Marknagelung gebohrt versus ungebohrt

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Die Tibiaschaftfraktur stellt eine Do-mäne der intramedullären Osteosynthe-se dar. Seit Einführung der intramedul-lären Schienung mit Nagel durch Künt-scher 1940 hat die Technik eine stürmi-sche Entwicklung hinter sich gebracht.

1955 wurde über die Entwicklungflexibler Markraumbohrer berichtet.Die Weiterentwicklung des klassischenKüntscher-Nagels zum Verriegelungs-nagel durch Klemm u. Schellmann 1972führte zu einer Indikationsausweitung,es waren nun auch metaphysennaheFrakturen und Trümmerfrakturen einerstabilen intramedullären Nagelung zu-gänglich.

1991 wurde über die ersten Erfah-rungen mit einem soliden, ungebohrtenTibianagel berichtet [5]. Dieser war alsAlternative zum Fixateur externe vorge-sehen, dessen Anwendung durch man-gelnden Tragekomfort für den Patientenund die hohe Zahl an Pin-trac-Infektio-nen belastet ist. Zunächst war das Im-plantat lediglich als Interimslösung beider Erstversorgung von Frakturen mitWeichteilschaden gedacht, dann zeigtesich jedoch, dass Frakturen auch mitdem unaufgebohrten Nagel zur Aushei-lung gebracht werden konnten.

Mittlerweile ist eine Vielzahl vongebohrten und ungebohrten Marknä-geln auf dem Markt. Für den Chirurgenstellt sich also die Frage, welche Diffe-renzialindikationen bei der Entschei-dung zwischen gebohrtem und unge-bohrtem Tibianagel bestehen und wel-che der postulierten Vor- und Nachteileder beiden Systeme bewiesen sind.

Indikation zur Marknagelung

Als Standardindikation ist die diaphysä-re Tibiafraktur zu sehen.

Je nach Frakturtyp kann die Indi-kationstellung bis in den distalen meta-physennahen Schaft ausgedehnt wer-den. Sind Nägel mit nur geringer Her-zog-Krümmung vorhanden, könnenauch metaphysennahe, proximale Tibia-frakturen genagelt werden. Eine weitereIndikation stellt die Therapie der Pseud-arthrose dar. Auch Korrektureingriffezur Behebung von Achs- und Rotations-fehlstellungen und die Versorgung pa-thologischer Frakturen sind durch dieMarknagelung möglich.

Gebohrter Marknagel

Der gebohrte Marknagel der Tibia zeich-net sich durch hohe Stabilität infolgeelastischer Markraumverklemmung aus.Außerdem wird eine Stärkung der osteo-genetischen Potenz bei geschlossenenFrakturen propagiert.

Als Nachteil werden die durch dieAufbohrung entstehenden mechani-schen, thermischen und metabolischenSchäden gesehen. Eine Verwendung beioffenen Frakturen wird daher allgemeinnicht empfohlen.

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S125

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S125–S129 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur

Michael Kappus · Martin BörnerBG-Unfallklinik Frankfurt

Marknagelung gebohrt versus ungebohrt

Dr. Michael KappusKrankenhaus Itzehoe, Robert-Koch-Straße 2,25524 Itzehoe(E-Mail: [email protected],Tel.: 04821-7722100, Fax: 04821-7722109)

Zusammenfassung

Die Marknagelung ist heute das Standard-verfahren zur Versorgung der Tibiaschaft-fraktur. Sowohl die gebohrte als auch die un-gebohrte Marknagelung haben bei der Ver-sorgung ihren festen Platz.Während die un-gebohrte Marknagelung aufgrund der Ver-wendbarkeit bei höhergradigen Weichteil-schäden bei der Erstversorgung zu bevorzu-gen ist, ist bei den Korrektureingriffen an derTibia der gebohrten Marknagelung aufgrundder höheren mechanischen Stabilität derVorzug zu geben. Anhand einer Literatur-übersicht werden die Vor- und Nachteile derbeiden Systeme herausgearbeitet und einedifferenzierte Therapieempfehlung abgelei-tet.

Schlüsselwörter

Tibiamarknagelung · Ungebohrt · Gebohrt ·Indikationsstellung

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Dem gebohrten Nagel werden auf-grund der Keimverschleppung durchden Bohrvorgang und den Hohlraumdes Nagels höhere Infektraten nachge-sagt.

Eine Zusammenstellung der postu-lierten Vor- und Nachteile findet sich inTabelle 1.

Ungebohrter Marknagel

Der ungebohrte Marknagel stellt, andersals der gebohrte Marknagel, nur eineintramedulläre Schienung der Tibia dar.Die mechanische Belastbarkeit ist ge-ringer und Materialbrüche demzufolgehäufig (Abb. 1). Die Schädigung derKnochendurchblutung wird als geringerangesehen. Die Indikationsstellung istaufgrund geringer Infektraten bis zurFrakturversorgung mit höhergradigemWeichteilschaden ausgedehnt worden.Durch die fehlende Aufbohrung entfal-len thermische Schäden und Mediator-einschwemmung in den Kreislauf,außerdem verkürzt sich die Operations-zeit.

Die Pseudarthroserate soll auf-grund der geringeren Stabilität höher alsbeim gebohrten Marknagel sein.

Eine Zusammenstellung postulier-ter Vor- und Nachteile findet sich in Ta-belle 2.

Was ist bewiesen?

Tierexperimentelle Untersuchungen ha-ben die vermehrte Schädigung der Kno-

S126 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

M. Kappus · M. Börner

Reamed vs unreamed medullary nailing

Abstract

Intramedullary nailing is now accepted asthe standard treatment for shaft fractures ofthe tibia, reamed and unreamed nailing eachhaving a firmly established place. Unreamednailing is preferred for primary treatment, asit can be used in cases of more severe softtissue compromise. Reamed intramedullarynailing is preferable for revision operationson the tibia, since it is characterized bygreater mechanical stability.The recent liter-ature is reviewed to highlight the advan-tages and disadvantages of each treatmentsystem, and separate recommendations forthe application of reamed and unreamedmedullary nailing are elaborated.

Keywords

Unreamed tibial nail · Reamed tibial nail ·Tibial shaft fractures

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S125–S129 © Springer-Verlag 2001

Tabelle 1Gebohrte Marknagelung

Vorteile Nachteile

Hohe Stabilität durch Markraumverklemmung Metabolische, thermische und mechanischeSchädigung des Knochens

Stärkung osteogenetischer Potenz bei Höhere Infektratengeschlossenen Frakturen

Anfrischung des Knochenbetts bei Keine Eignung bei höhergradigemKorrektureingriffen Weichteilschaden

Tabelle 2Ungebohrte Marknagelung

Vorteile Nachteile

Eignung bei offenen und höhergradigen Materialbruchgeschlossenen Weichteilschäden

Schonung der endostalen Durchblutung Geringe mechanische Stabilität

Verkürzte Operationszeit

Keine Osteonekrose durch thermische Höhere PseudarthroserateSchädigung

Keine relevante Mediatoreneinschwemmungin den Kreislauf

Abb. 1 � Beispiel für den typischen distalenBolzenbruch bei ungebohrtem Nagel

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chendurchblutung bei der Verwendungvon gebohrten Marknägeln belegt. ImTierexperiment zeigte sich bei den un-gebohrten Tibianägeln eine frühzeitige-re Knochenbruchheilung [4, 10].

Eine vermehrte Mediatorenein-schwemmung in den Kreislauf, wie siebei der Oberschenkelnagelung nachge-wiesen wurde, konnte an der Tibia bis-her nicht gezeigt werden.

Die Vergleichbarkeit klinischer Stu-dien wird durch die Verwendung unter-schiedlicher Implantate, die unterschied-liche Klassifikation der Weichteilschä-den, geringe Fallzahlen und das unter-schiedliche Zeitintervall zwischen Trau-ma und Nagelung erschwert.

Tabelle 3 zeigt einen Literaturver-gleich der letzten Jahre.

Die unaufgebohrte Tibianagelungerfolgt bei allen Schweregraden derWeichteilschädigung. Die gebohrte Na-gelung bei höhergradigen Weichteil-schäden ist nur bei einem Autor doku-mentiert [6].

Die Infektrate liegt sowohl bei denungebohrten als auch bei den gebohrtenTibianägeln zwischen 0 und 3%, hier istallerdings der generell höhere Weich-

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Tabelle 3Literaturübersicht ungebohrter/gebohrter Tibiamarknagel [9]

Autor Jahr Studiendesign n Weichteilschaden Pseudarthrose Infektion Materialbruch KnochenheilungG/O I–III

Literaturübersicht ungebohrter Tibiamarknagel

Ostermann et al. [7] 1993 Retrospektiv 33 G = 40% 6% 3% 12% 23,5 WochenI–III = 60%

Hofer et al. [2] 1994 Retrospektiv 33 G = 94% 0 0 ? 12–14 WochenI–II = 6%

Gregory u. Sanders [1] 1995 Prospektiv 38 G = 100% 8% 3% 25% 16 Wochen

Ruchholtz et al. [9] 1996 Retrospektiv/ 26 G = 62% 4% 0 4% 12 Wochenprospektiv I = 38%

Jockheck et al. [3] 1996 Prospektiv 131 G = 54% 2,30% 1,50% 26% 19,8 WochenI–III = 46%

Richter et al. [8] 1998 Prospektiv 50 G = 64% 2% 0 10% ?I = 36%

Literaturübersicht gebohrter Tibianagel [9]

Wu u. Shih [12] 1993 Retrospektiv 38 G und I = 100% 3% 0 ? 18 Wochen

O’Dwyer et al. [6] 1994 Prospektiv 35 G = 85% 6% 0 ? 20 WochenI–II = 15%

Wiss u. Stetson [11] 1995 Prospektiv 101 G = 100% 2% 3% ? 28 Wochen

Ruchholtz et al. [9] 1996 Retrospektiv/ 35 G = 97% 6% 0 ? 18 WochenProspektiv I = 3%

Abb. 2 a–d � Beispiel für eine Versorgung mit ungebohrtem Tibianagel. 34-jähriger Patient mit ge-schlossener distaler Tibiaschaftfraktur, a Unfallbild, b postoperativ, c 6 Monate postoperativ, d nacherfolgter ME

a bb cc d

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teilschaden bei der Verwendung des un-gebohrten Marknagels zu berücksichti-gen.

Die Pseudarthroserate wurde in bei-den Gruppen mit bis zu 8% angegeben.

Die Überlegenheit eines der Systeme isthinsichtlich der Pseudarthroserate nichteindeutig abzulesen.

Während in der zitierten Literaturbei der Verwendung gebohrter Marknä-

gel keine Angaben über Materialbruchgemacht werden, sind insbesondere Bol-zenbrüche bei den unaufgebohrten Nä-geln bei bis zu 26% der Patienten doku-mentiert, ohne dass dies jedoch einenNachteil auf die Knochenbruchheilungzu haben scheint.

Die Zeitdauer der Knochenheilungzeigt deutliche Schwankungsbreiten inden Angaben der einzelnen Autoren.DieÜberlegenheit eines Systems lässt sichdaraus nicht eindeutig belegen.

Diskussion

Sowohl der gebohrte als auch der unge-bohrte Tibianagel haben ihren Nutzenunter Beweis gestellt. Obwohl die Schä-digung der endostalen Durchblutungdes Knochens durch die Aufbohrungebenso wie die Osteonekrose durchthermische Schädigung experimentellbelegt wurde, zeigt die klinische Erfah-rung mit dem gebohrten Tibiamarkna-gel keine höheren Pseudarthroseratenoder eine längere Knochenheilungszeitim Vergleich zum unaufgebohrtenMarknagel.

Die Verwendung des gebohrtenMarknagels bei höhergradigen Weich-teilschäden, insbesondere bei offenenFrakturen, sollte jedoch unterbleiben,um zum einen keine zusätzlichen Schä-den durch den Bohrvorgang zu setzenund andererseits die Keimverschlep-pung zu verhindern.

Auch wenn bisher eine Mediator-einschwemmung in den Kreislauf ausder Tibia durch den Aufbohrungsvor-gang nicht nachgewiesen wurde, istdoch von zumindest ähnlichen Gege-benheiten wie beim Femur auszuge-hen.

Bei Mehrfachverletzten und poly-traumatisierten Patienten werden daherbei der Erstversorgung die soliden Nä-gel verwendet. Die Erstversorgung einerTibiaschaftfraktur mit Weichteilschadenerfolgt ebenfalls mit nichtgebohrtemNagel (Abb. 2, 3).

Einen festen Platz in der Versor-gung haben die gebohrten Tibianägelbei allen Revisionseingriffen. Bei Ver-fahrenswechseln (Abb. 4), bei Pseud-arthrosen (Abb. 5) und bei Korrektur-eingriffen von Fehlstellungen (Abb. 6),insbesondere bei Drehfehlstellungen,zeichnet sich der gebohrte Nagel durchseine gute Handhabbarkeit aus.Auch beider Versorgung pathologischer Fraktu-

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Unterschenkelfraktur

Abb. 3 a, b � Beispiel fürdie Versorgung mit un-gebohrtem Tibianagel

bei offener Fraktur.63-jähriger Patient mit of-fener distaler Unterschen-kelfraktur Grad 2, a Unfall-

bild, b postoperativa b

Abb. 4 a–c � Beispiel für Verfahrenswechsel auf einen gebohrten Marknagel. 85-jährige Patientin mitoffener Unterschenkelfraktur Grad 3, a Unfallbild, b postoperativ nach Fixateuranlage, c nach Verfah-renswechsel

a b c

Abb. 5 a, b � Beispiel fürVerfahrenswechsel bei

hypertropher Pseudarthro-se. 40-jähriger Patient mit

primär unzureichenderMarkraumschienung einer

Tibiafraktur im Ausland,a präoperativer Befund,b postoperativ nach ge-bohrter Marknagelung

a b

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ren sind die gebohrten Nägel wegen ih-rer höheren mechanischen Stabilität zubevorzugen. Einen Überblick über dieempfohlene Indikationsstellung des ge-bohrten und des ungebohrten Tibiana-gels gibt Tabelle 4.

Literatur1. Gregory P, Sanders R (1995) The treatment of

closed, unstable tibial shaft fractures with un-reamed interlocking nails. Clin Orthop315:48–55

2. Hofer HP, Seibert FJ, Schweighofer F, Paszic-snyek T (1995) Der unaufgebohrte Tibianagel(UTN) in der Behandlung von Unterschenkel-frakturen – Erste Erfahrungen. LangenbecksArch Chir 379:32–37

3. Jockheck M, Schwab E, Balz M,Weller S (1996)Indikationsbreite der unaufgebohrten Tibia-marknagelung. Aktuelle Traumatol26:141–145

4. Klein MPM, Rahn BA, Frigg R, Kessler S, PerrenSM (1990) Reaming versus non-reaming inmedullary nailing: interference with corticalcirculation of the canine tibia. Arch OrthopTrauma Surg 109:314–316

5. Krettek C, Haas N, Schandelmaier P, Frigg R,Tscherne H (1991) Der unaufgebohrte Tibia-nagel (UTN) bei Unterschenkelschaftfrakturenmit schwerem Weichteilschaden. Unfallchirurg94:579–587

6. O’Dwyer KJ, Charkravarty RD, Esler CN (1994)Intramedullary nailing technique and its effecton union rates of tibial shaft fractures. Injury25:461–464

7. Ostermann PAW, Knopp W, Josten C, Muhr G(1993) Ungebohrter Marknagel oder Fixateurexterne beim komplizierten Unterschenkel-bruch? Chirurg 64:913–917

8. Richter D, Hahn MP, Laun RA, Ekkernkamp A,Muhr G, Ostermann PAW (1998) Der sprungge-lenksnahe Unterschenkelbruch. Ist die Osteo-synthese mit ungebohrtem Marknagel aus-reichend? Chirurg 69:563–570

9. Ruchholtz S, Nast-Kolb D, Schweiberer L (1996)Marknagelung bei Unterschenkelfrakturen mitgeringem Weichteilschaden. Orthopäde25:197–206

10. Runkel M,Wenda K, Rahn B, Ritter G (1994)Knochenheilung bei unaufgebohrter versusaufgebohrter Marknagelung. Osteo Int1:60–68

11. Wiss DA, Stetson WB (1995) Unstable fracturesof the tibia treated with interlocking nailing.Clin Orthop 315:56–63

12. Wu CC, Shih CH (1993) Segmental tibial shaftfractures treated with interlocking nailing.J Orthop Trauma 7:468–472

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Tabelle 4Indikationsstellung zur Tibiamarknagelung

Gebohrter Marknagel Ungebohrter Marknagel

Verfahrenswechsel Frakturversorgung bei höhergradigem

Korrekturosteotomien Weichteilschaden

Pseudarthrosen Frakturversorgung beim Mehrfachver-

Pathologische Frakturen letzten und Polytrauma

Geschlossene Frakturen ohne höhergradigenWeichteilschaden

Abb. 6 a–c � Beispiel für Korrekturosteotomie. 19-jähriger Patient mit Zustand nach Unterschenkel-fraktur, a 27° Innendrehdifferenz, präoperativer Befund, b postoperativ nach Derotationsosteotomieund Einbringung eines gebohrten Nagels, c 14 Monate nach dem 2. Eingriff, knöcherne Konsolidierung

a b c