maß und Integral in Produktraumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

3.4 Erganzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

3.4.1 Das Riemann-Integral und das Lebesgue-Integral . . . . . . . . . . 31

3.4.2 Hauptsatz der Differential- und Integralrechung . . . . . . . . . . . 32

3.4.3 Lebesgue-Zerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

4 Verteilungskonvergenz 35

4.1 Verteilungskonvergenz in polnischen Raumen . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

4.2 Verteilungskonvergenz in Rk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

4.3 Verteilungskonvergenz in C[0, 1] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

1

4.4 Satz von Donsker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Literatur 47

2

Bezeichnungen

Zugrundegelegt wird i.a. eine nichtleere Menge Ω

A ⊂ Ω . . . A (echte oder unechte) Teilmenge von Ω

Ac . . . Komplementarmenge von A bez. Ω . . . Ω\AA, B ⊂ Ω: A ∪ B; A ∩ B oder AB; A\B := ω ∈ Ω | ω ∈ A, ω 6∈ B =: A − B

Summe A + B bedeutet A ∪ B, wobei A, B disjunkt

An ⊂ Ω (n = 1, 2, . . .): ∪n An; ∩n An∑n An bedeutet ∪n An, wobei die An paarweise disjunkt sind

An ↑ A bedeutet A1 ⊂ A2 ⊂ . . . , A = ∪n An

An ↓ A bedeutet A1 ⊃ A2 ⊃ . . . , A = ∩n An

P(Ω) . . . Potenzmenge (System aller Teilmengen von Ω )

Rn . . . n-dim. (euklidischer) Raum

R = R1 (reelle Achse); R+ = r ∈ R | r ≥ 0B = B1 . . . σ-Algebra der Borelschen Mengen in R

R = R ∪ +∞∪ −∞; R+ = r ∈ R | 0 ≤ r ≤ ∞B = B, B ∪ +∞, B ∪ −∞, B ∪ +∞ ∪ −∞ | B ∈ BB1 . . . σ-Algebra der Lebesgue-messbaren Mengen in Rc erweitert-reell . . . c ∈ Rf+ = max(f, 0), f− = −min(f, 0) fur erweitert-reellwertige Funktion f

“monoton wachsend” ist im weiteren Sinne, also im Sinne von “monoton nichtfallend” zu

verstehen

Verwendet werden die Rechenregeln

a ±∞ = ±∞ + a = ±∞ (a ∈ R); 0 · ∞ = ∞ · 0 = 0

∞ + ∞ = ∞,−∞−∞ = −∞; a · ∞ = ∞ · a =

∞ fur 0 < a ≤ ∞

−∞ fur −∞ ≤ a < 0

Fur ∅ ⊂ R soll gelten inf∅ = ∞, sup∅ = −∞

3

Kapitel 1

Grundbegriffe der Maßtheorie

1.1 Mengensysteme

Definition 1.1 Ein System R von Teilmengen von Ω heißt Ring [Algebra], wenn

1) ∅ ∈ R

2) A, B ∈ R =⇒ A − B ∈ R [2′)A ∈ R ⇒ Ac ∈ R]

3) A, B ∈ R =⇒ A ∪ B ∈ R.

Beispiel. In Rn wird eine endliche Summe von (halboffenen) Intervallen (a, b] := x =

(x1, . . . , xn) ∈ Rn | ai < xi ≤ bi (i = 1, . . . , n) als eine elementare Figur bezeichnet. Das

System En der elementaren Figuren in Rn ist ein Ring.

Lemma 1.1 a) R Ring. A1, . . . , Am ∈ R =⇒

∪m

n=1 An ∈ R∩m

n=1 An ∈ R

b) R Algebra ⇐⇒ R Ring, Ω ∈ R.

Eine Algebra enthalt ∅ und Ω und ist abgeschlossen gegenuber endlich vielen ublichen

Mengenoperationen.

Definition 1.2 Ein System A von Teilmengen von Ω heißt σ-Ring [σ-Algebra], wenn

1) ∅ ∈ A

2) A, B ∈ A =⇒ A − B ∈ A [2′) A ∈ A =⇒ Ac ∈ A]

3) An ∈ A (n = 1, 2, . . .) =⇒ ∪∞n=1 An ∈ A.

Triviale Beispiele fur eine σ-Algebra: A = ∅, Ω, A = P(Ω).

4

Lemma 1.2 a) A σ-Ring. An ∈ A (n = 1, 2, . . .) =⇒ ∩∞n=1 An ∈ A

b) A σ-Algebra ⇐⇒ A σ-Ring, Ω ∈ A.

Eine σ-Algebra 3 ∅, Ω und ist abgeschlossen gegenuber abzahlbar vielen ublichen Men-

genoperationen.

σ-Algebra =⇒

σ-Ring =⇒ Ring

Algebra =⇒ Ring

Definition 1.3 Es sei A eine σ-Algebra in Ω. Das Paar (Ω,A) heißt Messraum (measu-

rable space). Die Mengen ∈ A heißen A-messbare Mengen.

Lemma 1.3

A σ-Algebra ⇐⇒

∅ ∈ AA ∈ A =⇒ Ac ∈ AA, B ∈ A =⇒ A ∪ B ∈ AAn ∈ A (n = 1, 2, . . .), paarweise disjunkt =⇒∑

n An ∈ A.

Definition 1.4 Ein System D von Teilmengen von Ω heißt Dynkin-System, wenn

1) Ω ∈ D

2) A, B ∈ D, A ⊂ B =⇒ B\A ∈ D

3) An ∈ D (n = 1, 2, . . .), paarweise disjunkt =⇒∑n An ∈ D.

Lemma 1.4 a) Ein Dynkin-System 3 ∅ und mit A auch Ac.

b) A σ-Algebra ⇐⇒ A Dynkin-System, ∩-stabil (d.h. A, B ∈ A =⇒ A ∩ B ∈ A).

Lemma 1.5 a) Rα Ringe in Ω (α ∈ Indexbereich I) =⇒ ∩α∈I Rα Ring in Ω.

b) C Mengensystem in Ω =⇒ ∃ kleinster Ring R ⊃ C.

Entsprechendes gilt fur Algebren, σ-Ringe, σ-Algebren, Dynkin-Systeme.

Definition 1.5 C sei ein Mengensystem in Ω. Der kleinste Ring R ⊃ C heißt der von Cerzeugte Ring; C heißt ein Erzeugersystem des Ringes R. — Entsprechend bei Algebren,

σ-Ringen, σ-Algebren, Dynkin-Systemen.

Bezeichnungen. F(C) [oder FΩ (C)] . . . die von C erzeugte σ-Algebra;

D(C) [oder DΩ (C)] . . . das von C erzeugte Dynkin-System.

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Definition 1.6 On := System der offenen Mengen in Rn. Bn := F(On).

Bn heißt die σ-Algebra der Borelschen Mengen in Rn.

Bn enthalt alle abgeschlossenen Mengen und alle hochstens abzahlbaren Mengen in Rn.

Bn 6= P(Rn).

Satz 1.1 Das System In der Intervalle (a, b] in Rn (oder auch der offenen Intervalle, der

abgeschlossenen Intervalle, der Intervalle (a,∞), der Intervalle [a,∞)) ist ein Erzeuger-

system von Bn.

Satz 1.2 A, C seien Mengensysteme in Ω.

a) A ⊃ CA σ-Algebra

=⇒ A ⊃ F(C).

b) A ⊃ CA Dynkin-System

=⇒ A ⊃ D(C).

c) C ∩-stabil =⇒ D(C) = F(C).

d) A ⊃ C, C ∩-stabil

A Dynkin-System

=⇒ A ⊃ D(C) = F(C).

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1.2 Inhalte und Maße

Definition 2.1 C sei ein Mengensystem in Ω. Eine Mengenfunktion ϕ : C → R heißt

a) positiv, wenn ϕ(A) ≥ 0 ∀ A ∈ C;

b) monoton, wenn A, B ∈ C, A ⊂ B =⇒ ϕ(A) ≤ ϕ(B);

c) endlich, wenn |ϕ(A)| < ∞ ∀ A ∈ C;

d) (endlich-)additiv, wenn An ∈ C (n = 1, . . . , m) paarweise disjunkt,∑m

n=1 An ∈ C=⇒ ϕ(

∑mn=1 An) =

∑mn=1 ϕ(An);

e) σ-additiv, wenn An ∈ C (n = 1, 2, . . .) paarweise disjunkt,∑∞

n=1 An ∈ C=⇒ ϕ(

∑∞n=1 An) =

∑∞n=1 ϕ(An).

Definition 2.2 R sei ein Ring in Ω. Eine Mengenfunktion µ : R → R heißt

a) ein Inhalt, wenn µ(∅) = 0, µ positiv, µ additiv ist;

b) ein Maß, wenn µ(∅) = 0, µ positiv, µ σ-additiv ist.

In der Literatur wird als Definitionsbereich von µ haufig ein mehr oder weniger umfas-

sendes Mengensystem verwendet.

Jedes Maß ist ein Inhalt.

Definition 2.3 Ist (Ω,A) ein Messraum und µ ein Maß auf A, dann heißt (Ω,A, µ) ein

Maßraum (measure space). Ist hierbei µ(Ω) = 1, so heißt (Ω,A, µ) ein Wahrscheinlich-

keitsraum (W-Raum) und µ einWahrscheinlichkeitsmaß (W-Maß).

Lemma 2.1 R sei ein Ring in Ω. ϕ : R → R sei additiv.

a) ϕ nimmt hochstens einen der Werte ±∞ an.

b) Sei ϕ 6≡ ±∞. Dann ist ϕ(∅) = 0.

c) Sei ϕ 6≡ −∞. Dann gilt

ϕ positiv ⇐⇒ ϕ monoton.

Satz 2.1 R sei ein Ring in Ω. ϕ : R → R sei additiv.

a) ϕ σ-additiv ⇐⇒ ϕ stetig von unten, d.h. [An ∈ R, An ↑ A ∈ R =⇒ ϕ(An) → ϕ(A)]

b) ϕ stetig von unten

=⇒ ϕ stetig von oben, d.h. [An ∈ R, An ↓ A ∈ R, ϕ(An) endlich =⇒ ϕ(An) →ϕ(A)] =⇒ ϕ ∅-stetig, d.h. [An ∈ R, An ↓ ∅, ϕ(An) endlich =⇒ ϕ(An) → 0].

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c) ϕ endlich und ∅-stetig =⇒ ϕ σ-additiv.

Bei einer additiven endlichen Mengenfunktion ϕ sind also σ-Additivitat, Stetigkeit von

unten, Stetigkeit von oben und ∅-Stetigkeit aquivalent.

Lemma 2.2 R sei ein Ring in Ω, µ ein Inhalt auf R.

a) µ ist monoton,

b) µ ist subadditiv, d.h. A1 . . . , Am ∈ R =⇒ µ(∪mn=1 An) ≤∑m

n=1 µ(An).

c) Ist µ ein Maß, dann ist µ sogar σ-subadditiv,

d.h. An ∈ R (n = 1, 2, . . .), ∪∞n=1 An ∈ R =⇒ µ(∪∞

n=1 An) ≤∑∞n=1 µ(An).

Satz 2.2 Der elementargeometrisch definierte Inhalt m auf dem Ring En der elementaren

Figuren in Rn ist ein Maß.

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1.3 Fortsetzung von Maßen

Der naturliche Definitionsbereich eines Maßes ist eine σ-Algebra.

Definition 3.1 Zu einem Maß µ auf einem Ring R in Ω werde eine Mengenfunktion

µ∗ : P(Ω) → R definiert durch

µ∗(A) := inf∑∞n=1 µ(Bn) | Bn ∈ R (n = 1, 2, . . .) mit A ⊂ ∪∞

n=1 Bn, A ∈ P(Ω)

(inf ∅ := ∞)

µ∗ heißt das zu µ gehorige außere Maß.

µ∗ is i.a. kein Maß.

Definition 3.2 Eine Mengenfunktion ν : P(Ω) → R heißt ein außeres Maß, wenn ν(∅) =

0, ν positiv, monoton, σ-subadditiv ist.

Jedes Maß auf P(Ω) ist ein außeres Maß.

Definition 3.3 A1,2 ⊂ P(Ω). ϕ1 : A1 → R. A2 ⊂ A1.

ϕ2 : A2 → R mit ϕ2 = ϕ1 auf A2 heißt Restriktion von ϕ1 auf A2 ( Rest A2ϕ1; ϕ1|A2).

Satz 3.1 Sei µ ein Maß auf einem Ring R in Ω. Dann ist das zu µ gehorige außere Maß

µ∗ ein außeres Maß im Sinne von Definition 3.2 und eine Fortsetzung von µ auf P(Ω).

(Die Formulierung “µ∗ ist Fortsetzung von µ” bedeutet, dass die Restriktion von µ∗ auf

den Definitionsbereich von µ mit µ ubereinstimmt.)

Satz 3.2 (Fortsetzungssatz von Caratheodory) Ein Maß µ auf einem Ring R in Ω

ist fortsetzbar zu einem Maß µ auf der σ-Algebra F(R).

Ist namlich µ∗ das zu µ gehorige außere Maß auf P(Ω), dann gilt:

a) das System

M∗µ := A ⊂ Ω | µ∗(S + T ) = µ∗(S) + µ∗(T ) ∀ S ⊂ Ac, ∀ T ⊂ A

der sogenannten µ∗-messbaren Mengen ist eine σ-Algebra, die R und damit auch

F(R) umfasst;

b) RestM∗

µµ∗ ist ein Maß auf M∗, das µ fortsetzt.

Eine aquivalente Definition von M∗µ ist

M∗µ := A ⊂ Ω | µ∗(Q) = µ∗(Q ∩ A) + µ∗(Q ∩ Ac) ∀ Q ⊂ Ω.

Bemerkung 3.1 Die Fortsetzung µ von µ in Satz 3.2 ist i.a. nicht eindeutig.

Definition 3.4 Ein Maß µ auf einem Ring R in Ω heißt σ-endlich, wenn

∃ An ∈ R (n = 1, 2, . . .) mit An ↑ Ω, µ(An) < ∞ ∀ n.

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Satz 3.3 (Eindeutigkeitssatz) R sei ein Ring in Ω. µ1, µ2 seien Maße auf F(R),

deren Restriktionen auf R dort ubereinstimmen und σ-endlich sind. Dann ist µ1 = µ2 auf

F(R).

Satz 3.4 Satz 3.3 gilt sogar, wenn R und F(R) ersetzt werden durch C bzw. σ-Algebra

A, wobei C ein ∩-stabiles Erzeugersystem von A ist, die Restriktionen von µ1, µ2 auf Cubereinstimmen und An ∈ C (n = 1, 2, . . .) existieren mit An ↑ Ω, µ1,2(An) < ∞ ∀ n.

Satz 3.5 (Existenz und Eindeutigkeit der Fortsetzung) Sei µ ein σ-endliches Maß

auf einem Ring R in Ω. Dann existiert genau ein Maß µ auf F(R), das µ fortsetzt. Dabei

ist

µ(A) = µ∗(A) := inf∑n µ(Bn) | Bn ∈ R (n = 1, 2, . . .) mit A ⊂ ∪n Bn, A ∈ F(R).

Satz 3.6 Der elementargeometrisch definierte Inhalt m auf En in Rn ist eindeutig fort-

setzbar zu einem Maß λ auf Bn, dem sog. Lebesgue-Borel-Maß (L-B-Maß) auf Bn.

Bemerkung 3.2 Eine nochmalige Anwendung des Fortsetzungsverfahrens in Satz 3.2

fuhrt nicht uber M∗µ hinaus.

Bemerkung 3.3 Ein Maß µ auf einem Ring R in Ω kann i.a. nicht zu einem Maß auf

P(Ω) fortgesetzt werden.

Bemerkung 3.4 Maßraum (Ω,A, µ).

a) Eine Menge N ∈ A mit µ(N) = 0 heißt µ-Nullmenge.

b) (Ω,A, µ) heißt vollstandiger Maßraum und µ heißt vollstandiges Maß, wenn

N ′ ⊂ N, N ∈ A, µ(N) = 0 =⇒ N ′ ∈ A.

Bemerkung 3.5 Maßraum (Ω,A, µ). Nµ := A ⊂ Ω | ∃ B ∈ A mit A ⊂ B, µ(B) = 0.

a) Aµ := A ∪ N | A ∈ A, N ∈ Nµ = F(A∪Nµ);

dabei ist µ mit µ (A ∪ N) := µ(A) ein Maß auf Aµ.

b) (Ω,Aµ, µ) ist Fortsetzung von (Ω,A, µ),

d.h. Aµ ⊃ A und µ = µ auf A.

(Ω,M∗µ, µ

∗) ist Fortsetzung von (Ω,Aµ, µ).

c) (Ω,Aµ, µ), (Ω,M∗µ, µ

∗) sind vollstandige Maßraume.

(Ω,Aµ, µ) heißt [als kleinste vollstandige Fortsetzung von (Ω,A, µ)] Vervollstandigung

von (Ω,A, µ).

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Definition 3.5 Es sei (Rn,Bn, λ) der Maßraum mit dem L-B-Maß λ und (Rn,Bn, λ)

seine Vervollstandigung. λ heißt Lebesgue-Maß (L-Maß) in Rn, die Mengen ∈ Bn heißen

Lebesgue-messbar (L-messbar).

Bemerkung 3.6 λ und λ in Rn sind bewegungsinvariant.

Definition 3.6 Es sei (R,B, µ) ein Maßraum, wobei R = R1, B = B1, µ endlich auf J1,

und (R,Bµ, µ) seine Vervollstandigung. µ heißt ein Lebesgue-Stieltjes-Maß (L-S-Maß) in

R, die Mengen ∈ Bµ heißen Lebesgue-Stieltjes-messbar (L-S-messbar).

Spezialfall zu Definition 3.6: µ(Intervall) = Intervall-Lange . . . µ L-Maß in R.

Definition 3.7 Eine Funktion G : R → R, die monoton nichtfallend und rechtsseitig

stetig ist, heißt eine (eindimensionale) maßdefinierende Funktion. Ist außerdem

limx→−∞

G(x) = 0, limx→∞

G(x) = 1,

so heißt G eine (eindimensionale) Verteilungsfunktion (Vf.).

Satz 3.7 a) Zu jedem L-S-Maß µ in R gibt es genau eine — bis auf eine additive

Konstante bestimmte — maßdefinierende Funktion G mit

G(b) − G(a) = µ((a, b]), a ≤ b

und umgekehrt.

b) Zu jedem W-Maß µ auf B (oder Bµ) gibt es genau eine Verteilungsfunktion F mit

F (b) − F (a) = µ((a, b]), a ≤ b,

und umgekehrt. Dabei gilt

F (x) = µ((−∞, x]) ∀ x ∈ R.

Beispiel: L-Maß λ in R . . . maßdefinierende Funktion G(x) = x.

Bemerkung 3.7 Definition 3.6, Definition 3.7, Satz 3.6 lassen sich verallgemeinern auf Rn.

11

Kapitel 2

Grundbegriffe der

Integrationstheorie

2.1 Messbare Funktionen

Konstruktive Definitionen 1.3, 1.4. Deskriptive Definitionen 1.6, 1.8.

Definition 1.1 A ⊂ Ω. Die Funktion IA : Ω → R mit

IA(ω) :=

1 fur ω ∈ A

0 fur ω 6∈ A

heißt Indikatorfunktion (oder charakteristische Funktion) von A.

Definition 1.2 (Ω,A) Messraum. Eine Funktion f : Ω → R heißt einfach, wenn sie

nur endlich viele Werte annimmt und diese jeweils auf einer Menge ∈ A, d.h. wenn eine

Darstellung

f =

N∑

i=1

αiIAimit Ai ∈ A, Ai paarweise disjunkt, αi ∈ R,

existiert.

Definition 1.3 (Ω,A) Messraum. Eine Funktion f : Ω → R heißt messbar, wenn sie der

[punktweise] Limes einer Folge einfacher (oder auch nur beschrankter einfacher) Funk-

tionen ist.

Definition 1.4 (Ω,A) Messraum. Eine Funktion f : Ω → R+ heißt messbar, wenn sie

der Limes einer monoton wachsenden Folge nichtnegativer (beschrankter) einfacher Funk-

tionen ist. Eine Funktion f : Ω → R heißt messbar, wenn f+, f− messbar sind.

12

Definition 1.5 f : Ω → Ω′. A′ ⊂ Ω′. Die Menge

f−1(A′) := ω ∈ Ω | f(ω) ∈ A′

(auch [f ∈ A′], f ∈ A′ geschrieben) heißt das Urbild von A′.

Urbildfunktion f−1 : P(Ω′) → P(Ω); zu unterscheiden von einer inversen Funktion.

Bezeichnung: Sei f : Ω → Ω′, C ′ Mengensystem in Ω′. f−1(C ′) := f−1(A′) | A′ ∈ C ′.

Satz 1.1 Sei f : Ω → Ω′.

a) f−1 und Mengenoperationen ∪,∑

,∩,c , \ sind vertauschbar.

b) f−1(∅) = ∅; f−1(Ω′) = Ω;

A′ ⊂ B′ mit A′, B′ ⊂ Ω′ =⇒ f−1(A′) ⊂ f−1(B′).

c) A′ σ-Algebra in Ω′ =⇒ f−1(A′) σ-Algebra in Ω.

d) C ′ ⊂ P(Ω′) =⇒ f−1(FΩ′(C ′)) = F(f−1(C ′)).

Definition 1.6 (Ω,A), (Ω′,A′) Messraume. f : Ω → Ω′.

f heißt A-A′-messbar oder kurz messbar, wenn gilt:

f−1(A′) ∈ A ∀ A′ ∈ A′,

d.h. Urbilder von messbaren Mengen in Ω′ sind messbare Mengen in Ω, d.h. f−1(A′) ⊂ A.

Schreibweise f : (Ω,A) → (Ω′,A′) fur die Aussage f : Ω → Ω′, f A-A′-messbar.

Satz 1.2 (Ω,A), (Ω′,A′) Messraume. f : Ω → Ω′.

C ′ sei ein Erzeugersystem von A′. Dann gilt: f messbar ⇐⇒ f−1(C ′) ∈ A ∀ C ′ ∈ C ′︸ ︷︷ ︸

d.h. f−1(C ′) ⊂ A.

Lemma 1.1 Messraume (Ωi,Ai) (i = 1, 2, 3). f1 : (Ω1,A1) → (Ω2,A2), f2 : (Ω2,A2) →(Ω3,A3). Dann gilt f2 f1 : (Ω1,A1) → (Ω3,A3).

Im folgenden Spezialisierung auf Ω′ = R.

Definition 1.7 (Ω,A) Messraum. Eine Funktion f : Ω → R heißt A-B-messbar oder

kurz messbar, wenn

f−1(B) ∈ A ∀ B ∈ B,

d.h. wenn f−1(B) ⊂ A.

Definition 1.8 (Ω,A) Messraum. C Erzeugersystem von B. Eine Funktion f : Ω → R

heißt A-B-messbar oder kurz messbar, wenn f−1(C) ⊂ A.

13

Beispiele zu Definition 1.8. f heißt messbar, wenn [f ≤ α] ∈ A ∀ α ∈ R oder [f < α] ∈A ∀ α ∈ R oder [f ≥ α] ∈ A ∀ α ∈ R oder [f > α] ∈ A ∀ α ∈ R.

Satz 1.3 Die Definitionen 1.3, 1.4, 1.6, 1.8 sind aquivalent.

Satz 1.4 (Ω,A) Messraum. fn : Ω → R messbar (n = 1, 2, . . .). Dann sind infn fn,

supn fn, limn

fn, limn

fn messbar, ebenso limn

fn (falls existent) [eine Abgeschlossenheitsei-

genschaft].

Lemma 1.2 Eine stetige Funktion g : Rm → R ist Bm-B-messbar.

Satz 1.5 (Ω,A) Messraum.

a)fn : Ω → R messbar (n = 1, . . . , m),

g : Rm → R Bm-B-messbar

=⇒ g (f1, . . . , fm) : Ω → R messbar.

b) f1,2 : Ω → R messbar

=⇒ αf1 +β(α, β ∈ R), f1±f2 (falls existent), f1 ·f2, f1/f2 (falls existent) messbar;

[f1 < f2], [f1 = f2], [f1 ≤ f2], [f1 6= f2] ∈ A .

Definition 1.9 Es sei (Ω,A, P ) ein W-Raum, (Ω′,A′) ein Messraum.

X : (Ω,A) → (Ω′,A′) heißt Zufallsvariable,

X : (Ω,A) → (R,B) heißt reelle Zufallsvariable,

X : (Ω,A) → (R,B) heißt erweitert-reelle Zufallsvariable.

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2.2 Integration messbarer Funktionen

Zugrundegelegt werden ein Maßraum (Ω,A, µ) und Funktionen f : (Ω,A) → (R,B).

Definition des Integrals (Maßintegral)

1. Schritt: f nichtnegative einfache Funktion

=⇒ Darstellung f =∑N

i=1 αiIAi(Ai ∈ A , paarw. disjunkt,

∑Ni=1 Ai = Ω, αi ∈ R+)

Integral∫Ω

f dµ :=∑N

i=1 αiµ(Ai).

2. Schritt: f nichtnegative messbare Funktion

Def. 1.8=⇒ ∃ nichtnegative einfache Funktionen fn ↑ f

=⇒ ∃∫Ω

fn dµ ↑ =⇒ ∃ limn

∫Ω

fn dµ (∈ R+)

Integral∫Ω

f dµ := limn

∫Ω

fn dµ.

3. Schritt: f messbare Funktion

=⇒ f = f+ − f−; ∃∫Ω

f+ dµ,∫Ω

f− dµ.

Falls nicht beide Integrale = ∞, dann

Integral∫Ω

f dµ :=∫Ω

f+ dµ −∫Ω

f− dµ

(Hierfur auch Bezeichnungen∫Ω

f(ω) dµ(ω),∫Ω

f(ω) µ(dω),∫

f dµ,∫

f).

Ist∫Ω

f dµ endlich, dann heißt f µ-integrierbar oder kurz integrierbar.

Die einzelnen Definitionen sind sinnvoll. Eine Abgeschlossenheitseigenschaft wird durch

den Satz von der monotonen Konvergenz (Satze 2.3, 2.4) geliefert.

Definition 2.1 Maßraum (Ω,A, µ). Aussage a(ω), ω ∈ Ω.

a heißt µ-fast uberall (µ-fast sicher, fast uberall, fast sicher) wahr,

falls F := ω ∈ Ω | a(ω) falsch ⊂ N mit N ∈ A, µ(N) = 0.

Satz 2.1 Maßraum (Ω,A, µ). f, g : Ω → R. Es existiere∫

f ,∫

g.

a) Sind [ f + g und ]∫

f +∫

g definiert, dann ∃∫

(f + g) =∫

f +∫

g.

b) ex.∫

αf = α∫

f ∀ α ∈ R.

c) f ≥ 0 =⇒∫

f ≥ 0.

d) f ≥ g =⇒∫

f ≥∫

g.

e) f = g fast uberall =⇒∫

f =∫

g.

15

f) ex.∫|f | dµ ≥ |

∫f dµ|.

Die Voraussetzung [ ] in a) ist nicht wesentlich, siehe Satz 2.2a und Folgerung.

Satz 2.2 Maßraum (Ω,A, µ). f, g : Ω → R.

a) f sei messbar. Dann gilt:

f integrierbar ⇐⇒ f+, f− integrierbar

⇐⇒ |f | integrierbar

=⇒ f fast uberall endlich.

b) f messbar, g integrierbar mit |f | ≤ g fast uberall =⇒ f integrierbar.

Definition 2.2 Maßraum (Ω,A, µ). f sei µ-fast uberall auf Ω definiert und erweitert-

reellwertig. Per definitionem existiert∫

f dµ [ist f µ-integrierbar], wenn f fortsetzbar ist

zu f : Ω → R mit Existenz von∫

f [Integrierbarkeit von f ].∫

fdµ :=∫

f dµ.

Folgerung 2.1 Maßraum (Ω,A, µ).

a) f, g integrierbar

=⇒ f + g , αf (α ∈ R), max (f, g), min (f, g) integrierbar,

wobei∫

(f + g) =∫

f +∫

g,∫

(αf) = α∫

f .

b) Aquivalenzklassen in Lµ (Menge der auf Ω µ-integrierbaren Funktionen) durch Aquiva-

lenzbegriff “= µ−fast uberall in Ω”.

Jede Aquivalenzklasse 3 reellwertigen Reprasentanten.

Relationen und abzahlbar viele Operationen . . . reprasentantenweise.

Menge der Aquivalenzklassen . . . linearer Raum Lµ (sogar Vektorverband).

Integral auf Lµ (f dµ fur f ∈ Lµ uber Reprasentanten definiert) . . . lineares positives

(und monotones) Funktional.

Ein f ∈ Lµ heißt ebenfalls eine integrierbare Funktion.

Definition 2.3 Maßraum (Ω,A, µ). f : (Ω,A) → (R,B). A ∈ A.

A ∩ A := A ∩ A′ | A′ ∈ A (Spur-σ-Algebra von A in A).

µA := µ|A∩A. Maßraum (A, A ∩ A, µA). fA := f |A.

Integral∫

Afdµ :=

∫A

fA dµA.

Folgerung 2.2 Maßraum (Ω,A, µ).

f : (Ω,A) → (R,B). A ∈ A.

ex.∫

Afdµ ⇐⇒ ex.

∫Ω

fIAdµ. Hierbei∫

Afdµ =

∫Ω

fIA dµ.

16

Satz 2.3 (Satz von der monotonen Konvergenz; B. Levi) Maßraum (Ω,A, µ).

fn integrierbar (n = 1, 2, . . .), fn ↑ f , lim∫

fn < ∞ =⇒ f integrierbar,∫

f = lim∫

fn.

Satz 2.4 (Satz von der monotonen Konvergenz) Maßraum (Ω,A, µ).

fn nichtnegativ messbar (n = 1, 2, . . .), fn ↑ f =⇒ ex.∫

f = lim∫

fn.

Satz 2.5 (leichte Verallgemeinerung von Satz 2.4) Maßraum (Ω,A, µ).

ex.∫

fn(n = 1, 2, . . .),∫

fn > −∞ fur mindestens ein n, fn ↑ f =⇒ ex.∫

f = lim∫

fn.

Definition 2.4 (vergleiche Definition 1.3.5). Maßraum (Rn,Bn, λ) mit L-B-Maß λ;

A ∈ Bn, f : (A, A ∩ Bn) → (R,B)

[Maßraum (Rn,Bn, λ) mit L-Maß λ; A ∈ Bn, f : (A, A ∩ Bn) → (R,B)]∫A

fdλ [∫

Afdλ], falls existent, heißt Lebesgue-Integral (L-Integral).

Fur n = 1 auch Bezeichnung∫

Af(x)dx,

∫A

fdx und — falls A = Intervall a . . . b —∫ b

af(x)dx.

Definition 2.5 (vergleiche Definitionen 1.3.6, 1.3.7). Vollstandiger Maßraum (R,Bµ, µ)

mit L-S-Maß µ.

Maßdefinierende Funktion G. A ∈ Bµ, f : (A, A ∩ Bµ) → (R,B).∫A

f d µ, falls existent, heißt Lebesgue-Stieltjes-Integral (L-S-Integral).

Auch Bezeichnung∫

Af(x)dG(x),

∫A

fdG.

Eine Verallgemeinerung auf Rn ist moglich.

Definition 2.6 (vergleiche Definition 1.9).

W-Raum (Ω,A, P ), erweitert-reelle Zufallsvariable X.∫Ω

X d P , falls existent, heißt Erwartungswert von X.

Bezeichnung E(X), EX.

Satz 2.6 Messraume (Ω,A), (Ω′,A′). Abbildung X : (Ω,A) → (Ω′,A′); Maß µ auf A.

Durch

µX(A′) := µ(X−1(A′)) = µ(ω ∈ Ω | X(ω) ∈ A′) = µ[X ∈ A′], A ∈ A′.

wird ein Maß (das sogenannte Bildmaß) µX auf A′ definiert. Ist µ ein W-Maß auf A,

dann ist µX ein W-Maß auf A′.

Definition 2.7 Sei X eine (Ω′,A′)-ZV auf dem W-Raum (Ω,A, P ) (d.h. X : (Ω,A) →(Ω′,A′)). Das W-Maß PX im Bild-W-Raum (Ω′,A′, PX) heißt Verteilung der ZV X.

Bemerkung 2.1 W-Raum (Ω,A, P ). Messraume (Ω′,A′), (Ω′′,A′′). Fur X : (Ω,A) →(Ω′,A′), Y : (Ω′,A′) → (Ω′′,A′′) gilt PY X = (PX)Y .

In der Wahrscheinlichkeitstheorie haufig Schreibweise Y (X) statt Y X.

17

Satz 2.7 (Transformationssatz fur Integrale) Maßraum (Ω,A, µ);

Abbildung X : (Ω,A) → (Ω′,A′) mit Bildmaß µX ; g : (Ω′,A′) → (R,B).∫Ω

gX d µ existiert genau dann, wenn∫Ω′

g d µX existiert; hierbei∫Ω

gXd µ =∫Ω′

g d µX .

Im Spezialfall einer (Ω′,A′)-ZV X auf W-Raum (Ω,A, P ) mit Verteilung PX und g :

(Ω′,A′) → (R,B) existiert E g(X) (:=∫Ω

g(X)dP ) genau dann, wenn∫Ω′

g d PX existiert;

hierbei E g(X) =∫Ω′

g d PX (=∫Ω′

g d F , falls (Ω′,A′) = (Rn,Bn) und F : Rn → R die

Verteilungsfunktion (Vf.) von X ist).

Definition 2.8 X sei eine reelle ZV; m ∈ N. Im Falle der Existenz heißt EXm das m-te

Moment von X und E(X − EX)m — bei Integrierbarkeit von X — das m-te zentrale

Moment von X. Ist X integrierbar, dann heißt V (X) := E(X − EX)2 die Varianz und

σ(X) := +√

V (X) die Streuung von X.

Satz 2.8 Sei X eine reelle ZV.

a) Ist PX auf N0 := 0, 1, . . . konzentriert mit Zahldichte (pk), wobei pk := P [X =

k] = PX(k) (k ∈ N0), dann existiert EXm =∑

kmpk (m ∈ N) .

b) Ist X integrierbar, dann gilt

V (X) = EX2 − (EX)2, V (aX + b) = a2V (X) a, b ∈ R.

18

Kapitel 3

Weitere Eigenschaften von Maß und

Integral

3.1 Konvergenz von Folgen messbarer Funktionen

3.1.1 Konvergenz fast uberall und Konvergenz dem Maße nach

Definition 1.1 Maßraum (Ω,A, µ). fn (n = 1, 2, . . .), f : (Ω,A) → (R,B) .

I) Die Folge (fn) heißt gegen f

a) konvergent µ-fast uberall (µ-fast sicher, fast uberall, fast sicher), wenn

µ[fn 6→ f ] = 0 ;

b) konvergent fast gleichmaßig, wenn fur jedes δ > 0 ein Ωδ ∈ A existiert so,

dass µ(Ωδ) ≤ δ, fn → f gleichmaßig auf Ωcδ ;

c) konvergent dem Maße nach (bei einem W-Maß auch stochastisch konver-

gent, konvergent nach Wahrscheinlichkeit), wenn fur jedes ε > 0 gilt µ[|fµ −f | ≥ ε] → 0 (n → ∞) . [Bezeichnung fn

µ→ f ]

II) Die Folge (fn) heißt eine

a) Cauchy-Folge fast uberall, wenn (fn(ω)) eine Cauchy-Folge fur µ-fast alle

ω ∈ Ω ist;

b) Cauchy-Folge fast gleichmaßig, wenn fur jedes δ > 0 ein Ωδ ∈ A existiert

so, dass gilt: µ(Ωδ) ≤ δ, fur jedes ε > 0 existiert ein n0(δ, ε) mit |fn′(ω) −fn′′(ω)| < ε ∀ n′, n′′ ≥ n0, ∀ ω ∈ Ωc

δ ;

c) Cauchy-Folge dem Maße nach, wenn fur jedes ε > 0, jedes δ > 0 ein

n0(δ, ε) existiert mit µ[|fn′ − fn′′ | ≥ ε] < δ ∀ n′, n′′ ≥ n0 .

19

Satz 1.1 Die in Definition 1.1 angegebenen (gegen f) konvergenten Folgen sind jeweils

Cauchy-Folgen bezuglich des entsprechenden Konvergenzbegriffs — und umgekehrt.

Satz 1.2 Maßraum (Ω,A, µ) . fn (n = 1, 2, . . .), f : (Ω,A) → (R,B).

a) fn → f fast gleichmaßig =⇒

fn → f fast uberall

fn → f dem Maße nach

b) fn → f dem Maße nach =⇒ ∃ (nk) mit fnk→ f fast uberall (F. Riesz).

c) Sei µ(Ω) < ∞. fn → f fast uberall =⇒ fn → f fast gleichmaßig

(Satz von Egoroff).

d) Sei µ(Ω) < ∞. fn → f fast uberall =⇒ fn → f dem Maße nach (Lebesgue).

Bemerkung 1.1 Fur die Konvergenzbegriffe in Definition 1.1 gilt jeweils: Sind f, g Gren-

zelemente von (fn), dann ist f = g fast uberall. Daraus ergeben sich in naheliegender Wei-

se Konvergenzbegriffe fur Aquivalenzklassen messbarer Funktionen (Aquivalenzbegriff “=

fast uberall”) mit eindeutigem Grenzelement.

Bemerkung 1.2 fn → f dem Maße nach 6=⇒ fn → f fast uberall.

Folgerung 1.1 (zu Satz 1.2). Maßraum (Ω,A, µ), µ endlich. fn (n = 1, 2, . . .), f :

(Ω,A) → (R,B). Es gilt: fn → f dem Maße nach ⇐⇒zu jeder Teilfolge von (fn) existiert eine Teilfolge, die fast uberall gegen f konvergiert.

3.1.2 Konvergenzsatze fur Folgen integrierbarer Funktionen

Vorbemerkung. Den nachstehenden Resultaten entsprechende Aussagen gelten fur Aqui-

valenzklassen integrierbarer Funktionen (“= fast uberall”).

Satz 1.3 (Satz von der monotonen Konvergenz; B. Levi) [siehe Abschnitt 2.2]

Maßraum (Ω,A, µ).

a) fn integrierbar (n = 1, 2, . . .), fn ↑ f , lim∫

fn < ∞=⇒ f integrierbar,

∫f = lim

∫fn.

b) fn nichtnegativ meßbar (n = 1, 2, . . .), fn ↑ f =⇒ ∃∫

f = lim∫

fn.

Satz 1.4 (Lemma von Fatou) Maßraum (Ω,A, µ).

a) fn (n = 1, 2, . . .) meßbar, fn ≥ g fast uberall mit g integrierbar

=⇒ ∃∫

lim fn ≤ lim∫

fn.

20

b) fn (n = 1, 2, . . .) messbar, fn ≤ h fast uberall mit h integrierbar

=⇒ ∃∫

lim fn ≥ lim∫

fn.

Satz 1.5 (Satz von der majorisierten Konvergenz; Lebesgue) Maßraum (Ω,A, µ).

fn (n = 1, 2, . . .), f messbar, |fn| ≤ g fast uberall mit g integrierbar, fn → f fast uberall

(oder fn → f dem Maße nach) =⇒ fn, f integrierbar;∫

f = lim∫

fn, sogar∫|fn−f | → 0.

Spezialfall: µ(Ω) < ∞, |fn| ≤ constant ∀ n (Satz von der beschrankten Konver-

genz).

Satz 1.6 (Reihenform des Satzes von B. Levi, Reihenform des Satzes von der

majorisierten Konvergenz) Maßraum (Ω,A, µ).

gn messbar (n = 1, 2, . . .),∑

n

∫|gn| < ∞

=⇒

gn integrierbar∑n gn konvergent (absolut) fast uberall, integrierbar (im weiteren Sinne)∫ ∑

n gn =∑

n

∫gn.

Spezialfall: gn nichtnegativ messbar,∑

n

∫gn < ∞.

Variante: Fur gn nichtnegativ messbar (n ∈ N) gilt∑∫

gn =∫ ∑

gn.

Bemerkung 1.3 In Satz 1.5 kann die Voraussetzung

|fn| ≤ g fast uberall mit g integrierbar

nicht weggelassen werden.

3.1.3 Die Raume Lp, Konvergenz im p-ten Mittel

Definition 1.2 Maßraum (Ω,A, µ). 1 ≤ p < ∞.

f sei fast uberall auf Ω definiert und erweitert–rellwertig.

f heißt p-fach integrierbar, wenn f fortsetzbar ist zu f : Ω → R mit A−B-Messbarkeit

von f und Integrierbarkeit von |f |p.

Folgerung 1.2 Maßraum (Ω,A, µ), 1 ≤ p < ∞ .

a) f, g p-fach integrierbar =⇒ f + g, αf (α ∈ R) p-fach integrierbar.

Menge der p-fach integrierbaren Funktionen . . . Lpµ oder kurz Lp

(L1µ ist Lµ in Abschnitt 2.2).

b) Aquivalenzklassen in Lpµ durch Aquivalenzbegriff “= fast uberall in Ω”.

Jede Aquivalenzklasse 3 reellwertigen Reprasentanten;

abzahlbar viele Operationen . . . reprasentantenweise.

Menge der Aquivalenzklassen . . . linearer Raum Lpµ oder kurz Lp

(L1 ist Lµ in Abschnitt 2.2).

Ein f ∈ Lp heißt ebenfalls eine p-fach integrierbare Funktion.

21

Satz 1.7 Maßraum (Ω,A, µ). 1 < p < ∞, 1 < q < ∞ mit 1p

+ 1q

= 1.

Ist f ∈ Lp, g ∈ Lq, dann ist fg ∈ L1, und es gilt

∫|fg| ≤

(∫|f |p) 1

p(∫

|g|q) 1

q

(Holdersche Ungleichung).

Analog fur Lp, Lq.

Bemerkung 1.4 a) Die Holdersche Ungleichung gilt auch fur messbare erweitert-

reellwertige Funktionen f, g.

b) Fur p = q = 2 . . . (Cauchy-) Schwarzsche Ungleichung.

Folgerung 1.3 Fur unendliche Reihen [oder endliche Summen]∑fn,

∑gn gilt (mit 1 < p < ∞, 1 < q < ∞ mit 1

p+ 1

q= 1)

∑|fngn| ≤

(∑|fn|p

) 1p(∑

|gn|q) 1

q

.

Satz 1.8 Maßraum (Ω,A, µ). 1 ≤ p < ∞. Fur f, g ∈ Lp gilt

(∫|f + g|p

) 1p

≤(∫

|f |p) 1

p

+

(∫|g|p) 1

p

(Minkowskische Ungleichung).

Analog fur Lp.

Bemerkung 1.5 Die Minkowskische Ungleichung gilt auch fur messbare erweitert-reellwertige

Funktionen f, g, falls f + g fast uberall definiert ist.

Folgerung 1.4 Fur unendliche Reihen [oder endliche Summen]∑

fn,∑

gn gilt

(∑|fn + gn|p

) 1p ≤

(∑|fn|p

) 1p

+(∑

|gn|p) 1

p

(1 ≤ p < ∞).

Satz 1.9 Maßraum (Ω,A, µ). 1 ≤ p < ∞. In Lp lasst sich eine Norm ‖‖p durch

‖f‖p :=

(∫|f |p)1/p

, f ∈ Lp

definieren. Der normierte lineare Raum Lp ist vollstandig (bezuglich der durch die Norm

eingefuhrten Metrik), also ein Banach-Raum.

Bemerkung 1.6 Analoges gilt nicht fur Lp.

Lemma 1.1 Es sei (Ω,A, µ) ein Maßraum und f eine messbare erweitert-reellwertige

Funktion. Dann gilt fur jedes ε > 0, p > 0:

µ[|f | ≥ ε|] ≤ ε−p∫|f |p dµ (Markoffsche Ungleichung)

(fur p = 2 . . . Tschebyscheffsche Ungleichung . . .

P [|X − EX| ≥ ε] ≤ ε−2V (X) fur int. ZV X auf W-Raum (Ω,A, P ) und ε > 0).

22

Bemerkung 1.7 Der Raum L2 mit Skalarprodukt (f, g) :=∫

fg (f, g ∈ L2) ist ein

(reeller) Hilbert-Raum.

Bemerkung 1.8 Fur einen Maßraum (Ω,A, µ) mit endlichem Maß gilt

Lp′′ ⊂ Lp′, falls p′′ > p′ ≥ 1.

Definition 1.3 Maßraum (Ω,A, µ). 1 ≤ p < ∞. fn (n = 1, 2, . . .), f ∈ Lp bzw. Lp. (fn)

heißt gegen f konvergent im p-ten Mittel, wenn∫|fn − f |p → 0 bzw. ‖fn − f‖p → 0 (n → ∞) .

Bemerkung 1.9 Maßraum (Ω,A, µ). 1 ≤ p < ∞.

a) fn (n = 1, 2, . . .), f, g ∈ Lp bzw. Lp,

fn → f , fn → g jeweils im p-ten Mittel (1 ≤ p < ∞)

=⇒ f = g fast uberall bzw. f = g.

b) Eine Cauchy-Folge im p-ten Mittel konvergiert gegen ein Grenzelement (∈ Lp bzw.

Lp) im p-ten Mittel.

Bemerkung 1.10 Fur einen Maßraum (Ω,A, µ) mit endlichem Maß gilt,

falls p′′ > p′ ≥ 1: Konvergenz im p′′-ten Mittel =⇒ Konvergenz im p′-ten Mittel.

Satz 1.10 Maßraum (Ω,A, µ). 1 ≤ p < ∞. fn (n = 1, 2, . . .), f ∈ Lp bzw. Lp.

fn → f im p-ten Mittel =⇒ fn → f dem Maße nach.

µ endlich

Konvergenz fast ⇐= Konvergenz fast Konvergenz imgleichmaßig =⇒ uberall p-ten Mittel

⇓ ⇓ µ endlich ⇓=⇒ =⇒ Konvergenz dem Maße nach ⇐=

⇓Konvergenz einer Teilfolge fast uberall

Bemerkung 1.11 Konvergenz fast uberall ⇐⇒/ Konvergenz im p-ten Mittel.

Satz 1.11 Maßraum (Ω,A, µ). 1 ≤ p < ∞. fn (n = 1, 2, . . .), f ∈ Lp.

fn → f im p-ten Mittel

=⇒

‖fn‖p → ‖f‖p (Stetigkeit der Norm)

im Falle p = 1 außerdem∫

fn →∫

f (Stetigkeit des Integrals).

Satz 1.12 (Satz von der majorisierten Konvergenz) [Verallgemeinerung von Satz 1.5].

Maßraum (Ω,A, µ). 1 ≤ p < ∞fn (n = 1, 2, . . .), f messbar

|fn| ≤ g fast uberall mit g ∈ Lp

fn → f fast uberall (oder fn → f dem Maße nach)

=⇒

fn, f ∈ Lp

fn → f im p-ten Mittel.

23

3.1.4 Der Raum L∞, gleichmaßige Konvergenz fast uberall

Definition 1.4 Maßraum (Ω,A, µ). f sei fast uberall auf Ω defininiert und erweitert-

reellwertig. f heißt fast uberall beschrankt*) (oder wesentlich beschrankt) , wenn f fort-

setzbar ist zu f : Ω → R mit A-B-Messbarkeit von f und Existenz einer Zahl α ∈ R+ mit

|f | ≤ α fast uberall.

*) zu unterscheiden von fast uberall endlich!

Menge der fast uberall beschrankten Funktionen (auf Ω) . . . L∞µ oder kurz L∞.

Fur f ∈ L∞ wird definiert:

Wesentliches Supremum von |f | := ess sup |f | := infα ∈ R+| |f | ≤ α fast uberall .

Definition 1.5 Maßraum (Ω,A, µ). fn (n = 1, 2, . . .), f ∈ L∞. (fn) heißt gegen f

gleichmaßig konvergent fast uberall **), wenn ∃ Ω′ = Ω-Nullmenge mit fn → fgleichmaßig

in Ω′c.

**) zu unterscheiden von fast gleichmaßig konvergent!

Bemerkung 1.12 fn (n = 1, 2, . . .), f, g ∈ L∞.

a) fn → f , gn → g gleichmaßig fast uberall =⇒ f = g fast uberall.

b) Eine Cauchy-Folge bezuglich der gleichmaßigen Konvergenz fast uberall konvergiert

gegen ein Grenzelement (∈ L∞) gleichmaßig fast uberall.

c) fn → f gleichmaßig fast uberall ⇐⇒ ess sup |fn − f | → 0.

d) fn → f gleichmaßig fast uberall

=⇒

fn → f fast gleichmaßig =⇒

fn → f fast uberall

fn → f dem Maße nach

bei endlichem Maß: fn → f im p-ten Mittel (1 ≤ p < ∞).

Menge der Aquivalenzklassen in L∞µ mit Aquivalenzbegriff “= fast uberall”

. . . linearer Raum L∞µ oder kurz L∞.

Satz 1.13 Maßraum (Ω,A, µ). In L∞ lasst sich eine Norm ‖ ‖∞ definieren durch

‖f‖∞ := ess sup |f0| (f ∈ L∞, f0 ∈ Aquivalenzklasse f).

Mit dieser Norm ist L∞ ein Banach-Raum.

24

Bemerkung 1.13 Maßraum (Ω,A, µ).

a) fn (n = 1, 2, . . .), f ∈ L∞, ‖fn − f‖∞ → 0 =⇒ ‖fn‖∞ → ‖f‖∞ .

b) f ∈ L1, g ∈ L∞ =⇒ fg ∈ L1, ‖fg‖1 ≤ ‖f‖1 · ‖g‖∞(Holdersche Ungleichung fur p = 1, q = ∞).

c) Bei endlichem Maß µ ist L∞µ ⊂ Lp

µ (1 ≤ p < ∞).

d) Ist (Ω,A, µ) speziell ein W-Raum und f ∈ L∞, dann ‖f‖p → ‖f‖∞ (p → ∞).

25

3.2 Zerlegungssatze, Satz von Radon-Nikodym,

totalstetige Verteilungen

3.2.1 Signierte Maße, Jordan-Hahn-Zerlegung

Definition 2.1 Messraum (Ω,A). Eine Mengenfunktion ϕ : A → R heißt signiertes Maß

(Ladungsverteilung), wenn ϕ(∅) = 0, ϕ σ-additiv ist und ϕ hochstens einen der Werte

±∞ annimmt.

Bemerkung 2.1 Die letzte Eigenschaft in Definition 2.1 ergibt sich aus den ubrigen

Eigenschaften.

Satz 2.1 (Jordan-Hahn-Zerlegung) Gegeben seien ein Messraum (Ω,A) und ein si-

gniertes Maß ϕ : A → R.

a) (Hahn) ∃ Ω′, Ω′′ ∈ A mit Ω′, Ω′′ fremd und Ω = Ω′ + Ω′′ so, dass

ϕ(A) ≥ 0 ∀ A ∈ A mit A ⊂ Ω′ (Ω′ heißt positiv),

ϕ(A) ≤ 0 ∀ A ∈ A mit A ⊂ Ω′′ (Ω′′ heißt negativ).

Ω′, Ω′′ sind eindeutig bis auf Hinzunahme oder Wegnahme von Mengen ∈ A, die

samt ihren Teilmengen ∈ A das signierte Maß 0 haben.

b) (Jordan) ϕ lasst sich als Differenz ϕ+ − ϕ− zweier Maße ϕ+, ϕ− auffassen, wobei

ϕ+(A) = supB∈A,B⊂A

ϕ(B) = ϕ(A ∩ Ω′) (A ∈ A),

ϕ−(A) = − infB∈A,B⊂A

ϕ(B) = −ϕ(A ∩ Ω′′) (A ∈ A).

Mindestens eines der Maße ist endlich.

Bemerkung 2.2 Jedes signierte Maß lasst sich charakterisieren als Differenz zweier Ma-

ße, von denen mindestens eines endlich ist. (Die Differenz ist nicht eindeutig.)

Definition 2.2 Messraum (Ω,A) mit signiertem Maß ϕ : A → R.

ϕ+, ϕ− (nach Satz 1b) heißen obere bzw. untere Variation von ϕ, ϕ := ϕ+ + ϕ− heißt

totale Variation von ϕ.

3.2.2 Satz von Radon-Nikodym

Definition 2.3 Maßraum (Ω,A, µ). Festes f : (Ω,A) → (R,B) mit Existenz von∫Ω

f dµ.

Dann heißt die durch

ϕf (A) :=

A

f dµ (A ∈ A) (ex.!)

definierte Mengenfunktion ϕf : A → R das unbestimmte Integral von f .

26

Definition 2.4 Maßraum (Ω,A, µ). Eine Mengenfunktion ϕ : A → R heißt µ-stetig,

wenn gilt

A ∈ A, µ(A) = 0 =⇒ ϕ(A) = 0.

Satz 2.2 Maßraum (Ω,A, µ). Sei f : (Ω,A) → (R,B) mit Existenz von∫Ω

f dµ. Dann

ist das unbestimmte Integral ϕf von f ein µ-stetiges signiertes Maß auf A, im Falle f ≥ 0

also ein µ-stetiges Maß auf A.

Definition 2.5 Messraum (Ω,A). Ein signiertes Maß ϕ : A → R heißt σ-endlich, wenn

∃ An ∈ A (n = 1, 2, . . .) mit An ↑ Ω, ϕ(An) endlich ∀ n.

Satz 2.3 (Satz von Radon-Nikodym) Maßraum (Ω,A, µ), signiertes Maß ϕ : A →R. µ und ϕ seien σ-endlich. Ist ϕ µ-stetig, dann

∃ f : (Ω,A) → (R,B) mit ϕ(A) =

A

f dµ ∀ A ∈ A.

f ist eindeutig bis auf Aquivalenz “= µ-fast uberall”;

f . . . sogenannte Radon-Nikodym-Ableitung, mit dϕdµ

bezeichnet.

Ist ϕ speziell ein Maß, dann ist f ≥ 0 (µ− fast uberall).

Satz 2.4 Messraum (Ω,A); σ-endliche Maße µ und ϕ auf A; ϕ sei µ-stetig; g : (Ω,A) →(R,B). Fur jedes A ∈ A gilt:

∫A

g dϕ existiert genau dann, wenn∫

Ag dϕ

dµdµ existiert.

Hierbei∫

Ag dϕ =

∫A

g dϕdµ

dµ .

Definition 2.6 Sei X ein n-dimensionaler Zufallsvektor mit Verteilung PX auf Bn und

Verteilungsfunktion F : Rn → R. Gibt es eine Funktion f : (Rn,Bn) → (R+,B+) [mit

B+ := R+ ∩ B], fur die das L-Integral∫

Qni=1(−∞,xi]

f dλ [λ L-B-Maß auf Bn] existiert

und mit PX(∏n

i=1(−∞, xi]) = F (x1, . . . , xn) ubereinstimmt ((x1, . . . , xn) ∈ Rn) oder —

aquivalent — besitzt PX eine Radon-Nikodym-Ableitung f ≥ 0 bezuglich m, so heißt f

Dichte(funktion) von X bzw. PX bzw. F. − PX und F heißen totalstetig, falls sie eine

Dichtefunktion besitzen.

Bemerkung 2.3 a) Eine totalstetige Verteilungsfunktion ist stetig.

b) Besitzt die n-dimensionale Verteilungsfunktion F : Rn → R eine Dichtefunktion

f : Rn → R+, so existiert L-fast uberall ∂nF∂x1...∂xn

, und L-fast uberall — insbesondere

an den Stetigkeitsstellen von f — ∂nF∂x1...∂xn

= f .

c) Haufig wird die Radon-Nikodym-Ableitung dϕdµ

in Satz 7.3 als µ-Dichte von ϕ be-

zeichnet.

27

Satz 2.5 Sei X eine reelle Zufallsvariable mit Verteilung PX und Verteilungsfunktion

F ; g : (R,B) → (R,B). Eg(X) existiert genau dann, wenn∫

Rg dPX (=

∫R

g dF =∫R

g(x) dF (x)) existiert, und es gilt hierbei

Eg(X) =

R

g dF =

∑∞k=0 g(k)pk , falls X eine Zahldichte (pk) besitzt∫

Rg(x)f(x) dx , falls X eine Dichte f besitzt.

Insbesondere gilt (mit g = 1A, wobei A ∈ B)

P [X ∈ A] = PX(A) =

∑k∈A∩N0

pk , falls X eine Zahldichte (pk) besitzt∫A

f(x) dx , falls X eine Dichte f besitzt.

Entsprechend fur einen n-dimensionalen Zufallsvektor X, g : (Rn,Bn) → (R,B), A ∈ Bn.

Beispiel.

a) Fur eine reelle N(a, σ2)-verteilte Zufallsvariable X gilt

E(X − a)2k−1 = 0, E(X − a)2k = σ2k∏k

j=1(2j − 1) (k ∈ N; a ∈ R, σ2 ∈ (0,∞)),

insbesondere EX = a, V (X) = σ2; die Zufallsvariable cX + b mit 0 6= c ∈ R, b ∈ R

hat dann die Verteilung N(ca + b, c2σ2).

N(0, 1) . . . standardisierte Normalverteilung.

b) Fur eine exp(λ)-verteilte Zufallsvariable X gilt EX = 1λ, V (X) = 1

λ2 (λ ∈ (0,∞)).

Satz 2.6 (Transformationssatz fur Dichten) Es sei Q ein W-Maß auf B2 und T :

R2 → R2 eine injektive stetig-differenzierbare Abbildung. Es sei R := QT das Bild-W-Maß

von Q bezuglich T [d.h. R(B) = Q(T−1(B)), B ∈ B2] und ∆ der Betrag der Funktional-

determinante von T . Hat R die Dichte g, so hat Q die Dichte

(g T )∆ : (x1, x2)︸ ︷︷ ︸∈R2

→ g(T (x1, x2)) · ∆(x1, x2) .

28

3.3 Maß und Integral in Produktraumen

Das kartesische Produkt zweier Mengen A1, A2 ist definiert als

A := A1 × A2 := ω = (ω1, ω2) | ω1 ∈ A1, ω2 ∈ A2.

Definition 3.1 (Ω1,A1) , (Ω2,A2). Messraume. Ω := Ω1×Ω2. Die Produkt-σ-Algebra

A := A1⊗A2 wird definiert als die von dem Mengensystem A1×A2 | A1 ∈ A1 , A2 ∈ A2in Ω erzeugte σ-Algebra. [A1 × A2 mit A1,2 ∈ A1,2 heißt Rechteck oder Zylinder.]

(Ω,A) = (Ω1 × Ω2, A1 ⊗A2) heißt Produkt-Messraum.

Beispiel: (Rn × Rm, Bn ⊗ Bm) = (Rn+m, Bn+m) (n, m naturliche Zahlen).

Definition 3.2 Ω1, Ω2 nichtleer.

a) A ⊂ Ω1 × Ω2; ω1 ∈ Ω1.

Aω1 := ω2 ∈ Ω2 | (ω1, ω2) ∈ A heißt ω1-Schnitt von A.

b) f : Ω1 × Ω2 → R; ω1 ∈ Ω1.

fω1 : Ω2 → R wird definiert durch fω1(ω2) := f(ω1, ω2) (ω2 ∈ Ω2) und heißt

ω1-Schnitt von f .

Analog werden Aω2, fω2 fur ω2 ∈ Ω2 definiert.

In Definition 8.2 gilt (IA)ω1 = I(Aω1)

.

Lemma 3.1 Messraume (Ω1,A1), (Ω2,A2).

a) A ∈ A1 ⊗A2 =⇒ Aω12

∈ A21∀ ω1

2∈ Ω1

2.

b) f : (Ω1 × Ω2, A1 ⊗A2) → (R,B) =⇒ fω12

: (Ω21,A2

1) → (R,B) ∀ ω1

2∈ Ω1

2.

Kurz: Schnitte messbarer Mengen und Funktionen sind messbar.

Satz 3.1 Maßraume (Ω1,A1, µ1), (Ω2,A2, µ2). µ1 und µ2 seien σ-endlich. Dann exi-

stiert genau ein Maß µ auf A1 ⊗A2 mit

µ(A1 × A2) = µ1(A1) · µ2(A2) fur A1,2 ∈ A1,2 .

Hierbei gilt:

µ(A) =

Ω2

µ1(Aω2)dµ2(ω2)

︸ ︷︷ ︸existent

=

Ω1

µ2(Aω1)dµ1(ω1)

︸ ︷︷ ︸existent

, A ∈ A1 ⊗A2 ;

µ ist σ-endlich.

29

Definition 3.3 Die Voraussetzungen des Satzes 8.1 seien erfullt. Das in Satz 8.1 erklarte

Maß µ =: µ1 ⊗ µ2 heißt Produkt-Maß.

(Ω,A, µ) := (Ω1 × Ω2,A1 ⊗A2, µ1 ⊗ µ2) heißt Produkt-Maßraum.

Bemerkung 3.1 Bei nicht σ-endlichen Maßen µ1, µ2 ist zwar die Existenz, aber nicht

die Eindeutigkeit eines Produkt-Maßes gewahrleistet.

Satz 3.2 (Satz von Fubini) Maßraume (Ω1,A1, µ1), (Ω2,A2, µ2).

µ1 und µ2 seien σ-endlich. (Ω,A, µ) := (Ω1 × Ω2,A1 ⊗A2, µ1 ⊗ µ2).

a) f : Ω → R sei nichtnegativ und A-B-messbar.

Dann gilt

(∗)∫

Ω

fdµ =

Ω1

[ ∫

Ω2

f(ω1, ω2)︸ ︷︷ ︸fω1(ω2)

dµ2(ω2)]

dµ1(ω1)

=

Ω2

[ ∫

Ω1

f(ω1, ω2)︸ ︷︷ ︸fω2(ω1)

dµ1(ω1)]

dµ2(ω2),

wobei die Funktion ω127→∫Ω2

1

fω12(ω2

1)dµ2

1(ω2

1) A1

2-B-messbar ist.

b) f : Ω → R sei A-B-messbar und µ-integrierbar.

Dann gilt (∗), wobei die Funktion fω12

: Ω21→ R µ2

1-integrierbar fur µ1

2-fast alle ω1

2

ist, die µ12-fast uberall definierte Funktion ω1

27→∫Ω2

1

fω12(ω2

1)dµ2

1(ω2

1) µ1

2-integrierbar

ist.

c) f : Ω → R sei A-B-messbar und∫Ω1

[ ∫Ω2

| fω1(ω2) | dµ2(ω2)]dµ1(ω1) < ∞ .

Dann gilt die Behauptung in b).

Bemerkung 3.2 Die Definitionen und Satze des Abschnittes 3.3 gelten entsprechend fur

endliche Produkte von Raumen.

30

3.4 Erganzungen

3.4.1 Das Riemann-Integral und das Lebesgue-Integral

Eine Moglichkeit zur Definition des Riemann-Integrals ist die folgende:

Definition 4.1 Seien f : [a, b] → R eine beschrankte Funktion (a, b ∈ R, a < b) und

Z := x0, x1, . . . , xn | a = x0 < x1 < . . . < xn = b eine Zerlegung des Intervalls [a, b].

Dann heißen

O(f, Z) :=

n∑

i=1

(supf(x) | xi−1 ≤ x ≤ xi) · (xi − xi−1)

U(f, Z) :=n∑

i=1

(inff(x) | xi−1 ≤ x ≤ xi) · (xi − xi−1)

Obersumme bzw. Untersumme von f (zur Zerlegung Z).

Gilt

supZ

U(f, Z) = infZ

O(f, Z) =: (R-)

∫ b

a

f(x) dx,

so heißt f Riemann-integrierbar uber [a, b] und∫ b

af(x) dx Riemann-Integral von f uber

[a, b].

Satz 4.1 (Lebesguesches Integrabilitatskriterium) Eine beschrankte Funktion f :

[a, b] → R (a, b ∈ R, a < b) ist genau dann Riemann-integrierbar, falls die Menge ihrer

Unstetigkeitsstellen eine Lebesgue-Nullmenge ist. In diesem Fall stimmen das Riemann-

Integral und das Lebesgue-Integral von f uberein.

Bemerkung 4.1 Definition 4.1 lasst sich in naturlicher Weise auch fur beschrankte Funk-

tionen f : [a, b] → R mit a, b ∈ Rd, a < b, formulieren. Satz 4.1 gilt dann sinngemaß auch

fur solche Funktionen.

Uneigentliche Riemann-Integrierbarkeit fur unbeschrankte Intervalle oder unbeschrankte

Integranden sei jetzt definiert wie ublich.

Satz 4.2 Ist I ⊂ R ein Intervall und f : I → R Riemann-integrierbar uber jedes kom-

pakte Teilintervall von I, so ist f genau dann Lebesgue-integrierbar uber I, wenn |f |uneigentlich Riemann-integrierbar ist uber I. In diesem Fall stimmt das uneigentliche

Riemann-Integral von f uber I mit dem Lebesgue-Integral uberein.

Bezeichnungen:

J d := A ⊂ Rd | A beschr. und 1A R-integrierbar . . . Ring der Jordan-Mengen in Rd,

Bd . . . Borelsche σ-Algebra auf Rd, Λd . . . Lebesguesche σ-Algebra auf Rd (d ∈ N).

Satz 4.3 Fur alle d ∈ N gilt: Bd $ Λd $ P(Rd), J d $ Λd, Bd 6⊂ J d, Bd 6⊃ J d,

cardBd = c := card(R), cardJ = cardΛ = 2c.

31

3.4.2 Hauptsatz der Differential- und Integralrechung

Unter welchen Voraussetzungen ist eine Funktion differenzierbar, das unbestimmte Inte-

gral zu ihrer Ableitung oder die Ableitung ihres zugehorigen unbestimmten Integrals?

Definition 4.2 A ⊂ R, F := I ⊂ R | I Intervall mit λ(I) > 0. F heißt Vitali-

Uberdeckung von A, falls fur alle x ∈ A und alle ε > 0 ein I ∈ F exisitiert mit x ∈ I

und λ(I) < ε.

Satz 4.4 (Uberdeckungssatz von Vitali) Sei A eine beliebige Teilmenge von R mit

λ∗(A) < ∞ und F eine Vitali-Uberdeckung von A. Dann gibt es fur alle ε > 0 eine

endliche Folge von disjunkten Mengen I1, . . . , In ∈ F mit

λ∗

(A \

n⋃

k=1

Ik

)< ε

Korollar 4.1 Ist F eine Vitali-Uberdeckung von A ⊂ R, so existiert eine abzahlbare Folge

disjunkter Intervalle I1, I2, . . . aus F , so dass

λ∗

(A \

∞⋃

k=1

Ik

)= 0

Satz 4.5 (Lebesgue) Ist f : [a, b] → R monoton wachsend, so ist f Lebesgue-f.u. diffe-

renzierbar. Setze f ′(x) := 0 fur alle x ∈ [a, b], an denen f nicht differenzierbar ist, so ist

f ′ ∈ L1([a, b]) und ∫ b

a

f ′(x) dx ≤ f(b) − f(a)

Definition 4.3 Eine Funktion f : [a, b] → R heißt von beschrankter Variation uber [a, b],

falls ihre totale Variation uber [a, b]

V ar(f ; [a, b]) := sup

n∑

k=1

|f(xk) − f(xk−1)| : a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn = b, n ∈ N

endlich ist.

Korollar 4.2 (Lebesgue) Jede Funktion von beschrankter Variation ist Lebesgue-f.u.

differenzierbar.

Definition 4.4 Eine reellwertige Funktion F heißt absolut stetig auf dem Intervall [a, b],

falls fur jedes ε > 0 ein δ > 0 existiert, so dass fur alle a ≤ α1 < β1 ≤ α2 < β2 ≤ . . . αn <

βn ≤ b mit∑n

k=1(βk − αk) < δ

n∑

k=1

|F (βk) − F (αk)| < ε

gilt.

32

Folgerung: a) Jede absolut stetige Funktion ist stetig.

b) Jede absolut stetige Funktion ist von beschrankter Variation, also ist jede absolut

stetige Funktion Lebesgue-f.u. differenzierbar.

Satz 4.6 (Vitali) Jede absolut stetige Funktion F : [a, b] → R mit F ′ = 0 Lebesgue-f.u.

ist konstant.

Satz 4.7 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung fur das L-Integral)

a) Ist f : [a, b] → R Lebesgue-integrierbar, so ist

F (x) :=

∫ x

a

f(t) dt (a ≤ x ≤ b)

absolut stetig und es gilt F ′ = f Lebesgue-f.u.

b) Ist F : [a, b] → R absolut stetig und setzt man F ′(x) := 0 fur alle x ∈ [a, b], in denen

F nicht differenzierbar ist, so ist F ′ Lebesgue-integrierbar uber [a, b], und es gilt

F (x) − F (a) =

∫ x

a

F ′(t) dt (a ≤ x ≤ b).

Eine Funktion F : [a, b] → R heißt unbestimmtes Integral, wenn eine Lebesgue-integrierbare

Funktion f : [a, b] → R existiert, so dass

F (x) :=

∫ x

a

f(t) dt (a ≤ x ≤ b)

Korollar 4.3 (Vitali) Eine Funktion F : [a, b] → R ist genau dann ein unbestimmtes

Integral, wenn F absolut stetig ist.

3.4.3 Lebesgue-Zerlegung

Bezeichnungen: Seien µ und ν zwei signierte Maße auf dem Messraum (Ω,A).

ν µ, falls ν µ-stetig.

ν ⊥ µ, falls ν und µ zueinander singular, d.h. Ω so in zwei disjunkte messbare Mengen A

und B zerlegt werden kann, dass A eine ν-Nullmenge und B eine µ-Nullmenge.

ν = f • µ, falls ν ein signiertes Maß mit der Dichte f bezuglich dem Maß µ.

Satz 4.8 (Lebesguescher Zerlegungssatz) (Ω,A) Messraum, µ σ-endliches Maß auf

A, ν σ-endliches signiertes Maß auf A. Dann gibt es eine eindeutige Zerlegung

ν = ρ + σ

in zwei signierte Maße ρ und σ auf A mit

ρ µ und σ ⊥ µ.

33

Definition 4.5 Eine Funktion F : J → R heißt absolut stetig im Intervall J ⊂ R, wenn

F |[a,b] absolut stetig ist fur alle [a, b] ⊂ J . F heißt singular, falls F stetig und wachsend

ist und F ′ = 0 λ-f.u.

Satz 4.9 Ist F : R → R wachsend und rechtsseitig stetig, so ist µF λ genau dann,

wenn F absolut stetig ist, und dann gilt µF = F ′ • λ.

Definition 4.6 (Ω,A, µ) Maßraum. Eine Menge A ∈ A heißt ein µ-Atom, wenn µ(A) >

0 ist und wenn fur jedes B ∈ A mit B ⊂ A gilt µ(B) = 0 oder µ(A \ B) = 0. Existieren

keine µ-Atome, so heißt µ atomlos. Ist µ σ-endlich und existiert eine (leere, endliche

oder unendliche) Folge (An)n∈N von Atomen, so dass(⋃

n∈NAn

)ceine µ-Nullmenge ist,

so heißt µ rein atomar.

Satz 4.10 Ist F : R → R wachsend und stetig, so ist F genau dann singular, wenn µF

atomlos ist und µF ⊥ λ.

Korollar 4.4 (Lebesguesche Zerlegung von Lebesgue-Stieltjes-Maßen) Zu jeder

maßdefinierenden (d.h. wachsenden rechtsseitig stetigen) Funktion F : R → R existieren

eine Zerlegung

F = Fabs + Fsing + Fd

in wachsende rechtsseitig stetige Funktionen und dazu eine Zerlegung

µF = µabs + µsing + µd

von µF in Maße auf B, so dass:

a) Fabs absolut stetig, µabs λ, µabs = F ′ • λ.

b) Fsing singular, µsing ⊥ λ, F ′sing = 0 λ-f.u.

c) Fd ist eine wachsende rechtsseitig stetige Sprungfunktion, F ′d = 0 λ-f.u., und

∀B∈B

µd(B) =∑

x∈B

(F (x) − F (x − 0))

d) µF = µc + µd ist die eindeutig bestimmte Zerlegung von µF in den atomlosen Anteil

µc = µabs + µsing und den rein atomaren Anteil µd.

e) Mit den Normierungen Fabs(0) = Fsing(0) = Fd(0) = 0 sind die Zerlegungen von F

und µF eindeutig bestimmt.

34

Kapitel 4

Verteilungskonvergenz

4.1 Verteilungskonvergenz in polnischen Raumen

Definition 1.1 Ein vollstandiger separabler metrischer Raum bzw. ein topologischer Raum

mit abzahlbarer Basis, der vollstandig metrisierbar ist, heißt polnischer Raum. — Ist R

ein polnischer Raum, so wird die kleinste σ-Algebra in R, die alle offenen Mengen in R

enthalt, als Borelsche σ-Algebra in R bezeichnet.

Lemma 1.1 Polnische Raume R1,2 mit Metriken ρ1,2 und Borelschen σ-Algebren S1,2.

Dann ist der topologische Produktraum R := R1 ×R2 ein polnischer Raum, wobei die Me-

trik ρ : R1×R2 → R+ mit ρ((x1, x2), (y1, y2)) = ρ1(x1, y1)+ρ2(x2, y2) die Produkttopologie

erzeugt.

Lemma 1.2 Polnischer Raum R mit Metrik ρ und Borelscher σ-Algebra S.

a) Folge (Xn)n∈N von ZVn Xn : (Ω,A, P ) → (R,S) mit:

∀ω∈Ω

lim Xn(ω)︸ ︷︷ ︸=: X(ω)

existiert.

Dann ist X eine (R,S)-ZV auf (Ω,A, P ).

b) ZV X : (Ω,A, P ) → (R,S). Dazu existiert eine Folge (Xn)n∈N von ZVn Xn :

(Ω,A, P ) → (R,S) mit: Xn → X (n → ∞) gleichmaßig auf Ω, ∀n Xn nimmt

hochstens abzahlbar viele Werte in R an.

c) ZVn X, Y : (Ω,A, P ) → (R,S). Dann ist ρ(X, Y ) eine reelle ZV auf (Ω,A, P ).

Definition 1.2 Polnischer Raum R mit Metrik ρ und Borelscher σ-Algebra S. ZVn

Xn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) → (R,S). Die Folge (Xn) heißt gegen X

a) P-f.s. konvergent [Xn → X P-f.s.], wenn ρ(Xn, X) → 0 P-f.s.;

35

b) nach Wahrscheinlichkeit oder stochastisch konvergent [XnP→ X], wenn ρ(Xn, X) →

0 nach Wahrscheinlichkeit;

c) im p-ten Mittel konvergent (1 ≤ p < ∞), wenn Eρ(Xn, X)p → 0.

Definition 1.3 Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. ZVn Xn (n ∈ N), X :

(Ω,A, P ) → (R,S). Die Folge (Xn) heißt gegen X nach Verteilung konvergent (convergent

in distribution, convergent in law) — Schreibweise XnD→ X (n → ∞) — , wenn fur jede

beschrankte stetige Funktion g : R → R gilt

Eg(Xn) → Eg(X) ,

d.h. (nach dem Transformationssatz fur Integrale)∫

R

g dPXn→∫

R

g dPX .

Bemerkung 1.1 In der obigen Beziehung XnD→ X konnen Xn und X durch ZVn X ′

n,

X ′ : (Ω,A, P ) → (R,S) mit PX′

n= PXn

und PX′ = PX ersetzt werden. Außerdem braucht

bei der Verteilungskonvergenz fur die ZVn nicht ein und derselbe W-Raum (Ω,A, P )

zugrundezuliegen. Die Grenzverteilung ist eindeutig.

Satz 1.1 Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S.

ZVn Xn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) → (R,S).

Xn → X f.s. Xn → X im p-ten Mittel (1 ≤ p < ∞)wwww[~ww Teilfolgen

] wwww

Xn → X nach Wahrscheinlichkeitwwww

XnD→ X

Definition 1.4 Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. W-Maße Qn (n ∈ N), Q

auf S. Die Folge (Qn) heißt gegen Q schwach konvergent (weakly convergent) — Schreib-

weise Qn → Q schwach — , wenn fur jede beschrankte stetige Funktion g : R → Rgilt ∫

R

g dQn →∫

R

g dQ (n → ∞) .

Bemerkung 1.2 Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. ZVn Xn (n ∈ N),

X : (Ω,A, P ) → (R,S) mit Verteilungen PXnbzw. PX . Dann

XnD→ X (n → ∞) ⇐⇒ PXn

→ PX schwach.

36

Satz 1.2 (Portmanteau-Theorem) Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S.

W-Maße Qn (n ∈ N), Q auf S. Dann sind die folgenden Aussagen aquivalent:

(1) Qn → Q schwach, d.h. ∀beschr. stet. g:R→R

∫g dQn →

∫g dQ;

(2) ∀beschr. glm. stet. g:R→R

∫g dQn →

∫g dQ ;

(3) ∀abg. S∈S

lim Qn(S) ≤ Q(S) ;

(4) ∀off. S∈S

lim Qn(S) ≥ Q(S) ;

(5) ∀S∈Smit Q(∂S)=0

Qn(S) → Q(S) (wobei ∂S = S − S0 . . . Rand von S).

Bemerkung 1.3 (5) in Satz 1.2 wird haufig ebenfalls zur Definition der schwachen Kon-

vergenz Qn → Q verwendet.

Satz 1.3 Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. ZVn Xn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) →(R,S) . Ist X P-f.s. konstant, so gilt:

XnD→ X ⇐⇒ Xn

P→ X .

Satz 1.4 Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. ZVn Xn (n ∈ N), Yn (n ∈ N),

X : (Ω,A, P ) → (R,S).

XnD→ X

ρ(Xn, Yn)P→ 0

→ Yn

D→ X.

Satz 1.5 Polnische Raume R1,2 mit Borelschen σ-Algebren S1,2.

ZVn Xn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) → (R1,S1) mit XnD→ X (n → ∞),

ZVn Yn (n ∈ N), Y : (Ω,A, P ) → (R2,S2) mit YnD→ Y (n → ∞), wobei Y P-f.s. konstant

sei. Fur die ZVn (Xn, Yn) (n ∈ N), (X, Y ) : (Ω,A, P ) → (R,S), wobei R := R1 × R2

mit Borelscher σ-Algebra S = S1 ⊗ S2, gilt dann

(Xn, Yn)D→ (X, Y );

ist h : R → R3 stetig (R3 polnischer Raum mit Borelscher σ-Algebra S3), so gilt

h(Xn, Yn)D→ h(X, Y ).

Satz 1.6 (Darstellungssatz von Skorokhod) Polnischer Raum R mit Borelscher σ-

Algebra S. ZVn Xn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) → (R,S) mit XnD→ X. Dazu existieren

ein W-Raum (Ω∗,A∗, P ∗) — wobei man Ω∗ = [0, 1], A∗ = [0, 1] ∩ B, P ∗ = L-B-Maß

auf A∗ wahlen kann — und ZVn X∗n (n ∈ N), X∗ : (Ω∗,A∗, P ∗) → (R,S) derart, dass

∀n PXn= PX∗

n; PX = PX∗; X∗

n → X∗ (n → ∞) P ∗-f.s.

37

Satz 1.7 (Satz von der stetigen Abbildung) Polnische Raume R1,2 mit Borelschen

σ-Algebren S1,2. ZVn Xn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) → (R1,S1); Abb. h : (R1,S1) → (R2,S2).

XnD→ X

h PX-f.u. stetig

⇒ h(Xn)

D→ h(X) .

Satz 1.8 Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. ZVn Xn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) →(R,S). Dann sind die folgenden Aussagen aquivalent:

(6) XnD→ X ;

(7) ∀PX-f.u. stet. h:(R,S)→(R,B)

h(Xn)D→ h(X) ;

(8) ∀(beschr.) stet. h:R→R

h(Xn)D→ h(X) .

Korollar 1.1 Reeller separabler Banach-Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. ZVn Xn

(n ∈ N), Yn (n ∈ N), X, Y : (Ω,A, P ) → (R,S). Es gilt:

(Xn, Yn)D→ (X, Y ) =⇒ aXn + bYn

D→ aX + bY (a, b ∈ R) .

Korollar 1.2 (Satz von Slutsky) Reeller separabler Banach-Raum R mit Borelscher

σ-Algebra S.

a) ZVn Xn (n ∈ N), Yn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) → (R,S)

XnD→ X

YnP→ c ∈ R

=⇒ Xn + Yn

D→ X + c

b) ZVn Xn (n ∈ N), X : (Ω,A, P ) → (R,S); ZVn Yn : (Ω,A, P ) → (R,B) (n ∈ N),

XnD→ X

YnP→ c ∈ R

=⇒ YnXn

D→ cX.

Korollar 1.3 Reelle ZVn Xn (n ∈ N), X auf (Ω,A, P ) mit XnD→ X. Dann gilt

E|X| ≤ lim E|Xn|.

Korollar 1.4 Reelle ZVn Xn (n ∈ N), X auf (Ω,A, P ) mit XnD→ X.

38

a) Sind die ZVn Xn gleichmaßig integrierbar, d.h.

supn

[|Xn|≥a]

|Xn| dP → 0 (a → ∞)

[z.B. erfullt, wenn integrierbare ZV Y existieren mit ∀n |Xn| ≤ Y ], so gilt

(∗) EXn → EX (n → ∞).

b) Sind die ZVn Xn (n ∈ N) und X nichtnegativ und integrierbar, so impliziert (∗) die

gleichmaßige Integrierbarkeit der Xn.

Definition 1.5 Metrischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. Eine Menge Q von W-

Maßen auf S heißt

a) relativ-folgenkompakt, wenn jede Folge von Elementen aus Q eine Teilfolge besitzt,

die schwach gegen ein W-Maß auf S konvergiert.

b) (gleichmaßig) straff [tight], wenn

∀ε>0

∃komp. K⊂R

∀Q∈Q

Q(Kc) ≤ ε.

Satz 1.9 (Satz von Prokhorov) Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. Eine

Menge Q von W-Maßen auf S ist genau dann relativ-kompakt, wenn sie gleichmaßig straff

ist.

Satz 1.10 (Auswahlsatz von Helly) Ist (Qn) eine Folge von W-Maßen auf Bk mit

zugehorigen k-dimensionalen Vfn. Fn : Rk → R (n ∈ N), dann existiert eine Indexteilfolge

(ni) und ein Maß Q auf Bk (nicht notwendig W-Maß!) mit zugehoriger maßdefinierender

Funktion F : Rk → R (F (x) := Q((−∞, x]) + const (geeignet), x ∈ Rk) derart, dass

Fni(x) → F (x) (i → ∞) fur alle Stetigkeitspunkte x von F .

Satz 1.9 ist fur Anwendungen folgender Art von Bedeutung:

Qn; n ∈ N gleichmaßig straffe Familie von W-Maßen

auf Borelscher σ-Algebra S1 in einem polnische Raum R1

G . . . eine Familie stetiger Abbildungen von R1

in polnische Raume mit

∀h∈G

(Qn)h → Qh schwach(

∀h∈G

Qh =≈Qh

)=⇒ Q =

≈Q

[Q sowie Q,≈Q W-Maße auf S1]

=⇒ Qn → Q schwach.

39

Hilfssatz 1.1 Die Produkt-σ-Algebra BN = ⊗i∈N

B(i)︸︷︷︸=B

in RN :=∏

i∈NR(i)︸︷︷︸=R

ist auch

Borelsche σ-Algebra zu der Topologie in RN, die durch die Metrik ρ : RN × RN → R mit

ρ(x, y) :=

∞∑

i=1

2−i |x(i) − y(i)|1 + |x(i) − y(i)| (x = (x(i))i∈N , y = (y(i))i∈N)

induziert wird. RN mit Metrik ρ ist ein polnischer Raum.

ρ(xn, x) → 0 ⇐⇒ ∀i∈N

x(i)n → x(i) (xn = (x(i)

n )i∈N ∈ RN, x = (x(i))i∈N ∈ RN).

Hilfssatz 1.2 RN mit Metrik ρ wie in Hilfssatz 1.1. W-Maße Qn (n ∈ N), Q auf BN; fur

eine endliche Menge J ⊂ N sei pj Projektion von RN auf RJ :=∏

i∈J R(i)︸︷︷︸=R

.

Qn → Q schwach ⇐⇒ ∀endl. J⊂N

(Qn)(pJ) → Q(pJ ) schwach.

Hilfssatz 1.3 Polnische Raume R1,2 mit Borelschen σ-Algebren S1,2. Es sei Q eine gleich-

maßig straffe Familie von W-Maßen Q auf S; h : R1 → R2 sei stetig. Dann ist Qh | Q ∈Q eine gleichmaßig straffe Familie von W-Maßen Qh auf S2.

Hilfssatz 1.4 Ein separabler metrischer Raum lasst sich homoomorph in RN mit Topo-

logie wie in Hilfssatz 1.1 einbetten.

Hilfssatz 1.5 W-Maße Qn (n ∈ N), Q auf der Borelschen σ-Algebra S eines polnischen

Raumes R.

Qn → Q schwach ⇐⇒zu jeder Indexteilfolge (n′) existiert eine Indexteilfolge (n′′) mit Qn′′ → Q schwach.

Hilfssatz 1.6 Sei Z die Algebra der Zylinder in BN mit endlich-dimensionaler Basis.

Seien Qn (n ∈ N), Q, Q′ W-Maße auf BN.

a)

(∀

Z∈ZQ′(Z) = Q(Z)

)=⇒ Q′ = Q.

D.h. ein W-Maß auf BN ist schon durch seine Restriktion auf Z festgelegt.

b)

(∀

Z∈Z mit Q(∂Z)=0Qn(Z) → Q(Z)

)=⇒ Qn → Q schwach.

D.h. das Verhalten von (Qn) hinsichtlich der schwachen Konvergenz bzgl. BN ist

schon durch das Konvergenzverhalten bzgl. Z festgelegt.

Hilfssatz 1.7 Polnischer Raum R mit Borelscher σ-Algebra S. W-Maße Qn (n ∈ N), Q

auf S. Ist U ⊂ S ∩-stabil und lasst sich jede offene Menge aus S als hochstens abzahlbare

Vereinigung von Elementen aus U darstellen, so gilt die Implikation:(

∀A∈U

Qn(A) → Q(A)

)=⇒ Qn → Q schwach .

40

4.2 Verteilungskonvergenz in Rk

Satz 2.1 (Satz von Helly und Bray) W-Maße Qn (n ∈ N), Q auf Bk mit Vfn. Fn, F :

Rk → R. Dann gilt:

Qn → Q schwach ⇐⇒ Fn(x) → F (x) fur alle Stetigkeitspunkte x von F .

Definition 2.1 Es sei Q ein W-Maß auf Bk bzw. X ein k-dimensionaler Zufallsvektor

mit Verteilung PX . Dann heißt die auf Rk definierte (i.a. komplexwertige) Funktion ϕ mit

ϕ(u) :=

Rk

ei(u,x)Q(dx), u ∈ Rk

bzw.

ϕ(u) := Eei(u,X) =

Rk

ei(u,x)PX(dx), u ∈ Rk

die charakteristische Funktion von Q bzw. X. [ϕ ist Fourier-Transformierte von Q.]

Satz 2.2 (Eindeutigkeitssatz fur charakteristische Funktionen) Besitzen zwei auf

Bk definierte W-Maße bzw. Verteilungen dieselbe charakteristische Funktion, so stimmen

sie uberein.

Ein Kriterium fur die Unabhangigkeit liefert

Satz 2.3 Reelle ZVn Xj auf (Ω,A, P ) mit charakteristischen Funktionen ϕj : R → C

(j = 1, . . . , n). Sei ϕ : Rn → C die charakteristische Funktion des n-dimensionalen

Zufallsvektors (X1, . . . , Xn). Dann gilt

(X1, . . . , Xn) unabhangig ⇐⇒ ∀u=(u1,...,un)∈Rn

ϕ(u) =n∏

j=1

ϕj(uj) .

Probleme der k-dimensionalen Verteilungskonvergenz lassen sich auf k-dimensionale Kon-

vergenzprobleme der klassischen Analysis zuruckfuhren durch

Satz 2.4 (Satz von Levy-Cramer; Stetigkeitssatz)

A) W-Maße Qn auf Bk mit charakteristischen Funktionen ϕn : Rk → C (n ∈ N).

Ist Q ein W-Maß auf Bk mit charakteristischer Funktion ϕ : Rk → C und gilt

Qn → Q schwach, dann gilt

∀u∈Rk

ϕn(u) → ϕ(u) .

Existiert eine in 0 stetige Funktion ϕ : Rk → C und gilt

∀u∈Rk

ϕn(u) → ϕ(u) ,

dann existiert ein W-Maß Q auf Bk mit charakteristischer Funktion ϕ und Qn → Q

schwach.

41

B) W-Maße Qn (n ∈ N), Q auf Bk mit charakteristischen Funktionen ϕn, ϕ : Rk → C .

Qn → Q schwach ⇐⇒ ∀u∈Rk

ϕn(u) → ϕ(u).

Probleme der k-dimensionalen Verteilungskonvergenz lassen sich auf Probleme der eindi-

mensionalen Verteilungskonvergenz zuruckfuhren durch

Satz 2.5 (Satz von Cramer-Wold; Cramer-Wold device) Seien Xn (n ∈ N), X k-

dimensionale Zufallsvektoren auf (Ω,A, P ). Dann gilt:

XnD→ X ⇐⇒ ∀

α∈Rk

(α, Xn)D→ (α, X) .

︸ ︷︷ ︸jede Linearkombination der Komponenten von

Xn konvergiert nach Verteilung gegen die entspre-

chende Linearkombination der Komponenten von X.

Definition 2.2 Fur einen k-dimensionalen Zufallsvektor X = (X1, . . . , Xk)′ mit EX2

i <

∞ (i = 1, . . . , k) wird der k-dimensionale Vektor a := EX (komponentenweise) als Er-

wartungsvektor und die — positiv-semidefinite symmetrische k × k — Matrix S := Cov

X := E(X −a)(X −a)′ = EXX ′−aa′ (komponentenweise) als Kovarianzmatrix bezeich-

net.

Definition 2.3 Ein k-dimensionaler Zufallsvektor heißt Gaußisch oder normalverteilt,

wenn die Anwendung eines reellwertigen auf Rk definierten (beschrankten) linearen Funk-

tionals jeweils eine reelle normalverteilte Zufallsvariable liefert.

Satz 2.6 Unter den k-dimensionalen Zufallsvektoren mit Erwartungsvektor 0 lassen sich

genau die Gaußschen Zufallsvektoren in der Form A Y darstellen mit einer k × k-Matrix

A und einem unabhangigen k-tupel Y ′ N(0, 1)-verteilter Zufallsvariablen.

Satz 2.7 a) Der Gaußsche Zufallsvektor X = AY + a (k × k-Matrix A, k-tupel Y un-

abhangiger N(0, 1)-verteilter Zufallsvariablen, k-dim. Vektor a) besitzt die Kovarianzma-

trix A A′ und den Erwartungsvektor a.

b) Jede positiv-semidefinite symmetrische k × k-Matrix S ist die Kovarianzmatrix eines

k-dimensionalen Gaußschen Zufallsvektors X = AY mit Y wie zuvor und A = CB, wobei

C eine orthogonale k × k-Matrix, B eine Diagonalmatrix mit nichtnegativen Elementen

ist und D = BB′, C ′SC = D gilt.

Satz 2.8 a) Ein k-dimensionaler Gaußscher Zufallsvektor mit Kovarianzmatrix S und

Erwartungsvektor a hat eine charakteristische Funktion ϕ : Rk → C mit

ϕ(u) = eia′u− 12u′Su , u′ ∈ Rk

42

und — falls S invertierbar ist — eine Dichte f : Rk → R+ mit

f(x) =1√

(2π)k|S|e−

12(x−a)′S−1(x−a) , x′ ∈ Rk .

b) Die Verteilung eines Gaußschen Zufallsvektors ist durch die Kovarianzmatrix S und

den Erwartungsvektor a eindeutig festgelegt . . . Bezeichnung N(a, S).

Satz 2.9 Sei X = (X1, . . . , Xk)′ ein k-dimensionaler N(a, S)-verteilter Zufallsvektor.

Dann gilt:

(X1, . . . , Xk) unabhangig ⇐⇒ S Diagonalmatrix .

Satz 2.10 (Zentraler Grenzwertsatz von Lindeberg-Levy) Es sei (Xn)n∈N eine un-

abhangige Folge identisch verteilter quadratisch integrierbarer k-dimensionaler Zufallsvek-

toren mit Erwartungsvektor EX1 =: a und Kovarianzmatrix

Cov X1 =: S. Dann

1√n

n∑

k=1

(Xk − a)D→ N(0, S)-vert. Zufallsvektor.

4.3 Verteilungskonvergenz in C[0,1]

C[0, 1] sei mit der max-Norm versehen. Mit der dadurch induzierten Metrik ist C[0, 1] ein

polnischer Raum; die zugehorige Borelsche σ-Algebra sei mit C bezeichnet.

Satz 3.1 Ein W-Maß Q auf der Borelschen σ-Algebra C in C[0, 1] ist durch die zu-

gehorigen endlich-dimensionalen Verteilungen Q(pJ ) (pJ Projektion von C[0, 1] auf RJ ,

J endliche Teilmenge von [0, 1]) eindeutig festgelegt.

Satz 3.2 Seien Qn (n ∈ N), Q W-Maße auf der Borelschen σ-Algebra in C[0, 1]. Falls

Qn; n ∈ N gleichmaßig straff ist und die endlich-dimensionalen Verteilungen von Qn

jeweils schwach gegen die endlich-dimensionalen Verteilungen von Q konvergieren (d.h.

(Qn)pJ→ Q(pJ ) schwach fur alle Projektionen pj, J endliche Teilmenge von [0, 1]), dann

gilt

Qn → Q schwach.

Im Hinblick auf die Existenz von W-Maßen auf C ist der folgende Satz nutzlich, welcher

Satz 3.2 umfasst.

Satz 3.3 C[0, 1] mit Borelscher σ-Algebra C. Folge (Qn)n∈N von W-Maßen auf C.

Qn; n ∈ N gleichmaßig straff

∀J endlich

Teilmenge von[0,1]

(Qn)(pJ) schwach konvergent

=⇒ ∃ Qn → Q schwach

W-Maß Q auf C

43

Definition 3.1 Fur x ∈ C[0, 1] ist der Stetigkeitsmodul wx : (0, 1) → R definiert durch

wx(δ) := sup|s−t|≤δ

|x(s) − x(t)|.

Satz 3.4 (Satz von Arzela-Ascoli) Fur jedes A ⊂ C[0, 1] gilt:

A kompakt ⇐⇒ [supx∈A

|x(0)| < ∞ ∧ supx∈A

wx(δ) → 0 (δ → 0)]

Satz 3.5 Sei Q eine Familie von W-Maßen auf der Borelschen σ-Algebra C in C[0, 1]. Qist genau dann gleichmaßig straff, wenn gilt:

(1) ∀ε>0

∃M∈R+

∀Q∈Q

Q(x ∈ C[0, 1]; |x(0)| ≤ M) ≥ 1 − ε

und

(2) ∀µ>0

∀ε>0

∃δ>0

∀Q∈Q

Q(x ∈ C[0, 1]; wx(δ) ≤ µ) ≥ 1 − ε.

Satz 3.6 Folge (Yn)n∈N von ZVn mit Werten in C[0, 1] mit Borelscher σ-Algebra C. Die

Familie der Verteilungen PYnist genau dann gleichmaßig straff, wenn

(1∗) limM→∞

limn

P [|Yn(0)| > M ] = 0

und

(2∗) ∀µ>0

limδ→0

limn

P

[sup

|t′−t′′|≤δ

|Yn(t′) − Yn(t′′)| > µ

]= 0.

4.4 Satz von Donsker

C[0, 1] mit max-Norm und zugehoriger Borelscher σ-Algebra C.

Satz 4.1 (N. Wiener 1923) Es existiert eine C[0, 1]-wertige Zufallsvariable

W = Wt; t ∈ [0, 1] auf einem geeigneten W-Raum (Ω,A, P ) mit folgenden Eigenschaf-

ten:

W0 = 0, ∀t∈(0,1]

Wt N(0, t)-verteilt,

∀k∈N

∀0≤t0<t1<...<tk≤1

(Wt1 − Wt0︸ ︷︷ ︸ , . . . , Wtk − Wtk−1)︸ ︷︷ ︸ unabhangig

[N(0, t1 − t0)-vert. N(0, tk − tk−1)-vert.]

(sog. Unabhangigkeit der Zuwachse). Hierbei ist die Verteilung PW auf C eindeutig fest-

gelegt.

44

Definition 4.1 W = Wt : t ∈ [0, 1] in Satz 12.1 heißt standardisierte Brownsche

Bewegung oder Wiener-Prozess; die Verteilung PW auf C heißt Wiener-Maß.

Bemerkung 4.1 In Definition 4.1 wird haufig (Ω,A, P ) = (C[0, 1], C, PW ) und W= Iden-

titat auf C[0, 1] gewahlt. Brownsche Bewegung oder Wiener-Prozess werden auch fur den

Fall N(0, σ2t) statt N(0, t), t > 0, mit festem σ > 0 definiert. — Die definierte Brownsche

Bewegung liefert ein idealisiertes wahrscheinlichkeitstheoretisches Modell fur die physika-

lische — eindimensionale — Brownsche Bewegung eines Partikels in einer Flussigkeit.

Der folgende Satz besagt, dass der zufallige Verlauf einer Partialsummenfolge mit un-

abhangigen identisch verteilten am Erwartungswert zentrierten quadratisch integrierba-

ren reellen ZVn (mit stuckweise linearer Interpolation) nach geeigneter Standardisierung

(Stauchung der Index- bzw. Zeitachse im Verhaltnis 1 : n und der Ortsachse im Verhaltnis

1 :√

n) den Wiener-Prozess approximiert und insbesondere seine Existenz sichert, d.h.

Satz 12.1 liefert.

Satz 4.2 (Satz von Donsker (1951)) Die reellen ZVn Xn, n ∈ N, auf einem W-

Raum (Ω,A, P ) seien unabhangig identisch verteilt quadratisch integrierbar mit EX1 = 0,

V (X1) = 1. Die C[0, 1]-wertigen ZVn Yn = Yn(t); t ∈ [0, 1], n ∈ N, auf (Ω,A, P )

seien definiert durch

Yn(t) := n−1/2

[nt]∑

k=1

Xk + (nt − [nt])n−1/2X[nt]+1, t ∈ [0, 1]

([nt] . . . ganzzahliger Anteil von nt). Dann

YnD→ W,

wobei W eine standardisierte Brownsche Bewegung (s. Definition 4.1) ist.

Bemerkung 4.2 a) Die stuckweise lineare Interpolation in Satz 12.2 kann durch eine

stetige zwischen den ursprunglichen Sprungstellen monotone Interpolation ersetzt

werden.

b) Wegen der durch Satz 1.8 gegebenen Moglichkeit, die Behauptung des Satzes 4.2 in

der Form

∀PW -f.u. stetiges h : (C[0, 1],C) → (R,B)

h(Yn)D→ h(W )

zu formulieren, wird dieser Satz als ein funktionaler (zentraler) Grenzwertsatz be-

zeichnet. Da hierbei die Grenzverteilungen PW und Ph(W ) unabhangig von der Ver-

teilung der ZVn in den Voraussetzungen sind, heißt ein solcher Satz auch Invari-

anzprinzip (Verteilungsinvarianzprinzip).

45

c) Mit dem Punktfunktional x 7→ x(1), x ∈ C[0, 1], erhalt man aus Satz 4.2 sofort

den zentralen Grenzwertsatz von Lindeberg-Levy (Satz 2.10) fur k = 1. — Die

Grenzverteilung Ph(W ) versucht man entweder durch unmittelbare Untersuchung

von W oder durch Behandlung einer speziellen Folge von ZVn (Invarianzprinzip!)

— z.B. unabhangigen reellen ZVn mit ∀n P [Xn = −1] = P [Xn = 1] = 12

oder

∀n ∈ N PXn= N(0, 1) — in Satz 4.1 zu ermitteln.

Lemma 4.1 (B.M. Brown 1971) . Sei (X0, X1, . . . , Xn) ein — beim festen Index n ∈N abbrechendes — Martingal mit X0 = 0 [Spezialfall X0 = 0, Xk = V1 + . . . + Vk (k =

1, . . . , n) mit unabhangigen integrierbaren Vk, wobei EVk = 0] Dann gilt

∀c>0

P

[max

k∈1,...,n|Xk| > 2c

]≤ 1

cE(|Xn|1[|Xn|≥c]

).

Eine Anwendung des Satzes von Donsker ergibt

Satz 4.3 (Erdos und Kac 1946) Die reellen ZVn Xn, n ∈ N, auf (Ω,A, P ) seien

unabhangig identisch verteilt quadratisch integrierbar mit EX1 = 0, V (X1) = 1. Fur

Sn :=∑n

i=1 Xi, n ∈ N, gilt dann

P[n− 1

2 max0, S1, . . . , Sn ≤ x]→

2 · 1√2π

∫ x

0e−

t2

2 dt, x ≥ 0

0(n → ∞).

46

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