Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

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Carsten Herrmann-Pillath Marktwirtschaft in China

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Carsten Herrmann-Pillath Marktwirtschaft in China

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Carsten Herrmann-Pillath

Marktwirtschaft in China Geschichte - Strukturen - Transformation

Leske + Budrich, Opladen 1995

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ISBN 978-3-8100-1275-3 ISBN 978-3-322-93630-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93630-1

© 1995 by Leske + Budrich, Opladen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zu­stimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver­viemUtigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Leske + Budrich

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Vorwort

Das vorliegende Buch ist der Versuch einer Summe und Bewertung des chi­nesischen Weges zur Marktwirtschaft und Wirtschaftswachstums in diesem Jahrhundert. Dies mag ein vermessener Anspruch sein. Allerdings ist es in der Praxis immer wieder erforderlich, solche Einschätzungen und Überblicke zu formulieren, sei es in öffentlichen Veranstaltungen und Vorträgen, in Vor­lesungen oder bei der Politikberatung. Insofern erweist sich das Vorhaben als wenig ungewöhnlich, und in diesem Sinne verfolgt das Buch also ein prakti­sches Interesse und keine universalhistorischen und theoretischen Ansprüche.

Konkret geht der Text auf meine einführenden Vorlesungen im Fachgebiet Ostasienwirtschaft/China an der Gerhard-Mercator Universität GH Duisburg zurück. Ihr Inhalt hat sich laufend geändert, nicht nur, weil sich China rasch ändert, sondern auch mein eigenes Wissen über China. Die jetzige Form ver­sucht auf engem Raum nicht nur einen Überblick über wichtige Merkmale von Wirtschaftsordnung und Wirtschafts wachstum der VR China zu geben, sondern den weiteren chinesischen Wirtschaftsraum zumindestens teilweise ins Auge zu fassen. Die Internationalisierung der chinesischen Wirtschaft vollzieht sich auf dem Wege der Regionalisierung des Festlandes und regio­nalen Integration zwischen Festland und ehemaliger Peripherie, also Hong Kong und Taiwan. Um diesen Prozeß wiederum richtig verstehen zu können, ist wenigstens andeutungsweise die (Wirtschafts)Geschichte vor 1949 zu be­trachten.

Ergebnis ist der Versuch einer Synthese in Gestalt eines buchlangen Essays über die chinesische Marktwirtschaft, ihre Geschichte, ihre strukturellen De­terminanten und ihre heutige Transformation - das heißt, ich betrachte die sozialistische Planwirtschaft China eigentlich als einen Zwischenschritt in dem viel weiter und tiefer reichenden Prozeß der "Great Transformation". Dem Charakter eines Essays entsprechend wurde auch auf einen wissen­schaftlichen Apparat verzichtet, einige Literaturhinweise finden sich jeweils am Ende der Kapitel. Das Buch soll außerdem auch für Leserinnen und Leser verständlich sein, die nur erste Schritte bei der Befassung mit der chinesi­schen Wirtschaft - einige mehr mit China - gegangen sind. Daher ist es mit vielen Tabellen und Abbildungen angereichert, die eine Fülle von empiri­schen Informationen geben. Es ist aber kein systematischer Überblick über die chinesische Wirtschaft im Sinne einer Wirtschaftskunde.

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Vielleicht schwer verdaulich ist das zweite Kapitel. Es war mir ein Anlie­gen, zunächst die vielfältigen Probleme zu diskutieren, wie wirtschaftlicher Wandel im heutigen China überhaupt objektivierbar ist. Die westlichen Ana­lysen schwanken immer wieder stark zwischen unbegründetem Pessimismus und ebenso unbegründetem Optimismus, weil die Frage allzu oft in den Hin­tergrund gedrängt und dann vergessen wird, wie unser Bild Chinas zustande kommt, und was eigentlich die Kriterien sind sind, mit deren Hilfe wir Reali­tät, Erwartungen und Illusionen voneinander unterscheiden können. Die spä­teren Kapitel des Buches können aber auch unabhängig von diesem Teil ver­standen werden.

Ohne die tatkräftige Unterstützung meines Mitarbeiters, Herrn Dr. Song Xueming, hätte vor allem der tabellarische Teil nicht die Breite erhalten, die er nun gewonnen hat. Dem Verlag danke ich für die Bereitschaft, einen Text über China zu publizieren, der in mancher Hinsicht vielleicht quer zu den Er­wartungen potentieller Leserinnen und Leser liegt, die China bereits als das "Wirtschaftswunder" der Zukunft um Auge haben.

Dieses Buch sei meinen Eltern gewidmet, die den Weg von der "gelben Gefahr" zur "Wirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts" lebens weltlich miterlebt haben und während des Übergangs von der Ära Mao zur Ära Deng wenig Vertrauen in die Befassung mit der chinesischen Wirtschaft haben mußten.

Mülheim, den 30.8.1994 Carsten Herrmann-Pillath

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort ..................................................................................... 5 Verzeichnis der Abbildungen .......................... ........................... 8 Verzeichnis der Tabellen........ ............... ................ ..................... 9

1. China: Weltmacht und Weltwirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts? .................................................................... 12

2. Wachstum und Entwicklung in China: Kriterien und Meßprobleme ........ ...................... ..................... 18

2.1. Die Messung von Wohlstand während der Transformation: analytische Unschärfen der wirtschaftswissenschaftlichen Methode ..................................................................................... 18

2.2. Endogenität des Standards bei der Messung von Wirtschaftsleistung: Wie reich ist China wirklich? ..................................................... 24

2.3. Defekte der Internalisierung negativer externer Effekte wirtschaftlicher Entscheidungen: Chinas Umweltkrise .............. 31

2.4. Defekte bei der Erfassung öffentlicher Güter in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: Staatsversagen und Bildungspolitik ............................................ 37

2.5. Mängel der statistischen Erfassung wirtschaftlicher Transaktionen: Was ist was in China? ................................................................ 41

2.6. Unbestimmbarkeit des realen Wechselkurses und langfristiger Trends realer Größen: China als statistisch unbekannte Größe .............. 45

2.7. Die Rolle subjektiver Erwartungen für das Wirtschaftswachstum: Chinas Politik der Symbole .............. ...... ............. ............... ... ..... 49

2.8. Institutionen und Innovationskraft:

3. 3.1.

3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.2.

Schlüssel zukünftiger Entwicklungen ............... ......................... 51

China als regionalisierte und transnationale Wirtschaft ..... . Die Regionalisierung der chinesischen Wirtschaft als säkularer Prozeß ........................................................................ . Chinas traditionelle Wirtschaft der Regionen ........................... . Regionalisierung und Kolonialisierung vor 1949 ..................... . Zellularisierung der Wirtschaft in der Ära Mao ........................ . Wirtschaftsräume und internationale Integration ...................... .

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53 53 55 58 63

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3.2.1. Integration als Grundproblem chinesischer Wirtschaftspolitik.. 63 3.2.2. Hong Kong: Wachstum, Integration des kantonesischen

Wirtschaftsraumes und politischer Wandel................................ 65 3.2.3. Taiwan: Entwicklung, Demokratisierung und wirtschaftliche

Verflechtung mit dem Festland .. ............................ .................... 71 3.2.4. Der Strukturwandel im asiatisch-pazifischen Raum und die neue Rolle

Chinas als potentieller Wachstumspol ....................................... 79 3.3. Der chinesische Binnenmarkt und die Wechselwirkung zwischen

Regionalisierung und Internationalisierung ...... ......................... 82

4. Wurzeln der modernen chinesischen Wirtschaft: Die maoistische Ära .................................................................. 96

4.1. Kulturrevolution und maoistische Ideologie .............................. 97 4.2. Ländliche Entwicklung und Industrialisierungsstrategie ........... 104 4.3. Das Planungssystem ................................................................... 111 4.4. Das fiskalische System ............................................................... 118 4.5. Ergebnisse maoistischer Wirtschaftspolitik als Ausgangspunkt der

Reformen.................................................................................... 120

5. Die Ära Deng Xiaoping: Transformation durch Evolution.. 128 5.1. Die Anfangsphase, 1978-1983 ................................................... 130 5.2. Der Weg zur Krise von 1989 ..................................................... 136 5.3. Wende zur "sozialistischen Marktwirtschaft" ............................ 147 5.4. Eine kurze Beurteilung der Reformpolitik ................................. 155

6. Determinanten: Singularität, lokale Optimierung und evolutorische Transformation ................................................. 158

6.1. Einzigartigkeit der Ausgangsbedingungen und lokale Optimierung ............................................................................... 158

6.2. Theoretischer Rückblick auf den chinesischen Weg zur Marktwirtschaft ................ .......................................................... 165

6.3. Schluß ....................................................................................... 176

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Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung 1: Karte der VR China .................................................................. 11 Abbildung 2: Karte des südchinesischen Wirtschaftsraumes mit Hong Kong

und Taiwan................................................................................ 12 Abbildung 3: Die relative Größe der chinesischen Volkswirtschaft in der

Weltwirtschaft, nominal und nach Kaufkraftparitäten berechnet .................................................................................. 28

Abbildung 4: Das Pro-Kopf-Sozialprodukt der chinesischen Provinzen in US$-Kaufkraftparitäten, 1991 und 1993 ...................... .............. ...... 29

Abbildung 5: Wasserbau (a) und DüngemitteIeinsatz (b) in der chinesischen Landwirtschaft .......................................................................... 35

Abbildung 6: Abbau der Waldbestände in China, 1950-1990 und säkularer Rückgang der landwirtschaftlich genutzten Fläche pro Kopf.. 37

Abbildung 7: Prozentuale Jahrgangsanteile des Eintritts in die Grundschule, mittlere und höhere Ausbildung, China im Vergleich Asiens.. 40

Abbildung 8: Unterschiede in amtlichen Statistiken zum Urbanisierungsgrad der VR China ........................................................................... 44

Abbildung 9: Makroregionen der chinesischen Wirtschaft in vorkommunistischer Zeit .......................................................... 55

Abbildung 10: Wirtschaftsregionen im heutigen China .......................... ......... 65 Abbildung 11: Wachstum des Sozialproduktes und Wandel der Exportstruktur

im asiatisch-pazifischen Raum .............. ............ ....................... 82 Abbildung 12: Hypothetische Integrationswege im chinesischen Binnenmarkt 84 Abbildung 13: Zwangsakkumulation über den Agrarsektor ............................ 104 Abbildung 14: Das staatliche Distributionssystem der Ära Mao ...................... 106 Abbildung 15: Der Bestand an landwirtschaftlichen Nutz- und Zugtieren

1950-1990 ................................................................................ 109 Abbildung 16: Struktur des chinesischen Planungssystems während der

Ära Mao ................................................................................... 115 Abbildung 17: Der chinesische Staatshaushalt 1949-1990 .............................. 119 Abbildung 18: Der Anteil der Schwerindustrie am industriellen Output,

VR China und Südkorea ................ ...... .................... ................. 123 Abbildung 19: Die "Dritte Front Regionen" und der Anteil Sichuans am

staatlichen Investitionsvolumen ............................................... 125 Abbildung 20: Die "Fonds außer Bilanz" als zweiter Staatshaushalt ............... 135 Abbildung 21: Plan und Markt für verschiedene Gütergruppen ...................... 137 Abbildung 22: Unternehmen, Banken und lokale Verwaltungen ..................... 140 Abbildung 23: Die Steuerreform in der Staatsindustrie ................................... 142 Abbildung 24: Die Entwicklung des chinesischen Außenhandels, 1978-1993 151

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Verzeichnis der Tabellen

Tabelle 1:

Tabelle 2: Tabelle 3:

Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6a: Tabelle 6b: Tabelle 7:

Tabelle 8:

Tabelle 9:

Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14:

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Das chinesische Pro-Kopf-Sozialprodukt in RMB und US$ nach verschiedenen Wechselkursen und $-Kaufkraftparitäten . 26 Struktur der Haushaltseinkommen in der VR China ................ 33 Sozialprodukt (a), Bevölkerung (b) und Pro-Kopf-Sozialprodukt (c) der VR China, Hong Kongs und Taiwans nach offiziellen US$-Wechselkursen im Vergleich .................................................... 48 Wirtschaftswachstum und Strukturwandel in Hong Kong ....... 67 Wachstum und Strukturwandel in Taiwan ............................... 74 Handelsvolumen TaiwanlChina über HK ........................... ..... 77 Taiwans Auslandsinvestitionen in Tsd. US$ ........................... 78 Ausgewählte Anlieger-Provinzen des Yangzi im Vergleich mit anderen chinesischen Provinzen .. ..... ............. ...... .... ................. 85 Eigentumsrechtliche Struktur der Kapitalbildung in den Provinzen: 1984,1988 und 1992 (%) ......................................................... 92 Wellen der Zentralisierung und Dezentralisierung im Bereich der staatlichen Industrieuntemehmen .... .......... ....... .... .... ... ....... 113 Wirtschaftsentwicklung im maoistischen China ...................... 120 Ergebnisse der chinesischen Agrarpolitik, 1978-1993 . ............ 131 Liberalisierung der Märkte und Preise, 1978-1993 ....... ... ........ 133 Makroökonomische Entwicklungen, 1978-1993 ........ ............. 141 Die Entwicklung der chinesischen Außenhandelsorganisation . 149

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Abbildung 1: Karte der VR China

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1. China: Weltmacht und Weltwirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts?

Seit einiger Zeit stehen die westlichen Industrienationen an der geöffneten Tür Chinas, um Zutritt zum chinesischen Markt zu erhalten. Während nach dem Massaker am Tiananmen im Juni 1989 die Welt zurückhaltend, oft ab­lehnend, in jedem Fall pessimistisch auf China blickte, hat sich das Bild heu­te nachhaltig gewandelt. Große Unternehmen und bedeutende Politiker des Westens sind bemüht, durch engere Kontakte mit der politischen Führung Chinas den Anschluß an eine Entwicklung zu wahren, die China zur Welt­macht und Weltwirtschaftsmacht des 21. Jhds. führt. Dabei treten politische Bedenken in den Hintergrund: Mehr noch, die chinesische Führung wuchert mit dem Kapital der Zukunft und ist in der Lage, beispielsweise durch die selektive Vergabe von Groß aufträgen an Unternehmen bestimmter Länder angemessenes Verhalten der dortigen Politiker zu erzwingen. Die gegenwär­tige politische Führung, die verantwortlich für die gewaltsame Niederschla­gung der Demokratiebewegung ist, hat die Erwartungen der Welt über die Zukunft Chinas klug genutzt, um erneut politische Anerkennung zu gewin­nen. Selbst der amerikanische Präsident Clinton, der noch im Wahlkampf Präsident Bush mit äußerst scharfen Worten wegen seiner China-Politik an­griff, hat sich heute zur Fortführung von dessen Politik entschlossen: das heißt, zur Entkoppelung zwischen politischen - also insbesondere hinsicht­lich der Menschenrechtsproblematik - und wirtschaftlichen Aspekten der Beziehungen zu China.

Die Volksrepublik China erreicht diese indirekte Einflußnahme auf das Verhalten der weltpolitischen Akteure jedoch paradoxerweise dadurch, daß ihre Führung mit zwei völlig gegensätzlichen Szenarien operiert: Einerseits mit dem Szenario des weltwirtschaftlichen Wachstumspols, an dessen Dy­namik nur mit der Erlaubnis der Kommunistischen Partei teilgenommen wer­den darf, andererseits aber wird das Szenario eines möglichen Scheitern des Wachstumsprozesses beschworen, das mit weitreichender gesellschaftlicher Instabilität verbunden sein würde, vor allem mit einer rapiden Zunahme der Migration aus China. Beide Szenarien suggerieren, daß wirtschaftliche Zu­sammenarbeit mit der VR China eine ökonomische und politische Priorität für den Westen darstellen muß, und daß die damit einhergehende Stabilisie­rung der kommunistischen Führung ein positiver Faktor der Entwicklung ist. In diesem Sinne geht es um weit mehr als wirtschaftliche Interessen, wenn

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der Westen in Chinas geöffnete Tür eintreten möchte: China soll auch - aber nicht nur - durch wirtschaftliche Verflechtung mit der Welt stabilisiert und ein berechenbarer Partner werden.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts scheint China also jene Position der Stär­ke erlangt zu haben, die es seit dem gewaltsamen Zusammenstoß mit dem westlichen Imperialismus im 19. Jhd. anstrebte. Während im 19. Jhd. die "Öffnung der chinesischen Tür" mit der Macht westlicher Kanonenboote er­folgte, geschieht sie heute selbstsicher durch Chinas eigene politische Füh­rung. Dabei wird - fast an alte chinesische Stratagerne erinnernd - selbst die mögliche Schwäche zur Stärke um gemünzt: Letzten Endes soll aber die ent­sprechende Zusammenarbeit mit den entwickelten Industrienationen dazu beitragen, daß die Schwäche nicht zur Wirklichkeit wird. Der künftige Wachstumspol China wird Gegenstand sich selbst erfüllender Prognosen.

Es ist daher eine Frage von grundsätzlicher weltpolitischer Bedeutung, welchen Stand und welche Perspektiven die Wirtschaftsentwicklung in China besitzt. Das Wissen um Sein und Schein der chinesischen Wirtschaft ist ein wesentlicher Faktor, der die Beziehung zwischen China und der Welt prägt. Seit dem 19. Jhd. ist es aber anhaltend schwierig, dieses Wissen zu erlangen. Heute wie damals knüpfen sich an die chinesische Entwicklung und an den Milliardenmarkt Chinas hohe Erwartungen. Damals wie heute betrachten je­doch die näheren und ferneren Nachbarn Chinas eine Verwirklichung dieser Potentiale mit gemischten Gefühlen: Denn wirtschaftliche Stärke verleiht auch politische Macht. Im 19. Jhd. war daher die Teilung Chinas in Interes­sensphären westlicher Mächte ein integraler Bestandteil der Erschließung des chinesischen Marktes. Langfristige Wirkung des Zusammenstoßes zwischen China und dem Westen war aber der Zerfall des Landes nach dem Sturz des Kaiserreiches 1911. Genau dies verhinderte dann die Verwirklichung der wirtschaftlichen Potentiale Chinas und damit auch der ursprünglichen Inter­essen des Westens.

Heute nehmen äußere Kräfte keinen Einfluß auf den inneren Zusammen­halt des Landes. Die Kommunistische Partei hatte nach japanischer Invasion und Bürgerkrieg die historische Aufgabe erfüllt, China wieder zur Einheit zu­rückzuführen. Bis in die achtziger Jahre hinein diente ihr Herrschaftsapparat dazu, diese Einheit zu bewahren, wenn auch die inneren Konflikte der Partei diese Funktion kommunistischer Institutionen teilweise, wie während der Kulturrevolution, bis aufs Äußerste anspannten. Heute jedoch wirken viele Kräfte in Richtung einer Auflösung des kommunistischen Herrschaftssy­stems, mit der immer offensichtlicher werdenden Wirkung, daß auch die Einheit Chinas selbst fragil wird: Gerade die wirtschaftliche Dynamik ist eine der wichtigsten solcher Kräfte. Der Betrachter trifft auf ein Paradox: Könnte es sein, daß gerade der Aufstieg Chinas zur Weltwirtschaftsmacht den chine­sischen Staat als "Macht" auflöst, also im Sinne einer politischen Entität, die eindeutig zurechenbarer Träger der wirtschaftlichen Dynamik ist, im Sinne

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der Deckung von ,,Nation" und "Volkswirtschaft"? Könnte dies aber wieder­um bedeuten, daß auch die Voraussetzungen für die künftige wirtschaftliche Entwicklung gefährdet werden?

Eine mögliche erneute Teilung Chinas wird heute von äußeren Kräften keinesfalls gefördert. Doch wird gerade in der asiatisch-pazifischen Region die Regionalisierung Chinas und also der Niedergang der Machtposition der Pekinger Zentralregierung als wichtiges Gegengewicht zum wirtschaftlichen Aufstieg Chinas angesehen, das verhindert, daß wirtschaftliche Macht in po­litische Vormacht, also Hegemonie, umschlägt. In diesem Sinne scheint sich die Mechanik der Interdependenz Chinas mit der Welt seit dem 19. Jhd. nicht prinzipiell geändert zu haben.

Anders als im 19. Jhd. stellt sich jedoch heute der tatsächliche wirtschaftli­che Einfluß des Westens anders dar. Dies hängt mit der welthistorisch be­deutsamen Folge des unvollendeten westlichen Imperialismus in China zu­sammen, nämlich der Entstehung neuer wirtschaftlicher und gesellschaftli­cher Zentren im chinesischen Kulturraum aus der ehemalig bzw. noch kolo­nialen Peripherie, also in Taiwan, Hong Kong und Singapur. Die Öffnung Chinas zum Westen wird hauptsächlich von chinesischen Unternehmern aus dieser ehemaligen Peripherie vorwärtsgetrieben. Es muß sogar die Frage auf­geworfen werden, ob nicht diese Kraft den bisherigen Erfolg der Reformpo­litik der kommunistischen Führung erst ermöglicht hat - für den Bereich der Außenwirtschaft und den chinesischen Exportboom der letzten Jahre gilt dies ohne Zweifel.

In jedem Fall ist längst das weltpolitische Problem entstanden, daß die kommunistische Führung sich zwar den außenpolitischen Vorteil aus der Vi­sion von der Weltwirtschaftsmacht China aneignet, tatsächlich aber für deren Entstehung nur teilweise verantwortlich ist. Damit wird aber das Verhältnis zwischen der Volksrepublik China und den Gebieten der ehemaligen chinesi­schen Peripherie zu einer Schlüsselfrage künftiger politischer Entwicklungen, die wiederum die Rahmenbedingungen für das weitere Wirtschaftswachstum Chinas wesentlich mitbestimmen. Einfach und zugespitzt formuliert, kann der Aufstieg der Weltmacht China bedeuten, daß China nicht zur Weltwirt­schaftsmacht wird: Und zwar genau dann, wenn der unabhängige Bestand der chinesischen Peripherie eine notwendige Voraussetzung für das bisherige Wachstum war, und wenn die Konstitution der Weltmacht China bedeuten würde, daß die ehemalige Peripherie auch ihre bisherige Unabhängigkeit verliert.

Damit wird deutlich, wie kompliziert eine Beurteilung und eine Prognose der chinesischen Entwicklung ist. Wer heute die anscheinende Dynamik Chi­nas linear in die Zukunft fortschreibt, macht sich sträflichster Vereinfachun­gen schuldig. China durchläuft gegenwärtig eine Entwicklung, die auf der ei­nen Seite seine wachsende Regionalisierung zur Folge hat, also eine zuneh­mende Auseinanderentwicklung und strukturelle, gesellschaftliche und wirt-

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schaftliche Ausdifferenzierung zwischen seinen verschiedenen Provinzen und Großregionen. Auf der anderen Seite ist diese Regionalisierung eng ver­knüpft mit seiner Internationalisierung, vor allem in wirtschaftlicher Hin­sicht, aber auch in politischer. Da die Internationalisierung jedoch nicht überall in China gleichermaßen greift, wirkt sie bislang eher verstärkend auf die Regionalisierung. Eines läßt sich heute mit Gewißheit sagen: Beide Pro­zesse liegen an der Wurzel der gegenwärtigen chinesischen Dynamik, beide erzeugen jedoch gleichzeitig wachsende Risiken für die Zukunft.

Nun schließen Risiken nicht den Erfolg aus. Zudem muß sich der Betrach­ter fragen lassen, ob seine regelmäßig vorherrschende Risikoaversion nicht letztlich die Realität historischer Prozesse verkennt. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik des Westens in der Neuzeit war stets von großer Instabilität, Krieg und sozialer Not geprägt. Letzten Endes führten ihre ge­waltigen Herausforderungen vor allem auch an die gesellschaftlichen Struk­turen der nachholenden Modernisierer wie Deutschland und Japan in die zwei großen Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Kann an China eigentlich die Erwartung gerichtet werden, daß sich seine Modernisierung auch künftig kri­senfrei vollzieht? Sind Krisen nicht notwendiger Bestandteil von Wandel? Soll der Westen den Vergleich zwischen dem heutigen Rußland und dem heutigen China zum Anlaß nehmen, die Stabilität autoritärer Gewaltherr­schaft vorzuziehen, weil sie vermeintlich zur Kontrolle des Krisenpotentials beiträgt? Bedeutet die Kontrolle von Krisen durch eine eigentlich nicht steue­rungsfähige Politik die längerfristig schädliche Unterdrückung von Wandel? Darf Chinas mögliche Bedeutung als Weltwirtschaftspol isoliert bewertet werden von seiner möglichen Rolle als Weltmacht?

Die Welt sollte sich darauf einstellen, daß Chinas künftige Entwicklung notwendig krisenhaft sein wird, weil solche Krisen nur in den seltensten Glücksfällen der Geschichte nicht mit derart weitreichenden Veränderungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft verbunden sind, wie sie China in der Zukunft vollziehen muß. Krisen schwerster Natur schließen aber dennoch nicht aus, daß Chinas Wirtschaft weiter wachsen wird. Es stellt sich also die eigentlich entscheidende Frage für die Partner Chinas in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, wie künftig mit diesem Krisenpotential umgegangen wer­den soll.

Diese Frage hat ihrerseits eine Fülle von Facetten. Ich möchte in diesen einführenden Betrachtungen eine einzige herausgreifen, die mir zu den wich­tigsten zu gehören scheint. Es ist für den Westen äußerst schwer, das Krisen­potential Chinas einzuschätzen und im Krisenfalle angemessen zu reagieren, weil die erforderliche Menge und Qualität der benötigten Informationen ste­tig zunimmt. Umgekehrt aber ist China selbst nach wie vor keine Quelle verläßlicher und kritischer Informationen über China. Dies hängt nicht nur mit dem gegenwärtig in der Volksrepublik vorherrschenden politischen Sy­stem zusammen, das Informationen weiterhin zensiert und kontrolliert.

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Auf einer tieferen Ebene der Betrachtung ist vielmehr eine Tendenz in China, aber sogar im Westen zu verzeichnen, Informationen über China stets mit verdeckten Werturteilen zu versehen, weil jede in unserem Zusammen­hang bedeutsame Information gleichzeitig eine Aussage über Modernisie­rungspotentiale und damit über die Wertigkeit "Chinas" als Staat, Gesell­schaft und Kultur impliziert. Unser China-Bild setzt sich aus einer Fülle und Vielfalt unterschiedlichster einzelner Aktivitäten der Informationsbeschaf­fung und -verarbeitung innerhalb des chinesischen Kulturraumes selbst zu­sammen. Jede einzelner dieser Aktivitäten geht aber durch einen kulturalisti­schen Filter hindurch, der Chinas Zukunft als diejenige eines modernisierten, unitarischen Zentralstaates mit einer machtvollen Position in der Welt sieht. Dieser Filter enthält an den Rändern und auf einer noch tieferen Ebene auch eine starke Komponente ethnischer, ja rassischer Identifikation und Selbst­bewußtseins. Er führt unter anderem dazu, daß so wichtige Phänomene wie der chinesische Regionalismus nur äußerst schwer analysierbar sind, weil et­waige regionale und quasiethnische Identitäten systematisch unter dem Schleier des Han-chinesischen Selbstbewußtseins zwar verdeckt werden, tat­sächlich aber durchaus verhaltensrelevant sind. Der kulturalistische Filter hat in fast allen Bereichen relevanter China-Information Verzerrungen von Daten und Aussagen zur Folge. Information ist außerdem Gegenstand andauernder politischer Konflikte und Auseinandersetzungen über Probleme der Entwick­lung und die entsprechenden Schuldzuweisungen und Lösungsstrategien.

Künftig wird also die Aufarbeitung und kritische Bewertung von Informa­tionen aus und über China einen hohen Stellenwert für die Formulierung an­gemessener Politikstrategien gegenüber dem Aufstieg dieser neuen Welt­(wirtschafts)macht besitzen. Gleichzeitig muß diese Aktivität intensiv die heute gebotene Chance nutzen, mit China selbst in einen Prozeß kritischer Reflexion über China einzutreten. Auch wenn diese Kritik sich später als übertrieben, unangemessen oder fehlinformiert erweisen sollte, stellt die Ent­wicklung von Kritik- und Kommunikationsfähigkeit als solche gegenwärtig einen wichtigen Faktor dar, gravierende Fehlentwicklungen in China zu ver­hindern.

Wir wollen im Folgenden einen entsprechenden Versuch unternehmen, die Wirtschaftsentwicklung der VR China auf dem Wege von der Plan- zur Marktwirtschaft zu analysieren und kritisch zu bewerten. Auch in dieser Hinsicht wird Chinas Erfahrung - ähnlich wie schon während der Ära Mao -wieder als "Modell" apostrophiert: Bis in die scheinbar neutralen Gebiete der Ökonomie und Ökonometrie hinein beginnt der kulturalistische Filter der Modernisierungsideologie, chinesische Selbstdarstellungen in dieser Hinsicht mit einem Bias zu versehen; diese Tendenz wird zum Teil in subtiler Weise von internationalen Institutionen und Beobachtern aufgegriffen, in deren mehr oder weniger eng definierten Interesse es liegt, China als ein solches Modell zu behandeln und darzustellen. Wir werden diese Sicht der Dinge an

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der Erfahrung prüfen müssen und dabei das Problem zu lösen haben, daß die Bewertung vielschichtig und vielseitig argumentieren muß. Schließlich wird sich aber auch zeigen, daß ein Aspekt der Probleme im Umgang mit China die Defizite und die Einseitigkeit der westlichen Theorien insbesondere wirt­schafts wissenschaftlicher Natur sind.

Literaturempfehlungen

Ein guter Überblick über die Interdependenz zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, Innen- und Außenpolitik Chinas ist der jüngst erschienene Band der Trilateral Commission, Yoichi Funabashil Michel OksenberglHein­rich Weiss, An Emerging China in a World of Interdependence: aReport to the Trilateral Commission, New YorkITokyolParis 1994. Zur umstrittenen Frage eines möglichen Zerfalls Chinas und des chinesischen Regionalismus ist der Vergleich erhellend zwischen Gerald Segal, China's Changing Shape, in: Foreign Affairs Vol. 73(3), 1994, S. 43-58, und David S.G. Goodman, Provinces Confronting the State? in: Kuan Hsin-chiIM. Brousseau, ed., China Review 1992, Hong Kong 1993. Die historischen Dimensionen der heutigen Stellung Chinas in der Welt werden meisterhaft ausgearbeitet von Jürgen Osterhammel, China und die WeItgesellschaft, München 1989, insbesondere, was die Entwicklungen vor 1949 betrifft. Zum sensiblen Problem der chine­sischen Ethnizität siehe soeben die Beiträge von Dikötter, Sautman und Sulli­van in The China Quarterly Vol. 138, 1994, S. 404-457. Zur Bedeutung der Modernisierungsideologie für die Selbstdarstellung Chinas siehe Susanne Weigelin-Schwierdzik, Politik und Ökonomie in der innerchinesischen De­batte über die Zukunft der VR China, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51193, 1993, S. 15-26.

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2. Wachstum und Entwicklung in China: Kriterien und Meßprobleme

2.1. Die Messung von Wohlstand während der Transformation: analytische Unschärfen der wirtschaftswissenschaftlichen Methode

Wer heute vom "Wirtschaftswunder China" spricht und der Volksrepublik die Rolle einer Weltwirtschaftsmacht des 21. Jhds. zuschreibt, sollte dieses Urteil auf Daten und Fakten stützen, die sich auf die gegenwärtige Lage be­ziehen, und klare, nachvollziehbare Begründungen der Prognose bieten. Dies gilt selbstverständlich auch für die engere Fragestellung, ob China ein Modell für den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft ist. Welche Daten und Fakten stehen zur Verfügung, und welche Probleme gibt es bei der Interpre­tation? Antworten auf diese Frage soll im Folgenden ausführlich diskutiert werden, um nicht nur die Probleme bei der Datenlage selbst offenzulegen, sondern auch um einige Methoden und methodische Schwierigkeiten der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse der chinesischen Entwicklung am konkreten Objekt zu demonstrieren. Gleichzeitig wird diese Beschäftigung erste Einsichten in grundlegende Merkmale der chinesischen Entwicklung bieten.

Hier sollte zunächst auf ein prinzipielles wirtschaftswissenschaftliches Di­lemma hingewiesen werden, bevor die einzelnen Kategorien von relevanten Informationen betrachtet werden: Die VR China durchläuft gleichzeitig

- einen Prozeß der Transformation, also des Weges von der Plan- zur Marktwirt­schaft, und

- einen Prozeß der Integration, also des Zusammenwachsens zwischen den ver-schiedenen politischen Einheiten des chinesischen Wirtschaftsraumes.

Beide Prozesse bedeuten, daß sich die Institutionen von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft fortlaufend, wenngleich mit unterschiedlicher relativer Ge­schwindigkeit ändern. Beide Prozesse wirken aber auch aufeinander ein: Bei­spielsweise bedeutet die wirtschaftliche Integration von Hong Kong mit der VR China bzw. vor allem mit der Provinz Guangdong (siehe Abbildung 2), daß unabhängig von der Geschwindigkeit der binnenwirtschaftlichen Preisli­beralisierung der Preiszusammenhang mit den wettbewerblichen Weltmärk­ten intensiviert wird, also eine indirekte Liberalisierung erfolgt: Die kantone­sische Provinzregierung (also eine politische Instanz!) wählt etwa zwischen den Alternativen, Reis aus der Nachbarprovinz Hunan oder aus Thailand zu importieren - Aussagen über den Grad der binnenwirtschaftlichen Preislibe-

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ralisierung müssen bezüglich eines solchen Entscheidungsverhaltens relati­viert werden.

Die ökonomische Analyse interessiert sich nun im besonderen für die Fra­ge, welchen Einfluß verschiedene Institutionen und deren Wandel auf das Wirtschaftswachstum nehmen, und zwar positiv wie normativ. Welcher Zu­sammenhang besteht zwischen institutionellen Veränderungen und der reali­sierten Wachstumsrate einer Volkswirtschaft, und welche Gestalt sollten die Institutionen haben, wenn die wünschenswerte Option hohen Wirtschafts­wachsturns zu realisieren ist?

In China erhalten solche Fragestellungen beträchtliche wirtschafts- und ge­sellschaftspolitische Bedeutung, denn China wird von vielen Betrachtern als ein wichtiger Fall zum einen für die Anwendung einer gradualistischen Stra­tegie des Systemwandels betrachtet, und zum anderen als ein mögliches Bei­spiel für die Vorzugswürdigkeit autoritärer politischer Strukturen in Phasen raschen wirtschaftlichen Aufbaus. Je nachdem also, wie der Zusammenhang zwischen Institutionen und Wirtschaftswachstum im chinesischen Fall rekon­struiert wird, stellt sich also auch ein mögliches "Modell China" anders dar. Genau dies ist jedoch eine theoretisch und empirisch schwierige Aufgabe, und zwar vor allem wegen folgender Probleme.

a. Endogenität des Standards für die Messung von Wirtschaftsleistung

Während der wirtschaftlichen Transformation ist die Meßlatte für die Beur­teilung der Leistungsfähigkeit von Institutionen nicht unabhängig vom Wan­del dieser Institutionen selbst. Am deutlichsten tritt dies bei der Bewertung des Wirtschaftswachstums durch Preise zu Tage, die für entwickelte Markt­wirtschaften nach wie vor die methodisch vorgezogene Methode der Mes­sung von Wirtschaftsleistung ist.

Während der Transformation besteht kein eindeutiger Zusammenhang zwi­schen der preislich erfaßten Wirtschaftsleistung und den Veränderungen der Wohlfahrt der Wirtschaftssubjekte, weil viele wohlfahrtsrelevante wirt­schaftliche Transaktionen, die vorher preislich nicht bewertet wurden, nun über Märkte vermittelt sind und damit preislich erfaßt werden. Das Wachs­turn des preislich erfaßten Sozialproduktes ist also teilweise nur ein Spiegel des Wachstums von Marktbereichen, nicht aber tatsächlicher Veränderungen des individuellen Wohlstandes. Dies gilt vor allem für den ländlichen Raum, wo einzelne Aktivitäten aus dem Zusammenhang der bäuerlichen Eigenwirt­schaft herausgelöst und nun durch Unternehmen durchgeführt werden, aber auch für die staatlichen Industrieunternehmen, die im sozialistischen System eine umfassende Einheit der Daseinsvorsorge waren, also ebenfalls umfang­reiche Bereiche der Eigenwirtschaft aufwiesen. Diese Substitution der Ei­genwirtschaft durch Märkte ist nur dann auch mit Netto-Wohlfahrtsgewinnen verbunden, wenn dieselben Leistungen auf Märkten kostengünstiger realisiert

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werden (etwa Skalenerträge der Produktion oder niedrigere Transaktionsko­sten). Ein direkter Vergleich ist aber nicht möglich, weil die Kosten und Er­träge der eigenwirtschaftlichen Produktion per definitionem nicht über Marktpreise bewertet sind, und weil die Eigenwirtschaft typischerweise komplexe Kuppelprodukte erzeugt (Beispiel: eigenwirtschaftliche Nah­rungsmittelproduktion und -konsumtion in der Familie erzeugt auch Gesel­ligkeit und Sozalisation, während der individuelle Konsum von Fast Food in einem anonymen Kontext geschieht). Auf diese Weise werden die Verände­rungen des statistisch gemessenen Sozialproduktes zu einem unzuverlässigen Indikator subjektiv wahrgenommener Veränderungen von Wohlfahrt, so daß entsprechend unerwartete gesellschaftliche Reaktionen auf "objektiv" gemes­senes Wachstum möglich sind.

b. Defekte der Internalisierung negativer externer Effekte wirtschaftlicher Entscheidungen

Auf der anderen Seite setzt sich auch beim Übergang zur Marktwirtschaft die allgemeine Tendenz sozialistischer Planwirtschaften fort, bestimmte Ressour­cenkosten nicht hinreichend in der Preisrechnung zu erfassen, nämlich vor al­lem die Umweltbelastung. Während der Transformation entsteht dieser Ef­fekt durch die Mängel der Rechtsordnung im Übergang und die geringe Durchschlagskraft administrativer Kontrollmechanismen, die auf das ausge­prägte Interesse der Unternehmen und Individuen an einer kurzfristigen Ge­winnmaximierung stoßen. Im Ergebnis werden Umweltkosten zu wenig in die Preisrechnung internalisiert, so daß entsprechend das Wirtschaftswachs­tum zu hoch ausgewiesen wird. In einer voll entwickelten Marktwirtschaft mit einer kritischen Öffentlichkeit und einem demokratischen politischen Sy­stem weisen institutionelle Veränderungen die Tendenz auf, daß eine solche Internalisierung von Umweltkosten ökonomisch optimiert wird, also in dem Maße erfolgt, wie der Ertrag der Internalisierung (Wohlfahrtsgewinn) größer ist als die Kosten der Internalisierung selbst (etwa Überwachungs- oder Ab­stimmungskosten). Während der Transformation insbesondere unter den Be­dingungen eines autoritären Systems gilt jedoch auf der einen Seite, daß die privaten wirtschaftlichen Akteure aus kurzfristigen Gewinnmotiven nicht an einer solchen Internalisierung interessiert sind, und auf der anderen Seite, daß gleichzeitig die politische Führung weiterhin so entscheidet wie im alten Sy­stem, nämlich in der Maximierung des gemessenen Sozialproduktes ein we­sentliches Element der eigenen politischen Legitimation ansieht. In einem de­mokratischen Regime der Transformation dürfte hingegen die Internalisie­rung externer Effekte rascher erfolgen.

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c. Defekte bei der Erfassung öffentlicher Güter in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung

Ein weiteres Meßproblem hängt mit dieser Frage eng zusammen, nämlich die Bedeutung öffentlicher Güter für die individuelle Wohlfahrt. Die herkömmli­che Sozialpoduktsrechnung erfaßt bislang aus guten Gründen weder die Um­weltlasten noch die staatlichen Leistungen als Wohlstandsfaktoren, obgleich beide ohne Zweifel wesentlichen Einfluß auf die subjektiv wahrgenommene Wohlfahrt der Bevölkerung ausüben. Der Staat wird entsprechend als unpro­duktiv betrachtet und verteilt Sozialprodukt lediglich um, tritt also eigentlich nur als Kostenfaktor auf, nämlich als Agent der Besteuerung. Zwei gleich große Veränderungen des Sozialproduktes sind aber nur dann unter Wohl­fahrtsgesichtspunkten als gleichwertig zu betrachten, wenn sich auch der Umfang staatlicher Leistungen jeweils in gleichem Maße verändert. Während der Transformation kann nun aber - muß jedoch nicht unbedingt - der Fall eintreten, daß die Produktion öffentlicher Güter stark zurückgeht, weil die staatlichen Strukturen erhebliche Veränderungen erfahren, und weil die staat­lichen Akteure nicht mehr hinreichend motiviert sind, im öffentlichen Inter­esse zu handeln. Außerdem führen allein die erheblichen Übergangsprobleme im Steuersystem dazu, daß die Finanzierung staatlicher Leistungen schwieri­ger wird. In diesem Fall wird also das Wachstum der individuellen Wohlfahrt durch die Sozialproduktsrechnung überschätzt - wobei freilich der Vergleich mit dem Ausgangspunkt in der Planwirtschaft schwierig bleibt.

d. Mängel der statistischen Erfassung wirtschaftlicher Transaktionen

Typischerweise sind es jedoch staatliche Stellen, die umgekehrt diese Sozial­produktsrechnung durchführen. Ein eventueller Verfall der staatlichen Admi­nistration während der Transformation beeinträchtigt dann auch die statisti­sche Erfassung wirtschaftlicher Aktivitäten: Auch die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung mag als öffentliches Gut betrachtet werden. Viele neu ent­stehende privatwirtschaftliche Aktivitäten werden freilich schon aus dem Grunde nicht statistisch berücksichtigt, weil die Unternehmen der Besteue­rung durch den Staat ausweichen. Dies ist jedoch von der "Schattenwirt­schaft" in Plan- und Marktwirtschaft gleichermaßen zu unterscheiden, denn die neu entstehenden wirtschaftlichen Aktivitäten bewegen sich nicht unbe­dingt absichtsvoll außerhalb der Legalität, sondern diese Legalität selbst ist noch nicht hinreichend gefestigt und durchsetzbar. Gleichwohl nimmt wäh­rend der Transformation auch der schattenwirtschaftliche Sektor im engeren Sinne zu, dessen Vielfalt freilich eine Generalisierung hinsichtlich der Effek­te für die Wohlfahrt unmöglich werden läßt. Vor allem sind produktive Tä­tigkeiten ebenso betroffen wie reine Umverteilungsaktivitäten, bei denen der Übergang zur Korruption und Wirtschaftskriminalität fließend ist. Insgesamt

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wird aber durch diese Erfassungsmängel die Zunahme der Wohlfahrt durch die offizielle Statistik unterschätzt.

e. Unbestimmbarkeit des realen Wechselkurses und langfristiger Trends realer Größen

Schließlich entstehen noch weitreichende Schwierigkeiten für die besonderen Bedingungen der Gleichzeitigkeit von Wirtschaftsintegration und Transfor­mation dadurch, daß der reale Wechselkurs nur schwer bestimmbar ist, und zwar insbesondere für zurückliegende Jahre. Im chinesischen Fall wachsen drei Volkswirtschaften eng zusammen, nämlich diejenigen Taiwans, Hong Kongs und der VR China, die jeweils eigene Währungssysteme besitzen. Tai­wan hat sein Wechselkursregime erst im Laufe der achtziger Jahre liberali­siert, die VR China erst im Verlauf der neunziger Jahre. Das bedeutet aber, daß eine sinnvoll begründbare Aggregation von preislich bewerteten Wirt­schaftsdaten dieser Länder kaum möglich ist. Die VR China wies in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein gespaltenes Wechselkurssystem auf, das zum Teil erhebliche Diskrepanzen zwischen dem offiziellen, dem "grau­en" und dem "schwarzen" Kurs kannte. Es gibt kein Entscheidungskriterium für die Auswahl des richtigen Kurses, aber die Auswirkungen auf die aggre­gierte Sozialproduktsrechnung für den gesamten Raum sind sehr groß. Dieses Wechselkursproblem ist noch zu unterscheiden von der Frage des "realen" Wertes der Währung nach Kaufkraftparitäten, also bezogen auf einen be­stimmten, vergleichbaren Warenkorb.

Bei der Wechselkursbestimmung kommt noch als Schwierigkeit hinzu, den langfristigen Trend herauszufiltern. Dieses statistische Problem betrifft je­doch ganz allgemein sämtliche Versuche, "reale" von "nominalen" Größen zu differenzieren, also einen geeigneten Deflator für das Sozialprodukt zu finden. Transformationsprozesse verändern zum einen den gesamten Mecha­nismus der Preisbildung, so daß es im Grunde unmöglich wird, die Preisrela­tionen zu Beginn der Transformation mit denjenigen zu einem späteren Zeit­punkt zu vergleichen. Das einfachste und durchschlagenste Beispiel ist die Mietpreisbildung und entsprechend die Art und Weise, wie Mieten in die Be­rechnung der Kosten der Lebenshaltung eingehen. Aber auch Warenkörbe verändern sich durch die Transformation nachhaltig, indem beispielsweise die Güter im Zeitablauf qualitativ nicht mehr vergleichbar sind. Gleichzeitig lassen Transformationsprozesse aber auch den makroökonomischen Rahmen nicht unverändert, und zwar insbesondere die institutionellen Determinanten der Geldnachfrage: Das bedeutet aber, daß auch der Vergleich zwischen der Geldmengenentwicklung und der Entwicklung einer ökonometrisch rekon­struierten Geldnachfrage kaum geeignet ist, um die Inflationsrate indirekt zu schätzen. Es entsteht eine prinzipielle Unschärfe bei der statistischen Be­stimmung realer Größen und damit auch für die Wachstumsrechnung. Diese

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Unschärfe wird noch dadurch bestärkt, daß die ökonometrische Identifikation von Trendgrößen eigentlich einen konstanten institutionellen Rahmen vor­aussetzt. Transformation bedeutet jedoch genau das Gegenteil, so daß ent­sprechend die Zeitreihen viel zu kurz werden, die sich auf einen solchen, re­lativ konstanten institutionellen Rahmen beziehen.

f. Die Rolle subjektiver Erwartungen für das Wirtschaftswachstum

Solche Unschärfen sind dann aber auch unmittelbar verhaltensrelevant für die Wirtschafts subjekte. Genauso, wie der wissenschaftliche Beobachter die reale Situation nicht verläßlich beurteilen kann, gilt auch für die Wirtschafts­subjekte, daß sie nicht zur Bildung rationaler Erwartungen über die Zukunft in der Lage sind, denn sie wissen ja nicht, wie ökonomische Institutionen und ihre Wirkungen sich künftig darstellen werden. Der Markt ist gleichzeitig noch nicht voll entwickelt, der solche Informationen über subjektive Zu­kunftseinschätzungen durch die Vermittlung der einzelnen Handlungen der Wirtschaftssubjekte aggregieren und mithin objektivieren könnte. Das bedeu­tet aber, daß subjektive und fundamental instabile Erwartungen eine Schlüs­selrolle in makroökonomischen Prozessen erhalten. Eine starke Expansion der Geldmenge kann längere Zeit reale Wirkungen im Sinne einer Erhöhung des Wirtschaftswachstums haben, wenn die Wirtschaftssubjekte keine Infla­tion erwarten, so daß letzten Endes sich diese implizite Prognose selbst bestä­tigen kann. Exogene Einflüsse auf diese Erwartungsbildung können aber ebenso eine rasche Beschleunigung des Inflationsprozesses erzeugen, da die Geldpolitik noch nicht über hinreichende Kontrollinstrumente verfügt. Es ist dann eine Frage der mittelfristigen Veränderung der Geldordnung während der Transformation, ob die Inflationswirkungen überwiegen. Statistisch drückt sich dies dann in einem ebenso raschen relativen Rückgang des jährli­chen "realen" Sozialproduktes aus.

g. Institutionen und Innovationskraft

Alleine die hier betrachteten Probleme lassen deutlich werden, wie schwer die Beurteilung der Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft ist, die, wie die chinesische, den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft ebenso voll­zieht wie eine wirtschaftliche Integration. Dennoch darf eine vielleicht noch tiefere Beschränkung der Prognosefähigkeit nicht unerwähnt bleibent. Er­stens, es kann sehr schwer sein, den Stand des institutionellen Wandels selbst zu beurteilen, wenn nicht seine formalen Aspekte verhaltensbestimmend für die Wirtschaftssubjekte sind, sondern die häufig informalen Determinanten von lokalen und individuellen Anreizstrukturen. Dieser Gedanke war vom ungarischen Ökonomen Janos Kornai schon seit langem für den inkrementel­Ien Wandel der ungarischen Wirtschaftsordnung betont worden, wo der tat-

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sächliche Einfluß der Verwaltungen auf die Unternehmen trotz aller Verän­derungen nur geringfügig an Stärke abnahm, und also der reale Systemwan­del hinter den eigentlich vollzogenen formalen Veränderungen zurückblieb. Zweitens, entscheidend für den Erfolg der Transformation ist eigentlich nur die Veränderung der Position ehemaliger Planwirtschaften relativ zur Welt­wirtschaft und ihrer Dynamik. Hier rückt aber das eigentlich zentrale Ent­wicklungsproblem der Planwirtschaft in den Vordergrund, an dem sie auch gescheitert ist, nämlich der zunehmende technologische und sozialorganisa­torische Rückstand gegenüber den marktwirtschaftlichen Industrienationen. In diesem Sinne ist nicht kurzfristig erreichbares Wirtschaftswachstum das entscheidende Erfolgskriterium, sondern die Entstehung von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Innovationskraft in einem allgemeinen Sinne. Dies ist jedoch nur schwer zu beurteilen, denn das Innovationsproblem ist noch längst nicht ausreichend durch die Wirtschaftswissenschaften erforscht, und außerdem treten hier komplexe qualitative Faktoren in den Vordergrund, die regelmäßig auch weit über wirtschaftliche Zusammenhänge im engeren Sin­ne hinausgreifen.

Betrachten wir nun die angerissenen Probleme für den chinesischen Fall genauer.

2.2. Endogenität des Standards bei der Messung von Wirtschaftsleistung: Wie reich ist China wirklich?

Die Öffentlichkeit ist im Jahre 1993 vor allem durch die veränderten Daten des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auf das sogenannte chinesische "Wirtschaftswunder" aufmerksam geworden. Chinas Wirt­schaftsdaten waren bislang nach dem offiziellen Wechselkurs umgerechnet worden. Diese Methode ist selbstverständlich dann problematisch, wenn die­ser Wechselkurs, wie im chinesischen Fall, erheblich durch administrative In­terventionen beeinflußt worden ist. Erst zum 1.1.1994 ist dieses System im Prinzip, wenn auch nicht faktisch abgeschafft worden. Beispielsweise konn­ten rein administrative Wechselkursanpassungen zur Folge haben, daß in ein­zelnen Jahren das reale Sozialprodukt Chinas, gemessen in US-$, zurück­ging, obgleich die amtliche Statistik in RMB (Renminbi) positives Wirt­schafts wachstum verzeichnete (siehe Tabelle 1). Seit Mitte der achtziger Jah­re kam hinzu, daß die VR China weitreichende Reformen im Wechselkurssy­stem einleitete, und zwar in Gestalt der Einrichtung sog. "Swapzentren", auf denen unter anderem Exportunternehmen und Joint-Ventures Devisen han­deln durften, ohne sich an den offiziellen Wechselkurs halten zu müssen. Auf diesen Swapmärkten stellte sich die längerfristig stabile Tendenz einer konti-

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nuierlichen Abwertung der chinesischen Währung ein, so daß im Falle der Berücksichtigung dieses Kurses die relative Position Chinas zur Weltwirt­schaft noch schlechter gestellt wäre.

Tabelle 1: Das chinesische Pro-Kop/-Sozialprodukt in RMB und US$ nach verschiedenen Wechselkursen und $-Kaujkrajtparitäten

2 3 4 5 6 1978 375 221 222 136 365 1979 413 264 236 144 386 1980 456 302 251 154 404 1981 480 280 259 159 417 1982 515 270 277 169 448

1983 568 286 302 185 487 1984 671 289 342 209 550 1985 814 277 380 232 604 1986 909 264 405 247 641 1987 1042 281 442 270 696 1988 1277 343 484 296 754 1989 1430 374 497 304 770 1990 1559 324 510 312 787 1991 1758 328 545 333 855 1992 2063 372 608 372 978 326

Erläuterungen: 1: Nominales BSP pro Kopf in RMB Yuan. 2: Nominales BSP pro Kopf zu laufenden Preisen und umgerechnet nach dem offiziellen

Wechselkurs 3: BSP pro Kopf in konstanten Preisen von 1978 und umgerechnet nach dem RMB/$­

Wechselkurs von 1978 3: BSP pro Kopf in konstanten Preisen von 1992 und umgerechnet nach dem RMB/$­

Wechselkurs von 1992 4: BSP pro Kopf rekonstruiert nach Jeffrey Taylor (1981-US$) 5: BSP pro Kopf umgerechnet nach einem durchschnittlichen Swap-Wechselkurs vom

Frühjahr/Sommer 1992, entspricht ungefähr dem Kurs zur Jahreswende 1993/94 bei der Abschaffung des offiziellen Kurses.

Quellen: Zhongguo tongji nianjian 1993, S. 31, 81,64; Jeffrey R. Taylor, Dollar GNP Estima­tes for China, Center for International Research, US Bureau of the Census, Washington, D.C., CIR Staff Paper, No.59, S.8; Nitchü keizai kyökai, ChUgoku keizai deita handobukku, Tokyo 1992, S. 107. Eigene Berechnungen.

Es schien daher geboten, das chinesische Sozialprodukt auf eine andere Weise zu schätzen. Die Wechselkursdaten waren und zum Teil sind aus fol­genden Gründen kein verläßlicher Maßstab der Entwicklung:

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Erstens, soweit der administrierte Wechselkurs betroffen ist, ist grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit gering, daß dieser Kurs ökonomische Bestimmungsgründe des Außen wertes der chinesischen Währung richtig widerspiegelt; tatsächlich be­stand eines der zentralen Probleme der chinesischen Exportindustrien in den acht­ziger Jahren darin, daß die Wechselkurse nicht den tatsächlichen Kostenrelationen zwischen Binnen- und Außenwirtschaft entsprechen. Häufig lagen die Kosten der Erwirtschaftung eines US-$ in Inlandswährung deutlich über dem offiziellen Wechselkurs, so daß diese Form der Devisenerwirtschaftung eigentlic.h verlust­bringend war, und die Exportunternehmen subventioniert werden mußten. Zweitens, diese Beobachtung zeigt zwar prinzipiell, daß der in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre schrittweise liberalisierte Wechselkurs den Produktivitätsrück­stand der chinesischen Exportindustrie zur Weltwirtschaft angemessen widerspie­gelte; es entstand ein stabiler Abwertungstrend. Sie weist aber gleichzeitig auf das statistische Problem hin, daß dieser Wechselkurs natürlich nur die handelbaren Güter betrifft. Nicht-handelbare Güter machen aber einen wesentlichen Teil des Outputs der chinesischen Volkswirtschaft aus, denn es handelt sich nicht nur um prinzipiell nicht-handelbare Güter wie viele Dienstleistungen, sondern vor allem auch um Industriegüter, die auf logistisch noch fragmentierten lokalen Inlands­märkten produziert und verbraucht werden. Das heißt, das Problem der Bestim­mung des richtigen Wechselkurses hängt indirekt mit einer Frage zusammen, die uns noch wiederholt beschäftigen wird, nämlich inwieweit die chinesische Volks­wirtschaft überhaupt als eine integrierte Wirtschaft angesehen werden darf, für die das "Law of One Price" gilt.

Aus beiden Gründen ergab sich das Erfordernis, das chinesische Sozialpro­dukt in Kaufkraftparitäten zu berechnen, also in Gestalt einer Berechnung des Wertes der Währung über vergleichbare Warenkörbe. In primitivster Form ist die sogenannte "Hamburger-Währung" ein solcher Standard, also die Um­rechnung des Wertes der Währung in international vergleichbare, einfache Hamburger. Natürlich haben die internationalen Institutionen ein ungleich anspruchsvolleres Verfahren gewählt, nämlich die Neuberechnung des chine­sischen Sozialproduktes nach den Input-Output-Tabellen von 1981 (neuere Tabellen waren zu Beginn der neunziger Jahre noch nicht verfügbar). Ohne hier auf Details eingehen zu können, bedeutet dies nichts anderes, als daß alle Inputs und alle Outputs je für sich genommen nicht mit den innerchinesi­schen Preisen, sondern den damaligen Weltmarktpreisen bewertet wurden. Anschließend läßt sich das Sozialprodukt des ersten und zweiten Sektors be­rechnen. Für die Dienstleistungen muß eine Schätzung durchgeführt werden, weil diese in den alten Input-Output-Tabellen nicht erfaßt sind, die nach mar­xistischer Manier weite Bereiche der Dienstleistungen nicht als "produktiv" behandeln. Das Ergebnis ist ein Basiswert des Sozialproduktes von 1981 in damaligen US-$. Es wurde dann mit den chinesischen, sektorspezifischen Daten auf die Gegenwart hochgerechnet, so daß sich insgesamt zwei "reale" Werte für das Sozialprodukt bestimmen lassen, nämlich einmal in 1981-US$ und einmal in heutigen US-$ (also unter Berücksichtigung der US-$-Infla­tionsrate).

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Das Ergebnis solcher Berechnungen im Vergleich zu anderen Methoden findet sich in Tabelle 1. In Abbildung 4 werden die Daten nach Kaufkraftpa­ritäten für die Jahre 1991 und 1993 bereits differenziert nach Provinzen ge­nannt, um auch einen ersten Eindruck von der Dimension der Unterschiede zwischen den Provinzen zu geben.

Abbildung 3: Die relative Größe der chinesischen Volkswirtschaft in der Weltwirtschaft, nominal und nach Kaufkraftparitäten berechnet

-32 United States

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Erläuterungen: Anteile des Bruttoinlandsproduktes am Weltsozialprodukt nach Wechselkursen (exchange rate) und Kaufkraftparitäten (PPP) gewichtet

Quelle: IMF World Economic Outlook 1993, S. 116

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Wird die Neuberechnung als richtige akzeptiert, dann ergibt sich also eine umfangreiche Korrektur des chinesischen Sozialproduktes, die entsprechend zu einer weitreichenden Verschiebung der relativen Position Chinas in der Weltwirtschaft führt (Abbildung 3). Auf der anderen Seite ergibt die Berech­nungen nach Wechselkursen weiterhin deutlich andere Resultate.

Es stellt sich die Frage, ob damit eine abschließende Bewertung der chine­sischen Entwicklung möglich ist. Folgende Argumente sind in Betracht zu ziehen:

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Erstens, die neue Berechnung ist eindeutig die methodisch sauberste, technisch umfangreichste und anspruchsvollste, die je durchgeführt worden ist. Insofern sind die Daten der Bezugspunkt für alle seriösen Einschätzungen der chinesischen Entwicklung. Zu beachten ist aber, daß die gewählte Methode prinzipiell eine sta­tische ist. Das bedeutet zum einen, daß die Wirtschaftsstruktur der Ausgangspe­riode indirekt in die Gegenwart fortgeschrieben wird, zum anderen aber, daß die Neuberechnung nur einen Niveaueffekt besitzt, nicht aber die jährlichen Verände­rungen, gemessen in der offiziellen Statistik, beeinflußt: Der Berechnung liegen weiterhin die chinesischen Daten zum realen Wachstum zugrunde, die unter Ver­wendung des offiziellen Deflators berechnet werden. Die VR China ist also heute "reicher", weil sie bereits 1981 "reicher" war, und nicht, weil sie während dieses Zeitraumes noch reicher geworden ist, als eigentlich angenommen wurde. Die Wachstumsraten selbst werden also nicht verändert, die der Rede vom "Wirt­schaftswunder" zugrundeliegen. Wenn bedacht wird, daß ein wesentlicher Faktor, der diesen Niveaueffekt zur Folge hatte, die Korrektur der zu niedrigen Bewer­tung der Agrarprodukte im weiten Sinne war, wird deutlich, daß die Neuberech­nung eigentlich ohne Konsequenz für die Einschätzung der dynamischen Qualität des Wirtschaftswachstums ist. Zweitens, die Umrechnung überträgt die Weltmarktverhältnisse direkt auf chine­sische Mengendaten. Eine solche Aggregation überspringt die entscheidende Fra­ge, ob die nun zu Weltmarktpreisen bewerteten Produkte eigentlich unter Welt­marktbedingungen überhaupt produziert worden wären. Daß es sich hier um ein wesentliches Problem handelt, zeigt die Erfahrung aller Planwirtschaften, deren Output im alten System größtenteils nicht unter veränderten Bedingungen überle­ben kann, obwohl er im Rahmen des hochgradig verzerrten Preissystems unter Umständen rechnerisch sogar verlustfrei produziert wurde. Eine Sozialprodukts­berechnung mit direkter Verwendung von Weltmarktpreisen würde also diesen Output positiv bewerten, obgleich unter den Weltmarktbedingungen, die solche Preise bestimmen, der Output vielleicht gar nicht produziert worden wäre. Kon­kret bedeutet das beispielsweise, daß auch solche Produkte des Jahres 1981 in die Neuberechnung positiv Eingang finden, die aus qualitativen Gründen oder man­gels Nachfrage auf Halde produziert wurden, oder die gar nicht den tatsächlichen Präferenzen und dem tatsächlichen Bedarf der Nachfrager entsprachen. Drittens, damit gewinnt die Wechselkursrechnung wieder an Interesse, denn sie spiegelt insbesondere dann die relative Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft wider, wenn Kapitalmarkttransaktionen eine unbedeutende Rolle für die Wechsel­kursbestimmung spielen, und wenn der Wechselkurs sich frei bildet. Dann bildet der Wechselkurs im Trend Produktivitätsdifferenzen zwischen einem Land und

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der Weltwirtschaft ab bzw. deren relative Veränderung im Zeitablauf. Die Be­rechnung nach Wechselkursen kann also durchaus wesentliche Aspekte der Dyna­mik einer Volkswirtschaft erfassen, wenn dieser Kurs sich unter Marktbedingun­gen bildet bzw. einem solchen Kurs vermutlich recht nahe kommt. Es lassen sich Argumente anführen, daß dies im mittelfristigen Trend für den offiziellen chinesi­schen Wechselkurs der Fall ist. Zum einen könnte die Berechnung nach Wechsel­kursen Informationen darüber bieten, inwieweit das chinesische Wirtschafts­wachstum durch technologisch dynamische Modernisierungsprozesse geprägt ist, denn die Exportindustrie läßt natürlich die Weltmarktbedingungen indirekt auch für ihre Zulieferer relevant werden. Zum anderen geht in die alternative Berech­nung nach Kaufkraftparitäten gerade für den Fall des Agrarsektors eine äußerst umfangreiche bäuerliche Eigenwirtschaft ein, die noch gar nicht in marktliche Be­wertungsprozesse eingebunden war und ist, aber als quantitativer Output in der Statistik erscheint. In beiden Fällen weist dann aber gerade die Diskrepanz zwi­schen Wechselkursrechnung und Berechnung nach Kaufkraftparitäten darauf hin, daß Chinas Wirtschaftswachstum qualitative Defizite im Sinne dynamischen Wandels aufweist.

Insofern läßt sich die gegenwärtige Position der internationalen Organisatio­nen nicht halten, die derzeit die Neuberechnung des chinesischen Sozialpro­duktes als ausschließlich richtige betrachten wollen und mit dieser Einschät­zung nachhaltigen Einfluß auf das China-Bild der Öffentlichkeit ausüben. Vielmehr muß eine paradoxe Schlußfolgerung gezogen werden: Gerade die erhebliche Höherbewertung des Sozialproduktes als Niveaugröße läßt umge­kehrt erkennen, daß ein technologisch rückständiger und noch gering markt­wirtschaftlich orientierter Agrarsektor eine herausragende Position in der Volkswirtschaft besitzt, und daß somit die künftigen dynamischen Perspekti­ven der chinesischen Wirtschaft durch den Fortschritt in diesem Bereich we­sentlich bestimmt werden. Außerdem bleibt festzuhalten, daß die Neuberech­nung gar keine Veränderung von Aussagen über das Wirtschaftswachstum als solches zur Folge hat, selbst wenn sie vorbehaltlos akzeptiert wird.

Solche Probleme zeigen, welche große Bedeutung die Endogenität des Standards für die Beurteilung von Transformationsprozessen hat, und zwar insbesondere dann, wenn, wie im chinesischen Falle, eine Volkswirtschaft zur gleichen Zeit auch Entwicklungsprozesse im Sinne von "Industrialisie­rung" durchläuft. Dies ist etwa beim meistzitiertesten Fall der Transforma­tion, nämlich Rußland, eben nicht gegeben, so daß beide Fälle allein auf der Ebene der Messung nicht vergleichbar sind. Die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Methoden der Berechnung des chinesischen Sozialproduktes ist nur ein Spiegel dessen, daß ein verläßlicher Standard selbst erst das Er­gebnis der Transformation sein wird. Vorher ist der Standard selbst Teil des institutionellen Wandels, und somit seine "Übersetzung" in einen internatio­nal vergleichbaren Standard schwierig, vielleicht sogar prinzipiell unmöglich.

Wenn eine direkte Umrechnung vor allem der Produkte des Agrarsektors nach Weltmarktpreisen erfolgt, dann wird auf diese Weise verdeckt, daß die

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Produktion selbst zu einem bedeutenden Umfang gar nicht unter Marktbe­dingungen erfolgt. Sollte umgekehrt eine Bewertung dieser Produktion unter authentischen - und nicht unter fiktiven - Marktbedingungen erfolgen, dann muß die Produktionsstruktur des Agrarsektors selbst einen fundamentalen Wandel erfahren, nämlich im Sinne eines starken Rückgangs der Eigenwirt­schaft als solcher wie auch des Anteils der Beschäftigten, die in diesem Be­reich tätig sind. Ein derart umfangreicher struktureller WandeIl beeinflußt je­doch nicht nur die Wachstumsdynamik selbst, sondern auch den Maßstab der Messung von Wachstum, und zwar vor allem weil die Faktorpreisrelationen sich fundamental verändern. Insofern darf die Umrechnung in international vergleichbare US$ nur als rein fiktive Rechnung mit begrenzter realer Aus­sagekraft angesehen werden.

Um diese Problematik abschließend hinsichtlich der Dimension zu kenn­zeichnen, seien beispielhaft zwei Ergebnisse einer sehr umfangreichen Di­rekterhebung zur Struktur der Haushaltseinkommen in China genannt (Tabel­le 2). Hier wird deutlich, daß erstens, die ländlichen Einkommen im Unter­schied zu den städtischen in einem Umfang durch Eigenproduktion bestimmt sind, wie er für sehr arme Entwicklungsländer charakteristisch ist, und zwei­tens, daß in den Städten die hohen Mietsubventionen einen erheblichen Ein­kommensbestandteil ausmachen. Beide Faktoren allein tragen wesentlich da­zu bei, daß die Messung von Wohlstand durch Preise von derjenigen der tat­sächlichen individuellen Wohlfahrt abgekoppelt ist, und daß der erforderliche Strukturwandel der Wirtschaft selbst diesen Zusammenhang erheblich verän­dern wird.

2.3. Defekte der Internalisierung negativer externer Effekte wirtschaftlicher Entscheidungen: Chinas Umweltkrise

Daß die herkömmliche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung die ökologi­schen Aspekte des Wirtschaftswachstums nicht berücksichtigt, ist oft bean­standet worden. Für die entwickelten Industrieländern treten jedoch viele Pro- und Contra-Argumente auf den Plan, die eine Erweiterung der BSP­Rechnung zwar als möglich, aber problematisch erscheinen lassen. Für Län­der, die sehr rasche Industrialisierungsprozesse erfahren, könnte es jedoch sein, daß die Pro-Argumente stärker wiegen, denn hier läßt sich eindeutig zeigen, daß die Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens nicht notwendig po­sitiv linear korreliert ist mit der Veränderung der subjekten Wohlfahrt, weil bestimmte negative externe Effekte raschen Wachstums nicht statistisch er­faßt werden. Gerade auf Taiwan ist in den achtziger Jahren bewußt gewor­den, daß ein Teil des hohen Wirtschaftswachstums mit schweren Umweltbe­lastungen erkauft wird, die tatsächlich direkt wohlfahrtsmindernd wirken.

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Tabelle 2: Struktur der Haushaltseinkommen in der VR China

Stadt Land

Art des Einkommens Gesamt Prozentual Gesamt Prozentual

Direkteinkünfte aus unselbständiger Arbeit 818,28 44,42 66,37 8,73 (Löhne,etc.)

Zusatzzahlungen durch Untemehmen 18,27 2,40 (Bonus, Dividende etc.)

Direkteinkünfte pensionierter Mitglieder 125,77 6,83 (Pensionen, etc.)

Einkünfte Nicht-Beschäftigter 8,74 0,47 Einkünfte aus selbständiger 13,56 0,74 Untemehmertätigkeit

Einkünfte aus Vermögen 9,06 0,49 1,31 0,17 Netto-Direkteinkünfte aus landwirtschaft- 251,46 33,08 licher und nicht-landwirtschaftlicher Arbeit

Bruttowert des Eigenverbrauchs 312,64 41,13 Subventionen und sonsti\:le Einkünfte:

Lebensmittelmarken 96,97 5,26 Mietsubventionen 334,12 18,14 Andere Subventionen abzüglich sonstiger 288,80 15,68 Steuem und Gebühren

Netto-Subventionen -14,43 -1,90 Mietwert selbstbewohnter Wohnungen 71,81 3,90 73,49 9,67 Andere Einkünfte (private Transfers und 74,85 4,06 50,99 6,71 Einkünfte sonsti\:ler Art)

Durchschnittlich verfü\:lbares Einkommen 1.841,96 100,00 760,10 100,00

Erläuterungen: Angaben in Renminbi und %, Durchschnittswerte des SampIes

Quelle: Khan, A.R. et al., Household Income and Its Distribution in China, in: The China Quarterly, Vol. l32, 1992, S. 1033ff.

Das Wirtschaftswachstum der VR China ist jedoch vermutlich mit noch stär­keren Schädigungen der Umwelt verbunden als in anderen ostasiatischen Ländern. Hauptgrund hierfür ist, daß bereits im alten System sehr zu Lasten der Umwelt gewirtschaftet wurde, und daß der Übergang zur Marktwirtschaft aber bislang keine Anreize setzt, erstens dieses Erbe zu bewältigen, und zweitens, neu entstehende Krisenherde einzudämmen. Die VR China driftet nach Ansicht aller Experten auf eine ökologische Katastrophe größten Aus­maßes zu. Vor diesem Hintergrund erscheint die Rede vom "Wirtschaftswun­der" eher zynisch.

Entscheidend ist die Tatsache, daß Chinas forcierte Industrialisierung nach 1949 die Rahmenbedingungen für die Selbstheilungskräfte des ohnehin schon seit Jahrhunderten immer mehr angespannten Agroökosystems weiter verschlechtert hat. Chinas heutige ökologische Krise knüpft in diesem Sinne

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an langfristige historische Trends an. Bereits während der letzten Dynastie des Kaiserreiches waren weite Regionen des Landes an die ökologischen Grenzen des Wachstums der traditionellen landwirtschaftlichen Produkti­onsweise gestoßen. In der damaligen Literatur konfuzianischer Beamter sind viele Hinweise zu schweren Problemen der Bodenerosion und zur Verschär­fung von Schwierigkeiten beim Wasserbau und Management der Flüsse, Seen und Wasserreservoirs zu finden. Der langfristige Prozeß der Entwal­dung Chinas hatte bereits damals eine solchen Grad erreicht, daß der Mangel an Brennstoff vermutlich zu den entscheidenden Restriktionen für den Durchbruch einer endogenen Industrialisierung des Landes gehörte.

Diese Konstellation unterschied sich in einer wesentlichen Hinsicht von der vergleichbaren "traditionellen" Umweltzerstörung im europäischen Mittelal­ter: Gleichzeitig nahm nämlich die chinesische Bevölkerung rapide zu, und durch Migration wurden immer mehr Gebiete des Landes erschlossen. An­ders als in Europa erlaubte die demographische Entwicklung also nicht die Selbstheilung der Natur durch Neubewaldung brachliegender Flächen. Daher hatte sich die traditionelle Landwirtschaft langfristig zu einer intensiven Hortikultur entwickelt, in der nicht die Arbeitsproduktivität, sondern die Bo­denproduktivität maximiert wird. Das heißt, im traditionellen System wurde der Einsatz des Überflußfaktors menschlicher Arbeitskraft begünstigt, und zwar zu Lasten einer technologischen Fortentwicklung der Landwirtschaft in Gestalt des Einsatzes zeit- und arbeitssparender Werkzeuge.

Diese Konstellation wird in der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur als sog. "high-Ievel-equilibrium trap" bezeichnet. Das traditionelle Wirtschafts­system hatte sich zu einer komplexen Marktwirtschaft fortentwickelt, die eine Optimierung des Einsatzes aller Produktionsfaktoren erlaubte. Unter den ge­gebenen Faktorausstattungen und entsprechenden Faktorpreisrelationen be­deutete dies aber, daß keine endogenen Anreize zur Industrialisierung und technologischen Modernisierung entstanden. Das System entwickelte sich in Richtung einer Maximierung des Outputs traditioneller Sektoren (Landwirt­schaft, Handwerk) bei gleichzeitig hohem Bevölkerungswachstum und säku­lar stagnierendem Pro-Kopf-Produkt. Zu dieser Entwicklung trugen die ag­rarökologischen Bedingungen Chinas wesentlich bei.

China konnte aus diesem System erst dann ausbrechen, als die endogen nicht vollzogene Industrialisierung gewissermaßen von außen importiert wer­den konnte und damit moderne agrartechnologische Inputs einsetzbar wur­den, um die Produktivität des Agrarsektors weiter zu steigern. Dabei ging die Volksrepublik China schließlich einen Weg, der heute zu einer ökologischen Krise führt, die im Prinzip auf traditionelle und moderne Faktoren gleicher­maßen zurückgeht.

Die VR China hat die skizzierte agrarökologische Konstellation mit ver­schiedenen Instrumenten einer forcierten Industrialisierung zu durchbrechen versucht. Dabei spielten im ländlichen Raum vor allem zwei Instrumente eine

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wesentliche Rolle. Erstens, bis in die achtziger Jahre hinein fand die extensi­ve Nutzung des Faktors Arbeit in ähnlicher Weise wie im traditionellen Sy­stem statt, mit dem einzigen, freilich wesentlichen Unterschied, daß dies im Rahmen kollektiver und nicht privater eigentumsrechtlicher Institutionen or­ganisiert wurde. Ein wichtiges Resultat dieses Einsatzes war die wesentliche Erweiterung des Wasserbaus in der Landwirtschaft (Abbildung 5a). Zwei­tens, seit Mitte der siebziger Jahre wurde der Einsatz künstlicher Düngemittel erheblich intensiviert und maximiert, um die Bodenproduktivität über die Po­tentiale der traditionellen Wirtschaftsweise hinaus zu steigern (Abbildung 5b). Diese Intensivierung überlagerte sich mit der Rückkehr zu einem privat­wirtschaftlichen Eigentumsregime in den achtziger Jahren, das freilich keiner vollständigen Privatisierung gleicht und damit vor allem langfristige Interes­sen an der Bewahrung des landwirtschaftlichen - und damit natürlichen -Kapitalstockes noch nicht voll im einzelwirtschaftlichen Erfolgskalkül inter­nalisiert.

Abbildungen Sa (links) und Sb (rechts): Wasserbau (a) und Düngemitteleinsatz (b) in der chinesischen Landwirtschaft

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Erläuterungen: Angaben zur bewässerten Fläche nach ostasiatischer Gepflogenheit in 10.000 ha und zum Düngemitteleinsatz in 10.000 to. Bis 1965 ist nur die verkaufte Dün­gemittelmenge erfaßt.

Quelle: Watanabe Toshio/Shirasego Tetsuya, Zu setsu Chügoku keizai, Tokyo 1992, S. 66, 68.

In China ist nach 1949 eine Entwicklungsmechanik entstanden, die das Land in eine ökologische Krise treibt, die sich prinzipiell von anderen Krisen der

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Industrialisierung in westlichen Ländern, aber etwa auch in Japan unterschei­det. Während Umweltbelastungen in diesen Regionen größtenteils reversibler Natur waren (etwa Luftverschmutzung) und also im Zuge technologischer Entwicklungen wieder reduziert werden konnten, findet in China eine irre­versible Schädigung von Schlüsselressourcen statt bzw. eine nachhaltige und nur langfristig umzukehrende Störung des ökologischen Gleichgewichtes. Eine - freilich nicht die ausschließliche - Ursache dieses Phänomens ist die Tatsache, daß eine exogene, forcierte Industrialisierung auf das bereits stark angespannte traditionelle Agroökosystem einwirkt, ohne daß bis in die jüng­ste Vergangenheit sich die Anreize nachhaltig verschoben hätten, die von den Relationen zwischen den Faktoren Boden und Arbeit ausgehen. Das heißt vor allem, daß mit Hilfe industrieller Agrarinputs die Bodenproduktivität weiter maximiert wird bei gleichzeitig extensiver Nutzung des Faktors Arbeit. Wäh­rend jedoch im kollektivistischen System der Ära Mao diese extensive Nut­zung vor allem im Rahmen des Wasserbaus erfolgte, trägt sie heute zu einer erneuten Modernisierungsbarriere in weiten Regionen der Landwirtschaft bei, indem sie negative Anreize für die Verwendung moderner Technologien setzt. Gleichzeitig stagniert jedoch der Arbeitseinsatz im Wasserbau, wenn nicht, wie zu Beginn der neunziger Jahre, wieder eine Mobilisierung durch befehlswirtschaftliche Methoden erfolgt.

Chinas ökologische Krise läßt sich knapp wie folgt skizzieren:

- ein säkularer Trend des quantitativen und qualitativen Rückgangs landwirtschaft­lich nutzbarer und forstwirtschaftlieh genutzter Fläche und der Zunahme der Bo­denerosion (Abbildungen 6a und b),

- ein säkularer Trend der Destabilisierung des Wasserkreislaufes und der Flußsyste­me, mit der Folge einer Zunahme der Amplitude und Frequenz von Dürre- und Flutperioden,

- die Zerstörung langfristig stabiler Bodenfruchtbarkeit durch den intensiven Ein­satz industrieller Agrarinputs,

- hinzu treten reversible, unter den gegenwärtigen ökonomischen Bedingungen Chinas jedoch kaum umkehrbare schwere Verschmutzungen insbesondere des Wassers als agrarökologischer und industrieller Schlüsselressource, schließlich erfährt China auch eine rapide Beschleunigung konventioneller Um­weltlasten der Industrialisierung, wie die Zunahme der Luftverschmutzung in den Städten.

Chinas Umweltkrise ist damit keinesfalls vergleichbar mit Umweltproblemen anderer Industrialisierungsprozesse. Die entstehenden langfristigen Kosten werden bislang nicht in der Berechnung des Sozialproduktes internalisiert. Stattdessen wirken die meisten institutionellen Rahmenbedingungen gegen eine solche Internalisierung, wie im Falle schwerer Wasserverschmutzung durch viele ländliche Industrieunternehmen, gegen die sich Bauern häufig nur mit Gewalt zur Wehr setzen können, oder in Gestalt der Rationierung von Wasser in den Städten, also gerade dem Verzicht der Verwendung des

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Page 36: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Preismechanismus und der entsprechenden Kostenwirkungen. Das bedeutet insgesamt, daß eine Extrapolation des Hochwachstums in der letzten Dekade in die Zukunft sehr problematisch ist. Auf China wirken enge Grenzen des Wachstums.

Abbildung 6a und 6b (S. 38): Abbau der Waldbestände in China, 1950-1990 und säkularer Rückgang der landwirtschaftlich genutzten Fläche pro Kopf

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Erläuterungen: Die Entwaldung wird durch die Differenz zwischen jährlich zuwachsen­dem Holzbestand (horizontale Linie) und dem jährlichen Verbrauch (ansteigende Linie) in 100 Mill. m3 abgebildet. Die zunehmende Landknappheit wird durch die gegenläufigen Kurven deutlich: Die dunkle Linie stellt das durchschnittlich verfügbare Ackerland pro Kopf dar, die hellere das Ackerland insgesamt. Die Breite der Linien verdeutlicht die Un­sicherheit bezüglich der Datenlage.

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Page 37: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

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Quelle: Kojima Reeitsu, Daitobunka Universität, Japan, noch unveröffentlichte Vortrags mate­rialien, und VacJav Smil, China's Environmental Crisis, Armonk 1993, S. 54.

2.4. Defekte bei der Erfassung öffentlicher Güter in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: Staatsversagen und Bildungspolitik

Umweltschutz ist ein öffentliches Gut. Grundsätzlich gibt es eine Fülle von Mechanismen, solche öffentlichen Güter zu produzieren, so daß also die Option einer Produktion durch staatliche Organe keinesfalls zwingend ist.

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Page 38: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Beispielsweise kursiert bis heute gerade in der asienkundlichen Literatur die Chimäre des "orientalischen Despotismus", der eng mit dem angeblichen Er­fordernis einer zentralstaatlich-bürokratischen Kontrolle und Produktion von Bewässerungsanlagen in Verbindung gebracht wird, also einem gerade für die Agrarökologie Chinas wesentlichen öffentlichen Gut. Dieser Zusammen­hang bestand jedoch in den meisten historischen Fällen und auch in China nie. Ganz im Gegenteil ist zu vermuten, daß eine einseitige zentralstaatliche Dominanz bei der Produktion solcher Güter zu erheblichen Ineffizienzen führt. Dies beobachten wir zur Zeit auch in China: Wenn die Machtfülle des Zentralstaates möglicherweise erlaubt, das Projekt eines gigantischen Yang­zi-Staudammes und der Umlenkung von Wasser vom wasserreichen Süden zum immer wasserärmeren Norden zu realisieren, dann dürften die ökonomi­schen und ökologischen Risiken wohl ebenso gewaltig sein wie die mögli­chen Erträge.

Chinas Wirtschaftswachstum der achtziger und neunziger Jahre ist durch solche Defizite und einseitige Formen von Staatseingriffen in Wirtschaft und Gesellschaft geprägt. Grob gesagt, läßt sich weitreichendes Staatsversagen bei der Produktion öffentlicher Güter verzeichnen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Entweder ist der Staat selber nicht in der Lage oder gewillt, die er­forderlichen Güter zu produzieren, oder er versagt bei der Schaffung rechtli­cher, politischer oder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, um die Pro­duktion öffentlicher Güter durch andere Organisationen im Sinne privater Initiativen zu fördern und zu gewährleisten. Ein wichtiges Beispiel für ein solches Gut ist die Bildung, denn Bildung kann zumindestens teilweise als ein öffentliches Gut aufgefaßt werden, ohne daß dies gleichzeitig bedeutet, daß es unbedingt staatlich produziert werden müßte. Ähnliches gilt auch für wichtige Bestandteile der materiellen Infrastruktur wie etwa das Verkehrs­netz. Derartige öffentliche Güter sind für die Aufrechterhaltung und Be­schleunigung des Wirtschafts wachstums von zentraler Bedeutung, ohne daß ihre Produktion selbst vollständig in der laufenden Sozialproduktsrechnung erfaßt würde. Das heißt aber umgekehrt, daß heutige Defizite der Versorgung mit öffentlichen Gütern negative Folgen für die Zusammensetzung des volkswirtschaftlichen Kapitalstockes in der Zukunft haben, die das Wirt­schaftswachstum verlangsamen werden.

Gerade vor dem Hintergrund des ostasiatischen Erfolgsmodelles der Indu­strialisierung erscheint es angebracht, den Faktor Bildung als Beispiel zu be­trachten. Im chinesischen Raum ist Taiwan ein Musterfall für die überragen­de Bedeutung der Ausbildung bei der Erzielung von Hochwachstum, denn Taiwans Wirtschaftsentwicklung konnte in den fünfziger Jahren auf ein im Vergleich zum Festland ungleich höheres Bildungsniveau der Bevölkerung aufbauen, sei es als Erbe der Bemühungen der japanischen Kolonialmacht, eine breite Grundschulausbildung durchzusetzen, sei es in Gestalt des hohen Anteils gebildeter Eliten, die vor der kommunistischen Armee nach Taiwan

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33.

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geflohen waren. Bis heute stellt jedoch das niedrige Bildungsniveau der Be­völkerung in der VR China eine wesentliche Restriktion des weiteren Wirt­schafts wachstums dar.

Auch in dieser Hinsicht muß eindeutig zwischen Niveau- und Verände­rungsgrößen unterschieden werden. Die VR China hat auf der einen Seite bis 1978 durchaus einen Erfolg bei der Grundausbildung breiter Bevölkerungs­schichten erzielt, der von Methode und Ergebnis her vergleichbar ist mit den Erfolgen bei Hygiene- und Gesundheitskampagnen. Diesem Erfolg standen freilich auf der negativen Seite die erheblichen qualitativen und quantitativen Defizite der höheren Bildung gegenüber, die durch den Antiintellektualismus des Maoismus und der Kulturrevolution bedingt waren. Damit trat die VR China in die Ära Deng mit einem Humankapitalstock ein, der hinsichtlich der breiten Grundausbildung besser entwickelt war als in anderen Entwicklungs­ländern mit vergleichbarem Pro-Kopf-Einkommen (also etwa vielen Ländern Afrikas), der aber im Bereich der höheren Bildung deutliche Mängel aufwies (Abbildung 7).

Nun ist die höhere Bildung in vielen Entwicklungsländern typischerweise nicht unbedingt für das Wirtschaftswachstum förderlich, weil Bildungseliten häufig Nischen im System aufsuchen, wo sie mehr oder weniger unproduk­tiv, aber individuell lukrativ eingesetzt werden (etwa im geschützten Staats­dienst, nicht aber in Wirtschaftsunternehmen). Das China der Ära Deng hat aber zu erheblichen Mängeln im Bildungssystem Anlaß gegeben, deren lang­fristige Wirkung schwer einschätzbar ist, und zwar im Einzelnen:

Das Niveau und die räumliche Streuung der Grundschulausbildung verschlechtert sich zusehends relativ zum Niveau wirtschaftlicher Entwicklung, weil einerseits der Staat sich finanziell außerstande sieht, eine staatliche Bildungsoffensive ein­zuleiten, andererseits aber selbstorganisierte lokale Schulen (Erbe der kollektiven Einrichtungen der Ära Mao) mit engsten finanziellen Restriktionen konfrontiert sind, denen häufig kontraproduktiv begegnet wird, etwa in Gestalt schuleigener Betriebe, in denen durch Kinderarbeit die Lehrergehälter finanziert werden. Es bestehen während der Transformation bei allen Arten von Ausbildung stark negative Anreize für private Bildungsinvestitionen, da zum einen die relativen Er­träge ungünstig sind (notorisches Beispiel: Hochschulabsolventen wählen die Karriere als Taxifahrer), zum anderen aber auch weiterhin die politische Kontrolle von Karrierepfaden eng bleibt (Nomenklatura der Partei); das heißt, während der Markt gegenwärtig Anreize zur kurzfristigen Gewinnmaximierung setzt (etwa durch Kinderarbeit) und also langfristig orientierte Bildungsinvestitionen benach­teiligt, ist der öffentliche Sektor noch weit von einer Meritokratie entfernt, wie sie für andere Länder Ostasiens typisch war und ist. Ambivalent ist der Wandel der Beschäftigungsstruktur im Bereich der Absolven­ten höherer Bildungseinrichtungen einzuschätzen. Die Tendenz zur Abwanderung etwa aus Universitäten ist groß, muß aber vor dem Hintergrund eines systemati­schen Personalüberhanges und einer geringen Produktivität der Forschung bewer­tet werden; auf der anderen Seite bedeutet die Abwanderung, daß gut ausgebildete Kräfte unternehmerisch aktiv werden. Eindeutig negativ ist aber die Verschlechte-

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rung des Niveaus höherer Ausbildungseinrichtungen in weiten Regionen Chinas zu bewerten, denn die Abwanderung ist auch mit einer geographischen Konzen­tration in Küstengebieten verbunden, so daß also gerade die guten Kräfte nicht nur den Bildungsbereich selbst, sondern auch die Heimatregion verlassen.

Der chinesische Bildungssektor ist demnach eindeutig durch Staatsversagen ge­prägt im Sinne, daß entweder die staatlichen Investitionen im Bildungsbe­reich selbst zu gering ausfallen, oder daß der Staat keine Rahmenbedingun­gen setzt, die Private ausreichend veranlassen, in Bildung zu investieren. Dementsprechend ist gut ausgebildetes Personal ein wesentlicher Engpaßfak­tor für die künftige Wirtschaftsentwicklung.

Die Ursachen dieses Staatsversagens werden uns noch eingehender befas­sen. Im Hintergrund steht hauptsächlich der Verfall der öffentlichen Verwal­tung im weitesten Sinne. Der Bildungssektor ist aber keinesfalls der einzige Bereich, wo diese Ursache zum Tragen kommt. Beispielsweise stellt der Schienenverkehr einen zentralen Engpaß für die Wirtschaftsentwicklung dar, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der bereits diskutierten ökologischen Probleme. Das Schienennetz der VR China fällt weit hinter die Erfordernisse etwa einer optimalen Versorgung der Volkswirtschaft mit Energieträgern zu­rück (vor allem Kohle). Die Entscheidungs- und Anreizstrukturen im Staats­apparat verhindern jedoch ebenso eine rapide Ausweitung des Kapitaleinsat­zes im Eisenbahnbau wie die negativen Rahmenbedingungen für die Grün­dung privater Eisenbahngesellschaften.

Damit können wir die vorsichtige Schlußfolgerung ziehen, daß Wirt­schaftswachstum in der VR China mit zunehmender "öffentlicher Armut" einher geht. Dies verzerrt in zweierlei Hinsicht die Einschätzung des Wachs­tumsprozesses. Erstens, insofern der Niedergang des öffentlichen Sektors ein Ergebnis der Transformation ist, wird dies als ein wichtiger Kostenfaktor der Transformation selbst nicht in der Messung der wirtschaftlichen Transforma­tionsergebnisse berücksichtigt, und zweitens, der öffentliche Kapitalstock setzt wesentliche Daten für die künftigen Entwicklungspotentiale, so daß sich also schließen läßt, daß gerade das heutige Hochwachstum mit einer Verrin­gerung dieser Potentiale einhergeht, mithin sich also nicht in die Zukunft ex­trapolieren läßt.

2.5. Mängel der statistischen Erfassung wirtschaftlicher Transaktionen: Was ist was in China?

Sehr schwer zu beurteilen ist die Qualität statistischer Daten aus China. Dies gilt zum einen für die Verläßlichkeit und Vollständigkeit der Statistik im engeren Sinne, also vor allem für die Bewertung der Leistungsfähigkeit der

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statistischen Ämter auf den verschiedenen gebietskörperschaftlichen Ebenen, zum anderen aber auch die inhaltliche Beurteilung von statistischen Katego­rien insgesamt. Es ist davon auszugehen, daß in dem Falle, wenn sich beide Probleme gegenseitig verstärken, die Lageeinschätzung mit großen Unschär­fen behaftet ist. Andererseits gibt es weite Bereiche, wo nicht nur das Infor­mationsniveau des Auslandes, sondern auch dasjenige chinesischer Instanzen selbst deutlich zugenommen hat. Im Folgenden sollen nur einige Problembe­reiche betrachtet werden, die für eine Beurteilung des Wirtschaftswachstums bedeutsam sind. Das entstehende Bild ist insofern einseitig negativ und gibt zu wenig Hinweise auf die im allgemeinen erhebliche Verbesserung der Sta­tistik seit dem Beginn der Reformen.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß ein Teil der wirtschaftlichen Ak­tivität gar nicht statistisch erfaßt wird. Dies ist weitgehend typisch für Trans­formationsökonomien und hängt damit zusammen, daß die Erfassungsorgani­sationen lange Zeit brauchen, sich auf die rasch verändernde Zahl und Zu­sammensetzung des privaten Sektors einzustellen. Darüber hinaus gibt es na­türlich den eigentlichen Bereich schattenwirtschaftlicher Aktivitäten, die sich absichtsvoll der staatlichen Kontrolle entziehen. Die Frage ist dann, ob auch hier lediglich ein Niveaueffekt in Rechnung zu stellen ist, der Wachstums­größen weitgehend unberührt läßt, oder ob auch ein Wachstumsdifferential zwischen dem offiziellen und dem inoffiziellen Sektor der Wirtschaft besteht. Für China lassen sich einige Argumente anführen, daß insgesamt der nicht­offizielle Sektor auch relativ gesehen rascher wächst als der offizielle. Indi­rekt läßt sich dies daran ablesen, daß für die gesamte Reformperiode eine monetäre Expansion zu verzeichnen ist, die häufig deutlich über dem gemes­senen realen Wirtschaftswachstum liegt, die sich aber gleichzeitig nicht in ei­ner proportionalen Beschleunigung der Inflation niederschlägt. Die monetäre Expansion alimentiert also zumindestens teilweise den informellen Sektor, und zwar anders als in der Planwirtschaft mit durchgreifenden Preiskontrol­len eher inflationsneutral.

Zwei Argumente lassen sich anführen, die Erfassungsmängel nahelegen.

- Zum einen wissen wir, daß in den ländlichen Räumen erstens, die öffentlichen Verwaltungen in manchen Regionen schwere Funktionsdefekte aufweisen und zum Teil gar nicht mehr vorhanden sind (sog. "Leere-Schalen-Dörfer"), und zwei­tens, daß diese Verwaltungen oft eng mit der privaten und semiprivaten Wirt­schaft kolludieren und daher ein Eigeninteresse an der Verschleierung von Ein­kommen gegenüber höheren Instanzen besitzen.

- Zum anderen wächst der private Sektor teilweise direkt aus öffentlichen Struktu­ren heraus. Staatsbetriebe, die eigene Finanzmittel an Private verleihen, um sie dort gewinnbringend einzusetzen, haben Anreize, an der Verschleierung solcher Aktivitäten mitzuwirken. Da sich solche Faktoren in den letzten Jahren eher ver­stärkt haben, könnte auch von einem relativ höheren Wachstum des inoffiziellen Sektors ausgegangen werden. Dies bedeutet aber, daß die offizielle Statistik das Wirtschaftswachstum eher unterschätzt.

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Ein weiterer Bereich, wo die chinesische Statistik immer noch unzuverlässig ist, betrifft die Beziehung zwischen quantitativen und qualitativen Aspekten des System wandels. So ist zum Beispiel die Frage entscheidend, welchen Umfang und welche Geschwindigkeit der Strukturwandel der ländlichen Beschäftigung und der städtischen Bevölkerung annimmt. Es handelt sich um eine politisch sensitive Zahl, denn von der gegebenen Basiszahl zur Zusam­mensetzung der Beschäftigung werden Prognosen über die Zahl sog. "überschüssiger ländlicher Arbeitskräfte" extrapoliert und damit etwa das Migrationspotential geschätzt.

Abbildung 8: Unterschiede in amtlichen Statistiken zum Urbanisierungsgrad derVR China

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Erläuterungen: In % der chinesischen Gesamtbevölkerung werden drei verschiedene Ma­ße für die Urbanisierung verglichen, die sämtlich in der chinesischen Statistik Verwen­dung finden. TPCT (Total population of cities and towns) (UAA) ist die Zahl gemäß dem von einer Stadt verwalteten Territoriums; hier sind seit Mitte der achtziger Jahre viele Dörfer mit eingeschlossen, die eigentlich rein ländlichen Charakter haben. Die TPCT(UC) ist die Stadtbevölkerung nach ihrer Zuordnung zu städtischen Einwohnerkomitees, also nach dem offiziellen Meldeverfahren. Die NPCT (Non-agricultural population of cities and towns) versucht schließlich, Bauern aus der Stadtbevölkerung auszuschließen, die in den Städten gemeldet sind.

Quelle: Kam Wing Chan, Urbanization and Rural-Urban Migration in China since 1982: A New Baseline, in: Modern China Vol. 20(3),1994, S.260.

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Die Abgrenzung zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Arbeits­kräften in der amtlichen Statistik ist beispielsweise höchst zweifelhaft. Zwar gibt es klare Normen, doch ist kaum vorstellbar, daß die dünn besetzten loka­len Behörden in der Lage sind, eine exakte Abschätzung des Zeitbudgets ländlicher Arbeitskräfte durchzuführen, die noch dazu zum Teil gar nicht an ihrem Heimatort tätig sind. Ohnehin sind echte Primärerhebungen noch eine Rarität in China, und werden viele Daten von lokalen Kräften gesammelt (Dorfkader) und dann erst von den Behörden der Kreisstädte in das offizielle statistische System eingespeist: Das heißt, die eigentlich zuständigen Fach­kräfte sind oft bei der Datenerhebung gar nicht oder nur oberflächlich betei­ligt. Da andererseits solche Zahlen auch intern ein Politikum sind (etwa in Verhandlungen über Subventionen eine Rolle spielen können), liegt nahe, daß sie den tatsächlichen Strukturwandel nicht richtig widerspiegeln. Freilich dürfte es von den lokalen Bedingungen abhängen, in welche Richtung die Zahlen verfälscht sind.

Ähnlich schwierig ist es zum Teil, die Abgrenzung zwischen "ländlichen" und "städtischen" Räumen aus Entwicklungsgesichtspunkten richtig zu voll­ziehen (Abbildung 8). Die amtliche Statistik ist stark durch das System der Haushaltsregistration beeinflußt, das mit der Zuweisung des Status eines "ländlichen Haushaltes" bestimmte Privilegien der Stadt schützen sollte (et­wa Anspruch auf Getreiderationen). Heute ist die Registration zwar weniger bedeutsam als früher, hat jedoch gerade in der Nähe von Ballungsräumen zur Folge, daß Gebiete und Wirtschaftszweige als "ländlich" klassifiziert werden, die eigentlich urbanen und industriellen Charakter haben. Umgekehrt werden ländliche Räume als "städtisch" qualifiziert, weil dies den Gebietskörper­schaften besseren Zugang zu staatlichen Finanzmittel eröffnet.

Ein anderer höchst undurchsichtiger Bereich der Statistik ist die Kapitalbil­dung, insbesondere wenn dies noch mit der Zuordnung zu Eigentumsformen verbunden wird. Diese Frage ist sehr wichtig, wenn es um die Einschätzung künftiger Wachstumspotentiale geht, denn die heutigen Rahmenbedingungen der Kapitalbildung bestimmen natürlich die künftige Produktivität des Kapi­taleinsatzes. Dabei treten im wesentlichen folgende Probleme auf.

- Erstens, viele Staatsbetriebe verwenden die Investitionsmittel anders als offiziell vorgesehen. Dies reicht vom Extrem der Weiterverleihung an Privatunternehmer über die Finanzierung von Sozialleistungen und Betriebswohnungen bis zum Kauf von Ausrüstungen ohne Genehmigung der vorgelagerten Behörden.

- Zweitens, die tatsächliche Verteilung von Verfügungs- und Nutzungsrechten in der Volkswirtschaft läßt sich nicht anhand der Kategorien der offiziellen Statistik ablesen, denn beispielsweise sind viele sog. "Kollektivbetriebe" eigentlich Privat­unternehmen, weil diese Bezeichnung Vorteile etwa beim Verkehr mit den Staats­banken eröffnet, und sind viele kleinere Staatsbetriebe inzwischen dauerhaft ver­pachtet, ohne damit ihren formalen Rechtsstatus zu verändern. Andererseits sehen sich viele sog. "private" Betriebe mit einer Fülle von Verwaltungsinterventionen

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konfrontiert, die ihren Status zum Teil kaum von demjenigen "kollektiver" Unter­nehmen unterscheidbar sein lassen.

Insgesamt also sind wichtige Bereiche der amtlichen Statistik in einer Weise diffus, daß Schlußfolgerungen für die Beurteilung der Wirtschaftsleistung unklar werden werden. Eindeutige Aussagen über die Richtung der entspre­chenden Fehleinschätzungen sind aber nicht möglich.

2.6. Unbestimmbarkeit des realen Wechselkurses und langfristiger Trends realer Größen: China als statistisch unbekannte Größe

Es gibt eine weitere Klasse von Problemen bei der Einschätzung der chinesischen Entwicklung, die seit einigen Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt. Allgemein gesprochen, handelt es sich um die Umrechnung nomi­naler in reale Werte, die ja auch bei der Berechnung von Kaufkraftparitäten bereits im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Kaufkraftparitäten sind nun aus den bislang genannten Gründen ebenso problematisch wie die Be­rechnung von Wechselkursen. Wechselkurse werden aber üblicherweise wei­terhin verwendet, um internationale Vergleiche und Umrechnungen zwischen den nominalen Daten verschiedener Länder zu erstellen.

In diesem Zusammenhang wird nun das Phänomen der Gleichzeitigkeit von Transformation und Integration in China relevant. Seit der Einleitung der Reformpolitik in der VR China wachsen die chinesischen Volkswirtschaften der Region zusammen. Zuerst beschleunigte sich dieser Prozeß im Falle Hong Kongs, seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre jedoch auch für Taiwan. Dabei handelt es sich interessanterweise um sehr ungleiche Volks­wirtschaften, was Aspekte wie die Bevölkerungszahl oder die Fläche betrifft. Bei der Wirtschaftsleistung stellen sich die Relationen jedoch anders dar, denn beispielsweise sind alle drei Regionen im Welthandel ungefähr an der gleichen Position angesiedelt, was den Anteil an den Weltexporten betrifft. Die Differenz zwischen den Pro-Kopf-Sozialprodukten ist weiterhin so ge­waltig, daß ein Land wie Taiwan durchaus ökonomisch in die Dimension der VR China gerät (Tabellen 3 a-c).

Diese relative Größe der Volkswirtschaften stellt sich natürlich wieder we­sentlich anders dar, wenn für die VR China die revidierte Rechnung nach Kaufkraftparitäten unterstellt wird. Dasselbe Problem tritt jedoch auch auf, wenn die Frage nach den Wechselkursen gestellt wird, die bei einem Ver­gleich zwischen den Volkswirtschaften zugrundegelegt werden sollen. Diese Frage gewinnt noch an Wichtigkeit, wenn es erforderlich wird, bei Aussagen über den gesamten chinesischen Wirtschaftsraum ein einheitliches Sozial pro-

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dukt für die VR China, Hong Kong und Taiwan zu berechnen. Auch für klei­nere Einheiten muß hier eine Lösung gesucht werden: Hong Kongs Unter­nehmen beschäftigen inzwischen rund fünf Millionen Arbeiter in der Provinz Guangdong, und mehr als ein Drittel der HK$ Banknoten zirkulieren eben­falls dort, weil etwa diese Arbeiter häufig nicht in chinesischer Währung, sondern in HK$ entlohnt werden. Das bedeutet also, daß die kantonesische Wirtschaftsregion bereits sehr dicht wirtschaftlich integriert ist. Wie hoch ist aber ihr Sozialprodukt? Da die Zahlen der Provinzstatistik Guangdongs in RMB angegeben sind, die Zahlen Hong Kongs aber in HK$, muß die Um­rechnung also unter Verwendung eines Wechselkurses erfolgen. Damit wird aber die Bestimmung des Sozialproduktes im kantonesischen Wirtschafts­raum höchst unzuverlässig, denn gegen die Verwendung von Kaufkraftpari­täten könnte gerade wegen der engen wirtschaftlichen Integration in Guang­dong und der großen Bedeutung von Swapmärkten argumentiert werden, daß für die Umrechnung zwischen HK$ und Renminbi der freie Marktkurs ver­wendet werden sollte (Siehe unten, Tabelle 14).

Dabei ist der HK$ noch relativ leicht zu handhaben, weil es sich um eine Währung mit frei schwankendem Kurs handelt (über die Kopplung an den US$), so daß die Probleme auf der festländischen Seite liegen. Für Taiwan ergibt sich jedoch das zusätzliche Problem, daß das Wechselkurssystem erst seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre liberalisiert wurde. Der NT$ war lange Zeit unterbewertet und bewegt sich erst seit den Plaza-Abkommen 1985 in Richtung seines "richtigen" realen Außenwertes. Umgekehrt war die festländische Währung bis zur jüngsten Reform des Wechselkurssystems 1994 immer wieder systematisch überbewertet, solange keine administrative Anpassung des offiziellen Wechselkurses erfolgte. Diese Beobachtung ist deshalb schwierig einzuordnen, weil es sich eindeutig um einen stabilen Trend handelte, der auch mit der fortschreitenden inländischen Geldentwer­tung harmoniert, aber selbstverständlich in krassem Gegensatz zur Berech­nung nach Kaufkraftparitäten steht. Wird aber in beiden Fällen, Taiwan und VR China, nach den offiziellen Wechselkursen aggregiert, so gilt zuminde­stens für die zurückliegende Periode, daß die administrativen Verzerrungen des Wechselkurses statistisch alle anderen Einflußgrößen relativer Entwick­lungen dominieren und überdecken. Eine Aggregation wird damit eigentlich aussagelos. Dies wird dann offensichtlich, wenn Vergleiche (etwa hinsicht­lich der Energieintensität der Volkswirtschaften) angestellt werden, bei denen eine Verwendung kommensurabler Sozialproduktszahlen erforderlich ist.

Damit können wir die ernüchternde Schlußfolgerung ziehen, daß der chine­sische Wirtschaftsraum eine statistisch unbekannte Größe darstellt. Dabei ist zu beachten, daß sich über die Wechselkursproblematik hinaus ohnehin viele Meß- und Erfassungsprobleme einstellen. Beispielsweise ist das Volumen tai­wanesischer Direktinvestitionen nicht nur auf dem Festland, sondern auch in anderen Gebieten Asiens nur sehr schwer feststellbar, weil die Unternehmen

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Tabellen 3 a-c: Sozialprodukt (a), Bevölkerung (h) und Pro-Kopf-Sozial-produkt (c) der VR China, Hong Kongs und Taiwans nach offiziellen US$-Wechselkursen im Vergleich

Sozialprodukt in Mrd.US$

regionale Verteilung in % VR TW HK Gr.China BSP BIP BIP

VR TW HK

1985 267,30 62,06 33,53 362,89 73,7 17,1 9,2 1986 260,51 75,43 38,55 374,49 69,6 20,1 10,3 1987 303,62 101,13 47,36 452,10 67,2 22,4 10,5 1988 376,62 122,23 55,29 554,13 68,0 22,1 10,0 1989 337,05 146,86 63,64 547,55 61,6 26,8 11,6 1990 369,71 157,10 71,65 598,46 61,8 26,3 12,0 1991 373,02 175,40 82,53 630,95 59,1 27,8 13,1 1992 406,69 211,45 95,95 714,10 57,0 29,6 13,4

Bevölkerung

Bevölkerung in Mio. regionaler Anteil (%) VR TW HK Gr. China VR TW HK

1985 1058,51 19,12 5,41 1083,04 97,7 1,8 0,5 1986 1075,07 19,32 5,51 1099,90 97,7 1,8 0,5 1987 1093,00 19,53 5,56 1118,09 97,8 1,7 0,5 1988 1110,26 19,77 5,66 1135,68 97,8 1,7 0,5 1989 1127,04 19,97 5,76 1152,77 97,8 1,7 0,5 1990 1143,33 20,22 5,86 1169,41 97,8 1,7 0,5 1991 1158,23 20,40 5,83 1184,46 97,8 1,7 0,5 1992 1170,00 20,70 5,80 1196,50 97,8 1,7 0,5

Pro-Kopf-Sozialprodukt von Greater China

in US$ Relation VR TW HK Gr. China VRfTW/HK

1985 252,5 3246,0 6197,6 335,1 1:13:25 1986 242,3 3904,2 6997,2 340,5 1 :16:29 1987 277,8 5177,9 8517,6 404,4 1:19:31 1988 339,2 6184,0 9769,0 487,9 1:18:29 1989 299,1 7355,2 11048,8 475,0 1:25:37 1990 323,4 7770,7 12227,6 511,8 1:24:38 1991 322,1 8597,9 14156,5 532,7 1:27:44 1992 347,6 10215,0 16543,8 596,8 1:29:48

Quelle: Carsten Herrmann-Pillath, Wirtschaftsintegration durch Netzwerke: Die Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, Baden-Baden 1994, S. 249f.

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ihre Bilanzen verschleiern und häufig ihre Aktivitäten nicht nur international, sondern auch informell finanzieren. Statistiken der taiwanesischen Regierung und der Empfängerländer können in einzelnen Jahren um das -zig-fache aus­einandergehen. Weiterhin ist zu beachten, daß der chinesische Wirtschafts­raum auch die Auslandschinesen in Südostasien einschließen müßte, ja even­tuell auch die Chinesen in den USA. Soll die Größe dieser "chinesischen Wirtschaft" insgesamt geschätzt werden, dann trifft die statistische Analyse endgültig an ihre Grenze.

Wird jedoch die Problematik im transnationalen Kontext auf die Wechsel­kursfrage und also die Beziehung zwischen nominalen und realen Größen eingegrenzt, dann gilt für die VR China selbst, daß dieses Problem auch ohne Einbeziehung des Wechselkurses nicht unerheblich ist. Wie soll die Umrech­nung von nominalen in reale Werte erfolgen? In entwickelten Marktwirt­schaften geschieht dies auf einfachem Wege durch die Deflation nominaler Werte, also die Herausrechnung der statistisch gemessenen Geldentwertung. Vorausgesetzt wird, daß die Märkte hinreichend effizient und schnell infla­tionäre Tendenzen in allen Güterpreisen widerspiegeln. Dies war und ist in China nicht unbedingt der Fall. Vor allem gilt bis heute, daß die Kosten der Lebenshaltung als auch politisch entscheidender Bezugsgröße für die Inflati­onsmessung eine schwer bestimmbare Kategorie bleiben. Dies ist natürlich wieder für die Frage der Kaufkraftparitäten relevant.

Zugespitzt formuliert, trifft der Beobachter hier auf ein ähnlich prinzipiel­les Problem wie beim Paradox der Beurteilung von Institutionen und ihres Einflusses auf die Wirtschaftsleistung. Wenn davon ausgegangen werden muß, daß eine bestimmte, von der offiziellen Statistik angegebene Inflations­rate nicht die tatsächliche ist, dann setzen die meisten Methoden zur Berech­nung der tatsächlichen Inflationsrate im Kern voraus, daß das Wachstum der Geldmenge zur Entwicklung der realen Wirtschaftsleistung in Beziehung ge­setzt wird: Die überschießende Geldmengenexpansion muß sich dann in einer Zunahme der geschätzten tatsächlichen Inflationsrate niederschlagen. Um aber die reale Wirtschaftsleistung zu messen, muß bereits die tatsächliche In­flationsrate bekannt sein, denn nur dann ist eine richtige Deflationierung der nominalen Sozialproduktsdaten möglich.

Hier ist kein Raum, auf die komplizierten Aspekte einer möglichen Lösung dieses Paradoxes einzugehen. Vermutlich spiegelt die offizielle chinesische Statistik in jedem Fall die Tendenz der Inflationsrate, eventuell aber auch ihr Niveau heute richtig wider (siehe unten, Tabelle 13). Dieser Zusammenhang dürfte sich jedoch im Zeitablauf verschoben haben: Manche Expertenschät­zungen gehen etwafür die erste Hälfte der achtziger Jahre davon aus, daß die tatsächliche Inflationsrate mehr als das doppelte der offiziell verlautbarten er­reichte. Dies hätte dann natürlich wesentliche Auswirkungen für die Berech­nung realer Sozialproduktsdaten, würde also das reale Wirtschaftswachstum entsprechend reduzieren. Heute dürfte diese Differenz nicht mehr derart groß

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sein. Dennoch wird die offizielle Inflationsrate durch eine Fülle indirekter ad­ministrativer Interventionen "gemanagt". Hier ist erneut zu beachten, daß Statistik in China zunächst auf lokaler Ebene beginnt. Die statistischen Ämt­zer von Städten sammeln etwa die Daten zur lokalen Preisentwicklung und geben sie an die übergeordneten Abteilungen weiter. Damit gewinnen aber lokale Behörden unabhängig von der zentralen Wirtschaftspolitik die Mög­lichkeit, die statistisch gemessene Preisentwicklung durch administrative Marktinterventionen zu beeinflussen, also etwa Preiskontrollen auf lokalen Märkten. Das Ausmaß dieser Eingriffe läßt sich aber nicht im Sinne eines "Durchschnittsniveaus" für ganz China bestimmen.

2.7. Die Rolle subjektiver Erwartungen für das Wirtschaftswachstum: Chinas Politik der Symbole

Dieses Problem weist also auf ein weiteres hin, nämlich die Tatsache, daß, ähnlich wie der Beobachter, auch die Wirtschaftssubjekte selbst unsicher über die tatsächliche Höhe der Inflation sein müssen. Wenn Marktsignale von den Akteuren nicht als "objektive" Daten betrachtet werden können, erhält die Frage eine entscheidende Bedeutung, wie sie ihre Erwartungen über diese Daten bilden. Jenseits dieser Erwartungen gibt es keinen eigentlichen Be­zugspunkt für die Erklärung ihres Verhaltens durch den Beobachter. Das heißt, die Reaktionen auf die Wirtschaftspolitik sollten nicht primär durch die "objektiven" Daten erklärt werden, die der Beobachter sammelt und konstru­iert, sondern durch die subjektive Lageeinschätzung, die freilich ihrerseits der Beobachtung zugänglich sein kann.

Dieser scheinbar abstrakte Sachverhalt spielte in der chinesischen Entwick­lung 1988/89 eine schicksalhafte Rolle. Im Sommer 1988 wurde bekannt, daß die chinesische Regierung die Preise radikal liberalisieren wollte. Dies hatte unmittelbar zur Folge, daß die subjektive Einschätzung der künftigen Preisentwicklung in der chinesischen Bevölkerung umschlug. Es setzte eine Flucht in Sachwerte ein, die über die entsprechend rasch kontrahierende Nachfrage nach Geldhaltung direkt eine Zunahme der Inflation verursachte. Die Regierung zog sofort Konsequenzen und leitete eine Austeritätspolitik mit administrativen Kontrollen ein. Zwar konnte auf diese Weise die Inflati­onsbeschleunigung eingedämmt werden, doch trug das veränderte Bild der Wirtschaftslage unter der Bevölkerung dann wesentlich dazu bei, daß im Frühjahr 1989 die Studentenbewegung am Tiananmen auch Unterstützung in weiteren Kreisen der Bevölkerung erhielt. Die Empfindung, daß sich die tat­sächliche Lebenssituation nicht so stark verbessert hatte wie eigentlich stati­stisch suggeriert, spielte als Faktor des Unmutes eine wichtige Rolle.

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An diesem großen Einfluß subjektiver Erwartungen hat sich bis heute nichts verändert. Es ist der chinesischen Führung seit 1989 in erstaunlich ef­fektiver Weise gelungen, diese Erwartungen politisch zu stabilisieren. Ein Ausdruck dieses Erfolges ist die bisherige Bereitschaft der Privaten, ein stetig wachsendes Volumen an Sparguthaben zu halten, das inzwischen den bedeu­tendsten Teil der Finanzierung der Staatsbanken und damit des Staatssektors in der Volkswirtschaft stellt (siehe unten, Tabelle 13). Während zwischen 1989 und 1991 dieses Verhalten durch einen höheren Bedarf an Sicherheit zu erklären ist, hat Deng Xiaoping's "Reise nach Süden" im Frühjahr 1992 eine wahre Wachstumseuphorie ausgelöst, die zwar einerseits durch die stark zu­genommene Nachfrage etwa nach Kapitalgütern die Inflation beschleunigt, andererseits aber eigentlich gewährleistet, daß die ungebrochene Expansion der Geldmenge nicht vollständig in Preissteigerungen Ausdruck findet, son­dern auch reale Wirkungen auf den Output besitzt. Das Dilemma dieser Poli­tik besteht dann aber darin, daß die größere Intensität der Wirtschaftsaktivität auch die Rate der Kredit- und damit Geldmengenexpansion nicht unberührt läßt, sondern weiter erhöht. Sobald daher die subjektiven Erwartungen be­züglich der Wirtschaftsentwicklung eine erneute Veränderung erfahren, wird sich auch der Zusammenhang zwischen Geldmengenexpansion und Inflation wieder verschieben.

Diese Phänomene erklären, warum in China symbolische Politik im Sinne des Managements subjektiver Wirklichkeitswahrnehmung eine Schlüsselrolle für die Entwicklung spielt. Im Grunde setzen viele Maßnahmen der Politik auf die Möglichkeit sich selbst erfüllender Prognosen. Entsprechend risiko­reich ist sie reilich, denn sie kann bei einem Scheitern zu radikal neuen Si­tuationen führen - genau wie im Falle des Massakers am Tiananmen. Die symbolische Politfkrichtet sich aber nicht nur an die chinesische Bevölke­rung, sondern auch an das Ausland. Auch hier wird in nicht unerheblicher Weise mit der Karte gespiel , daß positive Einschätzungen der Entwicklung in China den Zustrom von Auslandskapital intensivieren und daß dieser Zu strom dann eben zu einer künftig positiven Wirtschaftsentwicklung beiträgt.

Insofern gewinnt die Frage noch an Dringlichkeit, wie die "fundamentals" der chinesischen Entwicklung richtig bewertet werden können. Das chinesi­sche Hochwachstum scheint nämlich wesentlich durch die gewaltige Spanne zwischen diesen "fundamentals" (etwa in Gestalt der Umweltkrise) und den subjektiven, aktuellen Wirklichkeitsbildern geprägt.

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2.8. Institutionen und Innovationskraft: Schlüssel zukünftiger Entwicklungen

Wer aus Beobachtungen der heutigen Wirtschaftsentwicklung Prognosen über die Zukunft Chinas als WeItwirtschaftsrnacht gewinnen will, sollte sich bei allen Daten der bislang diskutierten Probleme bewußt sein. Ungeachtet dessen, welche Zahlen aber akzeptiert werden, muß abschließend eine zentra­le Fragestellung betont werden, die uns in den weiteren Kapiteln ausführlich befassen wird: Eine einfache Extrapolation von vergangenen Daten zur Wirt­schaftsentwicklung ist nur dann sinnvoll, wenn der Beobachter in der Lage ist, die qualitativen Aspekte des institutionellen Wandels zu beurteilen und zu klären, inwieweit dieser Wandel tatsächlich dazu beiträgt, dauerhaft wirksa­me Quellen des Wirtschaftswachstums zu schaffen. Was stellt aber eine dau­erhafte Quelle des Wirtschaftswachstuns dar? Eine einfache und gleichzeitig komplexe Antwort lautet: Die Fähigkeit zu Wandel und Neuerung.

Wer China also als künftige Wirtschaftsrnacht sieht, sollte in der Lage sein schlüssig zu begründen, daß die gegenwärtige Entwicklung dazu führt, den chinesischen Wirtschaftsraum zu einem weltwirtschaftlichen Zentrum von Neuerungsprozessen werden zu lassen, wobei der Begriff der "Neuerung" weit zu verstehen ist, also nicht nur technologische, sondern auch sozialorga­nisatorische Aspekte einschließt, und natürlich ebenso auf den WeItstandard wie relativ zum status quo einer bestimmten Volkswirtschaft zu definieren ist. In diesem Sinne war und ist Japan ein solcher weItwirtschaftlicher Pol von Neuerungen. Wirtschaftswachstum als statistisch gemessene Größe ist nur ein Epiphänomen dieses Potentials an Neuerungen.

Das Potential an Neuerungen einer Volkswirtschaft wird nun durch eine Fülle von Faktoren bestimmt, deren Darstellung ein eigenes Buch erfordert, und deren Analyse noch dazu an der Front wirtschaftswissenschaftlicher For­schung steht. Um im Rahmen dieses Buches solche Aspekte überhaupt be­rücksichtigen zu können, möchte ich drei Blöcke von Determinanten des Neuerungspotentials nennen:

- erstens, die Ausstattung mit natürlichen Ressourcen und die spezifischen Relatio­nen zwischen den unterschiedlichen Faktoren, und zwar unter Einschluß der de­mographischen Aspekte und damit des Humankapitals, zweitens, die Institutionen und Normen, die das Verhalten von Wirtschaftssubjek­ten bestimmen, und zwar unter Einschluß des politischen Systems,

- drittens, die internationalen Beziehungen der Volkswirtschaft und ihre mögliche Positionierung in einer dynamischen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung.

Wir haben uns mit dem ersten Bereich bereits oberflächlich befaßt. Nun darf aber selbst Chinas ökologische Krise nicht als unverrückbares Datum be­trachtet werden, denn es wird von der Neuerungsfahigkeit des Wirtschafts­raumes abhängen, ob letztlich kreative Lösungen der Probleme gefunden

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werden, die selbstverständlich heute niemand, auch nicht der wissenschaftli­che Beobachter, kennen kann. Daher müssen die anderen Aspekte ausführ­lich berücksichtigt werden, bevor ein Gesamturteil möglich ist. Dies soll nun im folgenden geschehen. Wenden wir uns zunächst dem dritten Block zu.

Literaturempfehlungen

Einen guter Überblick über die chinesische Transformation und über ihre Spezifika im Vergleich zu anderen postsozialistischen Volkswirtschaften bie­ten die Beiträge von Wing Thy Woo, Ronald McKinnon und Barry Naughton im Journal of Comparative Economics, Vol. 18(3), 1994. Der Aufsatz von McKinnon, Financial Growth and Macroeconomic Stability in China, 1978-1992: Implications for Russia and Other Transitional Economies, ebd., S. 438-469, ist auch bezüglich der Probleme hinsichtlich der Bewertung mone­tärer Entwicklungen hilfreich. Ausführlicher werden diese Fragen sowie die einschlägigen Meßprobleme diskutiert in Carsten Herrmann-Pillath, Institu­tioneller Wandel, Macht und Inflation in China: Ordnungstheoretische Ana­lysen zur Politischen Ökonomie eines Transformationsprozesses, Baden-Ba­den 1991. Die genaue Methode der jüngsten Neuberechnung des chinesi­schen Sozialproduktes läßt sich nachlesen bei Jeffrey Taylor, Dollar GNP Estimates for China, Center for International Research, US Bureau of Cen­sus, Washington, D.C., CIR Staff Paper No. 58. Die chinesische Umwelts i­tuation wird umfassend analysiert in Vaclav Smil, China's Environmental Crisis, Armonk 1993. Smil identifiziert eine Fülle von Grenzen des Wachs­tums in China. Zum besseren Verständnis der historischen, insbesondere de­mographischen Unterschiede zwischen der langfristigen Wirtschaftsentwick­lung Chinas und Europas ist empfehlenswert Albert Feuerwerker, Chinese Economic History in Comparative Perspective, in: P.S. Ropp, Hrsg., Heritage of China: Contemporary Perspectives on Chinese Civilization, Berkeley et al. , 1990, S. 224-242. Regionalisierung und internationale Integration der chinesischen Wirtschaft haben Anlaß für die Kompilation einer besonderen Datensammlung gegeben, die auch von einer eingehenderen Diskussion der Interpretation dieser Daten eingeleitet wird: Carsten Herrmann-Pillath, Hrsg., Wirtschaftsentwicklung in Chinas Provinzen und Regionen: Ein statistisches Handbuch, Baden-Baden 1995.

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3. China als regionalisierte und transnationale Wirtschaft

Die Wirtschaftsentwicklung der VR China darf heute nicht mehr isoliert be­trachtet werden. Wie bereits im zweiten Kapitel bei der Diskussion des Wechselkursproblems deutlich wurde, ist der Einfluß der anderen chinesi­schen Volkswirtschaften in der Region auf die Veränderungen in der Volks­republik inzwischen derart groß, daß eigentlich nur noch Aussagen über den gesamten chinesischen Wirtschaftsraum sinnvoll sind. Es wäre jedoch irre­führend, dies ausschließlich im Sinne einer gebotenen Lösung des Aggrega­tionsproblems aufzufassen. Das zentrale Merkmal der chinesischen Wirt­schaftsentwicklung besteht vielmehr darin, daß China auf der einen Seite eine transnationale Wirtschaft ist, in der eine zunehmende Integration zwischen Teilen der VR China und Volkswirtschaften außerhalb der politischen Gren­zen der VR China stattfindet, daß es aber gleichzeitig eine regionalisierte Wirtschaft in der zugespitzten Bedeutung dieses Begriffes ist: Das Festland erfährt eine regionale Desintegration im Sinne zunehmender wirtschaftlicher Segmentierung zwischen Teilregionen. Beide Prozesse können nur vor dem Hintergrund langfristiger historischer Entwicklungen richtig bewertet wer­den.

3.1. Die Regionalisierung der chinesischen Wirtschaft als säkularer Prozeß

3.1.1. Chinas traditionelle Wirtschaft der Regionen

Historisch betrachtet, war China lange Zeit kein einheitlicher Wirtschafts­raum, sondern bestand aus mehreren Wirtschaftsgebieten, die in der Literatur als "Makroregionen" bezeichnet werden. Sie lassen sich zumeist als Einzugs­gebiet großer Flüsse identifizieren und werden häufig durch natürliche Bar­rieren gegeneinander abgegrenzt, wie etwa Gebirge (Abbildung 9).

Jede Makroregion wies eine hierarchische Struktur von Handels- und Wirt­schaftsgebieten auf, die sich zumeist um ein urbanes Zentrum formierten und intern durch die systematische Vernetzung von Marktplätzen gekennzeichnet waren. Diese Märkte besaßen je nach Größe und Position der Stadt oder des Dorfes im Wirtschaftsraum unterschiedlich große Einzugsgebiete, also etwa als regionales Großhandelszentrum oder als lokaler Wochenmarkt. Im Zuge

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Abbildung 9: Makroregionen der chinesischen Wirtschaft in vorkommunistischer Zeit

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Quelle: G.W. Skinner, The Structure ofChinese History, in: Journal of Asian Studies Vol. 44/2, 1985, S. 273.

der wirtschaftlichen Entwicklung des traditionellen China nahm die Dichte dieser Märkte immer mehr zu und begleitete den Prozeß einer dezentralen Urbanisierung, die nicht zu einer weitergehenden Agglomeration städtischer Gebiete führte, sondern zur breiten Streuung der Bevölkerung im Raum und

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ihrer Verteilung über eine stetig zunehmende Zahl kleinerer Städte und Dör­fer.

Chinas traditionelle Wirtschaftsgeographie war also wesentlich durch de­mographische Faktoren und Transportkostendifferentiale im Raum bestimmt. Bis zum 19. Jhd. wies die chinesische Wirtschaft dementsprechend keine wirklich einheitliche Entwicklung auf: Wegen der geringen Integration zwi­schen den Makroregionen, aber der dichten Integration innerhalb dieser Re­gionen, konnten diese voneinander abgekoppelte Wachstumszyklen aufwei­sen. Ein wesentlicher Faktor dieses Phänomens waren stets demographische Zyklen und Migration, die zum Teil eng mit militärischen Auseinanderset­zungen und regional begrenzten Rebellionen und Bauernaufständen zusam­menhingen, diese aber wiederum oft mit der Erschöpfung regionaler agrar­ökologischer Ressourcen. Typisch ist beispielsweise die Abfolge von Wande­rungsschwerpunkten während der letzten chinesischen Dynastie, als zum Bei­spiel langfristige Schwankungen der Wirtschaftsaktivität in Hunan zur mas­senhaften Migration in das Becken von Sichuan führten. Diese Zuwanderung war dann natürlich mit einer gegengerichteten Zunahme der Wirtschaftsakti­vität in Sichuan verbunden.

Die Makroregionen der traditionellen chinesischen Wirtschaft waren also zwar im Bereich der Gütermärkte gering integriert, bemerkenswerterweise aber durch Wanderungen des Faktors Arbeit eng miteinander verbunden. Diese anhaltend große Bedeutung der Migration trug sicherlich auch zu einer Homogenisierung der chinesischen Kultur bei, die noch über den Einfluß des Staates hinaus ging. Auf der anderen Seite behielten Migranten jedoch auch längere Zeit die kulturellen Merkmale ihrer Herkunftsregion, etwa ihren Dialekt, wie etwa besonders deutlich im Falle der Hakka (einer han-chinesi­schen Subethnie), die ebenfalls bestimmte Gebiete in Sichuan besiedelt hat­ten.

Erst gegen Ende des 19. Jhds. darf vermutlich von einem einheitlichen Binnenmarkt gesprochen werden. Dieser Markt erfuhr dann jedoch gleich­zeitig starke Kräfte erneuter Desintegration, die nun aber vornehmlich poli­tisch und nicht wirtschaftlich bedingt waren. Gleichzeitig überlagerte sich diese Entwicklung mit der Abspaltung bestimmter Gebiete vom chinesischen Territorium als Kolonien, nämlich vor allem Hong Kong und Taiwan. Be­trachten wir diese drei Aspekte etwas genauer.

3.1.2. Regionalisierung und Kolonialisierung vor 1949

Nach dem gewaltsamen Kontakt mit dem westlichen Imperialismus folgten in China politische und militärische Erschütterungen in rascher Folge aufein­ander. Für die binnenwirtschaftliche Entwicklung besonders folgenreich war die Taiping-Rebellion in den sechziger Jahren des 19. Jhds., die nicht nur

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weite Teile des Landes in den wirtschaftlich prosperierenden Gebieten ver­wüstete, sondern in deren Gefolge auch wirtschaftspolitische Maßnahmen er­griffen wurden, die verstärkend auf die ohnehin negativen Folgen der inneren Gewalt für die Integration wirkten, vor allem die Binnenzölle, die berühmte Likin-Steuer. Die Versuche politischer Kräfte in den Provinzen, die wirt­schaftliche Modernisierung zu beschleunigen, blieben zwar ohne Zweifel nicht wirkungslos, versagten aber in einigen wesentlichen Bereichen. Beson­ders erwähnenswert ist das politische Scheitern breiter Initiativen im Eisen­bahnbau, der im Gerangel zwischen Provinzen und Zentralregierung auf der Strecke blieb; dies schwächte ohne Zweifel die realwirtschaftliche Integra­tion. Anders als bei der Fluß-Dampfschiffahrt konnte sich in China ein we­sentliches Instrument der weitergehenden wirtschaftlichen Verdichtung von großen Wirtschaftsräumen nicht voll entfalten.

Der Sturz des Kaiserreiches 1911 verschlechterte dann die Bedingungen für die wirtschaftliche Integration weiter. Allerdings zerfiel China in War­lord-Territorien, die häufig nicht mit den Makroregionen der traditionellen Wirtschaft identisch waren: Es gab keinen wirtschaftlichen Determinismus der politischen und militärischen Entwicklungen.

Die Wirtschaftsentwicklung war nun notgedrungen stark intraregional ori­entiert. Bemerkenswert ist aber, daß unabhängig von dieser regionalen Ori­entierung die Desintegration zwischen Küstenregionen und Binnenräumen insgesamt stark zunahm. Vor allem Wirtschaftszentren wie Shanghai waren in den zwanziger Jahren selbst hinsichtlich ihrer Versorgung mit Lebensmit­teln auf den Weltmarkt hin orientiert, und nicht auf die ländlichen Räume des Festlandes. Dieser teilweise Ausfall städtischer Nachfrage verschärfte umge­kehrt die chinesische Agrarkrise weiter, so daß Impulse zur endogenen Ent­wicklung immer schwächer wurden.

Die Desintegration des chinesischen Wirtschaftsraumes setzte sich auch unter der nationalchinesischen Herrschaft fort. Bereits damals wurden wirt­schaftspolitische Strategien und Instrumente diskutiert, wie die Integration zwischen Küstengebieten und Inlandsprovinzen intensiviert werden könne, und die Problematik war auch Gegenstand eines Tauziehens zwischen Zen­tralregierung und Provinzen. Gleichzeitig trug jedoch die japanische Beset­zung der Mandschurei sowie später die Abgrenzung zwischen den Einfluß­sphären der Bürgerkriegsparteien zur weiteren Desintegration des Wirt­schaftsraumes bei. Das bedeutet aber, daß mit Gründung der VR China im Jahre 1949 zunächst das Datum eines national desintegrierten Wirtschafts­raumes gesetzt war. Dies schlug sich nicht zuletzt auch darin nieder, daß die ersten großflächigen Einheiten der Wirtschaftslenkung nach Wirtschaftsräu­men und nicht nach Provinzen abgegrenzt wurden.

Im 19. Jhd. wurden auch zwei andere Meilensteine divergierender Ent­wicklung im chinesischen Wirtschaftsraum gesetzt, die langfristig den be­sonderen Charakter Südchinas prägten (Abbildung 2). Seit 1842 entwickelte

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sich Hong Kong zu einem der wichtigen Umschlagzentren für den Waren­verkehr mit China, nicht zuletzt des Opiumhandels. Sein Wachstum auch als gewerbliches Zentrum wurde kontinuierlich durch den Zustrom chinesischer Arbeitskräfte vorwärtsgetrieben, die vor den schlechten Lebensbedingungen im politisch instabilen Festland flohen. Insofern war Hong Kong stets eng mit China wirtschaftlich integriert, und noch bis zum Beginn des 20. Jhds. betraf dies nicht zuletzt auch den eigentlichen Anlaß seiner Gründung, näm­lich den Opiumhandel. Doch war Hong Kong längst zu einem Handelszen­trum im gesamten südlichen Raum Ostasiens geworden. Im Verlauf der er­sten Hälfte des 20. Jhds. entwickelte sich auch der gewerbliche Sektor immer mehr. Dieser beschleunigte Strukturwandel wurde durch eine aktive Infra­strukturpolitik der Kolonialregierung und der chinesischen wirtschaftlichen Eliten angeregt und abgestützt, die Hong Kong in den Augen der chinesi­schen Intellektuellen der letzten Jahre des Kaiserreiches zu einer Ausnahme unter chinesischen Städten werden ließen.

Politisch und gesellschaftlich entwickelte es sich nämlich zu einer Enklave, in der sich ein autochthoner Prozeß der Modernisierung der chinesischen Kultur vollzog. Dies geschah im Rahmen einer zunehmend konsensualen Ko­lonialherrschaft, in der chinesische Wirtschaftseliten eine starke Position und großen Einfluß besaßen, ohne freilich formal als Bestandteil der Kolonialre­gierung anerkannt zu sein. Als historischer Abschluß der Ausgestaltung die­ses besonderen Gesellschaftssystems Hong Kongs mag der Streik der Seeleu­te im Jahre 1922 betrachtet werden, in dessen Folge die britischen Eliten die Interdependenz ihrer Interessen mit der Lebenssituation der chinesischen Be­völkerung Hong Kongs durchgreifend erfuhren. Nach dem Zwischenspiel der japanischen Besatzung Hong Kongs in den vierziger Jahren war Hong Kong also ein regionales Handelszentrum geworden und stand unter einer autoritä­ren Honoratiorenherrschaft mit dem Regime der britischen "rule of law", in der stets ein Konsens zwischen chinesischen Eliten und Kolonialverwaltung gesucht werden mußte.

Taiwan gehörte wie Hong Kong bis zur Mitte des 19. Jhds. eindeutig zur Peripherie Chinas und war lange Zeit politisch diskriminiert worden, da die kaiserliche Administration die Kontroll- und Überwachungskosten der Insel scheute. Dennoch beschleunigte sich die wirtschaftliche Integration zwischen Taiwan und dem Festland zusehends unter dem wachsenden, zeitweise aber nicht legalisierten Immigrationsdruck vom überbevölkerten Festland. Taiwan wurde zu einem bedeutenden Lieferanten von Agrarprodukten, nachdem es eigentlich schon seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle als Knotenpunkt für den Seehandel europäischer Kolonialmächte gespielt hatte.

Diese natürliche Integration mit dem chinesischen Festland wurde unter­brochen, als Taiwan im Jahre 1895 japanische Kolonie wurde. In den darauf­folgenden 50 Jahren blieb die Integrationsrichtung Taiwans wesentlich durch die japanische Politik bestimmt und folgte nicht spontanen Marktkräften.

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Dabei sind zwei Phasen zu unterscheiden. In der ersten Hälfte der Kolonial­zeit wurde Taiwans Wirtschaft eindeutig auf die japanische hin orientiert, um seine komparativen Vorteile als Produzent agrarischer Produkte zu nutzen. Gleichzeitig wurde Taiwan aber auch als Warenumschlagplatz für den japa­nischen Asienhandel ausgebaut. Diese Internationalisierung Taiwans be­schleunigte sich dann, als Taiwan während der zweiten Hälfte der Kolonial­zeit eine Schlüsselrolle in der japanischen "Südstrategie" erhielt, also poli­tisch als Handels-, Finanz- und Industriezentrum der japanischen Vormacht im südchinesischen und südostasiatischen Raum konzipiert wurde. Damit wurde Taiwan aber wieder auf das chinesische Festland hin orientiert, und es intensivierten sich die Wirtschaftsbeziehungen erneut, um sich freilich unter dem Weltkriegsbedingungen nicht voll entfalten zu können. Als dann in der Folge des chinesischen Bürgerkrieges Taiwan unter die Kontrolle der vom Festland geflohenen Guomindang geriet, war das dritte hier zu betrachtende Datum der Entwicklung nach 1949 gesetzt, denn von nun an blieben die wirt­schaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen auf Eis gelegt.

Die politische Entwicklung vor 1949 hatte damit wesentliche Folgen für den chinesischen Wirtschaftsraum: Erstens wurde China in zwei unterschied­liche Wirtschaftszonen geteilt, nämlich das kommunistisch beherrschte Fest­land und die westlich orientierten Gebiete Hong Kongs und Taiwans. Zwi­schen diesen Zonen gab es danach aus politischen Gründen lange Zeit nur sehr geringe wirtschaftliche Beziehungen, die allerdings für Hong Kong im­mer deutlich intensiver waren als im Falle Taiwans. Zweitens mußte die kommunistische Regierung auf dem Festland unter anderem das Erbe der Desintegration des festländischen Wirtschaftsraumes bewältigen. Die erste Konsequenz bedeutet für heute, daß Chinas Wirtschaftsraum nun auch durch einen ökonomischen Prozeß der internationalen Integration geprägt ist.

3.1.3. Zellularisierung der Wirtschaft in der Ära Mao

Bestimmend für die Entwicklung der VR China mußte nun werden, daß die kommunistische Wirtschaftspolitik bis 1978 zur weitergehenden Desintegra­tion des Wirtschaftsraumes beitrug, und zwar selbst in solchen Fällen, wo das Gegenteil ausdrückliches Ziel der Politik war. Dies hängt sehr eng mit der besonderen Natur des maoistischen Wirtschaftssystems zusammen, das Ele­mente der Zentralverwaltungswirtschaft mit Elementen einer lokalen und re­gionalen Eigenwirtschaft mischte, also grob gesprochen, den chinesischen Wirtschaftsraum durch ein hierarchisch geordnetes Netz partiell autonomer und nicht systematisch integrierter Befehlswirtschaften überlagerte. Hinsicht­lich der Einschätzung der Natur dieses Systems hat es in der wissenschaftli­chen Literatur eine Auseinandersetzung zwischen Autoren gegeben, die Chi­na als sogenannte "zellularisierte" Wirtschaft betrachteten, und solchen, die

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zentrale Interventionen und damit Integration stärker betonten. Beide Positio­nen sehen jedoch eigentlich zwei Seiten derselben Münze. Auf der einen Sei­te hat die chinesische Zentralregierung bei Gütern, die für die Volkswirt­schaft wesentlich sind, stets interveniert, wie etwa beim Zwangsankauf von Getreide für die Versorgung der Städte, und darüber hinaus natürlich über ei­nen Teil des industriellen Kapitalstockes ohnehin direkt entschieden. Auf der anderen Seite aber sind viele Allokations- und Produktionsentscheidungen im ländlichen Raum ohne direkten Durchgriff zentraler Pläne getroffen worden. Wie später noch im Einzelnen betrachtet wird, ist darüber hinaus das Aus­gangssystem der chinesischen Wirtschaftsreformen nicht statisch zu sehen: Es war vielmehr mehreren Wellen der Zentralisierung und Dezentralisierung unterworfen, deren Trend insgesamt in Richtung einer stärkeren Rolle regio­naler und lokaler Instanzen im Wirtschaftsprozeß ging - was aber nicht aus­schloß, das zu bestimmten Zeiten die Zentralregierung eine relativ starke Po­sition zurückgewann.

Was jedoch in der erwähnten Auseinandersetzung zwischen den beiden Auffassungen über das maoistische Wirtschaftssystem zu kurz kommt, ist die einfache Tatsache, daß Dezentralisierung wie Zentralisierung unter den Bedingungen der Befehlswirtschaft beide integrationsmindernd wirken. Dies ist nicht zuletzt auch eine Erfahrung nach dem Zusammenbruch der stark zentralisierten Planwirtschaften des europäischen Ostens und ihres Integrati­onssystems, des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe: Selbst wenn in der Phase zentraler Planung Regionen eng durch Güterströme verflochten waren, sind Strukturen des Kapitalstockes, die durch zentrale administrative Eingrif­fe gebildet worden sind, zumeist nicht marktwirtschaftlich effizient, so daß das planwirtschaftliche Integrationsmuster unter Marktbedingungen nicht überlebensfähig ist, gleichzeitig aber ein marktwirtschaftliches nicht kurzfri­stig als Substitut auftreten kann. "Integration" ist dann gegebenenfalls nur noch das Resultat monopolistischer Marktstrukturen, wenn einzelne Güter landesweit nur von einem Produzenten angeboten werden.

Für China liegen die Dinge nun noch etwas komplizierter. Die maoistische Wirtschaftspolitik hat in mehrfacher Hinsicht die reale wirtschaftliche Inte­gration auf dem Festland reduziert, soweit darunter eine intraregionale Ar­beitsteilung nach den jeweiligen komparativen Kostenvorteilen verstanden wird.

Seit Anfang der fünfziger Jahre wurden die ländlichen, hierarchischen Marktsysteme schrittweise aufgelöst und durch administrative Interventionen zumindestens empfindlich gestört. Dabei spielte das System des Zwangsan­kaufes wichtiger Agrarerzeugnisse zwar eine Schlüsselrolle, doch mit der Einrichtung der Volkskommunen wurden sämtliche Güter einbezogen. Die neuen administrativen Grenzen zwischen verschiedenen lokalen Gebietskör­perschaften wurden dann auch bestimmend für die Güterallokation, vor allem weil keine freie Bewegung von Gütern und Leistungen über diese Grenzen

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hinweg möglich war. Innerhalb solcher Einheiten wurde wiederum die Gü­terproduktion und -allokation befehlswirtschaftlich bestimmt. Diese Konstel­lation hatte in der längeren Frist weitreichende Auswirkungen auf den Kapi­talstock, denn besonders in den siebziger Jahren investierten die Volkskom­munen in den Aufbau eigener industrieller Potentiale, die sog. ländliche In­dustrialisierung, um sich weitestgehend selbst versorgen zu können. Infor­mell entwickelten sich zwar auch Lieferbeziehungen zur Staatsindustrie na­hegelegener Städte, doch veränderte dies die vorherrschenden Strukturen nur marginal. Das heißt, traditionelle lokale Muster der Spezialisierung und Ar­beitsteilung, die über das hierarchische Marktsystem vermittelt worden wa­ren, wurden zunehmend unterdrückt, mit der Folge einer wachsenden Innen­orientierung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse und einem wei­teren Rückgang der wirtschaftlichen Integration, beispielsweise zwischen städtischen und ländlichen Räumen.

Dieses Muster war überlagert von staatlichen Interventionen in die ländli­che Wirtschaft, die unter Minimierung des Transport- und Koordinations­aufwandes eine kostengünstige Versorgung des urban-industriellen Sektors mit Agrarerzeugnissen sichern sollten. Das bedeutete im wesentlichen, daß traditionelle Spezialisierungsmuster der ländlichen Wirtschaft in lokalen, aber auch regionalen Zusammenhängen aufgehoben wurden, und daß an de­ren Stelle eine wachsende Angleichung der Produktionsmuster erfolgte: etwa in Gestalt des Getreide- und Baumwollanbaus auch in solchen Gebieten, wo dies eigentlich agrarökologisch ineffizient ist. Dieser Angleichung agrari­scher Strukturen folgte dann natürlich auch die ländliche Industrialisierung, die zunehmende Kapazitäten zur lokalen Weiterverarbeitung der Agrarer­zeugnisse schuf. Insgesamt wurden damit starke Anreize geschaffen, die Re­gionen voneinander abzukoppeln.

Dieser Prozeß der Desintegration wurde aber stark durch zentrale wirt­schaftspolitische Strategien gefördert, die unter der Formel des "Stützens auf die eigene Kraft" ausdrücklich darauf zielten, in den Regionen, teilweise ex­plizit den Provinzen, selbständige und potentiell autonome Industriesysteme zu schaffen. Dies hing zeitweise wesentlich mit militärischen Zielsetzungen zusammen. Die Volksrepublik befand sich seit Ende der fünfziger Jahre in der Situation, an allen ihren Grenzen mit potentiellen Gegnern, mit gewisser Wahrscheinlichkeit auch Invasoren konfontiert zu sein, insbesondere hin­sichtlich der doppelten Front gegenüber den USA und der UdSSR. Ange­sichts des technologischen Rückstandes der Volks befreiungs armee und im Lichte der Erfahrungen, die mit ähnlichen Strategien im chinesischen Bürger­krieg gewonnen worden waren, erschien es erforderlich, das Festland nach dem Konzept des "Volkskrieges" unangreifbar werden zu lassen. Vorausset­zung hierfür ist aber in wirtschaftlicher Hinsicht eine zumindestens potentiell große wirtschaftliche Unabhängigkeit der Regionen voneinander, so daß auch im Falle der feindlichen Besetzung eines Gebietes und regionaler

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Blockaden die anderen Gebiete weiterhin sämtliche für die Kriegführung und die Versorgung der Bevölkerung wesentlichen Güter herstellen können.

Gerade in der letzten Hinsicht wird deutlich, daß auch gezielte zentral­staatliche Eingriffe im ökonomischen Sinne integrationsmindernd wirken, so daß die These von der "Zellularisierung" nicht zwingend erforderlich ist, um die Behauptung zu begründen, daß im maoistischen Wirtschaftssystem die historisch bedingte Desintegration des chinesischen Wirtschaftsraumes zu­mindestens fortgeschrieben, vermutlich aber verstärkt wurde. Natürlich be­deutet die Politik regionaler Autarkie einerseits, daß das System gewisserma­ßen befehlswirtschaftlich "integriert" scheint, gerade weil die Zentrale dazu in der Lage ist, auch gegen anders gerichtet ökonomische Kräfte die Wirt­schaftsstrukturen zu verändern. Das Ergebnis dieses Eingriffes ist jedoch die wirtschaftliche Desintegration. Dabei ist auch zu beachten, daß regionale und lokale Gebietskörperschaften nicht in voller Interessenharmonie mit der Zen­trale stehen. Es ist vielmehr typisch für die Planwirtschaft, daß untergeordne­te Einheiten dadurch Unabhängigkeit und Autonomie gegenüber zentralen Interventionen zu erreichen suchen, daß sie möglichst vollständige Selbstver­sorger werden. Denn in diesem Fall verringert sich die Abhängigkeit von an­deren Zulieferern, gleichzeitig aber erhöht sich die Verhandlungsmacht in dem Falle, wenn eine Verwaltungsinstanz eventuell über Güter verfügt, die andernorts nicht zu haben sind.

Eine solche relative Autarkie industrieller Teilsysteme ist aus den anderen Planwirtschaften gut bekannt, schlug sich dort aber vor allem in einer relativ geringen Spezialisierung zwischen verschiedenen großen Industriekomple­xen nieder (etwa den Kombinaten der DDR). Beim Übergang zur Marktwirt­schaft wurde es dann zu einem wesentlichen Problem, daß viele der Produk­tionskapazitäten von Kombinaten tatsächlich deshalb nicht überlebensfähig waren, weil sie nicht stark genug spezialisiert waren, also etwa nur das eigene Kombinat mit Teilen beliefert hatten, dann aber eine suboptimale Betriebs­größe wegen der zu geringen Einzelnachfrage aufwiesen. Innerhalb eines of­fenen Marktes können dann nur einzelne Produktionslinien nach Ausgliede­rung aus Kombinaten überleben, die rascher als die anderen Größenerträge erzielen. Vor allem in der Sowjetunion hat diese Art der relativen Autarkie von Großbetrieben jedoch nie eine regionale Komponente erhalten, nachdem man in den fünfziger Jahren die entsprechende Gefahr der Bildung von "Königreichen" in den Republiken erkannt hatte. Stattdessen wurde auf ad­ministrativem Wege als Gegengewicht eine extreme regionale Spezialisie­rung zwischen Enderzeugern durchgesetzt, um eine überregionale Integration zu schaffen. Ähnliche Probleme ergaben sich auch im Rahmen des RGW, der nie zu einer echten Integration im Sinne internationaler Spezialisierung und Arbeitsteilung gelangte. Gleichzeitig war die Sowjetunion als Führungsrnacht aber nicht in der Lage, eine fiktiv optimale Spezialisierung wie in ihrer Bin­nenwirtschaft auf dem Befehlswege durchzusetzen.

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Der wesentliche Unterschied zwischen China und den anderen Plan wirt­schaften besteht nun aber gerade darin, daß nach einer kurzen Phase des Aufbaus zentral gelenkter Industrien Mitte der fünfziger Jahren ein wesent­lich stärkeres Gewicht auf die regionale Entwicklung gelegt wurde. Territo­rial organisierte Lenkungsstrukturen erhielten im Gegensatz zu funktional organisierten eine wesentliche Rolle für die Güterallokation und die Investi­tionsentscheidungen. Dies bedeutet aber, daß die soben genannten Ursachen für die funktionale Desintegration in der Planwirtschaft sowjetischen Typs für China auf die Beziehung zwischen Gebietskörperschaften übertragen werden können. Das heißt, neben die ohnehin von der Zentrale verfolgte Po­litik der regionalen Autarkie trat auch eine endogene Systemdynamik, die ei­ne solche Autarkie im Interesse der Gebietskörperschaften sein ließ.

Fassen wir sämtliche bisherigen Betrachtungen zusammen, so wird offen­sichtlich, daß die VR China nach 1949 eine Entwicklung durchlief, die gera­de nicht die politisch bedingte Entkoppelung der Wirtschaftsstrukturen seit Beginn des Jahrhunderts aufhob. Beispielsweise wurde die erwähnte Desin­tegration zwischen den Städten der Küstengebiete und den inneren ländlichen Räumen nicht reduziert, sondern lediglich zum einen verstärkt, indem die Autarkie dieser Regionen unterstützt wurde, zum anderen aber durch eine be­fehlswirtschaftliche Umverteilung von Ressourcen zwischen beiden Gebieten überlagert, die dann allerdings wieder nicht Integrationsmustern gleich kam, die ökonomisch effizient sind.

Damit ergibt sich eine weitreichende und fundamentale Schlußfolgerung: Die politischen Rahmenbedingungen der chinesischen Entwicklung haben seit Mitte des 19. Jhds. eine säkulare Tendenz zur Auflösung des Wirtschafts­raumes in Wirtschaftsregionen ausgelöst, die an erst sehr junge und fragile Elemente eines einheitlichen Binnenmarktes des 19. Jhds. anknüpfte. Damit ist zu vermuten, daß Regionalismus in China ein langfristig wirksames struk­turelles Phänomen ist, und nicht lediglich eine Übergangserscheinung bei der marktwirtschaftlichen Transformation. Dieser Regionalismus muß aber wie­derum in Verbindung gesehen werden mit der Entstehung entwickelter Indu­striegesellschaften in der kolonialen Peripherie China, die - ebenfalls aus po­litischen Gründen - nach 1949 wirtschaftlich vom Festland abgekoppelt wa­ren und sich daher stark nach Westen hin orientierten. Nach 1978 sind diese politischen Barrieren gegenüber einer Reintegration mit dem Festland gefal­len. Die entstehenden Kräfte der Integration wirkten aber auf eine regionali­sierte Wirtschafts struktur des Festlandes ein. Damit entstand das Phänomen einer grenzüberschreitenden Integration zwischen der ehemals kolonialen Pe­ripherie und bestimmten Regionen des chinesischen Festlandes. Regionalis­mus und transnationale Integration sind damit zwei Aspekte ein und des glei­chen Prozesses. Betrachten wir diese wichtige Erkenntnis in größerem Detail.

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3.2. Wirtschaftsräume und internationale Integration

3.2.1. Integration als Grundproblem chinesischer Wirtschaftspolitik

Im Jahre 1994 bietet die chinesische Wirtschaft das Bild gleichzeitiger inter­nationaler Integration und binnenwirtschaftlicher Desintegration. Nach einer Studie der Weltbank sind heute die interprovinziellen Handelsströme und Wirtschaftsbeziehungen relativ geringer als noch zu Beginn der achtziger Jahre. Auf der anderen Seite nimmt jedoch die Integration zwischen den ehe­mals peripheren Kolonien und dem Festland rapide zu. Diese Integration ist aber gleichzeitig der entscheidende Mechanismus für die Integration Chinas in die Weltwirtschaft, vor allem hinsichtlich seiner Rolle als Exporteur. Das chinesische Festland besteht heute im Ergebnis aus verschiedenen internatio­nal orientierten Wirtschaftsgebieten der Küste und den binnenwirtschaftli­chen Wirtschaftsregionen. Es gibt verschiedene Vorschläge, diese Regionen voneinander abzugrenzen, deren relative Vorzugswürdigkeit alleine gewisse Einblicke in die Probleme regionaler Wirtschaftsentwicklung gibt.

Tatsächlich hat auch die chinesische Führung seit 1949 immer wieder ver­sucht, verschiedene Wirtschaftsregionen als Einheiten entwicklungsstrategi­scher Planung zu definieren. Auch nach 1978 stand das Bemühen im Vorder­grund, über die Abgrenzung derartiger Einheiten lokale und regionale Inte­grationsprobleme zu lösen, also beispielsweise nicht nur zwischen Shanghai und den umliegenden ländlichen Gebieten Barrieren gegen die wirtschaftli­che Zusammenarbeit abzubauen, sondern auch diesen engeren Raum in den weiteren regionalwirtschaftlichen Zusammenhang der Yangzi-Mündungsregion zu stellen, also vor allem die integrationshemmende Wirkung der Provinzgren­zen aufzuheben. Dieses weitere Gebiet soll heute wiederum in den großräu­migen Integrationsprozeß des Yangzi-Flußlaufes gestellt werden: Die soge­nannte "T-Strategie" mit dem Querbalken des "T" als dem Wirtschaftsraum des Yangzi-Mündungsdeltas mit Shanghai und den Provinzen Jiangsu und Zhejiang, und dem Flußlauf als der Vertikale des "T".

Im Prinzip ist also die Lösung des Integrationsproblems auf unterschiedli­chen hierarchischen Ebenen wirtschaftsräumlicher Gliederung ein zentrales Anliegen der chinesischen Wirtschaftspolitik, wobei die Integrationsmecha­nismen selbst vielfältige sein können. Es geht hier nämlich nicht nur um Marktprozesse, sondern auch um die Bildung überregionaler Unternehmens­verbände oder den Abschluß von Kooperationsvereinbarungen zwischen Kreisen und Provinzregferungen. Genau wegen dieser Vielfalt ist der Prozeß jedoch von den angesprochenen politischen Konflikten begleitet, denn bei­spielsweise stellt sich bei der Bildung von Unternehmensverbänden stets die Frage nach der Aufteilung von Vermögenspositionen und Steueransprüchen zwischen den verschiedenen betroffenen Gebietskörperschaften.

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Dennoch hat heute das Problem regionaler Integration in China eine neue Qualität erhalten, weil es sich mit dem Prozeß internationaler Integration eng verbunden hat. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, ist es kurz geboten, die Entwicklungen außerhalb der VR China zu skizzieren. Dabei sind folgen­de wirtschaftliche Veränderungen in der Region besonders bedeutsam:

- Erstens, der Aufstieg Hong Kongs zu einem regionalen Finanz- und Dienstlei­stungszentrum,

- zweitens, die rasche Industrialisierung und Modemisierung Taiwans, - drittens, die ausgeprägten Zwänge zum Strukturwandel in den Exportländern der

asiatisch-pazifischen Region der achtziger Jahre, einschließlich Japans.

3.2.2. Hong Kong: Wachstum, Integration des kantonesischen Wirtschaftsraumes und politischer Wandel

Was Hong Kong betrifft, so bedeutete die Bildung kommunistischer und marktwirtschaftlich orientierter Staaten und Staatenblöcke Ende der vierziger Jahre zunächst, daß die Kolonie wirtschaftlich von ihrem natürlichen Hinter­raum isoliert wurde, gleichzeitig aber einen rapiden Zustrom von Flüchtlin­gen aus dem Festland erfuhr. Hong Kong schien in einer aussichtslosen Lage, bis sich die Bedingungen durch exogene und endogene Faktoren rasch verän­derten. Hinsichtlich der ersten war sicherlich entscheidend, daß Asien in den fünfziger und sechziger Jahren Schauplatz schwerer kriegerischer Auseinan­dersetzungen zwischen den USA und kommunistischen Kräften in der Re­gion war (Korea- und Vietnam-Krieg), und Hong Kong zwangsläufig eine wirtschaftliche wichtige Position als Güterumschlagsplatz und Dienstlei­stungszentrum (einschließlich "Suzie Wong") einnehmen mußte. Gleichzeitig befand sich die Weltwirtschaft der Nachkriegszeit in einem langfristigen Aufschwung, der bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre hinein anhielt und dabei auch von wesentlichen Schritten der Liberalisierung des Welthan­dels begleitet wurde. An inneren Faktoren Hong Kongs war entscheidend, daß erstens der Zustrom von Flüchtlingen auch eine beachtliche Zahl von In­dustriellen etwa aus Shanghai einschloß, die ihre Maschinen und Ausrüstun­gen mitbrachten, und zweitens, daß die Kolonialregierung schrittweise eine dezidierte wirtschaftspolitische und administrative Strategie zur Entwicklung Hong Kongs realisierte.

Hong Kong trat damit in den fünfziger und sechziger Jahren in die Phase exportorientierter Industrialisierung ein (für einen statistischen Überblick siehe die Tabellen 4a-e), die im Inneren wesentlich abgestützt wurde durch die Infrastruktur- und vor allem die öffentliche Wohnungsbaupolitik der Ko­lonialregierung. Hong Kong konnte damit sein einziges Potential äußerst wir­kungsvoll nutzen, nämlich die Verfügbarkeit arbeitswilliger und hochmoti-

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vierter Menschen, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit überwiegend in kleinen Familienbetrieben organisieren. Nicht zu vernachlässigen ist dabei natürlich die Wirkung des kommunistischen Faktors: Für die Chinesen Hong Kongs war die gesamte politische Lage subjektiv äußerst instabil, und noch die ja­panische Besatzung in den vierziger Jahren hatte deutlich gezeigt, daß Hong Kong militärisch unhaltbar ist. Daher war aus der Sicht der Individuen die ra­sche Akkumulation von Vermögen der entscheidende Faktor, um dieser pre­kären Lebenssituation auszuweichen.

Dennoch geriet Hong Kong Ende der sechziger Jahre in eine Krise, die ei­nerseits eng mit den weltwirtschaftlichen Veränderungen, andererseits mit der Kulturrevolution in der Volksrepublik zusammenhing. In den siebziger Jahren gelang aber eine rasche und wirkungsvolle Antwort auf diese Heraus­forderungen: Hong Kong trat in die Phase raschen Strukturwandels in Rich­tung eines regionalen Finanz- und Dienstleistungszentrums ein: Dies wurde im wesentlichen durch die Wirtschaftspolitik ermöglicht, und zwar erstens, durch den weiteren Aufbau der Infrastruktur (etwa Untergrundbahn) und den qualitativ höherwertigen öffentlichen Wohnungsbau unter anderem im Rah­men der Erschließung neuer Städte in den ländlichen Regionen (den "New Territories"), zweitens aber die Beibehaltung einer konsequent nicht-inter­ventionistischen Wirtschaftspolitik vor allem im Bereich des Kapitalverkehrs bei einer gleichzeitig dezidierten Politik gegen den Mißbrauch von Verwal­tungsmacht und Korruption.

Tabelle 4 a-e: Wirtschaftswachstum und Strukturwandel in Hong Kong

Tab 4a: Bevölkerungsentwicklung und BIP* von Hongkong

Jahr Bevölkerung BIP* (Mio) Zuwachs (%) Gährl. Durch­

schnitt)

1951 3,40** 2.015.300 5,61** 1956 4,44** 2.614.600 8,26** 1961 6,46** 3.174.700 10,56**

1966 3.630.000 43.669 1971 7,4 4.045.300 60.536 1976 17,20 4.443.800 90.967 1981 9,40 5.183.400 149.585 1986 11,10 5.524.600 199.498 1~ ~OO 5.754.800 272.480

* BIP zu Preisen von 1980

BIP* pro Kopf

12.030 14.965 20.134 28.858 36.111 47.348

** durchschnittliches Realwachstum, 1951 = 1950-1955; 1956= 1955-1960; 1961=1960-1965

Zuwachs (%)

Gährl. Durchschnitt)

5,1 15,7 6,8 9,7 3,0

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Page 67: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Tab. 4b: Branchenstruktur von Hongkong nach BIP (%)

Primärer Sekundärer Tertiärer

Jahr Sektor Sektor Sektor

1960 4 38 55 1970 2 37 56 1985 30 68 1990 0,3 25 75

Tab.4c: Der Handel Hongkongs

Jahr A B C 1959 69,6 20,1 1961 74,8 16,6 1966 129 75,8 18,2 1971 147 80,1 16,9 1976 141 78,5 20,6 1981 158 65,8 30,2

1986 185 55,7 44,4 1991 244 30,2 68,7

A: HandelsvolumenIBIP (%); B: Exporte aus Hongkong/gesamte Exporte Hongkongs (%); C: Re-Exporte aus der VR China/Importe Hongkongs (%).

Tab. 4d: Anteil der zur Weiterverarbeitung importierten bzw. exportierten Güter am Gesamtimport bzw. -export zwischen Hongkong und der Volksrepublik China (%)

Produkt Import Export Reexport

1989 1991 1989 1991 1989 1991

Textilien 12,8 20,5 84,8 83,7 71,5 77,1 Bekleidung 84,5 86,6 85,1 89,6 87,3 84,1 Kunststoff 73,4 84,8 83,9 79,6 58,0 58,3 Maschinen und 77,8 78,7 56,7 58,6 24,9 26,7 Elektronik

Ton- und Film- 85,2 89,7 94,6 92,5 43,1 46,9 technik

Uhren 94,6 96,4 98,5 98,1 93,5 96,3 Sport-und 94,1 92,1 96,4 96,1 60,1 66,8 Spielwaren

Metallerzeug- 30,2 29,6 64,2 73,5 37,8 48,1 nisse

Sonstige 44,7 59,5 59,1 62,6 28,3 31,1

Gesamt 58,1 67,6 76,0 76,5 43,6 48,2

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Tab. 4e: Betriebsgröße des produzierenden Gewerbes in Hongkong

Jahr Anzahl der Unternehmen Anzahl der Beschäftigten Durchschnittl. Anzahl der

Beschäftigten pro

Unternehmen

1971 26149 671308 25,7 1973 30542 713688 23,4 1976 39462 865648 21,9 1980 52566 1030861 19,6 1984 50033 955746 19,1 1988 51671 855963 17,1 1989 52475 829723 15,8

Quelle: Zusammengestellt nach verschiedenen Tabellen aus Victor Mok, Xianggang jingji de fazhan he jiegou bianhua, Hong Kong 1993.

Damit waren in Hong Kong alle Voraussetzungen geschaffen, um eine rasche und weitreichende Reaktion auf die chinesische Öffnungspolitik der achtzi­ger Jahre zu ermöglichen. Die Zusammenhänge waren denkbar einfach: Die wirtschaftliche Entwicklung der siebziger Jahre hatte die älteren, arbeitsin­tensiven Exportindustrien Hong Kongs einem zunehmenden Kostendruck ausgesetzt, der vor allem die Löhne und die Bodenpreise betraf. Sobald daher in den neu eingerichteten Sonderzonen, insbesondere der Hong Kong unmit­telbar benachbarten Zone Shenzhen, aber sehr bald auch in der weiteren Nachbarschaft außerhalb der Sonderzonen (etwa dem Kreis Dongguan), In­vestitionen erlaubt wurden, wanderten viele der Hong Konger Unternehmer ab, um die wesentlich niedrigeren Faktorkosten auf dem Festland zu nutzen: Aus "Made in Hong Kong" wurde "Made in China". Dabei ist zu beachten, daß solche Investitionen keinesfalls nur als offizielle Investitionen oder Joint­Ventures realisiert wurden. Hong Konger Unternehmer schließen häufig le­diglich Verträge über das sog. "outward processing", also Auftragsfertigung durch kantonesische Unternehmen etwa der ländlichen Industrie. Allerdings nehmen sie dennoch eine entscheidende Management-Position ein, teilweise sogar in Gestalt von Manager-Verträgen. Auf diese Weise werden die Be­stimmungen der VR China zur Regulierung ausländischer Unternehmen ebenso umgangen wie die allgemeinen Regulierungen von Investitionen. Tat­sächlich aber handelt es sich um Direktinvestitionen. Dementsprechend sind die Handelsbeziehungen zwischen Hong Kong und dem Festland stark durch das "outward processing" geprägt, d.h. hier werden in großem Umfang (um 50% des gesamten Warenverkehrs) Inputs und Investitionsgüter geliefert und dann die Produkte über Hong Kong reexportiert.

Heute kann man in ökonomischer Hinsicht eigentlich nur noch von einem kantones ischen Wirtschaftsraum sprechen. Fast fünf Millionen Arbeitskräfte in Guangdong sind in Hong Konger Unternehmen beschäftigt, also fast so viele wie Hong Kong Einwohner besitzt. Der größere Teil dieser Beschäftig-

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ten setzt sich aus Migranten unterschiedlicher Herkunft zusammen, weil die­se wesentlich schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne als die Ortsansässigen akzeptieren. Kantonesen selbst ziehen meist eine Beschäfti­gung in festländischen Unternehmen vor, da hier die Sozialleistungen besser sind, und sie kooperieren natürlich mit den Hong Konger Unternehmern. Diese äußerst enge wirtschaftliche Verflechtung schlägt sich in der Bildung eines einheitlichen Währungsraumes nieder: Guangdong weist eigentlich ein Regime konkurrierender Währungen auf, also zwischen dem HK$ und dem Renminbi, und viele Beschäftigte in Hongkonger Unternehmen werden mit HK$ entlohnt. Diese Integration ist inzwischen politisch soweit anerkannt, daß seit dem Frühjahr 1994 eine chinesische Staatsbank, nämlich die für die Außenwirtschaft zuständige Bank of China, das Recht erhalten hat, HK-$ zu emittieren, und zwar unter den äußerst strengen Deckungsvorschriften einer 100% Reserve.

Diese wirtschaftliche Integration läuft parallel mit einer gesellschaftlichen Verschmelzung beider Räume, unter anderem über die Massenmedien. Dies hat etwa zur Folge, daß die Eigenständigkeit der kantonesischen Sprache im­mer stärker in den Vordergrund rückt, ohne daß dies freilich mit der Ausbil­dung einer separatistischen Identität einher ginge. Quer zu dieser Verschmel­zung verlaufen aber die politischen KonfliktIinien im kantones ischen Wirt­schaftsraum: Hong Kong wird im Jahre 1997 an die Volksrepublik zurückge­geben, weil ein wesentlicher Teil seines heutigen Territoriums ohnehin nur über 99 Jahre gepachtet war. Die Rahmenbedingungen des Übergangs sind in einer sino-britischen Erklärung und dem "Basic Law" für Hong Kong festge­schrieben und werden Hong Kong als Sonderverwaltungszone bewahren, die nach dem "Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" weitgehende Eigenständigkeit besonders in wirtschaftlicher Hinsicht besitzt, aber voll dem Gewalt- und Herrschaftsmonopol der Volksrepublik untergeordnet wird.

Heute wird deutlich, daß diese Konstruktion aus verschiedenen Gründen problematisch ist. Zum einen wurde in den Übergangsregelungen keine klare Bestimmung zur politischen Beziehung zwischen Hong Kong und Guang­dong getroffen. Hong Kong steht direkt unter zentraler Kontrolle, die auch schrittweise und nachdrücklich vor Ort ausgebaut wird. Obgleich die kanto­nesische Regierung wiederholt versucht hat, auch eine politische Kooperation mit Hong Kong etwa bei der Abstimmung von Infrastrukturprojekten zu be­ginnen, konnte derartiges bislang nicht realisiert werden. Hong Kong und Guangdong müssen äußerst vorsichtig miteinander verkehren, um jeden Ein­druck zu vermeiden, daß die wirtschaftliche und gesellschaftliche Verschmel­zung des kantonesischen Wirtschaftsraumes auch zu einer politischen Einheit führen könnte. Dabei liegt natürlich auf der Hand, daß eigentlich genug An­laß für eine enge politische Zusammenarbeit bestünde, und zwar nicht nur bei der Infrastrukturplanung, sondern etwa auch bei der gleichgerichteten Vertre­tung regionaler Interessen gegenüber der Zentralregierung.

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Die zentrale Kontrolle Hong Kongs dient also langfristig der Unterdrük­kung heute noch nicht akuter separatistischer Interessen. Vor diesem Hinter­grund sollte auch der Konflikt zwischen Peking und der britischen Kolonial­regierung über die Frage der weiteren Demokratisierung des politischen Sy­stems Hong Kongs bewertet werden. Der Konflikt kann sich entladen, weil gewisse Ambiguitäten innerhalb der si no-britischen Verträge und in der Be­ziehung der si no-britischen Erklärung zum "Basic Law" bestehen. Unabhängig von den allgemeinen Vorbehalten gegenüber einer weitergehenden Demokrati­sierung im Rahmen des kommunistischen Einparteiensystems ist Peking je­doch sicherlich auch deshalb sensibel, weil ein demokratisch gewähltes Hong Konger Parlament (das aus dem kolonialen ,,Legislative Council" entsteht) ohne Zweifel die zentrale Kontrolle Hong Kongs schwächen würde.

Dieser politische Konflikt wird freilich längst überlagert von einer zuneh­menden Kollusion zwischen dem Hong Konger Großkapital und der Kom­munistischen Partei. Während die kleinen und mittleren Unternehmen Hong Kongs auf die Provinz Guangdong fokussiert sind, besteht das wirtschaftliche Interesse der "Tycoons" in der Erschließung des gesamten chinesischen Marktes. Sie suchen daher kooperative und konfliktfreie Arrangements mit der Partei. Umgekehrt sind Regierungs- und Partei institutionen der unter­schiedlichen Regionen Chinas inzwischen in Hong Kong wirtschaftlich stark engagiert: Die VR China ist längst der größte ausländische Investor in Hong Kong. Hier spielen freilich oft Interessen eine Rolle, die sich gegen die wirt­schaftliche Regulierung durch die Zentralregierung richten. Beispielsweise investieren Unternehmen der Volksbefreiungsarmee in Hong Kong, um an­schließend als "ausländische" Unternehmen in der Ursprungsprovinz zu rein­vestieren und dann sämtliche Vorteile ausländischer Investoren zu genießen. Auch in dieser Hinsicht ist die Zentralregierung um eine starke Position in Hong Kong bemüht, etwa hinsichtlich der Überwachung in parapolitischen Organisationen wie der "Vereinigung chinesischer Investoren in Hong Kong", die inzwischen auch bestimmte Wahlrechte erhalten könnte (die Sitze im Hong Konger Quasi-Parlament, dem Legislative Council, werden zu einem grö­ßeren Teil an bestimmte "functional constituencies" vergeben, die ihre Ver­treter wiederum demokratisch wählen).

Hong Kongs Zukunft ist damit unsicher, und zwar nicht im Sinne häufiger Untergangsszenarien, die eine schlichte Vertragsuntreue Pekings unterstellen, sondern vielmehr aus Gründen, die mehr oder weniger unbeabsichtigt aus den politischen Konstellationen heraus entstehen. Vor allem ist unsicher, wie sich die Rechtskultur in Hong Kong entwickeln wird, wenn die Grenzen zwi­schen öffentlicher Verwaltung, politischen Institutionen und wirtschaftlichen Akteuren aus der Volksrepublik verschwimmen. Hong Kong wird auch stär­ker in politische Auseinandersetzungen und die Konkurrenz zwischen Regio­nen und ihren zentralen Lobbyisten verwickelt werden, vor allem in der Be­ziehung zu Shanghai, das ebenfalls eine hervorragende Position als Finanz-

71

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und Dienstleistungszentrum der Region anstrebt. Ein Hong Kong, das wieder verstärkt von Korruption im Innern und politischen Zwisten im Äußeren ge­prägt ist, wird auch einen wesentlichen Teil seiner Wirtschaftsdynamik ver­lieren.

3.2.3. Taiwan: Entwicklung, Demokratisierung und wirtschaftliche Verflechtung mit dem Festland

Wird der Blick auf Taiwan gerichtet, so erweisen sich die Verhältnisse als noch komplizierter. Taiwans wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwick­lung war bis in die achtziger Jahre hinein noch stärker als diejenige Hong Kongs durch die politische Spannung zwischen Ost und West und den mögli­chen militärischen Konflikt zwischen Taiwan und der VR China bestimmt. Beide regierende Parteien, die KPCh und die Guomindang (Kuomintang) (GMD), erhoben den Anspruch, Gesamtchina zu regieren. Prinzipiell gilt dies bis heute, und die VR China hält nach wie vor an der Drohung fest, Taiwan militärisch unter ihre Herrschaft zu führen, falls es seine Unabhängigkeit er­klärt. Umgekehrt hat sich der Alleinherrschaftsanspruch der GMD schrittwei­se vermindert, und vor allem ist Taiwan heute ein demokratischer Staat, in dem die GMD mit anderen politischen Kräften konfrontiert ist, die auch ei­genständige Haltungen zur Festlandpolitik vertreten.

Anders als in Hong Kong hatten die politischen Konstellationen auf Tai­wan ein autoritäres Entwicklungsmuster zur Folge, in dem der Staat auch wirtschaftlich und industriepolitisch eine bedeutende Rolle spielte. Die GMD regierte bis 1987 mit dem Instrument des Kriegsrechtes, das die für ganz China geltende Verfassung der Republik außer Kraft gesetzt hatte und dem Präsidenten (in den ersten Jahrzehnten noch der Führer des Bürgerkrieges, Chiang Kai-shek) umfassende Vollmachten verlieh. Die staatliche Macht konzentrierte sich vor allem auf die Unterdrückung des Konfliktes zwischen "Festländern" und gebürtigen Taiwanesen, denn die letzteren hatten als Er­gebnis der langjährigen Trennung vom Festland bereits das Empfinden einer eigenständigen Identität entwickelt und erachteten die vom Festland geflohe­nen Kräfte der GMD als oktroyierte Zwangsherrschaft. Nach dem Fanal des Massakers an taiwanesischen Eliten im Jahre 1947, mit dem erst heute auch regierungsseitig eine offene politische Auseinandersetzung geführt wird, entwickelte sich die Herrschaft der Partei zu einer diktatorischen Kontrolle der Gesellschaft, bis hin zu Sprachverboten für Taiwanesisch und zur Ok­troyierung des Mandarin-Chinesisch, in jedem Fall aber der Unterdrückung aller eigenständigen politischen Kräfte.

Gesellschaftlich und politisch war die Realität der GMD-Herrschaft also diejenige einer leninistischen Partei, zu der sie noch unter ihrem Gründer, Sun Yat-sen, geworden war. Nachdem der Widerstand taiwanesischer Lokal-

72

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eliten durch die Landreform gebrochen worden war, die Grundbesitz als Quelle politischen Einflusses künftig ausschloß, wurde das System jedoch bald schrittweise aufgelockert: in den fünfziger Jahren zunächst durch die Einführung offener Lokalwahlen, in denen in der Regeln GMD-Kandidaten, aber auch Partei unabhängige gegeneinander konkurrierten, aber selbstver­ständlich keine "nationalen" Themen zum Gegenstand des Wahlkampfes machten, und in den sechziger und siebziger Jahren dann in Gestalt einer Ko­optation der neuen Unternehmereliten, die sich vornehmlich aus den Kreisen gebürtiger Taiwanesen rekrutierten. Das heißt, der schrittweise Wandel der GMD ist bis in die achtziger Jahre hinein vor allem ein Prozeß der Taiwani­sierung gewesen. Er konnte aber nicht die führenden politischen Institutionen erfassen, weil diese zum Teil sogar personell im Zustand von 1947 "eingefro­ren" waren.

Die GMD hatte vor 1949 eine stark etatistische und interventionistische Wirtschaftspolitik betrieben, die freilich de-facto nur die Machtposition we­niger Familien Nationalchinas widerspiegelte. Auf Taiwan wirkten dann aber Zwänge in Richtung einer Verfolgung alternativer wirtschafts- und entwick­lungspolitischer Strategien. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluß der Ameri­kaner, die über ihre umfangreiche Militärhilfe nicht nur den Staatshaushalt erheblich entlasteten, sondern auch starken Druck im Sinne einer liberaleren, marktwirtschaftlichen Politik ausübten. Taiwan verfolgte in den fünfziger Jahren zunächst eine klassische Politik der Verstaatlichung von Industrien (ein einfaches Resultat der staatlichen Übernahme japanischer Industrieunter­nehmen und solcher sog. Kollaborateure) und der Importsubstitution, also des aktiven Schutzes inländischer Industrien zum Zwecke des Aufbaus eige­ner Produktionspotentiale.

Aber diese Politik wurde bald erweitert und umgestaltet in Richtung einer "exportorientierten Entwicklungstrategie" (für einen statistischen Überblick siehe Tabelle 5a-e). Auch hier darf die Rolle äußerer Zwänge nicht unter­schätzt werden, denn Taiwans Geschichte ebenso wie die prekäre politische Lage ließen eigentlich kaum eine andere Alternative, als durch eine aktive Rolle auf den Weltmärkten Wachstumsprozesse anzustoßen und damit nicht zuletzt auch diejenigen Devisen zu akkumulieren, die benötigt werden, um ein ausreichendes militärisches Abschreckungspotential langfristig zu ge­währleisten. In der Tat darf auch nicht übersehen werden, daß Taiwan erst seit den achtziger Jahren sein Importregime schrittweise liberalisiert hat, also durchaus wesentliche Elemente der Importsubstitution und der Staatswirt­schaft beibehielt. Im Unterschied etwa zur Importsubstitution in Lateinameri­ka war diese in Taiwan aber letztendlich auf die rasche Entwicklung von Ex­portpotentialen hin orientiert, und nicht binnenwirtschaftlich ausgerichtet. Zudem wurden gerade die Exportindustrien von negativen Nebeneffekten der Importsubstitution durch verschiedene Privilegien und Ausnahmeregelungen geschützt (etwa Zollerstattungen beim Import von Inputs für den Export).

73

Page 73: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Ähnlich wie in Hong Kong entfaltete sich der taiwanesische Exportboom also auf der langen Welle des weltwirtschaftlichen Aufschwunges der sech­ziger Jahre. Die Wirtschaftspolitik und die gesellschaftlichen Rahmenbedin­gungen waren jedoch deutlich andere, sieht man davon ab, daß im Grunde auch die festländische Herrschaft der GMD auf Taiwan als eine Art "Binnen­kolonialismus" bezeichnet werden könnte. Träger der wirtschaftlichen Dyna­mik war jedoch wiederum ebenso wie in Hong Kong das chinesische Fami­lienunternehmen. Das heißt, die taiwanesische Staatswirtschaft besaß zwar eine zentrale Position in der taiwanesischen Volkswirtschaft und bestimmte damit zum Teil nachhaltig etwa das Muster relativer Preise (z.B. Zinsdiffe­renzierungen über die staatlichen Monopolbanken oder Energiepreise über die staatliche Ölgesellschaft), die unternehmerische Dynamik entsprang aber dem privaten Sektor. Dabei wirkten zwei Faktoren noch verstärkend, nämlich zum einen die Tatsache, daß die öffentliche Karriere den meisten gebürtigen Taiwanesen verschlossen blieb und also wirtschaftlicher Erfolg zum wesent­lichen Aufstiegsweg wurde, und zweitens, daß die taiwanesischen Gesetze den traditionellen Weg der Vermögensakkumulation über Immobilien und Landbesitz stark benachteiligten. Entsprechend erhielt der gesamte Prozeß der Kapitalbildung einen starken Impuls in Richtung der Industrialisierung.

Tabelle 5a-e: Wachstum und Strukturwandel in Taiwan

Tab. 5a: Bevölkerungsentwicklung und BSP* (NT$) von Taiwan

Jahr

1951

1956 1961

1966 1971 1976

1981 1986

1987 1988

1989 1990 1991

1992

Gesamt­bevölkerung

7.869.247

9.390.381

11.149.139 12.992.763 14.994.823

16.508.190 18.135.508

19.454.610 19.672.612 19.903.812

20.107.440

20.352.966 20.556.842 20.752.494

*: BSP zu Preisen von 1986

BSP*(Mio) Zuwachs (%r BSP* pro Kopf Zuwachs(%r

144.696 17.528

22.537

310.060 6,98 26.938 3,62

822.856

1.951.852 2.925.772 3.273.073

3.529.708 3.788.485

3.978.720

4.266.777 4.523.467

9,92 10,06

9,10

9,14 8,05

11,87 7,84

7,33

5,02 7,24

6,02

37.412

55.355 77.406

108.616 151.148

167.301 178.376

189.367

196.674 208.593 219.001

6,80 8,16

7,04

7,06 6,90

10,69 6,62

6,16 3,86

6,06 4,99

#: bis 1986: durchschnittlicher Periodenzuwachs: 1961=1957-1961, 1966=1962-1966, 1971=1967-1971, 1976=1972-1976, 1981=1977-1981 und 1986=1982-1986; ab 1987: jährlicher Zuwachs.

74

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Tab. 5b: BSP verteilt auf Branchen (%)

Jahr Primärer Sektor Sekundärer Tertiärer Sektor Sektor

1951 32,28 21,33 43,27 1956 27,45 24,41 44,37 1961 27,45 26,57 42,79 1966 22,52 30,55 43,12 1971 13,07 38,94 43,43 1976 11,38 43,17 39,93 1981 7,30 45,51 42,89 1986 5,54 47,64 43,58 1987 5,31 47,43 44,00 1988 5,02 45,69 45,94 1989 4,89 43,60 48,18 1990 4,13 42,53 50,45 1991 3,70 42,47 51,17 1992 3,52 41,43 52,22

Tab. 5c: Industrieproduktion nach Besitztypen in Taiwan (in %)

Jahr Gesamt Bergbau Produzierendes Elektrizität, Wohnung Gewerbe Gas und

Wasser

erivat öffentlich erivat öffentlich erivat öffentlich öffentlich erivat 1952 43,4 56,6 71,7 28,3 43,8 56,2 100,0 100 1955 48,9 51,1 71,5 28,5 51,3 48,7 100,0 100 1960 52,1 47,9 75,8 24,2 56,2 43,8 100,0 100 1965 58,7 41,3 78,6 21,4 63,2 36,8 99,7 100 1970 72,3 27,7 71,0 29,0 79,4 20,6 99,8 100 1975 77,9 22,1 80,4 19,6 85,8 14,2 99,8 100 1980 79,1 20,9 52,0 48,0 85,5 14,5 99,9 100 1985 81,2 18,8 56,7 43,3 88,0 12,0 100,0 100 1986 82,5 17,5 57,4 42,6 89,3 10,7 100,0 100 1987 82,7 17,3 53,6 46,4 89,5 10,5 100,0 100 1988 81,9 18,1 48,5 51,5 88,9 11,1 100,0 100 1989 81,5 18,5 41,4 58,6 88,8 11,2 100,0 100 1990 81,3 18,7 34,7 65,3 89,3 10,7 100,0 100 1991 81,9 18,1 41,6 58,4 90,0 10,0 100,0 100 1992 82,0 18,0 46,9 53,1 90,0 10,0 100,0 100

75

Page 75: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Tab. 5d: Export und Import von Taiwan

Jahr Export Import Währungsreserven

(Mio. NT$) (Mio. NT$) (Mio. US$)

1955 1.917 3.146 1960 5.966 10.797 1965 17.987 22.296 245 1971 82.416 73.942 617 1976 309.913 289.139 1.516 1981 829.756 778.633 7.235 1986 1.507.044 917.033 46.310 1987 1.707.608 1.113.871 76.748 1988 1.731.804 1.423.101 73.897 1989 1.747.800 1.385.720 73.224 1990 1.802.783 1.471.803 72.441 1991 2.040.785 1.690.772 82.405 1992 2.047.963 1.816.295 82.306

Tab. 5e: Exportstruktur Taiwans

Rohprodukte der Verarbeitete Industrieprodukte Jahr Landwirtschaft landwirtschaftliche

Produkte

1955 28,1 61,5 10,4 1960 12,0 55,7 32,3 1966 19,8 25,1 55,1

1971 7,9 11,2 80,9 1976 5,0 7,4 87,6 1981 2,6 4,6 92,8

1986 1,6 4,9 93,5 1987 1,3 4,8 93,9 1988 1,4 4,1 94,5 1989 0,7 3,9 95,4 1990 0,7 3,8 95,5 1991 0,7 4,0 95,3 1992 0,6 3,7 95,7

Quelle: Statistische Jahrbücher Taiwans

Das rasche Wirtschaftswachstum Taiwans hatte in den siebziger Jahren auch einen gesellschaftlichen Wandel zur Folge, der in den achtziger Jahren dann in Gestalt der Ausbildung einer breiten Mittelschicht in die Reifungsphase trat. Der Führung der GMD dürfte schon recht früh bewußt gewesen sein, daß dieser Wandel auch eine Anpassung der politischen Strukturen verlangt. Aus diesem Grunde wurden dann in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erst zögerliche, dann aber immer weitergehende Schritte zur Demokratisie-

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Page 76: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

rung eingeleitet, nämlich nach der Zulassung organisierter politischer Oppo­sition mit der Autbebung des Kriegsrechtes und schließlich der Durchfüh­rung demokratischer Wahlen für das taiwanesische Parlament, den ,,Legisla­tiv-Yuan". Dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen, denn vor allem stellen sich weiterhin äußerst schwierige Fragen für die Neuformulierung der taiwa­nesischen Verfassung, die nach wie vor die Verfassung Gesamtchinas ist und im Geiste Sun Yat-sens steht. Soweit absehbar, wird sich Taiwan in die Rich­tung einer starken Präsidialdemokratie entwickeln, um die weiterhin proble­matischen Aspekte des taiwanesischen Parteienwesens (z.B. Stimmenkauf, Faktionalismus etc.) zu umgehen.

Tabelle 6a: Handelsvolumen TaiwanlChina über HK

Summe Wachs- Export Wachs- Import Wachs- Handels-tumsrate nach tumsrate aus tumsrate abh.-grad

Festland Festland vom Festland

1979 78,03 21,74 56,29 0,25

1980 311,18 298,80 234,97 980,82 76,21 35,39 0,79

1981 459,33 47,61 384,15 63,49 75,18 -1,35 1,05

1982 278,47 -39,37 194,45 -49,38 84,02 11,76 0,68

1983 247,69 -11,05 157,84 -18,83 89,85 6,94 0,55

1984 553,20 123,34 425,45 169,55 127,75 42,18 1,06

1985 1102,83 99,35 986,93 131,97 115,90 -9,28 2,17

1986 955,55 -13,35 811,33 -17,79 144,22 24,43 1,49

1987 1515,44 58,59 1226,50 51,17 288,94 100,35 1,38

1988 2720,89 79,54 2242,20 82,81 478,69 65,67 2,47

1989 3456,40 27,03 2869,50 27,98 586,90 22,61 2,94

1990 4043,66 16,99 3278,30 14,25 765,36 30,41 3,32

1991 5793,20 43,27 4667,20 42,37 1126,00 47,12 4,16

1992 7406,90 27,86 6287,90 34,73 1119,00 -0,62 4,83

Quelle: Carsten Herrrnann-Pillath, Wirtschaftsintegration durch Netzwerke: Die Beziehungen zwischen Taiwan und der VR China, Baden-Baden 1994, S. 147

Angaben in Mil!. US-$ bzw. %

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Zum zentralen Problem der neunziger Jahre sind freilich die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Festland geworden (Tabelle 6a und b). Die KPCh hatte die Einleitung der Reformpolitik 1978 auch sogleich mit dem Ziel verbun­den, die Beziehungen zu Taiwan wirtschaftlich zu intensivieren, um damit eine Kraft der Wiedervereinigung zu wecken. Ähnlich wie im Falle Hong Kongs war also die Außenwirtschaftspolitik stets auch Teil einer Strategie zur Überwindung der politischen Teilung zwischen Peripherie und Zentrum Chinas. Diese Strategie ist bislang jedoch nicht erfolgreich. Nach einigen Schwankungen hat sich zwar eine zunehmende wirtschaftliche Verflechtung zwischen Taiwan und dem Festland ereignet, doch bleibt sie bislang ohne po­litische Konsequenzen. Ursachen dieser Verflechtung sind wie im Falle Hong Kongs die "push" Kräfte steigender Kosten von Arbeit und Boden auf Tai­wan und die "pull"-Kräfte der spiegelbildlich niedrigen Faktorkosten auf dem Festland. Gleichzeitig wurde Taiwans Wirtschaft aber nach dem Plaza­Agreement der führenden Industrienationen 1985 einem rasch zunehmenden Preisdruck durch die erforderliche Aufwertung des NT -$ ausgesetzt, der gleichzeitig mit den Veränderungen des Y en-Kurses die traditionellen Ex­portindustrien Taiwans in eine äußerst schwierige Lage trieb. Der Gang zum Festland wurde damit zu einer Frage des Überlebens, nachdem auch Südost­asien schon ein wichtiger Zielort taiwanesischer Direktinvestitionen gewor­den war. Gemeinsame Sprache und Kultur ließen aber das Festland besonders attraktiv erscheinen.

Während in den achtziger Jahren diese Entwicklung vor allem von zwei Sorgen begleitet worden war, nämlich der Furcht vor der "Deindustrialisie­rung" Taiwans (sog. "Aushöhlung") und der wachsenden Erpreßbarkeit durch die KPCh, sind die neunziger Jahre eher von dem Bestreben gekenn­zeichnet, Taiwan eine wesentliche Rolle bei der Erschließung des Festland­marktes zuzuweisen. Die Verlagerung von arbeitsintensiven Exportindustrien auf das Festland war ein notwendiger Bestandteil des ohnehin erforderlichen Strukturwandels auf Taiwan und kann als abgeschlossen betrachtet werden. Gemeinsam mit der zeitlich etwas vorgeschalteten Verlagerung ähnlicher In­dustrien aus Hong Kong ist damit ein festländisches Exportpotential entstan­den, das von der Struktur der Eigentumsrechte her betrachtet eigentlich nicht zur VR China gerechnet werden darf. Über 90% aller ausländischen Direktin­vestitionen in der VR China sind in diesem Sinne eigentlich "chinesische". Umgekehrt ist heute Taiwan jedoch besonders daran interessiert, einen Teil dieser Industrien, aber auch andere Industrien wie etwa die Computerherstel­ler, vom Export weg zum Festlandabsatz hin zu orientieren. Außerdem möchte Taiwan zum regionalen Stützpunkt für ausländische Festlandinvesto­ren, insbesondere multinationale Unternehmen werden und tritt damit in di­rekte Konkurrenz mit Hong Kong. Bislang wirkte hier jedoch die rückständi­ge und vor allem abgeschottete Natur des taiwanesischen Banken- und Versi­cherungssektors abträglich. Seit einigen Jahren werden aber zügige Liberali-

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sierungsschritte vollzogen, um auch diesbezüglich Anreize und Rahmenbe­dingungen zu optimieren.

Taiwan, Hong Kong und die VR China werden inzwischen gemeinsam als "Greater China" bezeichnet. Dieser Begriff ist schillernd, insbesondere, was die politischen Konnotationen betrifft. Zum Teil ist auch der Gegenstand un­klar abgegrenzt und kann sich im engeren Sinne auf Südchina einschließlich Hong Kong beziehen, im weiteren aber sogar die amerikanische Westküste einschließen. Im Großen und Ganzen geht es aber um die wachsende Identi­tät des chinesischen Kulturraumes als Wirtschaftsraum. Dies betrifft dann aber den dritten hier zu betrachtenden Aspekt, nämlich den Strukturwandel im pazifischen Raum insgesamt.

3.2.4. Der Strukturwandel im asiatisch-pazifischen Raum und die neue Rolle Chinas als potentieller Wachstumspol

Vor allem aus japanischer Sicht wurden und werden Wechselwirkungen zwi­schen dem Strukturwandel in den verschiedenen asiatisch-pazifischen Volkswirtschaften oft mit dem berühmten "Gänseflug"-Schema bezeichnet, das schon in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelt und nicht zuletzt im Rahmen des japanischen Imperialismus auch auf Taiwan praktisch-indu­striepolitisch angewendet worden war. Es bezeichnet das Phänomen eines wellenartig weitergegebenen Strukturwandels in den verschiedenen Volks­wirtschaften der asiatisch-pazifischen Region, der gleichzeitig mit einer Ver­tiefung und Intensivierung der Arbeitsteilung einhergeht. In der einfachsten Variante stellt es sich als eine Art Kettenreaktion dar, bei der arbeitsintensive exportorientierte Industrien im Führungsland der asiatischen Industrialisie­rung, Japan, durch den wirtschaftlichen Fortschritt ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren und dann entweder durch eigenständige Entwicklung, vor allem aber auch durch Kapitalexporte des Führungslandes, in nachrückenden Län­dern aufgebaut werden. Treten diese dann in ein entwickeIteres Stadium, muß gleichzeitig das Führungsland einen erneuten Strukturwandel an der Front des technischen Fortschrittes vollziehen, während neue Länder in die Phase der arbeitsintensiven Exportorientierung treten.

Vordergründig betrachtet, scheint dies in der Tat den Entwicklungsrhyth­mus im chinesischen Raum zu beschreiben, und nicht zuletzt spielt Japan hier auch eine entscheidende Rolle. In dem Maße, in dem Japan die Anfangstech­nologien der Exportorientierung hinter sich ließ, rückten Hong Kong und Taiwan nach (aber natürlich auch andere späte Industrialisierer wie Südko­rea). Heute folgt insbesondere Taiwan Japan in der allmählichen Entwick­lung von Hochtechnologie, wenngleich die Abhängigkeit des taiwanesischen Exportes von zentralen japanischen Inputs nach wie vor gewaltig bleibt und ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung des großen Handelsbilanzdefizites

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Taiwans gegenüber Japan ist. Die Rolle des nachrückenden Landes nimmt nun die VR China ein.

Doch ist dieses Bild in wesentlicher Hinsicht zu einfach und wird der ge­genwärtigen und künftigen Rolle des chinesischen Wirtschaftsraumes ohne Zweifel nicht gerecht. In gewisser Weise stellt nämlich das chinesische Fest­land eine Anomalie dar, weil es als Folge der eigenen Industrialisierungsbe­mühungen vor 1949, nicht zuletzt aber der japanischen Industrialisierung der Mandschurei in den dreißiger und vierziger Jahren, sowie als Ergebnis der forcierten Industrialisierung sozialistischer Prägung nach 1949 einen Anteil an Industrieerzeugnissen im Export aufweist, der, relativ betrachtet, über dem entsprechenden Niveau des erreichten Pro-Kopf-Sozialproduktes liegt (Ab­bildung 11 a und b). Nun mag dies auch als ein Indiz gedeutet werden, daß dieses Niveau zu niedrig geschätzt wird. Dennoch ist entscheidend, daß ge­genwärtig das entstehende Muster außenwirtschaftlicher Spezialisierung in der Region anders ist als das einfache Kaskadenmodell vorschreibt. Ein wichtiger Faktor, der dies bedingt, ist die zunehmende Einbindung der regio­nalen Arbeitsteilung in langfristige Strategien multinationaler Unternehmen, die wiederum weniger an Exporten in andere Regionen, sondern an der Er­schließung von Marktanteilen in der Region selbst interessiert sind, sowie in diesem Zusammenhang die Verteilung von Humankapital über die verschie­denen Regionen.

Chinas Position in der Region wird nämlich zunehmend durch die Erwar­tung der Investoren bestimmt, daß der beschriebene Rhythmus der Verlage­rung exportorientierter Industrien an seine natürliche Expansionsgrenze ge­stoßen ist. Die Exportpotentiale in der Region haben in einer Geschwindig­keit zugenommen, die auch bei einer weiteren Liberalisierung des Welthan­dels eine Orientierung auf die klassischen Absatzmärkte vor allem in den USA fragwürdig werden läßt. Stattdessen erscheint der chinesische Binnen­markt zukunftsträchtig, falls sich auf dem Festland der Trend des Hoch­wachstums fortsetzt. Dies ist jedoch wiederum nur vorstellbar, wenn China noch wesentlich rascher in Industrien mit größerem Wertschöpfungspotential vordringt, als dies schon in anderen ostasiatischen Ländern der Fall war. Denkbar ist dies gerade weil erstens, China zunehmend in eine intraindu­strielle Arbeitsteilung eingebunden wird, die von multinationalen Unterneh­men geprägt ist, und zweitens, Chinas komparative Vorteile im Bereich der Arbeitskraft nicht nur die gering qualifizierten Arbeiter, sondern auch höher qualifizierte Kräfte einschließen, zumindestens in den weiter entwickelten Küstengebieten.

Beide Faktoren lassen es als nicht unrealistisch erscheinen, daß etwa Fest­landinvestitionen japanischer Hersteller modernster elektronischer Konsum­güter zum einen vermehrt die wohlhabenden Schichten des Festlandes bedienen und nicht mehr exportorientiert sind, und daß gleichzeitig die Teile­zulieferer ebenfalls vom Festland kommen, aber in Gestalt etwa taiwane

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Abbildung 11 a und b: Wachstum des Sozialproduktes und Wandel der Exportstruktur im asiatisch-pazifischen Raum

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sisch-festländischer Joint-Ventures, bei denen wiederum die taiwanesischen Partner schon lange mit den japanischen Unternehmen zusammenarbeiten. Das heißt, die einfache Identifikation zwischen verschiedenen Gliedern der Technologiekaskade mit Ländern in der Region wird unmöglich. Stattdessen finden die Prozesse der Arbeitsteilung und des Technologiewandels inner-

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halb enger umgrenzter, aber transnationaler Wirtschaftsregionen statt, und sind oft intraindustrieller und vor allem intraorganisatorische Natur.

Genau dieses Szenario, das erst im Entstehen begriffen und, wie wir sehen werden, dessen Verwirklichung mit vielfältigen Schwierigkeiten konfrontiert ist, läßt China zur Herausforderung an die Emntwicklung in der gesamten Region werden, und zwar auch im direkten Vergleich mit Japan. Ob diese Herausforderung jedoch zu Recht gesehen wird, läßt sich erst nach Abschluß aller nötigen Überlegungen dieses Buches beurteilen. Eine zentrale Fragestel­lung besteht aber in der möglichen Wechselwirkung zwischen Regionalisie­rung und internationaler Integration in "Greater China".

3.3. Der chinesische Binnenmarkt und die Wechselwirkung zwischen Regionalisierung und Internationalisierung

Wenn die asiatisch-pazifische Region tatsächlich insgesamt auf den chinesi­schen Markt angewiesen sein sollte, dann stellt sich also die Frage nach den Entwicklungspotentialen dieses Marktes. Fest steht nach den Ausführungen des Abschnittes 3.1., daß der Begriff als solcher kritisch zu hinterfragen ist. Der Binnenmarkt des Festlandes ist hochgradig regionalisiert, weil Institutio­nen, reale Strukturen und wirtschaftspolitische Reaktionen regionaler Ent­scheidungsträger entsprechend zusammenspielen. Kann aber diese Regionali­sierung durch eine entgegengerichtete Tendenz der internationalen Integra­tion aufgehoben werden? Dieser Punkt sollte anhand eines konkreten Bei­spiels herausgearbeitet werden, das schon erwähnt wurde und daß seit einiger Zeit in der Tat eine Schlüsselrolle in der Politik spielt, nämlich einer inte­grierten Entwicklungsstrategie für das gesamte Einzugsgebiet des Yangzi.

Während der achtziger Jahre haben viele Küstenprovinzen des Festlandes besondere wirtschaftspolitische Vorteile bei der Entfaltung einer exportori­entierten Entwicklungsstrategie genossen. Die Vorstellung war ursprünglich gewesen, daß sich die entsprechenden Wachstumsimpulse auch auf die Bin­nenprovinzen übertragen werden, sei es in Gestalt zunehmender backward linkages in das Inland, sei es in Gestalt von Nachahmungseffekten. Zu Recht hatten dann die Binnenprovinzen lange Zeit Druck in Richtung einer Libera­lisierung der Wirtschaftspolitik auch in ihrem Bereich ausgeübt, denn eine Nachahmung setzt selbstverständlich ähnliche Handlungsfreiheiten voraus. Dies ist im wesentlichen seit dem Frühjahr 1992 der Fall. Nun wird im Sinne von Abbildung 12 erhofft, daß die Binnenprovinzen über natürliche Trans­missionskanäle wirtschaftlicher Entwicklung an der Dynamik der Binnenpro­vinzen teilhaben werden bzw. eine Eigendynamik entfalten weren.

Es stellt sich also die Frage, ob tatsächlich nur die institutionellen Barrieren der Wirtschaftspolitik gegen die Entstehung einer solchen Eigendynamik

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wirkten, oder ob die säkulare Regionalisierung der chinesischen Wirtschaft inzwischen hinreichend unterschiedliche reale Ausgangspunkte in den Re­gionen geschaffen hat, um eine Wiederholung ähnlicher Wachtstumspfade in verschiedenen Regionen auszuschließen. Um diese Frage beantworten zu können, ist es erforderlich, die entstandenen Strukturen genauer zu betrach­ten. In Tabelle 10 sind einige charakteristische Wirtschaftsdaten für wichtige Yangzi-Anlieger Provinzen und auch einige Vergleichsprovinzen angegeben, um die Besonderheiten besser herausarbeiten zu können.

Abbildung 12: Hypothetische Integrationswege im chinesischen Binnenmarkt

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-Quelle: Nach Yue-man Yeung und Xu-wei Hu, Hrsg., China's Coastal Cities: Catalysts for Modernization, Honolulu 1992, S. 3

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Der Grundgedanke der sog. "T-Strategie" besteht darin, daß die Transport­möglichkeiten des Yangzi-Flusses genutzt werden, um Shanghai nach einer alten Formel zum "Tor zur Welt" für die Binnenprovinzen werden zu lassen. Dies ist natürlich nur dann denkbar, wenn die Wirtschaftsstrukturen der Bin­nenprovinzen das Potential einer raschen und flexiblen Reaktion auf Markt­chancen aufweisen, die sich über dieses "Tor zur Welt" eröffnen. In Tabelle 7 sind zur Klärung dieser Frage die beiden Küstengebiete Shanghai und Jiangsu, die Provinz des Mittellaufes Hubei und die beiden Provinzen, die Anlieger des Oberlaufes sind, Sichuan und Guizhou aufgeführt. Zum Ver­gleich werden die bislang dynamischste Küstenprovinz, Guangdong, und zwei nördliche Provinzen hinzugezogen, nämlich Shanxi und Heilongjiang. Werden die Provinzen hinsichtlich ihres Wohlstandes verglichen, zeigt sich direkt, daß Guizhou und Sichuan zu den armen Provinzen Chinas gehören, Hubei und Shanxi zu den Provinzen zum unteren Mittelfeld, Jiangsu und Heilongjiang zum wohlhabenden Mittelfeld und Shanghai und Guangdong zu den reichen Provinzen, wobei Shanghai mit Abstand das höchste Pro­Kopf-Bruttosozialprodukt Chinas erzeugt (siehe auch Abbildung 3). Die Di­stanz entlang des Yangzi ist also gewaltig, denn das Pro-Kopf-Produkt Gui­zhous liegt bei ca. nur einem Drittel Jiangsus und einem Achtel Shanghais.

Wenn wir nun anhand der Tabelle einen ersten Einblick in die Strukturen des chinesischen Regionalismus gewinnen wollen, dann mag es hilfreich sein, zunächst den Zusammenhang zwischen Exportorientierung und Indu­strialisierungsmuster herauszuarbeiten. Shanghai und Guangdong sind näm­lich im Jahre 1990 die Provinzen (neben Liaoning) mit dem höchsten Anteil am nationalen Export gewesen, wobei derjenige Guangdongs noch wesent­lich höher liegt als Shanghai. Dieser Unterschied hat im wesentlichen histori­sche Gründe. Wie bereits angesprochen, war Guangdong Schwerpunkt der Politik einer Internationalisierung der chinesischen Wirtschaft bei gleichzei­tiger Wiedererlangung nationaler Einheit. Guangdong erhielt aber gleich zu Beginn der Reformen besondere Bedingungen für den Außenhandel auch deshalb, weil der Zentral staat sich nicht in der Lage sah, die wirtschaftliche Entwicklung in der Küstenregion durch zentrale Finanzmittel zu fördern. Während Provinzen wie Sichuan in den sechziger und siebziger Jahren mas­siv durch Umverteilung von Investitionsmitteln unterstützt worden waren, blieben Küstenprovinzen lange Zeit vernachlässigt, unter anderem weil sie als militärstrategisch verwundbar eingeschätzt wurden. Die relativ weiter ge­hende Liberalisierung in Guangdong war daher auch ein Ausgleich für ver­gangene Benachteiligung.

Dies erklärt zu einem beachtlichen Teil die hohe Konzentration des chine­sischen Außenhandels auf diese Provinz, denn zum einen konnten kantones i­sche Händler Exportgüter auch aus anderen Provinzen an sich ziehen, da sie preislich wettbewerbsfahiger waren (unter anderem wegen der Verwendung eines anderen Wechselkurses), zum anderen aber gründeten viele Binnen-

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provinzen auch Exportunternehmen in den kantonesischen Sonderwirt­schaftszonen und Guangdong, um die dortigen besseren Rahmenbedingun­gen zu nutzen. Wird darüber hinaus die Industriestruktur betrachtet, auf die sich dieses Exportpotential innerhalb der Provinz stützt (also nicht unter Be­rücksichtigung des interprovinziellen Handels), dann wird deutlich, daß Guangdong besonders durch die konsumnahe Leichtindustrie und die nicht­staatliche Industrie geprägt ist. Bei letzterer spielen wiederum die Investitio­nen aus Hong Kong eine Schlüsselrolle, d.h. der Begriff "nicht-staatlich" be­zieht sich zu einem bedeutenden Teil auch direkt auf "private" Unternehmen.

Im Vergleich hierzu fällt auf, daß Shanghai zwar ebenfalls einen beachtlich hohen Anteil der konsumnahen Leichtindustrie aufweist, aber einen deutlich niedrigeren Anteil nicht-staatlicher Industrie. Wenn also, grob gesagt, Pro­dukte der Leichtindustrie im Zentrum des chinesischen Exportpotentials ste­hen (wie Spielzeuge, Textilien etc.), dann ist Shanghai als ein staats wirt­schaftlieher Exporteur einzuschätzen. Dieser Unterschied hängt mit der völlig anderen industriepolitischen Vergangenheit Shanghais zusammen, die bis heute fortwirkt. Shanghai ist in der maoistischen Zeit als Exportbasis der Staatsindustrie ausgebaut worden, und zwar ebenso binnen- wie außenwirt­schaftlich orientiert. Dies hing einerseits mit dem seit den zwanziger Jahren ausgeprägten Entwicklungsvorsprung Shanghais zusammen, andererseits aber mit der Zielsetzung der Zentralregierung, über die indirekte Preispolitik beim binnen wirtschaftlichen Konsumgüterabsatz und durch die monopolisti­sche Position Shanghais auch ein hohes indirektes Steueraufkommen zu er­wirtschaften.

Auch die Zahlen für das Jahr 1990 lassen noch erkennen, wie ausgeprägt diese Bedeutung Shanghais für die Finanzierung des chinesischen Staats­haushaltes ist. Obwohl Guangdong und Shanghai einen vergleichbaren Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt aufweisen, und obgleich Guangdongs Provinzhaushalt, bezogen auf den nationalen Haushalt, anteilmäßig an denje­nigen Shanghais auf der Einnahmenseite herankommt, zeigt sich auf der Ausgabenseite eine krasse Diskrepanz. Das bedeutet also, daß zwar das abso­lute Einnahmeniveau in Shanghai groß ist, weil das Sozialprodukt groß ist, daß aber das relative Niveau vor allem der Ausgabenseite durchschnittlich ist. Shanghais Exportorientierung ist also ein vornehmlich fiskalisches Phä­nomen, und genau deshalb ist der Anteil staatlicher Industrie in der Wirt­schaftsstruktur hoch, denn im alten System hingen der fiskalische Charakter eines Unternehmens und sein eigentumsrechtlicher Status eng zusammen.

Shanghai ist nun eine der drei chinesischen Großstädte mit Provinzstatus. Dieser urbane Charakter erschwert selbstverständlich andere Vergleiche mit flächenmäßig großen Provinzen, die auch weite ländliche Räume einschlie­ßen. Dennoch zeigt der Vergleich der Provinzen hinsichtlich des Grades der Industrialisierung, daß in jedem Fall die ärmsten Provinzen auch gering indu­strialisiert sind, daß aber im Mittelfeld der Industrialisierungsgrad und die

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Höhe des Sozialproduktes nicht eindeutig korrelieren. Interessant ist aber fol­gende Feststellung: Ein vergleichbar hoher Industrialisierungsgrad kann of­fenbar mit sehr unterschiedlichen eigentumsrechtlichen Strukturen einher ge­hen. Vor allem Jiangsu ist die Musterprovinz der ländlichen Industrialisierung mit einer starken Rolle der kollektiven Industrie, also von Industriebetrieben der ehemaligen Volkskommunen. Im Gegensatz hierzu ist der Norden staats­wirtschaftlich geprägt. Dies hängt damit zusammen, daß im Zusammenspiel mit dem generellen Vorsprung bei der Industrialisierung und der gleichzeiti­gen Verstaatlichungspolitik nach 1949 gerade hier wichtige industrielle Kom­plexe entstanden sind, etwa in Shanxi hinsichtlich der staatswirtschaftlichen Ausbeutung seiner umfangreichen Kohleressourcen. Innerhalb des Nordens gibt es aber auch signifikante Unterschiede hinsichtlich der landwirtschaftli­chen Produktivität: Während die Landwirtschaft Shanxis mit großen Schwie­rigkeiten konfrontiert ist, gehört Heilongjiang mit anderen Provinzen des Nordostens zu den wenigen Regionen Chinas, wo eine intensive Flächennut­zung auch mit moderneren Maschinen möglich ist, da die Pro-Kopf-Ausstat­tung mit Ackerland wesentlich höher liegt als im chinesischen Durchschnitt.

Nun ist es sicherlich bemerkenswert, daß die zu Shanghai getroffene Aus­sage, daß fiskalische und eigentumsrechtliche Strukturen eng korrelieren, in derselben Weise nicht auf andere chinesische Provinzen zutrifft. Die staatli­che Industrie ist auch in Sichuan und Guizhou bedeutsam. Nahezu alle diese Provinzen weisen aber Defizite im Staatshaushalt auf. Dies spiegelt die bis heute vieldiskutierten Ineffizienzen in der Staatswirtschaft wider, die zum Teil umfangreich subventioniert werden muß, um überlebensfähig zu sein. Dies schlägt sich auch in der relativen Bedeutung staatlicher Ausgaben in der Wirtschaft der Provinzen nieder, denn es scheint so, daß ein niedriges Niveau wirtschaftlicher Entwicklung auch eine stärkere Rolle der Staatswirtschaft bedingt und natürlich umgekehrt, besonders krass im Falle Guizhous. Zwi­schen den Provinzen findet also offensichtlich eine fiskalische Umverteilung statt, deren Anlaß strukturelle Differenzen und sich ergebende Unterschiede im Niveau des Sozialproduktes sind. Bei Jiangsu fällt dies nun besonders auf, denn die relativ geringe Bedeutung der Staatswirtschaft geht mit einem kräf­tigen Überschuß des Provinzhaushaltes einher. Allerdings zeigt der Blick auf die Unterschiede in der Agrarproduktivität, daß offenbar auch der Entwick­lungsgrad des Agrarsektors einen direkten Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung nimmt. Eher niedrige Sozial produkts zahlen gehen auch mit ei­ner niedrigen Agrarproduktivität einher.

Wenn wir vor dem Hintergrund dieser Informationen und einiger weiterer historischer Daten nun die verschiedenen Y angzi-Provinzen vergleichen, so treten einige Einsichten über die Entwicklungspotentiale rasch zu Tage. Shanghai als lange Zeit überragendes Exportzentrum der chinesischen Wirt­schaft hatte in den achtziger Jahren mit zunehmenden wirtschaftlichen Pro­blemen zu kämpfen, die trotz seiner weiterhin gehaltenen Spitzenposition zu

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einem deutlichen Rückgang der relativen Dynamik führten. So erwiesen sich die staatlichen Textilfabriken und -exporteure zum Teil nicht als wettbe­werbsfähig, wenn sie nicht über das staatliche Allokationssystem mit kosten­günstigen Inputs versorgt wurden. Diese aber wurden zeitweise, wie etwa Seide, von den Produzenten und Zwischenhändlern vorzugsweise nach Guangdong geliefert, weil dort höhere Ankaufpreise geboten wurden. Shang­hais Probleme hängen aber nicht nur mit dieser staatswirtschaftlichen Prä­gung zusammen, sondern vor allem auch mit dem allgemeinen Verfall und Niedergang der städtischen Infrastruktur (Verkehr, Umwelt, Wohnungsbau etc.), der unmittelbare Folge des Transfers von Finanzmitteln zum Zentrum und der entsprechenden Disproportion zwischen Ausgaben und Sozialpro­dukt war.

Im Rahmen der sogenannten "T-Strategie" soll nun Shanghai vor allem mit zwei groß angelegten Maßnahmen wiederbelebt werden, nämlich durch die Gründung und die Internationalisierung der Entwicklungszone Pudong, in der eine vollständig neue Infrastruktur geschaffen wird, und die Vertiefung der interregionalen Arbeitsteilung in Gestalt einer Auslagerung von traditio­nellen Industrien aus Shanghai und der Konzentration auf technologisch fort­geschrittene Industrien ebenso wie auf den Dienstleistungs- und Finanzsek­tor. Das heißt, im Prinzip soll Shanghai dem Weg Hong Kongs folgen, um auf diese Weise die fiskalisch bedingten Verzerrungen der Wirtschaftsstruk­tur zu beheben. Die Frage ist dann natürlich, ob dieser strukturelle Wandel tatsächlich einen komplementären strukturellen Wandel in den anderen Yangzi-Provinzen und somit die erhofften Wachstumseffekte für die Binnen­provinzen nach sich ziehen wird.

Bereits im Rahmen der hier angestellten oberflächlichen Überlegungen ist sicherlich deutlich geworden, daß ein großes natürliches Integrationspotential zwischen Jiangsu und Shanghai besteht (Ähnliches gilt für die Provinz Zhe­jiang). In gewisser Weise ist dieses Potential demjenigen zwischen Hong Kong und Guangdong verwandt. Wird außerdem beachtet, daß zwischen Shanghai und seinen Nachbarprovinzen an der Küste noch der wesentliche Unterschied besteht, daß die letzteren, gemessen an sonstigen Merkmalen ih­rer Wirtschaftsstruktur, eher binnenmarktorientiert sind, dann liegt auf der Hand, daß erhebliche Synergien bestehen. So können die ländlichen Unter­nehmen Jiangsus an der Weltmarktorientierung Shanghais partizipieren, in­dem etwa dortige Exportorganisationen genutzt werden, oder kann umge­kehrt Shanghai seinen Binnenabsatz über die Absatzkanäle Jiangsus organi­sieren. In jedem Fall aber dürfte Jiangsu zu einem wesentlichen Ziel ort indu­strieller Verlagerungsinvestitionen aus Shanghai werden, denn etwa in Ge­stalt staatswirtschaftlich-kollektiver Joint-ventures kann gleichzeitig Shang­hai von der Last staats wirtschaftlicher Strukturen befreit werden und Jiangsu seinerseits Technologien, know-how und Humankapital aus Shanghai impor­tieren. Erwähnt werden sollte freilich, daß diese Synergien besonders für

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Süd-Jiangsu bestehen, erheblich weniger aber für den unterentwickelten Norden der Provinz. Bereits in diesem engeren Raum wird also deutlich, daß interregionale Synergien einer Öffnung und Liberalisierung Shanghais struk­turelle Anpassungsprobleme in anderen Regionen Chinas aufwerfen können.

Eine Provinz wie Hubei nimmt nun in vielerlei Hinsicht eine mittlere Posi­tion in der Wirtschaftsentwicklung und im strukturellen Wandel ein. Beson­ders über die mittelchinesische industrielle Metropole Wuhan und den großen Binnenhafen können mittelfristig Potentiale für die Überwindung vorhande­ner Probleme geschaffen werden. Um den Charakter dieser Probleme deut­lich herauszuarbeiten, ist freilich ein direkter Vergleich zwischen der Küste und den weniger entwickelten Binnenprovinzen nützlich, zu denen die bevöl­kerungsreichste Provinz Chinas gehört, nämlich Sichuan.

Für diese und andere weniger entwickelte Provinzen Chinas ist typisch, daß rückständige landwirtschaftliche Verthältnisse neben einer staatswirtschaft­lich dominierten Industriestruktur bestehen. Besonders im Kontrast zu Jiang­su kann daher von einer ausgeprägt dualistischen Wirtschaft gesprochen wer­den. Das Kernproblem dieser Wirtschaftsstruktur besteht darin, daß auf der einen Seite die Staatswirtschaft von schwerwiegenden Anpassungsproblemen an den marktwirtschaftlichen Wandel geprägt ist, auf der anderen Seite in der Landwirtschaft eine hohe Unterbeschäftigung zu verzeichnen ist, aber gleich­zeitig die ländliche Industrie nur eine geringe Eigendynamik entfaltet, die au­ßerhalb Guangdongs in ganz China noch der wichtigste Bestandteil nicht­staatlicher Wirtschaftsformen im gewerblichen Sektor ist. Das bedeutet aber, daß solche Provinzen von erheblichen Beschäftigungsproblemen geplagt sind, denn es gibt nur geringe Möglichkeiten, Beschäftigunglose im indu­striellen Sektor aufzufangen: Die ineffiziente Staatsindustrie selbst müßte Be­schäftigung abbauen.

Welche Konsequenzen dürfte dieses Bild für die Realisation der sog. "T­Strategie" haben? Offenbar gibt es zwei wesentliche Barrieren gegen eine Entfaltung von Entwicklungspotentialen besonders in den rückständigen Pro­vinzen: Erstens, im Wettbewerb mit Exporteuren der Küstenprovinzen dürfte es sehr schwer sein, eigene Exportpotentiale aufzubauen, die aber eindeutig für eine Dynamisierung des Wachstums erforderlich sind; zweitens, umgekehrt begrenzen die ländlichen Entwicklungsprobleme das Wachstum einer kräfti­gen Binnennachfrage, die wiederum Absatzmärkte für die Küstenprovinzen schaffen könnte. Ganz abgesehen von den weiterhin erheblichen infrastruktu­rellen, insbesondere verkehrstechnischen Barrieren gegen eine Binnenmarkt­integration dürfte also die Eigendynamik der Wirtschaftsentwicklung Integra­tionskräfte entlang des Yangzi schwächen, an der Küste aber deutlich stärken.

Die Konsequenzen dieser Situation lassen sich besonders scharf akzentuie­ren, wenn ein künftig entscheidender Aspekt von Chinas Internationalisie­rung betrachtet wird, nämlich Chinas Eintritt in das GA TI. Die Problemlage ist vergleichsweise einfach und klar. Chinas Binnenmarkt ist weiterhin in

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überdurchschnittlich hohem Maße gegen Importe geschützt, und zwar auch im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern. Dies wirkt natürlich auch be­günstigend auf solche Direktinvestitionen, die überhaupt Zugang zum Bin­nenmarktabsatz erhalten, doch tragen diese Zollrnauern, neben die sich ver­mehrt auch viele nicht-tarifäre Handelshemmnisse und zeitweilig Lizensie­rungsverfahren gesellen, mit Sicherheit dazu bei, ineffiziente Industriestruk­turen des Festlandes zu schützen. Der Beitritt zum GA TI wird nun von Chi­na vor allem aus zwei Gründen angestrebt. Nicht zu vernachlässigen ist der nationale Faktor, daß Taiwan inzwischen ohne jegliche Konditionen als ent­wickelte Industrienation zum GA TI beziehungsweise noch eindeutiger zur WTO zugelassen werden muß, weil beide handelspolitische Regimes sich tat­sächlich nicht auf Länder, sondern auf Zollgebiete beziehen, eine Zulassung also von diplomatischen Anerkennungsverfahren unabhängig ist. Daß Tai­wan als eine der wichtigen Welthandelsnationen aus dem GATI ausge­schlossen bleibt, ist ein rechtlich und politisch unhaltbarer Zustand. Für die VR China wäre aber entsprechend ein GATI-Beitritt Taiwans ein internatio­naler Gesichtsverlust, falls die Volksrepublik nicht mindestens gleichzeitig dem GA TI bzw. der WTO beitritt. Ein solches Interesse erscheint zunächst auch aus handelspolitischen Überlegungen sinnvoll, denn sobald China dem GA TI beitritt, fallen bilaterale Vereinbarungen zum handelspolitischen Sta­tus der VR China weg, insbesondere die amerikanischen Verhandlungen zur Meistbegünstigungsklausel. China hätte nach Maßgabe des GA TI garantier­ten Zutritt zu offenen Absatzmärkten.

Beiden Interessen stehen nun aber die erheblichen Risiken der Importlibe­ralisierung für die binnenwirtschaftliche Entwicklung des Festlandes gegen­über. Hinter dem Schutz der Zollmauern haben sich einerseits die großen Un­ternehmen der Staatsindustrie in wichtigen Produktionsmittelsektoren (wie etwa der chemischen Industrie) ebenso entwickeln kömien wie andererseits die auf regionale Absatzmärkte konzentrierte ländliche Industrie. Neben diese nationale Abschirmung traten während der gesamten achtziger Jahre jedoch auch regionale protektionistische Maßnahmen, die sich häufig etwa auf wichtige langlebige Konsumgüter konzentrierten. So waren wirtschaftlich rückständigere Provinzen gegen Ende der achtziger Jahre bemüht, ihren in­dustriellen Kapazitäten vor dem Import aus anderen, entwickelteren Provin­zen zu schützen. Ein Musterfall sind die vielen lokalen Zigaretten- und Fahr­radfabriken, die sämtlich ebenso unter der optimalen Betriebsgröße operieren wie die meisten der Automobilhersteller, die im Zuge der Autarkiebemühun­gen der sechziger und siebziger Jahre in den Provinzen entstanden sind. Seit Einleitung der Reformen sollen diese Strukturen industriepolitisch entflechtet und verändert werden, doch war dies gegen die vielfältigen lokalen Wider­stände nur begrenzt durchsetzbar.

Insgesamt werden die Wirkungen einer Liberalisierung des Importregimes nach den GATI-Regeln nur prognostiziert werden können, wenn auch ein

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Urteil zum bereits erreichten Stand der Reformen insbesondere in der Staats­industrie möglich ist. Hier läßt sich durchaus sagen, daß Effizienzgewinne er­zielt wurden, daß sie aber noch weit von weltwirtschaftlichen Standards ent­fernt sind. Dann rückt aber ein zentraler Tatbestand in den Vordergrund, der in Tabelle 8 dargestellt ist.

Tabelle 8: Eigentumsrechtliche Struktur der Kapitalbildung in den Provinzen: 1984, 1988 und 1992 (%)

Beijing Tianjin

Hebei Shanxi

Neimenggu Liaoning

Jilin Heilongjiang Shanghai

Jiangsu Zhejiang Anhui

1984 staatl. kollektiv

77,45 13,87 79,24 13,97 56,36 14,37 70,62 18,09 74,01 3,46 75,65 11,03 63,34 5,13 82,82 4,14 81,94 9,71 39,95 28,99 42,04 25,54 50,40 13,00 61,21 18,94 64,31 8,29 47,54 18,16

privat

8,67 6,78

29,27 11,29 22,53 13,32 31,53 13,03 8,36

31,05 32,42 36,60 19,84 27,41 34,30

1988 staatl. kollektiv

81,94 12,93 80,17 10,17 46,52 19,73 72,23 11,40 74,38 6,50 78,82 9,07 74,21 7,29 84,42 5,12 75,36 11,01 40,13 24,77 30,29 26,11 47,95 13,77 58,43 12,34 51,11 10,81 51,97 27,73

privat

5,13 9,66

33,75 16,37 19,12 12,12 18,50 10,46 13,63 35,10 43,60 38,28 29,22 38,08 20,30

staatl.

86,49 79,01 62,20 81,08 81,60 83,61 80,42 88,37 77,33 37,90 35,00 64,09 63,68 66,44 57,36

1992 kollektiv

10,23 16,56 16,79 9,60 4,69 9,27 5,59 2,79

17,47 40,04 31,63 13,18 11,32 10,65 30,79

privat

3,28 4,42

21,02 9,32

13,71 7,13

13,99 8,85 5,20

22,06 33,37 22,72 25,00 22,91 11,85

Fujian Jiangxi Shandong

Henan Hubei Hunan Guangdong

Guangxi Hainan

Sichuan Guizhou Yunnan

Tibet Shaanxi

Gansu Qinghai Ningxia

Xinjiang

55,48 13,46 31,06 52,27 10,58 37,15 60,95 13,25 25,79

China

59,86 14,72 25,42 63,11 16,22 20,67 72,58 11,62,15,80 47,05 63,23 58,35

62,64 65,16 72,59 94,40 68,04 80,94 82,81 80,81 88,77

64,66

11,63 13,56 4,83

13,13 4,31

11,82 1,40 8,20 7,21 5,23 5,29 4,51

13,02

41,32 23,21 36,83

24,23 30,54 15,59 4,20

23,76 11,85 11,95 13,90 6,73

22,31

48,68 54,94 68,39 70,77 64,06 66,63 61,71 60,62 70,83 80,79 83,76 72,14 79,51

61,44

17,56 26,15 10,61 6,09

15,92 5,33

15,07 3,60 5,55 6,73 7,52

11,95 7,33

15,83

33,76 18,92 21,01 23,14 20,02 28,05 23,22 35,78 23,62 12,48 8,72

15,91 13,16

22,73

62,46 64,04 66,10 91,25 69,88 84,52 68,47 81,27 69,97 78,99 89,82 78,13 88,29

67,14

13,06 21,75 10,98 4,57

12,23 3,91

13,93 1,09 9,77 7,54 3,37 8,81 5,42

17,31

24,48 14,22 22,92

4,18 17,89 11,57 17,60 17,63 20,26 13,48 6,81

13,07 6,29

15,56

Erläuterung: Anteile der jeweiligen Eigentumsformen an der Bruttoinvestition in %.

Quelle: Carsten Herrmann-Pillath, Hrsg., Wirtschaftliche Entwicklung in Chinas Provinzen und Regionen: Ein statistisches Handbuch, Baden-Baden 1995

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Unabhängig von dem erreichten Effizienzgewinn in einzelnen Staatsunter­nehmen und Branchen kann nämlich festgestellt werden, daß der Anteil des Staatssektors an der Kapitalbildung der Provinzen höchst unterschiedlich ist. Auffällig ist vor allem, daß die Trends durchaus divergieren. Wenn einmal wieder auf die Yangzi-Provinzen und ihre Vergleichsprovinzen geblickt wird, dann zeigt sich sofort, daß etwa in Jiangsu in der Tat ein kontinuierli­cher Rückgang des Anteils staatlicher Betriebe an der produktiven Kapitalbil­dung stattfindet (die Zahlen für Guangdong täuschen, weil die Statistik nicht die ausländischen Investitionen berücksichtigt). In Heilongjiang und Shanxi aber liegt der Anteil dauerhaft auf einem hohen, ja zunehmendem Niveau -ähnliches läßt sich auch für Guizhou und Sichuan verzeichnen. Wenn also der Übergang zur Marktwirtschaft typischerweise auch als Privatisierung an­gesehen wird, und wenn akzeptiert wird, daß volkswirtschaftlich relevante Privatisierungsphänomene in jedem Fall die Kapitalbildung betreffen müs­sen, dann bedeuten solche Daten, daß bis heute in wichtigen Regionen Chi­nas der Staat eine Schlüsselrolle für die Kapitalbildung spielt. Da gleichzeitig bis in die Gegenwart - ungeachtet von Transformationserfolgen in einigen Branchen und bei einem Teil der Unternehmen - eindeutig die Ineffizienz dieses Staatssektors in Gestalt dauerhaft hoher Verluste und Subventionen dokumentiert wird, ist also davon auszugehen, daß in bestimmten Regionen Chinas eine hohe Konzentration international nicht-wettbewerbsfähiger Indu­strien des Staatssektor vorliegt.

Damit kann die Schlußfolgerung gezogen werden, daß eine Liberalisierung des Importregimes erhebliche Auswirkungen auf die regionale Wirtschafts­struktur Chinas haben wird und damit auch auf den Regionalismus. Genau an dieser Stelle tritt erneut der enge Zusammenhang zwischen internationaler In­tegration und Regionalismus zu Tage. Die außenwirtschaftliche Öffnung im Rahmen des GA TI wird auf der einen Seite sicherlich den exportorientierten Regionen Chinas neue Absatzmärkte erschließen oder auch bestehende be­wahren. Allerdings werden diese Unternehmen auf dem Binnenmarkt, den sie ja auch beliefern, gleichzeitig unter stärkeren Wettbewerbsdruck durch Im­porte geraten. In diesem Zusammenhang sollte besondere Aufmerksamkeit dem bereits jetzt gebildeten Stock an ausländischen, und hier natürlich vor al­lem chinesischen Investitionen gelten, die bislang auch wegen staatlicher Vorgaben exportorientiert sein mußten, angesichts der Sättigung herkömmli­cher Absatzmärkte aber auf den Binnenmarkt hin orientiert sind. Diese Un­ternehmen stellen allein gewaltige Kapazitäten, um den nachfrageseitig zwar expandierenden, aber noch engen Binnenmarkt zu beliefern.

Nun erscheint ein Szenario keinesfalls unwahrscheinlich, indem etwa in der Yangzi-Einzugsregion die Synergien zwischen Shanghai und Jiangsu die dortige Wirtschaftsstruktur hinreichend anpassungsfähig sein lassen, um die Liberalisierung des Importregimes zu überleben. Gleichzeitig werden sich aber nicht nur die Importe, sondern auch die Unternehmen dieser Region ver-

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stärkt auf die Belieferung des Binnenmarktes in den zurückliegenden Yangzi­Regionen konzentrieren. Im Sinne von Abbildung 13 werden also unter dem GATT-Regime die "Transmissionkanäle" wirtschaftlicher Entwicklung tat­sächlich Kanäle eines Importbooms werden, der auf die äußerst fragilen dua­listischen Wirtschaftsstrukturen des Inlandes trifft, wo eine ineffiziente Staatsindustrie und eine unterentwickelte ländliche Industrie bislang unter Zollmauern geschützt wurden.

GATT wird also höchst differenzierte Folgen für China besitzen, in jedem Fall aber die Divergenzen zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung in den Regionen weiter verschärfen. Nun wäre es angesichts der Geschichte des chinesischen Regionalismus und angesichts des vielfältigen Binnenprotek­tionismus der achtziger Jahre freilich naiv anzunehmen, daß solche Folgen von GATT in den Binnenprovinzen schlicht akzeptiert werden. Vielmehr wird entweder die Zentralregierung unter einen erheblichen politischen Druck geraten, Ausgleichszahlungen und andere Unterstützungsmaßnahmen zu bieten, oder es werden Maßnahmen zum regionalen Schutz der Märkte und Industrien getroffen, die den Regionalismus auch institutionell verstär­ken, freilich als Binnenprotektionismus diametral den GATT-Prinzipien ent­gegenstehen. Da die Zentralregierung künftig kaum in der Lage sein wird, besondere Ausgleichszahlungen zu leisten, erhält das regionalistische Szena­rio große Wahrscheinlichkeit. Es liefe auf eine Lage hinaus, bei der Teile des chinesischen Wirtschaftsraumes weiter internationalisiert werden, gleichzei­tig aber der Binnenmarkt weiter desintegriert wird.

Ob ein solches Katastrophenszenario wahrscheinlich ist oder nicht, läßt sich anhand unser bisher gewonnen Erkenntnisse über die chinesische Wirt­schaft nicht beurteilen. Sämtliche Überlegungen weisen freilich darauf hin, daß es für das Verständnis der heutigen Probleme offenbar unbedingt gebo­ten ist, die Vergangenheit zumindestens seit 1949 mit in Betracht zu ziehen. Vereinfacht gesagt, sind offenbar zwischen 1949 und 1978 bestimmte struk­turelle Daten in Wirtschaft und Gesellschaft gesetzt worden, die sich heute nur langsam verändern. Für die Zeit zwischen 1978 und 1994 ist wiederum eine große Dynamik der Veränderungen in Rechnung zu stellen, deren Net­towirkungen schwer abschätzbar sind. Wenden wir uns daher einer Analyse der Veränderungen der chinesischen Wirtschaft seit 1949 zu.

Literaturempfehlungen

Das traditionelle Marktsystem im Kontext der Regionen der chinesischen Wirtschaft skizziert prägnant Lloyd E. Eastman, Family, Fields, and An­cestors - Constancy and Change in China's Social and Economic History, 1550-1949, New York/Oxford; 1988, S. 3-14, 62-191. Zum Zusammenhang zwischen Migration, Agrarökologie und Wirtschaftsentwicklung ist beispiel­haft Peter Perdue, Exhausting the Earth, State and Peasant in Hunan, 1500-

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1850, CambridgelLondon 1987. Zur Wirtschafts entwicklung vor 1949 sollten die Artikel von Albert Feuerwerker in der Cambridge History of China, Band 10 und 12, hinzugezogen werden.

Die Sonderentwicklung der kolonialen Modernisierung Hong Kongs ist endlich dargestellt von Chan Wai Kwan, The Making of Hong Kong Society, Oxford 1991. Einen umfassenden Überblick zur Geschichte Taiwans von den Anfängen bis zur Situation der achtziger Jahre unseres Jahrhunderts bietet Oskar Weggel, Die Geschichte Taiwans, KölnlWeimarlWien 1991. Die jün­gere wirtschaftliche Entwicklung beider Regionen wird analysiert von Ed­ward K.Y. ChenILi Kui-wai, Industry Development and Industrial Policy in Hong Kong, in: Chen, Edward K.Y. et al., Hrsg., Industrial and Trade Deve­lopment in Hong Kong, Hong Kong 1991: Centre for Asian Studies, S. 3-47, und von Robert Wade, Governing the Market - Economic Theory and the Role of Government in East Asian Industrialization, Princeton 1990, S. 34-112. Hier tritt auch die Differenz zwischen dem "positive non-intervention­ism" Hong Kongs und dem "positive interventionism" Taiwans deutlich her­vor.

Carl Riskin, China's Political Economy - The Quest for Development Since 1949, Oxford et al. 1987, ist eine umfassende Darstellung der Wirt­schaftsentwicklung der VR China, die auch die Besonderheiten des maoisti­schen Modells in regionalwirtschaftlicher Hinsicht hervorhebt. Speziell zur Frage der Zellularisierung sollte noch hinzugezogen werden Thomas B. Lyons, Explaining Economic Fragmentation in China: A Systems Approach, in: Journal of Comparative Economic Studies Vol. 10, S. 209-236. Einen Einblick in Chinas regionalwirtschaftliche Vielfalt gibt D.S.G. Goodman, Hrsg, China's Regional Development, London 1989.

Die wirtschaftliche Integration zwischen den verschiedenen Teilen des chi­nesischen Kulturraumes wird analysiert in Carsten Herrmann-Pillath, Wirt­schaftsintegration durch Netzwerke: Die Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, Baden-Baden 1994, und in verschiedenen Beiträ­gen zum Themenheft "Greater China" von The China Quarterly No. 136 (1993). Die weiteren Perspektiven im pazifischen Raum und im weltwirt­schaftlichen Kontext werden in dem Konferenzband mit berücksichtigt, Die­ter Cassel/Carsten Herrmann-Pillath, Hrsg., China: A New Growth Center in the World Economy? Baden-Baden 1995.

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4. Wurzeln der modemen chinesischen Wirtschaft: Die maoistische Ära

Im folgenden sollen in zwei Kapiteln die Veränderungen der chinesischen Wirtschaftsordnung seit 1949 betrachtet werden. Dabei stehen institutionelle Aspekte im Vordergrund, weniger materielle im Sinne erzielter Entwick­lungserfolge - allerdings werden uns letztere dienlich sein, um die Wirt­schaftspolitik der jeweiligen Zeit beurteilen zu können. Die Zeit vor und nach 1978 wird in unterschiedlicher Weise behandelt. Die Zeit vor 1978 wird zwar historisch analysiert, aber nicht chronologisch: Das Interesse gilt vor allem dem Erbe unterschiedlicher Phasen der Entwicklung für die Gegenwart, so daß bestimmte Zeitschichten des Wandels der Wirtschaftsordnung offenge­legt werden, die für ein Verständnis heutiger Phänomene entscheidend sind. Die Zeit nach 1978 wird hingegen chronologisch betrachtet, weil die konkre­te Abfolge von Reformmaßnahmen eine entscheidende Rolle für die System­leistung gespielt hat und spielt. Zudem ist es gerade diese Abfolge, die zur Zeit im Mittelpunkt der Diskussionen bzw. auch des Lobes des "chinesischen Modells" steht. Wenden wir uns aber zunächst der maoistischen Vergangen­heit zu.

Als die KPCh die Reformpolitik der achtziger Jahre einleitete, entstand ein merkwürdiger Bruch im westlichen Chinabild. China galt nämlich in den siebziger Jahren zunehmend als ein mögliches Vorbild für eigenständige Entwicklung in der Dritten Welt. Nach dem Fanal der Kulturrevolution, in dessen kurzfristiger Nachfolge China vor allem von politisch "links" orien­tierten Kräften bewundert und die Ideen Mao Zedongs zum Leitbild erhoben wurden, war die Phase des sog. "Spätmaoismus" verstärkt durch eine Reha­bilitation der chinesischen Politik bei allen politischen Kräften des Westens geprägt. Dies hing ohne Zweifel mit der Rückkehr Chinas auf die Bühne der offiziellen Weltpolitik zusammen, die mit der Normalisierung der amerika­nisch-chinesischen ebenso wie der japanisch-chinesischen Beziehungen zu Beginn der siebziger Jahre eingeleitet worden war. Mit dieser Normalisierung etablierte sich aber auch eine zum Teil wissenschaftlich ausgerichtete China­Lobby in den USA, die dann erheblichen Einfluß in internationalen Institu­tionen gewann. Chinas Konzepte der ländlichen Industrialisierung oder der "self-reliance" gewannen internationale Aufmerksamkeit.

Zwar wurde in dieser Phase der Grundstein für die spätere starke Präsenz etwa der Weltbank in China und ihrer heute großen Bedeutung für die Infor-

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mationsgewinnung über China gelegt, doch entstand beim Bruch von 1978 ein denkwürdiger Echoeffekt im Chinabild: Während die chinesische Füh­rung begann, die zurückliegende Dekade als "verlorenes Jahrzehnt" zu verur­teilen und die Wirtschaftspolitik spätestens seit dem "Großen Sprung" als Geschichte von Verfehlungen darstellte, erschienen wegen der Verzögerung bei der Drucklegung von Aufsätzen und Büchern international noch lobesrei­che Beiträge zur Einschätzung der chinesischen Politik vor 1978. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich die China-Lobby erneut umgestellt hatte und nun allmählich begann, die Politik der achtziger Jahre im wesentlichen als positiv zu kennzeichnen. Erneut spaltete sich die Gemeinschaft der "China-W atcher" nach ausdrücklich positiven und ausdrücklich negativen Einstellungen zum Objekt.

Eine Bewertung der Zeit vor 1978 ist also recht schwierig. Ich möchte hier einige Problemkomplexe in den Vordergrund rücken, die in wesentlicher Hinsicht die Ausgangsbedingungen der Reformen nach 1978 geprägt haben. Insofern geht es also auch um die Frage, inwiefern der chinesische Weg nicht wegen der gewählten Politik nach 1978, sondern wegen seines besonderen Startpunktes anders war als in anderen sozialistischen Ländern, und darum, welchen Stellenwert der Maoismus in einer Bewertung der gesamten Periode kommunistischer Herrschaft in China haben könnte, die ja nach wie vor noch nicht abgeschlossen ist.

Diese Problemkomplexe sind:

- die Ideologie des chinesischen Kommunismus und die Folgen der Kulturrevolution, - der Stellenwert der ländlichen Entwicklung in der Wirtschaftspolitik und die Industrialisie-

rungsstrategie, - der besondere Charakter des chinesischen Planungssystems, - der Wandel fiskalischer Strukturen.

4.1. Kulturrevolution und maoistische Ideologie

Der chinesische Kommunismus hat in der Zeit seit der Gründung der Partei vielfältige ideologische Wendungen vollzogen, die im wesentlichen auf das Interesse zurückgingen, bestimmte machtpolitische Imperative auch weltan­schaulich zu legitimieren. Beispielsweise mag die Frühphase der Entwick­lung eines sog. "maoistischen" Ideologiegebäudes in den dreißiger und vier­ziger Jahren schlicht auch so gedeutet werden, daß die Partei im Grunde nur noch eine begrenzte Zahl taktischer Alternativen besaß, und daß dabei die Strategie der ländlichen Revolution ohne Zweifel die erfolgversprechendste war. Weil aber eine Übernahme dieser Strategie überhaupt nicht den Annah­men des herkömmlichen Marxismus entsprach, der nur die Industriearbeiter­schaft als revolutionäre Kraft einschätzte, mußte notwendig eine ideologische

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Neuorientierung erfolgen, wollte die Partei nicht schlicht auf das Instrument einer weltanschaulichen Legitimation verzichten.

Vor allem Mao Zedong selbst hat sich verhältnismäßig gering an ideologi­sche Prämissen tatsächlich gebunden. Nachdem in den vierziger Jahren die Theorie von der ,,Neuen Demokratie" eigentlich dazu dienen sollte, einen ge­samtgesellschaftlichen Konsens zu schaffen, der weit über die kommunisti­schen Positionen hinaus gereicht hätte, wurde sie in den fünfziger Jahren bald zu Gunsten radikaler Verstaatlichungs- und Kollektivierungsprogramme fal­len gelassen. Bei genauer Betrachtung der fünfziger Jahre zeigt sich freilich erneut, daß ungeachtet der zunehmenden Radikalität der weltanschaulichen Positionen klare machtpolitische Interessen eigentlicher Motor der Verände­rungen waren: Hier muß aber deutlich zwischen dem konkreten Interesse der Partei an der Bewahrung der eigenen Machtposition auf der einen Seite und dem allgemeinen Problem der Etablierung staatlicher Macht als solcher un­terschieden werden.

Einige wichtige Maßnahmen der Partei lassen sich bis heute nämlich auch in dem Sinne deuten, daß die Partei sich selbst als Instrument staatlicher Macht und Ordnung instrumentalisiert, also ihren eigenen Machtanspruch aus dem allgemeineren Ziel ableitet, die Strukturen eines modernen, universali­stischen und inklusiven Nationalstaates zu schaffen, also in der englischen Terminologie, ein "state building" zu vollziehen. Indirekt scheint dies auch heute noch ein wesentlicher Faktor zu sein, um der Partei überhaupt eine ge­wisse Basis der Legitimation in den Augen der Bevölkerung zu verschaffen. Im Prinzip wird damit ein zentraler Aspekt der Gründung der VR China an­gesprochen: Die kommunistische Partei hatte gezeigt, daß ihre spezielle Or­ganisation und ihre besondere Weltanschauung diejenigen historischen Kräf­te repräsentierten, die zu einer Wiederherstellung der staatlichen Einheit Chi­nas im Sinne der Abgrenzungen des Kaiserreichs führten. Der Kommunis­mus erschien damit als Erbe des klassischen Prinzips staatlicher Formierung von Macht in der chinesischen Gesellschaft, also des unitarischen Zentral­staates. Aus diesem Prinzip leitet sich dann seine faktische Legitimität ab, weniger aus den konkreten Inhalten kommunistischer Politik.

Die kommunistische Partei war nach der Machtübernahme mit zwei grund­legenden Herausforderungen konfrontiert, die in gewisser Weise durchaus auch Erwartungen seitens der Bevölkerung widerspiegelten: Erstens, sie hatte die staatliche Ordnung wieder herzustellen und dabei bestimmte politische Imperative des Kommunismus zu realisieren (etwa eine möglichst gleiche Verteilung von Vermögen), und zweitens, sie hatte ein rasches Modernisie­rungs- und Industrialisierungsprogramm durchzusetzen. In beiderlei Hinsicht zeigte sich in den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft, daß die Par­tei eventuell an die Grenze ihrer organisatorischen Potentiale stoßen könnte. Chinas Größe und Dichte warfen erhebliche Probleme für den Ausbau einer durchgreifenden Präsenz des Staates in lokalen Zusammenhängen auf, also

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innerhalb der faktischen Machtstrukturen und Eliten von Großstädten ebenso wie in weit entfernten Dörfern, die verkehrs- und kommunikationstechnisch kaum zugänglich waren. An dem Kontrollverlust auf lokaler Ebene war be­reits die Guomindang gescheitert. Gleichzeitig waren bestimmte Vorstellun­gen über die Art und Weise eines raschen Industrialisierungsprogrammes nicht nur in der Partei, sondern auch in weiten Teilen der Eliten verbreitet, die eine starke Rolle des Staates als Vorreiter der Industrialisierung verlang­ten und eine durchgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Transfor­mation des rückständigen ländlichen Raumes.

Im Laufe der fünfziger Jahre stießen die diesbezüglichen Problemstellun­gen auf eine gewisse weltanschauliche Orientierungslosigkeit in dem Sinne, daß auch aus einer engen machtpolitischen Perspektive heraus unklar war, welche ideologische Position eigentlich der Legitimation von Interessen und praktisch erfolgreichem Handeln dienen könne. Erschwerend kam hinzu, daß die chinesischen Kommunisten in den dreißiger und vierziger Jahren zwar in einem weltanschaulichen und machtpolitischen Konflikt mit der UdSSR ge­standen hatten, die Isolation der VR China gegenüber dem Westen nach 1949 jedoch eine kurzfristig engere Kooperation mit der UdSSR begründete, die natürlich auch mit dem politischen Druck in Richtung einer Übernahme des sowjetischen Industrialisierungsmodells einher ging. Gleichzeitig ereignete sich dann aber der Destalinisierungs-Prozeß in der UdSSR. Im weiteren Rah­men der chinesischen Gesellschaft war auf der anderen Seite das Potential für eine große politische Meinungsvielfalt gegeben, denn trotz der Flucht eines Teils westlich orientierter Eliten vor dem Kommunismus hatte der Anspruch der KPCh als legitimer Nachfolgerin der Herrschaft im unitarischen Zentral­staat eine beachtliche Zahl von Angehörigen der Bildungseliten veraniaßt, im Lande zu bleiben und konstruktiv am Modernisierungsprogramm mitzuwir­ken. Die kommunistische Partei Chinas war also mit einem grundsätzlichen Identitätsproblem konfrontiert, nachdem sie bislang vor allem eine kriegfüh­rende Kraft gewesen war.

Der Ende der fünfziger Jahre sich vollständig entfaltende Maoismus kann durchaus als Versuch angesehen werden, für alle diese Probleme pragmati­sche Lösungen zu finden, die gleichzeitig weltanschaulich legitimiert sind und eine eigene Identität der Partei begründeten. Zentrales Element dieser Lösung war die Vorstellung, daß Herrschaft in hohem Maße dezentralisiert und ohne umfassende bürokratische Integration ausgeübt werden sollte, und daß sich gleichzeitig der staatliche Machtanspruch auf lokaler Ebene beson­ders als weltanschauliche Mobilisierung und moralische Selbstbindung der Individuen niederschlägt. Konkrete, sehr bald auf die Spitze getriebene Kon­sequenzen eines solchen Ansatzes waren

- die durchgreifende Moralisierung wirtschaftlich eigeninteressierten Handelns, da indivi· duelle Gewinnmotive sich immer wieder als ein Faktor erwiesen, der abweichendes Verhal· ten im Sinne der Staatsziele verursachte;

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dementsprechend die Unterdrückung freier Märkte vor allem aus politisch-moralischen Motiven heraus, weniger mit dem Ziel der Etablierung umfassender staatlicher Planung der Wirtschaft; der Einsatz von Kampagnen und von fall weisen, ungeregelten und unerwarteten Interven­tionen der Partei zur Kontrolle lokaler Repräsentanten der Staatsmacht; die Verleihung beträchtlicher Kontrollkompetenzen an regionale und lokale Verwaltungs­einheiten mit dem Ziel, deren Eigeninitiative im Rahmen staatlicher Vorstellungen zur wirtschaftlichen Entwicklung zu aktivieren; die Bildung größerer Einheiten gleichermaßen wirtschaftlichen HandeIns und gesellschaft­licher Kontrolle, die intern durch ideologisch-moralisch motivierte und sanktionierte Par­teikader beherrscht wurden, die ihrerseits innerhalb der Einheiten Lebenschancen zuteilten und vor allem auch die möglichen Außenkontakte von Mitgliedern der Einheiten kontrol­lierten; schließlich der Einsatz dauerhaften gesellschaftlichen Konfliktes als Instrument, um eine Verhärtung individueller Machtpositionen zu verhindern, die letztendlich auch die staatli­che Herrschaft in Frage gestellt hätten.

Diese abstrakt gekennzeichneten Merkmale des maoistischen Modells schlu­gen sich konkret in verschiedener Weise nieder. Institutionelle Details wer­den uns noch befassen. Wesentlich sind hier einige systematische Aspekte der Weltanschauung, soweit sie für den Übergang zur Reformpolitik der achtziger Jahre bedeutsam sind. Wenngleich nämlich die Ideologie selbst ein Instrument der Legitimation pragmatischer Machtinteressen gewesen sein mag, so ist die Wahl einer bestimmten Ideologie dennoch nicht bedeutungs­los für das weitere Handeln ihrer Vertreter: Im Falle von Veränderungen grundlegender Elemente der Politik stellt sich dann nämlich immer die Frage nach der weltanschaulichen Legitimation dieser Veränderungen und mithin nach der Möglichkeit, diese Legitimation in weltanschaulicher Kontinuität zu vollziehen, wenn auch gegebenfalls mit schrittweisen Anpassungen einzelner Elemente. Die westlichen Beobachter des Bruchs von 1978 waren nun zum Teil ausgesprochen verblüfft über die Leichtigkeit, mit der führende Vertreter der kommunistischen Partei die grundlegende Ausrichtung der Wirtschafts­politik veränderten: Es entstand die Rede vom chinesischen "Pragmatismus", metaphorisch widergespiegelt im berühmten Diktum Deng Xiaopings, daß die Farbe der Katze unerheblich sei, solange sie Mäuse fange.

Tatsächlich müssen die weltanschaulichen Wurzeln der Reformen in den fünfziger Jahren gesucht werden. Während oft von einem "Kampf zweier Linien" in China gesprochen wurde, hatten sich damals tatsächlich minde­stens drei verschiedene weltanschauliche Positionen herausgebildet, nämlich neben dem orthodoxen, im weiten Sinne sowjetsozialistischen Modell der Maoismus auf der einen Seite und ein chinesischer Reformsozialismus auf der anderen Seite. Bis heute stehen Politiker an der Spitze der VR China, die jeweils vor dem Hintergrund dieser drei großen Richtungen denken und han­deln, hinzu kam in den achtziger Jahren eine westlich-marktwirtschaftIich orientierte Richtung, die freilich in mancher Hinsicht Lücken in der weltan­schaulichen Fundierung aufweist.

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Im wesentlichen ist 1978 der Wechsel der Macht zwischen der maoisti­schen und der reformsozialistischen Linie erfolgt. Beide besitzen tatsächlich eine grundlegende Gemeinsamkeit, nämlich die Ablehnung zentralverwal­tungswirtschaftlicher Planung außerhalb bestimmter industrieller Schlüssel­sektoren. Beide sehen auch eine gewisse positive Bedeutung administrativer Dezentralisierung, der Reformsozialismus verbindet dies aber mit der Vor­stellung starker funktionaler Zentralisierung in bestimmten Bereichen wie et­wa dem Kreditsektor. Ihr unversöhnlicher Gegensatz besteht jedoch in der Wertung des Marktes als Allokationsinstrument. Während die Reformsoziali­sten dies mehr oder weniger als eine Frage des wirtschaflichen Entwicklungs­standes und der Optimierung institutioneller Effizienz betrachteten, war der Markt aus maoistischer Sicht vor allem ein ethisches Problem. Bei genauerer Betrachtung war sogar die wirtschaftstheoretische Sicht des Marktes eng ver­wandt, denn beide Strömungen sahen den Markt grundsätzlich als mögliches Allokationsinstrument im Sozialismus an, insofern als das "Wertgesetz" - al­so Kostenrechnung und Gesetz von Angebot und Nachfrage in der marxisti­schen Arbeitswert-Version - unabhängig von der gesellschaftlich-politischen Verfassung eines Landes gelte. Die Maoisten zogen daraus freilich die radi­kale Schlußfolgerung, daß mithin das Wertgesetz wegen der entsprechenden Dominanz der Gewinnmotivation bei den Wirtschaftssubjekten, aber gegebe­nenfalls auch wegen Verteilungseffekten zur ständigen Wiedergeburt der ka­pitalistischen Klasse selbst aus den Rängen der sozialistischen Staatsbürokra­tie führen werde. Weil sie diesen Effekt ablehnten, konnten sie auch den Markt nicht wertfrei als Allokationsinstrument betrachten.

In der Diskussion der fünfziger Jahre spielten solche Fragen unter anderem eine konkrete Rolle bei dem Entwurf von Strategien landwirtschaftlicher Ent­wicklung. Zwar gab es auch innerhalb der Partei bereits Wirtschaftswissen­schaftler, die den Markt durchaus als ein Allokationsprinzip auch in der Indu­strie ansahen, soweit der Staat wesentliche Funktionen in der Investitionslen­kung übernähme, doch war der politisch etablierte Kern dieser Strömung (bis heute durch den "zweiten alten Mann" der chinesischen Politik, Chen Yun, repräsentiert) der Meinung, daß das Lenkungssystem in zwei Sektoren aufge­teilt werden sollte, nämlich einen zentral gesteuerten städtisch-industriellen Sektor und einen marktwirtschaftlich gesteuerten ländlichen Raum mit Land­wirtschaft und bäuerlicher Nebenwirtschaft, also etwa Handwerk. Die ge­meinsame Kritik von Maoisten und Reformsozialististen an der sowjetsoziali­stischen Strömung konzentrierte sich besonders auf das unterstellte Versagen eines Sowjetmodells angesichts der Erfordernisse ländlicher Entwicklung in China.

Daß sich der Maoismus mit der Politik des "Großen Sprunges" Ende der fünfziger Jahre durchsetzte, hing neben dem einfachen Faktor des internen Machtkonfliktes in der Parteiführung vor allem mit den Problemen bei Etab­lierung des staatlichen Machtanspruches im allgemeinen zusammen, also des

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"state building". So war die Kollektivierung in vielen Gebieten nach anfäng­lichen Erfolgen mit erheblichem Widerstand der Bauern konfrontiert, der sich eigentlich nicht gegen das Prinzip als solches, sondern gegen den indivi­duellen Machtmißbrauch von Kadern richtete. Die politischen Kontrollpro­bleme nahmen angesichts wachsender Migration in die Städte zu. Gleichzei­tig verschärfte sich die außenpolitische Lage China weiter. Diesen Heraus­forderungen schien der mobilisatorische Maoismus besser gewachsen. Nach dem Fiasko des Großen Sprunges rückte jedoch eigentlich der Reformsozia­lismus in die politikbestimmende Position, wenn nicht die maoistische Frak­tion nun sämtliche gesellschafts- und wirtschaftspolitische Fragen im Inter­esse ihres Machterhaltes in der Partei ideologisiert hätte. Gleichzeitig wurde angesichts des Versagens der maoistischen Entwicklungsstrategie im engeren Sinne der moralische Radikalismus zum nahezu einzigen, im kommunisti­schen Kontext noch positiv besetzten Programmpunkt. Damit war die Szene für die "Große Proletarische Kulturrevolution" bereitet.

Die Kulturrevolution brachte im Grunde keine ideologischen Neuerungen, sondern radikalisierte den maoistischen Moralismus weiter, indem die reine Orientierung an dessen Werten als transformatorische Kraft mythischer Di­mension dargestellt wurde. Insofern blieb sie in der Tat ohne ein ideologi­sches Erbe. Aus einer anderen Perspektive ist aber gerade durch sie das Prinzip der Moralisierung wirtschaftlichen Handeins ad absurdum geführt worden. Im Sinne einer weltanschaulichen Bereinigung dieser Frage war da­mit der Weg für die Realisation des reformsozialistischen Modernisierungs­programmes geebnet. Dennoch bleibt eigentlich bis heute eine Lücke im Wertsystem des chinesischen Sozialismus, die schon in den fünfziger Jahren nicht geschlossen werden konnte: nämlich den Markt selbst nicht nur instru­mentell-funktional, sondern auch ethisch-moralisch zu legitimieren.

Die Bedeutung der Kulturrevolution für die Reformen nach 1978 ergibt sich vielmehr aus ihren Wirkungen für bestimmte GrundeinsteIlungen in der Gesellschaft, die besonders die Generationen der Opfer und der Täter in die­ser Zeit zum Teil brutalster Exzesse zwischen Nachbarn, Kommilitonen, Kolleginnen und Kollegen betreffen. Wenn regelmäßig auf die schwere Le­gitimationskrise der Partei nach 1977 hingewiesen wird, dann trifft dies si­cherlich einen wesentlichen Punkt: Die Partei war sich im Klaren, daß nur ei­ne eindeutige Orientierung der künftigen Politik am Ziel rascher W ohlstands­steigerung noch ihre Machtposition bewahren konnte. Dieser Imperativ gilt bis heute.

Aber die Kulturrevolution war gerade wegen ihrer politisch nicht voll ge­steuerten Eigendynamik auch eine Krise der Legitimität gesellschaftlicher Ordnung insgesamt, soweit sie eigenverantwortlich auch von den Einzelnen mitgetragen wird. Für viele stellte sich daher die Frage nach den eigentlichen Wurzeln von Werten und Ordnung in einer prinzipiellen Weise. Das Zurück­fallen auf materielle Werte bei einer gleichzeitigen Selbstbindung an den

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Verzicht auf eine weitergehende politische und gesellschaftliche Organisa­tion gewaltsamer Konflikte schien daher auch außerhalb der Partei ein wich­tiger, wenn auch notgedrungen unbefriedigender und unvollständiger Schritt zur Selbstfindung des Einzelnen. In diesem Sinne kann die geistig-gesell­schaftliche Verfassung Chinas nach der Kulturrevolution durchaus mit der­jenigen der "Verlierernationen" nach den Weltkriegen verglichen werden.

Eine solche Umorientierung an materiellen Zielen erwies sich vor allem für zwei Gruppierungen in der Bevölkerung als besonders nachhaltig und folgen­reich, nämlich zum einen die staatlichen Kader und zum anderen die Genera­tion der ehemaligen Rotgardisten, zu der die Gruppe der landverschickten Jugendlichen gehörte. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil in beiden Fällen vermutet werden könnte, daß die Distanz zum marktwirtschaftlichen Ge­winnstreben eher groß ausfiele. Tatsächlich aber gehörten beide Gruppen -anders als etwa die Angestellten von Staats betrieben - zu denjenigen Teilen der Gesellschaft, deren Orientierungslosigkeit nach der Kulturrevolution be­sonders groß war, weil sie den Lasten des Maoismus in besonders wider­sprüchlicher Form ausgesetzt gewesen waren. Die ehemaligen Rotgardisten waren kurze Zeit Speerspitze des Maoismus gewesen, um kurz darauf von den Vertretern des staatlichen Gewaltmonopols desavouiert zu werden; gleichzeitig standen vor allem die landverschickten Jugendlichen vor dem Scherbenhaufen verlorener Jahre der Ausbildung und ohne leichten Zugang zu den Privilegien des Staatssektors. Das heißt, gerade diese Gruppe sah sich in besonders geringem Maße durch den Staat geschützt, mithin auch beson­ders gering mit ihm identifiziert. Das aktive Verfolgen wirtschaftlicher Inter­essen mußte daher zu einer wesentlichen Alternative für die Findung persön­licher Identität werden.

Die Schicht der Kader andererseits weist generationsmäßig eine komplexe­re Struktur auf und vereinte Opfer und Täter gleichermaßen, insbesondere im ländlichen Raum. Hier hatten sich die vielen Richtungswechsel der Politik immer wieder in lokalen Konflikten um Führungspositionen niedergeschla­gen. Letzten Endes ließ der Maoismus die lokalen Kader orientierungslos und fundamental verunsichert über ihre politische Position zurück. Da diese Ka­der seit Jahrzehnten auch ständig Kampagnen gegen die Verfolgung indivi­dueller wirtschaftlicher Motive - sei es im eigenen, sei es im Gruppeninteresse - ausgesetzt gewesen waren, erschien die endgültige Absage der Partei an den Moralismus als eine Befreiung. Wer über die Möglichkeiten und das erfor­derliche Wissen verfügte, begab sich also auf die erwerbswirtschaftliche Bahn.

Dennoch blieb die Reformpolitik in einer grundlegenden Ambivalenz ver­fangen: wirtschaftliche Institutionen blieben weiterhin reine Instrumente der wirtschaftlichen Entwicklung, wurden aber nicht als solche Träger von Wer­ten, vor allem von Freiheitswerten. In diesem Sinne ist das maoistische Erbe zunächst rein negativ und hinterließ an wichtigen Stellen ein ideologisches Vakuum, das bis heute nicht aufgefüllt ist.

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4.2. Ländliche Entwicklung und Industrialisierungsstrategie

Seit den zwanziger Jahren haben immer wieder führende Mitglieder der intel­lektuellen Elite Chinas gefordert, daß die ländliche Entwicklung im Zentrum der Wirtschaftspolitik stehen müsse. Die kommunistische Partei schien sich in den dreißiger und vierziger Jahren als einzige wirkungsvolle politische Kraft zu etablieren, die ein solches Ziel ernsthaft verfolgte. Bis heute stellen sich die Machteliten der Partei immer wieder als Vertreter ländlicher Interes­sen und Belange dar, wenn auch zum Teil in Gestalt der Kritik lokaler Par­teivertreter. Dies bleibt ein politisches Leitmotiv, selbst wenn im Zuge von Machtwechseln höchst unterschiedliche Agrarstrategien verfolgt werden.

Abbildung 13: Zwangsakkumulation über den Agrarsektor

Quelle: Sheng Yuming, The Capital Sources of China's Industrialization, in: The Developing Economies, Vol. XXXI-2, 1993, S. 203.

Tatsächlich hat die chinesische Politik jedoch stets und ständig einen Kon­flikt zwischen ländlicher Entwicklung und Industrialisierungsstrategie er-

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zeugt, der zum Teil mit der Unfähigkeit zusammenhing, innerhalb des eige­nen wirtschaftlichen Ideensystems eine positive Wechselwirkung zwischen beiden Prozessen zu sehen. Stattdessen wurde in den Kategorien der Kapital­bildung durch Umverteilung gedacht, wie sie im wesentlichen auch der stali­nistischen forcierten Industrialisierung zugrundelag. Das heißt, die Politik ging nicht davon aus, daß sich durch das Wechselspiel zwischen industrieller Kapitalbildung und Expansion ländlicher Nachfrage ein sich selbst tragender Wachstumsprozeß einstellen würde, sondern nahm stattdessen an, daß indu­strielle Kapitalbildung und private Einkommensentwicklung allgemein, aber angesichts der Bevölkerungsstruktur Chinas natürlich des ländlichen Raumes insbesondere, miteinander konkurrierten. Entsprechend wurden in den fünfzi­ger Jahren Institutionen geschaffen, die entweder direkt oder indirekt eine solche Umverteilung von der Landwirtschaft zur Industrie erreichen sollten. Diese Institutionen hatten zum Teil bis zu Beginn der neunziger Jahre Be­stand, ihre Kenntnis ist also unabdingbar für die Einschätzung der chinesi­schen Transformation (siehe Abbildung 13).

Zunächst einmal ist bemerkenswert, daß die Instrumente der Umverteilung früher eingerichtet wurden als die eigentumsrechtliche Umgestaltung der Wirtschaft insgesamt sich beschleunigte (Abbildung 14). Diese Konzentra­tion der staatlichen Wirtschaftslenkung auf die Distribution und weniger auf die Produktion und dahinter stehend auf die impliziten Vermögensrechte ist ein wesentliches Merkmal der chinesischen Wirtschaftsordnung seit 1949. Im Rahmen der Landwirtschaftspolitik bedeutete diese, daß bereits 1954 das Sy­stem staatlichen Ankaufs der wichtigsten Agrargüter wie Baumwolle und Ge­treide eingeführt wurde, um auf diese Weise durch staatlich kontrollierte Nie­drigpreise eine kostengünstige Versorgung der Industrie mit agrarischen In­puts ebenso wie der städtischen Arbeiter mit Konsumgütern zu erreichen. Da­hinter stand die Vorstellung, daß dann die Akkumulation im industriellen Sektor maximiert werden könne, denn vor allem konnte der Aufwand für die Entlohnung des Faktors Arbeit gering gehalten werden, ohne daß dies gleich­zeitig mit einer Unterschreitung des minimalen Lebensstandardes einher ging.

Ähnliche Eingriffe in das Distributionssystem wurden auch im städtischen Sektor durchgeführt, um hier etwa über die Kontrolle des Großhandels letzt­lich auch eine Lenkung der privaten Industrie zu erreichen. Es liegt natürlich auf der Hand, daß eine derartige preispolitische Umverteilung der Einkom­men nicht ohne Reaktion der Betroffenen einhergehen kann. Mitte der fünfzi­ger Jahre ergaben sich für die landwirtschaftliche Entwicklung folgende Schwierigkeiten, die nach einer raschen Lösung verlangten:

staatlich unterdrückte Absatzpreise für Agrarprodukte und die "Preisschere" zwischen die­sen und den industriellen Absatzpreisen erfordern eine rasche Steigerung der Arbeitspro­duktivität, um die negativen Effekte auf die individuellen Einkommen der Bauern aufzu­fangen;

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Abbildung 14: Das staatliche Distributionssystem der Ära Mao

Enterprises producing consumer goods - -,

Wholesale stations and enter-prises under State Bureau of ,-_--L. __ -1-_______ -,

Materials and Equipment

I I I L ____ -,

State-owned enterprises

I

Collective and private business in urban areas

I

r---------- J I

Rural people's communes, pro­duction brigades and teams, peasants as production units consumers

'------~vr-------'I\ '------~vr-----~J '-------v------Producer and ca pi tal Producer and capital goods for goods for industrial agricultural use or use by the use commune- and brigade-run indus­

tries or the present township- and

---Distribution as wuzi. ------- Distribution as shangpin.

village-run enterprises

(Opposite direction is purchase of agricultural products serving as raw materials for industry and industrial manufacturers of the former commune-and brigade-run industries or the present township- and village-run enter­prises)

Consumer goods

I

J

Erläuterung; Gleiche Güter können als "wuzi", d.h. "Materialien", Produktionsmittel, oder als "shangpin", Waren, also an den Endverbraucher verteilt werden.

Quelle: Kyoichi Ishihara, China's Conversion to a Market Economy, !DE, Tokyo 1993, S. 42

diese Steigerung setzte unter den damaligen Bedingungen ebenso eine rasche Mechanisie­rung der Produktion voraus wie eine sektorale Abwanderung von Arbeitskräften in die In­dustrie; tatsächlich wirkte aber der Investitionsboom einer forcierten Industrialisierung in den Städ­ten anziehend auf die ländliche Bevölkerung, so daß sich die erforderliche sektorale Wan­derung auch in einer rasch zunehmenden regionalen Migration niederschlug; gleichzeitig entstanden in den Dörfern Verteilungsprobleme, weil als Ergebnis der Landre­form zwar eine egalitäre Verteilung des Landbesitzes über die Haushalte erreicht worden war, nicht aber eine egalitäre Verteilung der Produktionsmittel, so daß sich über die Effekte

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für die Arbeitsproduktivität in besser ausgestatteten Haushalten auch erneut Einkornrnens­unterschiede einstellten.

Unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen waren diese Schwierigkeiten nicht kurzfristig lösbar, es sei denn die KPCh wäre von ih­rem Industrialisierungskonzept abgerückt und hätte die Veränderungen des Distributionssystems zurückgenommen. Dies war jedoch ideologisch un­möglich. Es sollte erwähnt werden, daß bereits damals durchaus alternative Lösungskonzepte entwickelt wurden, wie unter anderem durch den Ökono­men Ma Yinchu oder den Soziologen Fei Xiaotong, die dann schrittweise immer stärker in der Politik Berücksichtigung fanden: Dies betrifft vor allem die Bevölkerungskontrolle und das Konzept der ländlichen Industrialisierung.

Die KPCh ging in eine andere Richtung: Bis zum Ende der fünfziger Jahre wurden zwei wesentliche Veränderungen der ländlichen Institutionen vollzo­gen, nämlich zum einen die schrittweise Kollektivierung bis hin zur Grün­dung von Volkskommunen im Zuge des "Großen Sprunges" und schließlich die Einführung eines Systems der Haushaltsregistration, das vor allem die ländlich-städtische Mobilität unterband und die Bauern faktisch an die Schol­le band. Beide Institutionen waren wesentliche Konsequenz und damit inte­graler Bestandteil der kommunistischen Industrialisierungsstrategie. Die Kol­lektivierung sollte gleichzeitig die Verteilungsprobleme lösen und den Rah­men dafür schaffen, über die zentralisierte Kontrolle der Produktionsmittel eine rasche Steigerung der Arbeitsproduktivität zu erreichen, auch durch den Einsatz der Mechanisierung. Besonders während des Großen Sprunges ver­band sich dieses Ziel mit der Vorstellung, im ländlichen Raum rasch eigen­ständige Kapazitäten für die gewerbliche Fertigung solcher modernen Agrar­inputs zu schaffen. So wurde der Grundstein für die ländliche Industrialisie­rung gelegt, die bis heute vor einem gänzlich anderen institutionellen Hinter­grund charakteristisch für die chinesische Entwicklung ist. Die Kollektivie­rung stieß aber auf gemischte Reaktionen bei der ländlichen Bevölkerung, denn sie bedeutete, daß wohlhabendere Gruppen ihres Eigentums beraubt wurden, ärmere aber nicht entsprechend bereichert wurden, sondern die Ver­fügungsgewalt an die Kader übertragen wurde (die allerdings mehrheitlich zur ärmeren Schicht gehörten).

Um diese Widerstände zu brechen, wurde die Kollektivierung immer wei­ter radikalisiert. Während der ersten Phase des "Großen Sprunges" traf sie allerdings auf eine gewisse messianistische Begeisterung der Bauern, da sie mit weitreichenden Plänen zur gesellschaftlichen Umgestaltung verknüpft wurde, die etwa mit Konzepten wie des egalitären Gemeinschaftskonsums, der militarisierten Gruppenorganisation oder der Aufhebung von Geschlech­terdifferenzierungen durchaus an utopische Traditionen in der chinesischen Gesellschaft anschlossen.

Dennoch war die zunehmende Migration ein weiteres zentrales Problem dieser Politik und wurde durch das Registrationssystem begrenzt. Dieses sog.

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"hukou"-System erhielt dann erstmals durchgreifende gesellschaftliche Rele­vanz, als der "Große Sprung" scheiterte und auch wegen klimatischer Ein­brüche ein starker Rückgang der Agrarproduktion einsetzte, der eine schreck­liche Hungerkatastrophe zur Folge hatte. Das "hukou" Ssytem wurde drako­nisch durchgesetzt, und die Städte wurden vor dem Zustrom hungernder Bau­ern geschützt, die unter Umständen nur einige Kilometer entfernt dahinsiech­ten. Es wird geschätzt, daß damals 20 Millionen Menschen starben (siehe un­ten Tab. 10).

Bis zum Beginn der Wirtschaftsreformen 1978 wurden diese in den fünfzi­ger Jahren konstruierten Elemente der chinesischen Agrarordnung aufrecht erhalten. Zwar gab es während der Katastrophe des "Großen Sprungs" regio­nal bereits Schritte zur erneuten Dekollektivierung genau nach dem Muster, das dann auch 1978 Anwendung fand, doch hatten der scharfe Konflikt zwi­schen Maoisten und Reformsozialisten an der Parteispitze ebenso wie die an­gespannte wirtschaftliche und politische Lage ohnehin zur Folge, daß weit­reichende Veränderungen der Industrialisierungsstrategie nicht möglich wa­ren. Die Volkskommunen wurden verkleinert und intern dezentralisiert, be­wahrt blieben aber die Prinzipien der kollektiven Arbeitsorganisation auf der Ebene der Produktionsgruppe (im Schnitt 30-40 Haushalte), der entsprechend egalitären Verteilung des Lohnes nach einem Arbeitsstandard (Arbeitspunk­te-System) und der zentralen Verfügung über höherwertige Produktionsmittel zumeist auf Brigade-Ebene (etwa Traktoren), aber auch über die Zentrale der Volkskommune. Die Leitung einer Volkskommune konnte etwa auch belie­big über die Mobilisierung der Arbeitskräfte für bestimmte Bauvorhaben ent­scheiden.

Unverändert blieben aber die Institutionen des staatlichen Ankaufs wichti­ger Agrarprodukte zu kontrollierten Preisen und das System der Mobilitäts­beschränkungen, die beide eigentlich nur zwei Seiten desselben Mechanis­mus der Ausbeutung der Landwirtschaft zugunsten des industriellen Sektors waren. Diese Deutung ist zwar unter den Fachleuten umstritten, doch von ih­rer Mehrheit akzeptiert; insbesondere wenn Beachtung findet, daß die Ver­hinderung von Mobilität natürlich nicht zu einem direkt meßbaren Transfer von Einkommen zwischen Land und Stadt führt. Durch die Mobilitätsbe­schränkungen wurden aber die Bauern in ihren Lebenschancen empfindlich eingeschränkt und die Städter in ihren Privilegien geschützt, und zwar zu einem geringeren Aufwand als wenn keine derartigen Beschränkungen exi­stiert hätten. Ein instruktives Beispiel für die indirekte Messung dieser syste­matischen Benachteiligung ist die Zahl landwirtschaftlicher Nutztiere im ge­samten Zeitraum von 1949 bis heute (Abbildung 15), denn der Besitz solcher Tiere ist gleichermaßen ein Indikator für den Vermögensstock in der ländli­chen Gesellschaft wie auch für die möglichen, in der landwirtschaftlichen Viehhaltung verwendbaren Überschüsse in der Getreideproduktion. Die Ver­änderung des Bestandes läßt die negativen Wirkungen der Kollektivierung

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Abbildung 15: Der Bestand an landwirtschaftlichen Nutz- und Zugtieren, 1950-1990

8000

7000

6000

5000

4000

3500~~~~~~ __ ~~~~~~~~~~ 1952 55 60 65 70 75 80 85 90

Erläuterung: Die Zahl der Tiere wird nach ostasiatischer Gepflogenheit in 10.000 Stück angegeben.

Quelle: Watanabe Toshio/Shirasego Tetsuya, Zu setsu Chügoku keizai, Tokyo 1992, S. 70.

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ebenso erkennen wie die Katastrophe des "Großen Sprunges", den allmähli­chen Aufschwung der sechziger Jahre und die Stagnation der siebziger Jahre. Erst zu Beginn der achtziger Jahre erreichte der Bestand wieder das Niveau der Zeit kurz vor der Kollektivierung, um dann rasch weiter zu expandieren.

Das staatliche Distributionssystem hatte natürlich auch die Wirkung, daß die Bedeutung von Märkten als Allokationsmechanismus zurückgedrängt, wenn auch keinesfalls aufgehoben wurde. Dabei ist zu beachten, daß diese weitreichenden Eingriffe in das traditionelle Marktsystem nicht nur ökono­mische Konsequenzen hatten.

Marktplätze waren der soziale Mittelpunkt der ländlichen Gesellschaft ge­wesen. Chinesische Dörfer hatten herkömmlich eine ausgeprägte regionale Vielfalt ihrer Organisation aufgewiesen. Allgemein läßt sich aber sagen, daß im Unterschied zu anderen ländlichen Gesellschaften das Dorf nicht die so­ziale Grundeinheit des traditionellen China darstellte, entsprechend also bei­spielsweise Kooperation zwischen Haushalten eher eine geringfügige Bedeu­tung besaß. Stattdessen war der Marktplatz, um den sich mehrere Dörfer gruppierten, die eigentliche Grundeinheit, die sich regelmäßig auch dialektal oder hinsichtlich der Verflechtung durch Heiraten etc. gegen andere Einhei­ten abgrenzte, gleichzeitig aber über die Konkurrenz zwischen Marktplätzen und durch die fortlaufende Bewegung von Kleinhändlern in grundlegender Weise offen war. In Marktplätzen agierten auch die traditionellen Eliten der chinesischen Gesellschaft und etablierten über ihre Beziehungen zu den übergeordneten, zentraleren Märkten in der Region auch die Kommunikation mit den offiziellen Strukturen von Staat und Gesellschaft, also konkret dem konfuzianischen Beamtenturn.

Die Veränderungen des Distributionssystems nach 1949 zerstörten dieses traditionelle Marktsystem systematisch, indem bereits früh zwar Marktveran­staltungen genehmigt, die Termine aber so gelegt wurden, daß es Händlern unmöglich wurde, in der üblichen Weise zwischen Märkten zu wandern. Damit mußten die Märkte zunehmend ihre Allokationsfunktion verlieren, gleichzeitig aber auch ihre Rolle als soziales Zentrum. Die Politik der Volks­kommunen vollendete dann die Umgestaltung des traditionellen, wabenarti­gen Musters der dynamischen Organisation von Marktstandorten im Raum in eine statische, geschlossene Struktur, die abgesehen von staatlichen Eingrif­fen kaum noch den Strom von Menschen und Gütern über ihre Grenzen hin­weg kannte. Damit hatte sich die ländliche Gesellschaft Chinas in den siebzi­ger Jahre in eine zelluläre Struktur von territorial definierten Kollektiven ver­wandelt, die auf der einen Seite zwar die Ablieferungsverpflichtungen gegen­über dem Staat erfüllten, auf der anderen Seite aber stark nach innen orien­tiert waren und zunehmend auch wirtschaftlich autark wurden. Wie bereits erläutert, war dieses Streben nach Autarkie durch die Gründung eigener Un­ternehmen im Interesse der Stärkung der eigenen Verhandlungsposition ge­genüber dem städtisch-industriellen Sektor: Wer Zement selbst erzeugt und

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nicht mehr aus der Stadt zu importieren braucht, wird weniger erpreßbar. Gleichzeitig aber gab es gegen Ende der siebziger Jahre erste Anzeichen ei­ner erneuten Öffnung dieser Einheiten gegenüber der städtischen Wirtschaft, und zwar über die noch nicht vollständig unterdrückten Marktstrukturen. Da der staatliche. Zwangsankauf keine eigentlichen Einkommenszuwächse er­laubte, war es wesentlich attraktiver, die Einnahmen von Volkskommunen et­wa dadurch zu erhöhen, daß Lieferverträge mit städtischen Unternehmen im gewerblichen Bereich abgeschlossen wurden.

Das skizzierte System hatte schließlich die Verfehlung des Industrialisie­rungszieles zur Folge, auf das es eigentlich hin orientiert war. Im Kern der ökonomischen Krise des Spätmaoismus lag der allmähliche Rückgang des Überschusses der landwirtschaftlichen Produktion, der für den urban-indu­striellen Sektor abgeschöpft werden konnte. Drei Faktoren trugen zu diesem Rückgang bei:

Erstens, das System der Volkskommunen trieb einen Keil zwischen individuelle Leistung und Entlohung, so daß die Arbeitsmotivation gering war, besonders angesichts der Tatsa­che, daß eine hoher Arbeitseinsatz zur Bodenintensivierung mit weiterhin zumeist traditio­nellen Inputs geboten war; Zweitens, die staatliche Ankauf- ebenso wie die Autarkiepolitik vor dem Hintergrund der Ausschaltung flexibler Marktallokation hatte eine agrarökologisch weit suboptimale Bo­dennutzung zur Folge, denn herkömmliche Anbauspezialisierungen wurden unterbunden; da gleichzeitig viele Dörfer auch nicht mehr ehemalige gewerbliche und handwerkliche Spezialisierungen aufrechthalten konnten, war eine Verarmung auf breiter Front das Ergeb­nis; Drittens, wegen der eigentümlichen institutionellen Struktur und der konkret wirksamen Anreize entstanden keine endogenen Faktoren einer Begrenzung des Bevölkerungswachs­tums - zugespitzt betrachtet, war das Wachstum der ländlichen Bevölkerung sogar das durchschlagenste Instrument gegen die zwangsweise Umverteilung zugunsten der städti­schen Bevölkerung, weil die Grundsicherung der Bauern immer nach Pro-Kopf-Regeln de­finiert wurde (z.B. der Anteil des Getreides für den Eigenverbrauch).

Die Veränderung der Agrarpolitik war daher notwendigerweise der erste Schritt, der aus dem Spätmaoismus heraus getan werden mußte. Ob dies aber auch mit einer wesentlichen Veränderung der Industrialisierungsstrategie ein­her ging, bleibt noch zu prüfen.

4.3. Das Planungssystem

Bereits die Diskussion der Agrarpolitik hat gezeigt, daß im traditionellen chi­nesischen System eine komplexe Beziehung zwischen Produktions- und Dis­tributionsplanung bestand. Im dritten Kapitel war erläutert worden, daß dies vermutlich Anlaß für die Wahrnehmungsprobleme hinsichtlich des gesamten Charakter des Planungssystems gab und gibt: Chinas Wirtschaft war gleich-

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zeitig "zellulär" und "zentral gelenkt", weil die zentrale Steuerung sich vor allem auf die Lieferbeziehungen zwischen solchen "Zellen" konzentrierte, aber nicht systematisch in deren inneren Strukturen eingriff. Insofern muß von einer hierarchischen Schichtung zwischen gebietskörperschaftlich abge­grenzten Eigen- oder Naturalwirtschaften gesprochen werden, deren gegen­seitige Beziehungen durch zentrale Kontrollen bestimmt wurden. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß es insbesondere im ländlichen Raum eine umfangreichen schattenwirtschaftlichen Sektor gegeben hat.

Um also den Ausgangspunkt der Reformen besser verstehen zu können, muß diese besondere Natur des Planungssystems Berücksichtigung finden. Im Zuge der Nachahmung des sowjetischen Modells in den fünfziger Jahren wurde ein unfangreicher schwerindustrieller Kern unter zentraler Kontrolle geschaffen. Dieser Aufbau großer Industrieunternehmen in Bereichen wie Stahlerzeugung, Chemie oder Maschinenbau gehörte zu den Schwerpunkten der forcierten stalinistischen Industrialisierung und konnte auch an die Ver­staatlichung großer Industrieunternehmen aus dem Besitz der nationalchine­sischen Regierung ebenso wie der japanischen Besatzer in der Mandschurei anknüpfen. In diesem Sinne stellte der Aufbau eines Staatssektors in den fünfziger Jahren, anders als in der Landwirtschaft, anfänglich gar keine weit­reichende Veränderung der Vermögensstrukturen dar. Dies war erst dann der Fall, als auch mittlere und kleinere Unternehmen im Bereich konsumnaher Industrien und des Handels entweder schrittweise verstaatlicht oder, wie be­sonders das Handwerk Ende der fünfziger Jahre, über den Zwischenschritt von Kooperativen kollektiviert wurden.

Je mehr Unternehmen der Industrie aber in staatlichen Besitz gerieten, desto komplizierter wurde die Struktur insbesondere hinsichtlich der Vertei­lung der Betriebsgrößen. Auch hier mußte die Distributionsplanung letzten Endes vor der durchgreifenden Veränderung faktischer Produktionsbefugnis­se zentralisiert werden, da es der Partei kaum möglich war, einen Lenkungs­apparat aufzubauen, der dann tatsächlich auch die Entscheidungen in der großen Zahl kleiner und mittlerer Betriebe hätte steuern können. Auf der an­deren Seite war rasch deutlich geworden, daß die Volksrepublik mit einem gravierenden Problem möglicher Unterbeschäftigung konfrontiert war, das eine ausschließliche Konzentration der Industriestruktur auf kapitalintensive Großunternehmen ohnehin wenig opportun erscheinen ließ.

Insofern kann auch die maoistische Politik administrativer Dezentralisie­rung, die während des Großen Sprunges erstmals und mit Nachdruck verfolgt worden war, als eine Reaktion auf objektive Zwänge der Industrialisierungs­strategie betrachtet werden. Solange die Zentrale bestimmte Schlüsselunter­nehmen und -industrien fest in ihrer Hand hielt, und außerdem über das Di­stributionssystem auch die Allokation wichtiger Industriegüter kontrollierte, mußte eine umfassende zentrale Kontrolle auch der Produktion wenig effizi­ent erscheinen. Stattdessen wurde nun ein weiterer Schritt weg vom sowjeti-

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schen Modell vollzogen, indem die Befugnisse für eine Vielzahl von Indu­strieunternehmen an regionale Gebietskörperschaften delegiert wurden. Sol­che Wellen der Dezentralisierung und Zentralisierung hatte es seit den fünfzi­ger Jahren mehrfach gegeben, weil die Zentrale in der Rezentralisierung häu­fig die einzige Möglichkeit sah, eigentlich makroökonomische Kontrollverlu­ste in den Griff zu bekommen (Tabelle 9). Gerade während der Kulturrevolu­tion und des Spätmaoismus' wurde diese Tendenz aber auch dadurch ver­stärkt, daß der Maoismus grundsätzlich jeder Form wirtschaftlicher Rech­nungsführung und Statistik ablehnend gegenüber stand. Entsprechend wurde die Kompetenzen und Möglichkeiten des zentralen statistischen Apparates sehr stark eingeschränkt, mit der Folge, daß einer umfassenden zentralen Pla­nung ohnehin die Grundlage entzogen wurde.

Tabelle 9: Wellen der Zentralisierung und Dezentralisierung im Bereich der staatlichen Industrieunternehmen

2 3 4 5

1953 2800

1957 9300 58000 16,1 50,0 39,7

1958 1200 119000 1,0 13,8

1965 10533 45900 46,9 42,2

1970 1300 78300 1,7

1983 2500 87100 2,8 30-40

Erläuterungen: 1: Zahl der zentral kontrollierten Unternehmen, 2: Zahl der staatlichen In­dustrieunternehmen, 3: 1/2 (%), 4: 1/2 (%), bezogen auf den Output, 5: 1 in % bezogen auf die Zahl aller Industrieunternehmen

Quelle: Kyoichi Ishihara, China's Conversion to a Marke! Economy, IDE, Tokyo 1993, S. 11.

Trotz zwischenzeitlicher Rezentralisierungsmaßnahmen entstand also seit den fünfziger Jahren ein hierarchisches System von Gebietskörperschaften, die jeweils eigene Kompetenzen bezüglich der Unternehmen ihres Zuständig­keitsbereiches besaßen. In Verbund mit dem Aufbau eines relativ stark zen­tralisierten, in jedem Fall aber monopolisierten staatlichen Distributionssy­stem muß man sich die konkreten Verhältnisse also als vergleichsweise ba­rock vorstellen. So konnte es innerhalb einer Stadt ein Unternehmen geben, das der Stadtverwaltung zugeordnet war, und das eigentlich Inputs für ein Unternehmen herstellte, welches zwar ebenfalls in der Stadt angesiedelt war, aber in der Zuständigkeit der Provinzverwaltung stand. Beide Unternehmen durften aber ihre Lieferbeziehungen eigentlich nicht direkt abstimmen, son­dern mußten erstens, entsprechende Pläne jeweils von ihren zuständigen, aber nicht identischen Verwaltungen genehmigen lassen, was die Produktion be­traf. Die produzierten Güter mußten aber gegebenenfalls ohnehin an das

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staatliche Materialbüro abliefert werden, das ebenfalls einen Zweig in der Stadt unterhielt. Unter Umständen wurden die Inputanforderungen des zwei­ten Unternehmens erst über die gesamte Hierarchie des staatlichen Amtes für Materialverwaltung bearbeitet, bis das Unternehmen eventuell - aber noch nicht einmal selbstverständlich - über das örtliche Büro dieses Amtes Inputs zugewiesen bekam, die wiederum durch das andere ortsansässige Unterneh­men produziert worden waren.

Dieses Beispiel zeigt, daß das System regionaler Dezentralisierung keines­falls bedeutet, daß bestimmte Gebietskörperschaften schlicht für alle Unter­nehmen der Region zuständig waren. Lediglich war der territoriale Bezug das Prinzip der Zuweisung von Verfügungs- und Nutzungsrechten an bestimmte Gebietskörperschaften. Dieses System ist deshalb als ein "System regionaler Eigentumsrechte" bezeichnet worden, das sich grundlegend von anderen so­zialistischen Planungsmodellen unterscheidet (Abbildung 16).

Allerdings lagen die Verhältnisse deshalb noch komplizierter - wohl eher: chaotischer - weil die Unternehmen noch in ein weiterreichendes System funktionaler Zuständigenkeiten eingebettet waren. Es galt ein duales Prinzip unterschiedlicher materieller und funktionaler Zuständigkeiten, indem etwa ein Elektrounternehmen einerseits materiell einer Gebietskörperschaft zuge­ordnet war, aber funktionell durchaus noch Teil der zentralen Ministerialbü­rokratie blieb. Genau über diese zweite Schiene konnten auch Rezentralisie­rungsmaßnahmen überhaupt effektiv greifen, aber im Normalfall bezog sich die Kompetenz etwa auf Normungen oder Genehmigungen bei bestimmten großen Erweiterungsinvestitionen. Eine solche Matrixorganisation ist charak­teristisch für weite Teile des traditionellen Planungssystems und hat bis heute prinzipiell Bestand, auch wenn in den meisten Bereichen direkte Planungs­eingriffe zurückgenommen wurden.

Funktionale Zuständigkeiten betrafen aber auch andere wesentliche betriebliche Bereiche wie etwa hinsichtlich der Finanzverwaltung. Hier konn­te nicht selten die Situation entstehen, daß die staatliche Finanzverwaltung, die in vielen Phasen der Entwicklung ähnlich vorlaufend zentralisiert war wie die Distribution, Unternehmen bestimmte Gewinnquoten bzw. Steuerquoten vorschrieb, ohne daß dies mit der andernorts formulierten Distributions- und der Produktionsplanung harmonierte. Ähnliches galt für die staatliche Preis­verwaltung. Das heißt, die Unternehmen waren mit einer zeitweise extrem fragmentierten und intern gering koordinierten Struktur staatlicher Verwal­tungsorgane konfrontiert: In der chinesischen Diktion, "mit vielen Schwie­germüttern". Die Konsequenz war, daß ungeachtet der Zuweisung allgemei­ner Zuständigkeiten für Unternehmen diese nie mit konsistenten und koordi­nierten Weisungen von außen konfrontiert waren, es sei denn es handelte sich um umfassend zentral kontrollierte Großunternehmen oder - im anderen Ex­trem - um lokale Kleinunternehmen unter einheitlicher Kontrolle der Volks­kommune. Beispielsweise war es eine typische Sachlage, daß Distributions-

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und Produktionsplanung schlecht aufeinander abgestimmt waren, daß also Unternehmen unter Umständen durch die zuständige Gebietskörperschaft zur Produktion bestimmter Güter verpflichtet wurden, ohne daß damit auch ent­sprechende Inputzuweisungen oder eventuell auch ein garantierter Absatz über das Distributionssystem gewährleistet war. Es war ebenfalls möglich, daß die durch Produktions- und Distributionsplan implizierten Finanzströme nicht mit den Vorgaben der Finanzverwaltung harmonierten.

Abbildung 16: Struktur des chinesischen Planungssystems während der ÄraMao

=> goals and priorities

-'> plan directives

secondary leadership

State Planning Comraission

ministry 1

planning departlll!nt

minister 2

D

Quelle: Thomas P. Lyons, Planning and Inter-Provincial Co-ordination in Maoist China, in: The China Quarterly No. 121, 1990, S. 42

Ein solches System unterscheidet sich also wesentlich auch vom realtypi­schen System zentraler Planung. Auch dort gab es natürlich viele Schwächen,

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Disproportionen und abweichendes Verhalten im System. Im Prinzip aber wurde der Versuch unternommen, das Verhalten der Unternehmen konsistent an einem einheitlichen zentralen Plan zu orientieren, und zentrale Zielvorga­ben über eine Fülle von Anreizmechanismen durchzusetzen. Chinesische Wirtschaftspläne waren jedoch auch vor 1978 das Ergebnis komplizierter und langwieriger Verhandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Linien­und Territorialeinheiten des Verwaltungsapparates und nicht Ausdruck des Willens einer zentralen Instanz und ihrer Organe. Sie besaßen daher auch ei­nen deutlich anderen Charakter als Pläne etwa in der Sowjetunion. Vor allem lastete der endgültig verabschiedete Plan die Unternehmenskapazitäten nicht vollständig aus, während in anderen Planwirtschaften ausgeklügelte Metho­den ausgedacht wurden, um die Betriebe an die Kapazitätsgrenze zu treiben, die diese wiederum zu verschleiern suchten. Außerdem war der chinesische Plan bei weitem nicht so ausdifferenziert wie sowjetische Pläne, die stets Gü­terarten so genau wie möglich festzulegen suchten, um das Betriebsverhalten möglichst eng zu steuern. Gering angespannte und gleichzeitig nur grob for­mulierte Planziele ließen also den Betrieben schon vor 1978 beträchtliche Spielräume bei der Entscheidung über die konkrete Produktion. Dieser Cha­rakter des Planes war unmittelbarer Ausdruck der widerstreitenden Interessen im fragmentierten Verwaltungsapparat. Um diese Interessen auch nach Plan­festlegung zum Ausgleich bringen zu können, mußten die Betriebe unterhalb der Kapazitätsgrenze arbeiten, denn nur dann ergab sich die Möglichkeit, Ansprüche, die nicht im Plan berücksichtigt werden konnten, noch im Nach­hinein zu befriedigen.

Insofern läßt sich zweierlei sagen: Zum einen hat im chinesischen System der "Quasimarkt" eine beträchtliche Rolle gespielt, also die ständigen Tauschaktivitäten und Beschaffungsbemühungen von Unternehmen, die we­gen der Ineffizienz des Lenkungssystems bestimmte Inputs nicht erhielten oder ihre Produktion nur ungenügend absetzen konnten. Darüber hinaus aber besaß der gesamte Koordinationsmechanismus Verhandlungscharakter im Sinne eines im weitesten Sinne ökonomischen Kalküls. Insbesondere außer­halb der industriellen Schlüsselbranchen und -unternehmen war die laufende, flexible Anpassung der Beziehungen zwischen den Unternehmen auch im Dienste der Planerfüllung Bestandteil des Verhandlungsalltages chinesischer Verwaltungsorgane.

Entscheidender Unterschied zu einem Marktsystem war, daß zumindestens offiziell und über den Rahmen der Grobplanung hinausgehend die Preise nur eine geringe Allokationsfunktion ausüben konnten, da sie durch die zentralen Ministerien festgelegt waren. Zudem spielte das Geld ohnehin eine geringfü­gige Rolle für die Koordination der wirtschaftlichen Aktivitäten. Weite Teile der chinesischen Wirtschaft waren im wesentlichen naturalwirtschaftlich or­ganisiert, ließen also noch nicht einmal die "Kontrolle durch den Rubel" zu. Dies galt ohnehin für die interne Organisation der Volkskommunen, in denen

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Konsumprozesse weitgehend auf kollektiver Basis eigenwirtschaftlich orga­nisiert waren, aber durchaus auch für die Verhältnisse in großen Staatsbetrie­ben, die einerseits in Tauschbeziehungen mit anderen Großunternehmen standen, andererseits viele Input-Output-Beziehungen innerhalb der eigenen Organisation abwickelten und schließlich große Teile der Entlohnung der Ar­beitnehmer ebenfalls natural realisierten, wie die Bereitstellung von W oh­nung, Kantinenverpflegung oder Freizeitangebote.

Ein letzter Bereich, der noch Erwähnung finden muß, betrifft die Beson­derheit des chinesischen Planungssystems im Bereich des Faktors Arbeit. Trotz der offensichtlichen Unterbeschäftigung in vielen Unternehmen etwa der sowjetischen Wirtschaft waren die beiden Systeme grundlegend ver­schieden, offensichtlich wegen der gänzlich anderen Faktorrelationen, näm­lich Kapitalknappheit und Arbeitskräfteüberschuß in China und Ressourcen­reichtum, mithin potentiellem Kapitalreichtum und Arbeitskräftemangel in der UdSSR. Der chinesische Arbeitsmarkt war daher nicht nur im ländlichen Sektor aus den genannten Gründen von einer äußerst geringen Mobilität ge­prägt, sondern auch im städtischen: Arbeitskräfte blieben langfristig an den erstmals zugewiesenen Platz gebunden. In der Sowjetunion hingegen betrie­ben die Unternehmen eine Politik der Attraktion und Hortung von Arbeits­kräften, mit der Konsequenz einer recht hohen Mobilität des Faktors Arbeit zwischen den Unternehmen.

Das chinesische System bei Planung und Einsatz des Faktors Arbeit war daher grundsätzlich durch das Interesse geprägt, die Bevölkerung als Ganzes möglichst an eine bestimmten Ort zu binden. Während im ländlichen Bereich die Volkskommune die entsprechende institutionelle Struktur bot, war (und teilweise ist) dies im städtischen Bereich die sog. "Einheit", "Danwei".

Die chinesische "danwei" ist ebenso ein integraler Bestandteil der kom­munistischen Industrialisierungsstrategie gewesen (und heute immer noch ein zentrales Reformproblem) wie die Volkskommune. Sie ist als eine umfas­sende Einheit der Daseinsvorsorge für den Einzelnen gleichzeitig das eigent­liche Instrument politischer und gesellschaftlicher Kontrolle der Partei in den Städten gewesen. Innerhalb der Danwei mußten nämlich Lebenschancen kei­nesfalls gleich verteilt sein, sondern wurden im Dienste der Interessen füh­render Parteikader an die Einzelnen vergeben. Je größer und umfassender ei­ne Danwei, desto durchgreifender auch diese Form der Kontrolle. Diese In­strumentalisierung des Unternehmens als Machtinstanz setzte selbstverständ­lich eine geringe Mobilität der Arbeitskräfte voraus. Gleichzeitig aber war Arbeitslosigkeit ohnehin ein stets virulentes Problem auch in den Städten und ließ sich innerhalb der Danwei verdecken. Sobald, wie während der Kulturre­volution, die chinesische Gesellschaft ihr tatsächliches Mobilitäts- und Unru­hepotential offen zeigte, konnten nur drakonische Maßnahmen wie die Land­verschickung von Millionen von Jugendlichen die Ruhe wieder herstellen. Als diese dann Ende der siebziger Jahre in die Städte zurückströmten, war

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das Danwei-System mit seiner ersten großen Reformkrise konfrontiert, denn eigentlich war in den ohnehin unterbeschäftigten Staatsunternehmen kein Raum für diese Menschen.

4.4. Das fiskalische System

Erst heute wird deutlich, daß viele der Probleme und der Veränderungen der chinesischen Wirtschaftsordnung tatsächlich mit fiskalischen Fragen zusam­menhängen, die ebenfalls eine Wurzel haben, die weit in die Vergangenheit zurückreicht. Vor allem betrifft dies die Rolle des Staates im chinesischen Regionalismus. Fragen der Besteuerung und der Auf teilung von Finanzmit­teln zwischen verschiedenen Gebietskörperschaften stellen eigentlich ein ord­nungspolitisches Problem ersten Ranges dar. Wegen ihres technischen Cha­rakters wird ihre Bedeutung aber oft unterschätzt.

Allerdings traten diese Faktoren besonders stark erst während der Reform­periode zu Tage. Die institutionellen Rahmenbedingungen sind jedoch älterer Natur. Der chinesische Staat hatte mit seiner Gründung und Verfassungsge­bung gerade in diesem Bereich das Prinzip des unitarischen Zentralstaates sy­stematisch realisiert, d.h. bis heute besitzt China einen zentralisierten Fiskus ohne eigentlich autonome Budgetrechte der Regionen, also vor allem der Provinzen. Mit dieser Entscheidung schrieb die KPCh ähnliche Entscheidun­gen des Kaiserreiches und der nationalchinesischen Regierung fort, die sämt­lich föderalistische Prinzipien der Staatsorganisation stets abgelehnt hatten, in deren Mittelpunkt auch die relative fiskalische Autonomie der Mitglieder eines föderalistischen Verbandes hätte stehen müssen.

Im Rahmen des chinesischen Systems war jedoch das zentralistische Prin­zip nicht vollständig durchzuhalten. Der Grundgedanke der maoistischen administrativen Dezentralisierung erforderte eigentlich auch eine teilweise finanzielle Selbständigkeit der Gebietskörperschaften. Diesem wurde seit Ende der fünfziger Jahre mit der Einrichtung von Zusatzsteuern und lokalen Gebühren Rechnung getragen, die in lokale "Fonds außer Bilanz" zu fließen hatten. Damals waren die Unternehmensfinanzen noch Teil des zentralen Budgets, in dem ja eigentlich auch alle Gebietskörperschaften erfaßt wurden. Finanzielle Autonomie verlangte formal also die Einrichtung eines zweiten Haushaltes.

Die Fonds außer Bilanz expandierten während der maoistischen Periode nur langsam, sicherlich auch als Folge des geringen Grades der Monetarisie­rung der Volkswirtschaft, im wesentlichen aber weil die Zentralregierung recht strikt darauf achtete, sie zu begrenzen und sie zeitweise sogar in den zentralen Haushalt reintegrierte. Dennoch war ihre Einrichtung ein wichtiges Datum für die Einleitung der Reformen von 1978.

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Ähnliches gilt für den zweiten wichtigen Aspekt der fiskalischen Organi­sation, nämlich die Beziehung zwischen Zentrale und Regionen. Hier gingen freilich die praktischen Veränderungen auch vor 1978 weiter, was wesentlich mit den Wirren und den folgenden Anpassungsproblemen während der Kul­turrevolution zusammenhing. Es wurde nämlich immer wieder mit Verfahren experimentiert, den zentralen Staatshaushalt hinreichend zu finanzieren, in­dem gleichzeitig das Einnahmeinteresse der Provinzen angeregt wird. Dies verlangt gegebenfalls eine weitergehende Autonomie der Provinzen als ei­gentlich im System beabsichtigt. Die weitestgehenden Schritte wurden zu Be­ginn der siebziger Jahre vollzogen, als zwischen Zentrale und einigen Provin­zen erste "Verantwortungssysteme" getestet wurden, bei denen die Zentrale die Provinzen zur Ablieferung bestimmter absoluter Steuerbeträge verpflich­tete, gleichzeitig aber den Provinzen Autonomie bei der Gestaltung des eige­nen Haushaltes und vor allem bei der Verwendung etwaiger Überschüsse über die Ablieferungspflicht hinaus einräumte. Ein solches System galt dann nach 1978 vor allem für den Reformvorreiter unter den Provinzen, Guang­dong.

Abbildung 17: Der chinesische Staatshaushalt 1949-1990

1985 1990

Erläuterung: Defizite (schwarz) und Überschüsse (weiß) in 100 Mill. Renminbi.

Quelle: Watanabe Toshio/Shirasego Tetsuya, Zusetsu Chügoku keizai, Tokyo 1992, S. 103

Fiskalische Fragen und daraus abgeleitet gegebenenfalls auch monetäre Fra­gen spielten in der chinesischen Politik bis 1978 zeitweise eine wesentliche Rolle. Beispielsweise waren die späten fünfziger Jahre von beträchtlichen

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Page 119: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Problemen bei der Budgetfinanzierung und der monetären Stabilisierung konfrontiert gewesen, die dann nur durch die Rezentralisierung nach dem "Großen Sprung" gelöst werden konnten (Abbildung 17). Im skizzierten Rahmen der fragmentierten naturalen Befehlswirtschaft des Maoismus konn­ten diese Probleme jedoch nicht beherrschenden Einfluß auf die Wirtschafts­entwicklung erhalten. Dies änderte sich aber rasch mit dem Übergang zur Re­formpolitik.

4.5. Ergebnisse maoistischer Wirtschaftspolitik als Ausgangspunkt der Reformen

Versuchen wir kurz, die wesentlichen Ergebnisse der wirtschaftlichen Ent­wicklung vor 1978 zusammenzufassen. Der Maoismus hatte stets den An­spruch erhoben, im Unterschied zur sowjetsozialistischen Entwicklungsstra­tegie den Problemen der Landwirtschaft besondere Aufmerksamkeit zu zol­len. Tatsächlich war er aber im wesentlichen mit einer stalinistischen Ent­wicklungsstrategie identisch, und zwar insbesondere hinsichtlich des raschen Aufbaus einer schwerindustrielIen Basis zu Lasten der Entwicklung des land­wirtschaftlichen Sektors. Dies bedeutet nicht, daß in dieser Zeit nicht auch Wachstum stattgefunden hätte. Im Gegenteil hat China auch vor 1978 durch­aus beachtliche Wachstumsraten erzielen können; vor dem Hintergrund der großen politischen Instabilität in verschiedenen Phasen der Entwicklung muß dies als Erfolg gewertet werden (Tabelle lOa).

Tabelle 10: Wirtschaftsentwicklung im maoistischen China (S. 121-123)

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Page 120: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Tab. lOa: Wichtige Indikatoren der VR China

Jahr Bevöl- Einkom- Volkseinkommen Gesamt- Getreide Handels- Export-kerung men pro nach kapital- pro Kopf volumen quote

Kopf bildung landwirt- Industrie ExNE

schaft Mio. Yuan % % Mrd. kg Mrd. %

Yuan Yuan 1950 4,15 1951 563,00 255 5,95 1952 574,82 102,47 57,72 19,52 285 6,46 4,60 1953 587,96 120,59 52,75 22,00 9,159 284 8,09 4,91 1954 602,66 124,12 51,87 23,26 10,268 281 8,47 5,35 1955 614,65 128,20 52,92 22,72 10,524 299 10,98 6,18 1956 628,28 140,38 49,77 24,04 16,084 307 10,87 6,32 1957 646,53 140,44 46,81 28,30 15,123 302 10,45 6,00 1958 659,94 169,41 39,36 35,87 27,906 303 12,87 5,99 1959 672,07 181,83 30,77 43,13 36,802 253 14,93 6,39 1960 662,07 184,27 27,21 46,31 41,658 217 12,84 5,19 1961 658,59 151,23 43,37 34,64 15,606 224 9,07 4,79 1962 672,95 137,31 48,05 32,79 8,728 238 8,09 5,10 1963 691,72 144,57 44,80 33,70 11,666 246 8,57 5,00 1964 704,99 165,39 47,08 36,19 16,589 266 9,75 4,75 1965 725,38 191,21 46,21 37,41 21,690 268 11,84 4,55 1966 745,42 212,77 43,63 38,21 25,480 287 12,71 4,16 1967 763,68 194,72 47,28 33,96 18,772 285 11,22 3,95 1968 785,34 180,18 50,46 31,73 15,157 266 10,85 4,07 1969 806,71 200,44 44,65 36,30 24,692 262 10,70 3,70 1970 829,92 232,07 40,39 40,97 36,808 289 11,29 2,95 1971 852,59 243,61 38,90 42,90 41,731 293 12,09 3,30 1972 871,77 245,02 37,83 44,10 41,281 276 14,69 3,88 1973 892,11 259,83 38,22 44,00 43,812 297 22,05 5,04 1974 908,59 258,42 39,27 43,23 46,319 303 29,22 5,94 1975 924,20 270,83 37,79 46,02 54,494 308 29,04 5,71 1976 937,17 258,97 38,73 45,57 52,394 306 26,41 5,55 1977 949,74 278,39 34,53 47,77 54,830 298 27,25 5,28 1978 962,59 312,70 32,76 49,40 66,872 317 35,50 5,57 1979 975,42 343,44 36,60 48,60 69,936 340 45,46 6,32 1980 987,05 373,64 35,95 48,92 74,590 325 57,00 7,35 1981 1000,72 393,82 38,29 46,69 66,751 325 73,53 9,33 1982 1016,54 418,87 40,47 45,75 84,531 349 77,13 9,72 1983 1030,08 459,77 40,56 45,10 95,196 376 86,01 9,25 1984 1043,57 541,60 39,83 44,52 118,518 390 120,10 10,27 1985 1058,51 663,20 35,50 45,06 168,051 358 206,67 11,52 1986 1075,07 731,02 34,61 45,46 197,850 364 258,04 13,77 1987 1093,00 852,06 33,87 45,76 229,799 369 308,42 15,78 1988 1110,26 1057,23 32,53 46,14 276,276 355 382,20 15,05 1989 1127,04 1169,08 31,94 47,37 253,548 362 415,59 14,85 1990 1143,33 1258,08 34,76 45,95 291,864 390 556,01 20,76 1991 1158,23 1429,51 31,82 46,52 362,811 376 722,58 23,11 1992 1171,71 1693,68 29,20 49,41 527,364 378 912,36 23,58

Erläuterungen: Angaben in Preisen des jeweiligen Jahres

Quelle: Statistisches Jahrbuch der VR China, eigene Zusammenstellung

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Page 121: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Tab. lOb: Jährlicher Zuwachs der Arbeitsproduktivität in der Industrie und der Löhne der industriellen Beschäftigten (in %, Basisjahr=1952)

Jahr ArbeitsproduktivMt Löhne 1953 27,1 6,6 1954 38,0 7,7 1955 45,3 4,4 1956 96,8 16,3 1957 119,5 16,7 1958 64,3 -5,8 1959 71,3 -8,2 1960 130,2 ·7,3 1961 51,3 -18,7 1962 69,6 -12,9 1963 124,6 -2,6 1964 180,8 2,8 1965 237,9 3,6 1966 292,3 2,5 1967 213,7 5,0 1968 177,1 3,9 1969 247,9 2,5 1970 315,7 -1,7 1971 303,8 -3,7 1972 286,4 -0,8 1973 292,6 -1,7 1974 270,0 -3,8 1975 295,0 -4,2 1976 246,8 -4,9 1977 276,1 -7,1 1978 283,9 -0,9 1979 265,0 6,6 1980 285,5 12,5 1981 272,6 10,4 1982 281,4 10,0 1983 306,8 10,1 1984 345,3 29,4 1985 401,4 35,5 1986 416,3 46,1 1987 452,0 48,7 1988 524,8 48,5 1989 554,8 43,3 1990 589,4 53,1 1991 653,1 63,1 1992 800,1 71,9

Quelle: Statistisches Jahrbuch der VR China, 1993, Tab. 2-46.

Erläuterung: Zuwachs der realen Arbeitsproduktivität (Nettowertschöpfung je Beschäftigten) und der jährlichen Reallohnsumme pro Beschäftigten in der Industrie in % mit dem Basisjahr 1952.

122

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('10) 70

20

10

Tab. lOe : Anteil der Sektoren an den gesamten Grundautbau-Investitionen (in %)

Periode Landwirtschaft Leichtindustrie Schwerindustrie

1. FJP· 7,1 6,4 36,2

2.FJP 11,3 6,4 54,0 1963-1965 17,6 3,9 45,9

3.FJP 10,7 4,4 51,1

4.FJP 9,8 5,8 49,6

5. FJP 10,5 6,7 45,9 6.FJP 5,0 6,9 38,5 7.FJP 3,3 7,5 44,3

Erläuterungen: *: FJP = Fünfjahresplan, FJP "Fünfjahresplan", 1. FJP 1953-57,2. FJP 1985-62, 3. FJP 1966-70,4. FJP 1971-75, 5. FJP 1976-80,6. FJP 1981-85, 7. FJP 1986-90, 8. FJP 1991-95.

Quelle: Statistisches Jahrbuch der VR China, 1993, Tab. 5-18.

Abbildung 18: Der Anteil der Schwerindustrie am industriellen Output, VR China und Südkorea

1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990

Quelle: Watanabe Toshio/Shirasego Tetsuya, Zusetsu Chügoku keizai, Tokyo 1992, S.

Daß diese Entwicklung dennoch in eine Sackgasse führte, lag vor allem an den gravierenden strukturellen Verzerrungen. China durchlief eine forcierte Industrialisierung, die es hinsichtlich der Wirtschafts struktur sehr früh zu ei­nem Land mit einem Anteil der Schwerindustrie werden ließ, der deutlich hö-

123

Page 123: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

her war, als dies normalerweise für ein Land mit vergleichbaren Pro-Kopf­Einkommen der Fall ist (Abbildung 18).

Diese Überindustrialisierung geschah nun nicht nur zu Lasten der Land­wirtschaft und damit auch der ländlichen Bevölkerung. Zwar wurden die Städte vor den größten wirtschaftlichen Katastrophen der Ära Mao geschützt, doch bestand auf der anderen Seite ein Ziel des staatlichen Ankaufs von Agrarprodukten darin, über die Kontrolle der Verbraucherpreise auch insge­samt das Lohnniveau niedrig halten zu können, also den "Lohnfonds" nach der klassischen, auch marxistischen Theorie der Akkumulation (siehe Abbil­dung 13 und Tabelle lOb). Ein entscheidender Aspekt der sektoralen Un­gleichgewichte während der Ära Mao bestand also auch darin, daß die Kon­zentration auf die Schwerindustrie innerhalb des industriellen Sektors kon­sumnahe Industriezweige stark vernachlässigte (Tabelle lOc). Auf diese Wei­se wurden auf der einen Seite der städtischen Lebensstandard negativ beein­flußt und auf der anderen Seite die ländlichen Entwicklungspotentiale stark beschränkt, denn genau in diesem Sektor hätte der ländliche Strukturwandel ansetzen können, also bei der Schaffung sog. "leichtindustrieller" Produk­tionskapazitäten. Obgleich der Spätmaoismus durchaus den Gedanken der ländlichen Industrialisierung propagierte. legte er einer Entfaltung dieses Po­tentials dadurch Fesseln an, daß die ländlichen Märkte unterdrückt blieben. Dies hatte noch den zusätzlichen negativen Effekt, daß regionale Disparitäten der Entwicklung verschärft wurden, denn die verschiedenen Gebiete des ländlichen Raumes durften sich nicht mehr gemäß ihrer komparativen Vor­teile spezialisieren, mußten also innerhalb der Landwirtschaft ähnliche, zum Teil den lokalen Bedingungen gar nicht angepaßte Anbaustrukturen bilden, und durften gleichzeitig ihre Nebenwirtschaft nicht ausbauen.

Positive Effekte für die wirtschaftliche Entwicklung strahlte der Maoismus vor allem in jenen Bereichen aus, in denen mobilisatorische Methoden rasche Erfolgen erzielen, wie etwa hinsichtlich der Verlängerung der Lebenserwar­tung als Ergebnis von Hygiene- und Gesundheitskampagnen bei gleichzeiti­ger Unterdrückung jener Konsumformen, die langfristig der Gesundheit ab­träglich sind. Hinzu kommen Erfolge im Bereich des Aufbaus landwirtschaft­licher Infrastruktur. Diesen steht aber die Vernachlässigung städtischer Infra­struktur gegenüber: Auch hier zeigt sich, daß eine einfache Kontrastierung zwischen Benachteiligung der Landwirtschaft und Bevorzugung des städti­schen Raumes nicht richtig wäre. Vielmehr zog die einseitige Konzentration auf die Schwerindustrie auch erhebliche Mittel etwa aus dem Aufbau einer leistungsfähigen urbanen Infrastruktur ab. Dieses negative Erbe ist für Städte wie Shanghai bis heute eine große Belastung.

Schließlich ist noch zu betonen, daß die maoistische Investitionspolitik ei­ne ausgeprägte regionale Komponente aufwies. Die im dritten Kapitel skiz­zierten Unterschiede zwischen den Wirtschaftsräumen Chinas hängen we­sentlich damit zusammen, daß die Schwerindustrialisierung eigentlich nur in

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bestimmten Gebieten ausgesprochen einseitig griff, wie vor allem in den Re­gionen der "Dritten Front", zu der unter anderem Sichuan gehörte (Abbil­dung 19a und b).

Abbildung 19 a,b: Die "Dritte Front Regionen" und der Anteil Sichuans am staatlichen Investitionsvolumen

Abbildung 19a: Die "Dritte Front"-Regionen

Die Wirtschaftspolitik des Maoismus war in hohem Maße militärstrategisch geprägt. auf der anderen Seite blieben wichtige küstennahe Gebiete wie Guangdong und Fujian kaum von den staatlichen Industrialisierungspro­grammen berührt, weil dort keine Industriekapazitäten geschaffen werden sollten, die militärisch leicht angreifbar gewesen wären. So traten die ver­schiedenen Regionen Chinas mit einem ganz unterschiedlichen Erbe der wirt­schaftlichen Entwicklung des Maoismus in die Reformdekade ein. Dieses Er­be liegt an der Wurzel des chinesische Regionalismus der Gegenwart.

125

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Abbildung 19b

(%)

16

15

14

13

12

11

10

9

8

7 ·

6

5 4~~~-L~~-L~-L~-L~-L~~~~~~~-L~~~~~~

1953 58 61 65 12 77 85 91

L- L L- L-I __ '-- &..-, __

Erläuterungen: 19b bildet den Anteil Sichuans am gesamten volkswirtschaftlichen Investitionsvolumen ab. Die Klammern fassen die Jahre nach Perioden (FJP, siehe Tabelle lOc) zusammen. Der Spitzenwert liegt in der Phase der Kulturrevolution.

Quelle: Barry Naughton, The Third Front: Defence Industrialization in the Chinese Interior, in: The China Quarterly, No. 115, 1988, S.354, und Maruyama Nobuo, Changjiang ryüiki no keizai hatten, Tokyo 1993, S. 291

Literaturempfehlungen

Einen umfassenden Überblick zur Wirtschaftsentwicklung des maoistischen China gibt Carl Riskin, China's Political Economy - The Quest for Develop­ment Since 1949, Oxford 1987.

Zur moralischen Dimension des Maoismus und seiner Wirkung auf lokale Verhältnisse ist nach wie vor klassisch Richard Madsen, Morality and Power in a Chinese Village, BerkeleylLos AngeleslLondon 1984. Es gibt inzwi­schen eine umfangreiche Literatur zur Geschichte des ländlichen Raumes nach 1949, da seit 1978 zeitweise intensive Feldforschungen möglich waren. Repräsentativ für diese Literatur möge sein Jack M. und Sulamith H. Potter, China's Peasants, The Anthropology of a Revolution, Cambridge et al. 1990.

126

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Zu den unterschiedlichen Strömungen in der chinesischen Ideologie Wirt­schaftswissenschaft und ihrer Bedeutung für die Reformen nach 1978 siehe Carsten Herrmann-Pillath, Die Wechselwirkung zwischen Reformtheorie und Reformpolitik in der Volksrepublik China, in: Zeitschrift für Wirtschaftspo­litik Jg. 36(1), 1987, S. 69-99.

Zur Problematik der Finanzierung der chinesischen Industrialisierung gibt es viele widerstreitende Positionen, die vor allem mit der geeigneten Abgren­zung der "Landwirtschaft" zusammenhängen, hierzu vor allem Katsuji Naka­gane: Intersectoral Resource Flows in China Revisited: Who Provided Indu­strialization Funds?, in: The Developing Economies, Vol. XXVII (2), 1987, S. 146-173, und Sheng Yuming: The Capital Sources ofChina's Industriali­zation, in: The Developing Economies, Vol. XXXI (2), 1993, S. 173-207. Das maoistische Planungssystem erläutert ausführlich Thomas P. Lyons, Planning and Inter-Provincial Co-ordination in Maoist China, in: The China Quarterly No. 121, 1990, S. 36-60. Umfassend zur damaligen und späteren Bedeutung des Systems "regionaler Eigentumsrechte" aber David Granick, Chinese State Enterprises: A Regional Property Rights Analysis, Chicago. Zur chinesischen "danwei" kurz und aussagekräftig Hebel, Jutta (1990): Der Betrieb als kleine Gesellschaft, in: Soziale Welt 1990, S. 222-242. Tiefer und breiter zu den Verhältnissen des Spätmaoismus Andrew G. Walder, Com­munist Neo-Traditionalism: W ork and Authority in Chinese Industry, Berke­ley et al. 1987. Vergangenheit und Gegenwart des chinesischen Fiskus wer­den ausführlich diskutiert in Carsten Herrmann-Pillath, Institutioneller Wan­del, Macht und Inflation in China, Ordnungstheoretische Analysen der politi­schen Ökonomie eines Transformationsprozesses, Baden-Baden 1991, S. 533-575.

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Page 127: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

5. Die Ära Deng Xiaoping: Transformation durch Evolution

Mit dem Tode Mao Zedongs im Jahre 1976 war die übermächtige Persön­lichkeit der chinesischen Politik von der Bühne getreten, die nach 1949 im Grunde sämtliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen nach ihren Präferenzen bestimmt hatte. Nach einem Interregnum trat Deng Xiao­ping an seine Stelle und nimmt eigentlich bis heute eine ähnlich beherr­schende Position ein, ohne allerdings noch mit formalen Kompetenzen aus­gestattet zu sein. Diese Dominanz einzelner Personen ist ein tief in der politi­schen Kultur Chinas verwurzeltes Prinzip und wird heute nur deshalb nicht ähnlich stark wie im Maoismus akzentuiert, weil die Politik Deng Xiaopings nicht explizit den Konflikt sucht und in vielerlei Hinsicht vorhandene gesell­schaftliche Tendenzen nur unterstützt und bekräftigt, wie zuletzt anläßlich seiner "Reise nach Süden" vom Frühjahr 1992, als Deng die Phase konserva­tiver Austeritätspolitik nach dem Juni 1989 durch ein persönliches Votum beendete und China in den Zustand eines lang anhaltenden Booms versetzte. Werden Maoismus und "Dengismus" einfach miteinander konfrontiert, so darf diese Kontinuität nicht übersehen werden. Auch unter der chinesischen Bevölkerung wird sie prinzipiell gesehen, und Mao Zedong selbst genießt auch heute noch ein Ansehen, wie es eher manchen mythischen Gestalten zu­kommen möge, die ehrfurchtgebietend, aber auch gefährlich sind. Mao als Vereiniger des chinesischen Reiches nach den langen Jahren des Zerfalls und des Bürgerkrieges genießt eine ähnliche historische Ambivalenz wie der grausame Gründer des chinesischen Reiches 221 v. Chr., Qin Shihuangdi.

Der nun in Frage stehende Zeitraum der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft ist allein wegen seiner Länge von Bedeutung: Chinas Weg zur Marktwirtschaft währt inzwischen 16 Jahre und ist noch nicht abge­schlossen. Dieser Zeitraum ist ungefähr so lange wie die Zeit zwischen dem "Großen Sprung" und dem Tode Mao Zedongs und umfaßt also einen be­trächtlichen Teil der Geschichte der VR China. Wird außerdem bedacht, daß die fünfziger Jahre eine Zeit des Aufbaus befehls wirtschaftlicher Strukturen waren, und daß in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre institutionelles Chaos durch die Kulturrevolution herrschte, dann ist offensichtlich, daß Chi­nas Reformen eigentlich gar nicht als "Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft" begriffen werden sollten, da sie Teil eines umfassenden und anhaltenden Prozesses institutioneller Veränderungen seit 1949 waren - in gewisser Weise ganz im Sinne der "permanenten Revolution" des Maoismus.

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Es gab natürlich bestimmte Institutionen, die vergleichsweise stabil waren, wie beispielsweise die Struktur der staatlichen Verwaltungen auf der unteren und mittleren Ebene oder bestimmte große Staatsunternehmen, und die durch die kommunistische Partei geschaffen worden waren. Bei anderen ähnlich stabilen Institutionen WIe etwa den ländlichen Kollektiven muß aber benick­sichtigt werden, daß die formalen Institutionen des Kommunismus in enger Wechselwirkung mit vorher gewachsenen Strukturen standen (wie Familie und Verwandtschaft), die zum einen den tatsächlichen Gehalt formaler InstI­tutionen prägten und die zum anderen eigentlicher Anlaß für die beobachtete Stabilität sein konnten. Andere Institutionen waren aber weit weniger stabil WIe etwa das System der Produktionsplanung und der statistische Apparat.

Die relatIve Kürze des Zeitraumes, währenddessen die verschiedenen insti­tutionellen Veränderungen in der VR ehina stattgefunden haben, bedeutet al­so zum emen, daß viele InstitutIonen und Organisationert, die mit den Re­formen erneut verändert werden sollten, noch einen hohen Grad der Flexibili­tat aufwiesen, wie etwa VIele ländliche Industrieunternehmen, die ohnehin erst in den siebziger Jahren gegrundet worden waren und die zwar Teil der admmistrativen Strukturen der Volkskommunen waren, mcht aber in das Sy­stem regionaler, geschweige denn zentraler Planung eingebettet waren. Zum anderen aber wirkte auch das Erbe der Zeit vor 1949 fort, denn allem: Wer im Jahre 197860 Jahre alt wurde und in Entscheidungspositionen rückte, war im Jahre 1949 30 Jahre alt gewesen. Wer wiederum 1978 30 Jahre alt war und nun im Laufe der 16 Jahre Reformpolitik allmählich in Führungspositio­nen aufrückte, gehörte zu den aktiven Kräften der Kulturrevolution, kannte also im Grunde kein wirklich stabiles institutionelles Gefüge von Wirtschaft lHld Gesellschaft, das entsprechend individuen internalisiert hätte sein können.

Insofern muß die Kennzeichnung der chinesischen Entwicklung als Weg von der ,,Planwirtschaft" zur ,,Marktwirtschaft" als eher irreführend gelten. Wichtig ist aber, daß die chinesische Wirtschaftspolitik zu Beginn der Refor­men tatsächlich diese Annahme zugrunde legte. Das heißt, sie ging minde­stens während der ersten Hälfte der achtziger Jahre eigentlich von einer fal­schen Definition der Situation aus. Diese falsche Situationsdefinition hatte insofern wesentliche Folgen für die Wirtschaftspolitik, als eine Fülle uner~ warteter Konsequenzen auftraten, wenn Maßnahmen ergriffen wurden, die sich an diesem falschen Bild onentierten. Grob gesagt, liegt im Kern all die­ser unerwarteten Wirkungen die fehlerhafte Annahme der ersten Phase der chinesischen Politik, daß es darum gehe. eine zentrale Planwirtschaft sowjeti .. sehen Typs zu reformieren. Im Verlauf der tatsächlichen Erfahrungen wurde dieses Bild schrittweise korrigiert, doch hatte sich gleichzeitig das System bereits von seinem ursprünglich verkannten Ausgangspunkt fort entfernt. Für ein Verständnis der Dynamik der Reformen ist es also geboten, die genaue Abfolge und Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Maßnahmen zu analysieren.

129

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5.1. Die Anfangsphase, 1978-1983

Die chinesische Reformpolitik wurde folgerichtig genau in jenen beiden Be­reichen eingeleitet, wo einerseits die Probleme am größten waren, anderer­seits aber der erwartete Effekt ausgeprägt sein mußte, nämlich in der Land­wirtschaft und in der Außenwirtschaft. Zu beachten ist aber, daß diese Schrit­te noch überlagert waren von dem Versuch der Interimsführung nach dem Tode Maos, unter Hua Guofeng einen sehr raschen Wachstums schub durch eine expansive Investitionspolitik und den umfangreichen Import von Kapi­talgütern aus dem Westen, vor allem aus Japan, anzustoßen. Diese bis 1979/ 80 dauernde Phase hatte ernsthafte Störungen des Haushaltsgleichgewichtes und der Außenhandelsposition Chinas zur Folge, auf die zunächst mit einer Rezentralisierung reagiert werden mußte. Das heißt, innerhalb des Planungs­systems wurde die Reform nicht mit einer Liberalisierung eingeleitet, son­dern mit einer Zentralisierung, namentlich wieder im Bereich der Distribution.

Wenn man die erste Phase der Agrarreformen von 1978 bis 1982" abgrenzt, dann lassen sie sich im wesentlich auf zwei Maßnahmen reduzieren, nämlich

- erstens, die Anhebung der Ankaufpreise innerhalb des staatlichen Ankaufsystems bei gleichzeitig schrittweiser Öffnung der vorher unterdrückten ländlichen Märkte, und zweitens, die Einführung eines Pachtsystems, bei dem die Pflichten der einzelnen bäu­erlichen Haushalte gegenüber dem landbesitzenden Kollektiv in Verträgen festgelegt wer­den, die ihnen im Gegenzug die Nutzungsrechte am Land übertrugen.

Diese Phase war formal mit der Abschaffung der Volkskommunen durch die Verfassungsänderung von 1982 abgeschlossen, in der wieder die traditionelle Unterscheidung zwischen Dörfern und ländlichen Marktstädten eingeführt wurde. Da, wie schon gesehen (Abbildung Sb), die Bauern gleichzeitig mit einer rasch zunehmenden Menge an Kunstdünger versorgt wurden, die aus chemischen Komplexen stammten, die noch in der zweiten Hälfte der siebzi­ger Jahre importiert worden waren, war eine rasche Ausweitung der Agrar­produktion die notwendige Folge. Diese positiven Produktionswirkungen der Landwirtschaftspolitik hielten bis Mitte der achtziger Jahre an (Tabelle 11).

Während die Änderungen des Ankaufssystemlt zentral gesteuert wurden, war der Übergang zum sog. "ländlichen Haushaltsverantwortungssystem" dezentral organisiert und ging teilweise auf spontane und autonome Maß­nahmen auf lokaler und regionaler Ebene zurück. Allerdings wäre es verfehlt, dies als selbständiges Handeln der Bauern zu deuten, sondern vor allem wa­ren die ländlichen Kader die entscheidenden Personen, die gewissermaßen mit vorwegnehmenden Gehorsam die längst erkennbaren Veränderungen an der Machtspitze der Partei in lokale Politik umsetzten. Das heißt aber, daß die Reform mit keiner Veränderung der lokalen Herrschaftsverhältnisse einher ging, die Bauern also im wesentlichen passive Objekte von Kaderentschei­dungen blieben.

130

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Wesentliche Schritte im Außenwirtschaftsbereich waren die Gründung der berühmten Sonderwirtschaftszonen Südchinas und die Dezentralisierung der Außenhandelsorganisation in Gestalt von Außenhandelsgesellschaften der Provinzen. Dabei ist freilich wesentlich, daß vor allem Guangdong, wo drei der Sonderwirtschaftszonen befindlich sind, zusätzliche, weitergehende Spielräume erhielt. Dies betraf dann auch frühzeitig die Binnenwirtschaftspo­litik, wo Guangdong etwa die Preise für landwirtschaftliche Güter früher li­beralisieren durfte als andere Provinzen. Die Gründung der Sonderwirt­schaftszonen war lange Zeit nicht mit unmittelbar positiven Wirkungen für die chinesische Wirtschaft verbunden, unter anderem weil sie zunächst den Zentralstaat zu erheblichen Aufwendungen etwa im Infrastrukturbereich zwangen. Allerdings müssen diese Maßnahmen vor allem auch vor dem Hin­tergrund einer aktiven Politik nationaler Wiedervereinigung bewertet werden, denn die Lokalisierung der Zonen war eindeutig darauf hin orientiert, einen geeigneten Rahmen für die wirtschaftliche Integration des Festlandes mIt Hong Kong, Macau und Taiwan zu schaffen, gleichsam in Gestalt von "Schleusen" zwischen dem "kapitalistischen und dem kommunistischen China".

Tabelle 11: Ergebnisse der chinesischen Agrarpolitik, 1978-1993

Jahr 2 3 4

1978 32,76 8,1 1979 36,60 7,5 1,34 1980 35,95 1,4 1,80 1981 38,29 5,8 2,28 1982 40,47 11,3 3,73 1983 40,56 7,8 0,96

1984 39,83 12,3 -0,89 1985 35,50 3,4 4,30 0,90 1986 34,61 3,4 0,48 0,38 1987 33,87 5,8 2,95 1,32 1988 32,53 3,9 0,31 1,90 1989 31,94 3,1 -8,92 3,13 1990 34,76 7,6 9,60 2,76 1991 31,82 3,7 0,94 2,55

1992 29,20 6,4 5,95 -0,44

1993 25,39 0,08

Erlauterungen: 1: Anteil der LandWirtschaft am Volksemkommen (m %), 2: Wachstumsrate der landwlrtschafthchen ProduktIOn (m %), 3: Wachstumsrate Pro-Kopf-Emkommen der Bauern (m %), 4: Wachstumsrate der Beschafugten m der LandWirtschaft (m %), 5: Wachstumsrate Pro-Kopf-GetreldeproduktlOn (m %),

5

7,54 -4,62 0,01 7,15 8,62 4,23

-7,87 1,93 1,08

-3,74 1,94 9,26

-6,23 0,53 1,88

6: RelatIOn des Pro-Kopf-Konsummveaus der Nicht-Bauern und Bauern.

6

2,90' 2,67* 2,71' 2,50' 2,36' 2,22' 2,21' 2,07 2,17 2,47 3,05 2,63 2,82 2,86

* berechnet aufgrund der laufenden Preise, da die PrelSlndlzes der Nlcht-Bauern- und Bauernhaushalte noch mcht erfaßt wurden.

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Angesichts des fiskalischen und makroökonomischen Kontrollverlustes durch den "Sprung nach Westen" mußte die chinesische Führung zu Beginn der achtziger Jahre weitergehende Reformmaßnahmen ins Auge fass n. Eine reibende Kraft aller weiteren Schritte war stets die preblemstische Haus­

haltslage. Hier ist vor allem auf die rasche und starke Bxpansion der Preis­subventionen hinzuweisen, denn die Anhebung der staatlichen Ank fpreise wurde nicht an die städtischen Konsumenten weitergegeben, um die dortige Lage nicht politisch zu destabilisieren, hatte es doch ohnehin 1979/80 einen Inflationsschub gegeben. Gleichzeitig war auch die Lage bei den industriel­len Produzenten problematisch, wo ebenfalls umfangreiche Subventionen in bestimmten Bereichen erforderlich waren, um die niedrigen Absatzpreise auszugleichen, wie im Energiesektor. Damit wurden zwei weitere Maßnah­men unabdingbar, nämlich zum einen die schrittweise Öffnung der Konsum­gütermärkte, um letztendlich die Last der Preissubventionen zu verringern, und zweitens, die Reform der staatlichen Industrie. Beide Maßnahmen sind bis heute nicht abgeschlossen, sondern haben einen verschlungenen Weg mit Fort- und Rückschritten genommen.

Die Reform der staatlichen Industrie geschah bis 1984 nicht im Rahmen ei­nes umfassenden Programms, sondern in Gestalt von sogenannten Experi­menten, die zu Beginn auch stark regional begrenzt waren. Bezeichnend ist, daß Sichuan eine Schlüsselrolle spielte, wo ein Schwerpunkt der "Dritten Front" des Maoismus gelegen hatte und entsprechend die strukturellen An­passungsprobleme am größten waren. Die Reformmaßnahmen betrafen vor allem neue Verfahren des Gewinneinbehaltes und der Besteuerung, um die Finanzautonomie der Betriebe und damit die Motivation der Betriebsleitun­gen zu erhöhen. Hinzu kam in dieser Zeit aber auch eine aktive Rolle des Staates bei der Strukturpolitik, indem nämlich über das staatliche Finanzsy­stem eine Verlagerung der Investitionsschwerpunkte von der Schwerindustrie hin zur Leichtindustrie erfolgte, also Investitionen in konsumnahen Indu­strien besonders gefördert wurden. Begleitet wurden solche Maßnahmen von einer schrittweisen Liberalisierung des Lenkungssystems bei Investitionen insgesamt, indem die Entscheidungskompetenzen dezentralisiert wurden, al­so lokale Entscheidungsträger vermehrt berechtigt waren, Investitionsprojek­te durchzuführen, soweit diese eine bestimmte Größe nicht überschritten.

Dieser letzte Punkt muß nun in engem Zusammenhang mit der schrittwei­sen Liberalisierung der Konsumgütermärkte gesehen werden. Das herkömm­liche chinesische Distributionssystem kannte recht komplizierte Einteilungen der Güter in Materialien, also Produktionsmittel, einerseits und Waren, also Konsumgüter, andererseits. Innerhalb dieser Gruppen gab es wiederum drei Kategorien, bei denen jeweils die Zuständigkeit für die Distribution bei un­terschiedlichen Instanzen lag, mit unterschiedlich starkem Grad der zentralen Kontrolle und der preispolitischen Regulierung. Grob gesagt, sind bei Gütern der jeweiligen Kategorie 1 einige Bereiche der chinesischen Wirtschaft bis

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heute noch unvollständig liberalisiert, wie etwa im Energiesektor oder bei der Baumwolle. Bei den jeweiligen Gütern der Kategorie 3 setzte aber der Libe­ralisierungsprozeß schon zu Beginn der achtziger Jahre ein. Insofern hatte die Struktur des herkömmlichen Distributionssystems eine Art automatische Se­quenz von Reformmaßnahmen zur Folge, da es natürlich außerdem die Mög­lichkeit gab, Güter von einer Kategorie in die andere umzuklassifizieren.

Tabelle 12: Liberalisierung der Märkte und Preise, 1978-1993

1978 1983 1985 1988 1990 Ankauf von Agrarprodukten - jeweiliger Anteil

Marktpreisen 6 48 40 57 52 Richtpreisen 2 14 23 19 23 Festpreisen 92 68 37 24 25

Einzelhandel - jeweiliger Anteil von

Marktpreisen 3 16 34 49 45 Richtpreisen 11 19 22 25 Festpreisen 97 73 47 29 30

Eigentumsstruktur der Industrieproduktion

Staatlich 78 73 65 57 55 Kollektiv 22 26 32 36 36 Sonstige 2 5 7

Anzahl der zentral verteilten Rohstoffe bzw. Investitionsgüter

256*

Industrieller Output - Anteil der Allokation durch

~rkt m 00

Plan 80 20

*: 1979.

1992

90 10

48 38 11

19

88,3 11,7

Quelle: Statistisches Jahrbuch und Wirtschaftsjahrbuch der VR China, verschiedene Jahrgänge, und Harry Naughton, Reforming a Planned Economy: Is China Unique?, in: C.H. Lee!H. Rei­sen, Hrsg., From Reform to Growth: China and the Other Countries in Transition in Asia and Central and Eastern Europe, OECD, Paris 1994, S. 54.

Von den Maßnahmen der Liberalisierung der Distribution sollte allerdings auch deutlich die Frage der Preisliberalisierung pnterschieden werden (Tabel­le 12). Wenn etwa bereits recht früh bestimmte Güter wie Gemüse oder Arm­banduhren frei produziert und verteilt werden durften, also beispielsweise auf den neu entstehenden ländlichen und städtischen Märkten verkauft wurden, dann bedeutete dies nicht zwingend, daß dann auch der Preis frei festgesetzt werden durfte. Gerade in dieser Hinsicht gab es recht ausgeprägte Schwan­kungen der Politik, weil die chinesische Führung immer wieder Preiskontrol-

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Page 133: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

len einsetzt, um inflatorische Tendenzen zu unterdrücken - zuletzt wieder seit dem Winter 1993/94.

Dennoch eröffnete die Liberalisierung des Distributionssystems bei gleich­zeitiger Dezentralisierung der Investitionspolitik und strukturpolitischer Schwerpunktverschiebung vielfältige Möglichkeiten für kleinere und mittlere Unternehmen der Leichtindustrie, in neue Produktlinien einzutreten und die wachsende Nachfrage nach Konsumgütern zu befriedigen. Die Gewinnmög­lichkeiten waren nicht zuletzt deshalb groß, weil die Preisanpassungen bei ei­nem gleichzeitig milden inflatorischen Trend zu beachtlichen Spannen in dem Fall führten, wenn die Unternehmen die weiterhin administrativ niedrig gehaltenen Energie- und Rohstoffpreise verrechnen konnten. Bereits zu Be­ginn der achtziger Jahre hatte dies eine Welle des regionalen Protektionismus bei gleichzeitiger Ausweitung der Investitionsaktivität zur Folge, denn die lokalen und regionalen Behörden versuchten natürlich, im eigenen Zustän­digkeitsbereich Industrien mit größeren Wertschöpfungspotential zu schaf­fen. Damit entstand die typische Konstellation der Reformperiode, nämlich der fortlaufende Politikkonflikt zwischen der Zentralregierung und den re­gionalen Instanzen insbesondere über die Verteilung von Investitionsmitteln.

Ein Faktor, der die Entstehung dieses Konfliktes förderte, war die Fortset­zung der finanzpolitischen Reformen, die zu dem ältesten Reformbereich ge­hören und eigentlich in Kontinuität mit der maoistischen Zeit durchgeführt wurden. Dies ist eines der wichtigsten Zeichen dafür, daß die Reformen lange Zeit - vermutlich bis in die jüngste Vergangenheit hinein - vor dem Hinter­grund einer prinzipiell unveränderten staatlichen Struktur und von unverän­derten bürokratischen Organisationsmustern stattfanden. 1981 wurde aus den vorherigen Reformexperimenten die Konsequenz gezogen, indem das sog. ,,Essen angetrennten Herden" eingeführt wurde, also im Prinzip die Auftei­lung von Einnahme- und Ausgabekompetenzen zwischen Zentrale und Pro­vinzen, allerdings innerhalb eines einheitlichen Budgets. Hauptziel der Maß­nahme war, durch eine verstärkte Autonomie der Provinzen bei gleichzeitig größerer Eigenverantwortung für die Budgetlage das Steueraufkommen ins­gesamt zu erhöhen, so daß ein aktiver Beitrag zur Verbesserung der Finanz­lage des Gesamthaushaltes erreicht würde. Diese Neuregelung überlagerte sich mit einem wichtigen Nebeneffekt der Reformexperimente bei den Staatsunternehmen: Solange nämlich der eigentumsrechtliche Rahmen nicht verändert wurde, bedeutete die Ausweitung der Selbstfinanzierungsmöglich­keiten der Unternehmen zunächst einmal nur, daß diese Mittel in lokale und regionale Haushalte der zuständigen Wirtschaftsverwaltungen eingestellt wurden, also die oben schon erwähnten "Fonds außer Bilanz". Dies führte zu einer raschen Ausweitung ihre Volumens weit über die klassischen Bestand­teile wie die Nebensteuern hinaus (Abbildung 20).

Beide Entwicklungen im fiskalischen Bereich setzten also starke Anreize für eine Ausweitung eigenständiger Investitionen lokaler und regionaler Ge-

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Abbildung 20: Die "Fonds außer Bilanz" als zweiter Staatshaushalt

(Billion yuan)

300

Primary budgets

200 ~

112.1

100 80.9

19.1

293:7

197374 75 76 77 78 79 198081 82 83 84 85 86 87 88 89 1990 Quelle: Kojima Reeitsu, The Growing Fiscal Authority of Provincial-Level Govemments in China, in: The Developing Economies, Vol. XXX(4), 1992, S. 315-346.

bietskörperschaften. Damit wurde bereIts während der ersten Hälfte der acht­zIger Jahre deuthch, daß emige weItreichende Veränderungen im makrooko­nomischen Steuerungsrahmen erforderlich waren. Dies betraf einerseits dIe Institutionen selbst, wIe etwa die Rolle des Bankensystems, aber auch mIkro­ökonomische Transmissionsmechanismen wie etwa die Rolle des Zinssatzes. Bislang waren InvestItIOnen stets aus dem Budget finanziert worden, und zwar ohne daß die MIttelverwendung mit Zinskosten belastet worden ware. Dies wirkte selbstverständlich zusätzlich verstärkend auf die InvestItIOnsta­tigkeit, denn Investitionsmittel innerhalb des staatlichen Budgets führten letz­ten Endes zu Gewinnen, die in die auBerbudgetären Fonds fließen, also nicht in das staatliche Budget im engen Sinne zurück. Dies lag im Interesse lokaler Instanzen, nicht aber im Interesse der für die Wirtschaftspolitik verantwortli­chen Zentralregierung.

135

Page 135: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

5.2. Der Weg zur Krise von 1989

In den Jahren zwischen 1983 und )985 wurden dann weitreichende Maß­nahmen zur Vertiefung der Reform "ergriffen, die freilich einen höchst unter­schiedlichen Wirkungsgrad aufwiesen, die zum Teil bis heute noch nicht vollendet sind, und die eine Fülle von unbeabsichtigten Nebenwirkungen er­zeugten. Dies betraf genau jene Bereiche, die vorher problematisch geworden waren, nämlich die Staatsunternehmen, das Kreditwesen und die Staatsfinan­zen. Programmatisch wurde dies mit einem erneuten Reformbeschluß des Zentralkomitees im Dezember 1984 festgeschrieben, der suggerierte, daß nach erfolgreichem Abschluß der Agrarreformen nun die Reform im urban­industriellen Sektor durchgeführt werden müsse. Tatsächlich aber erwies sich sehr bald, daß die Reform im Agrarsektor keinesfalls abgeschlossen war, denn die Landwirtschaft geriet in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in eine problematische Lage, die bis heute immer wieder zu Krisenszenarien Anlaß gibt. Gleichzeitig waren die Reformen im Kreditwesen aber auch von einer einschneidenden Veränderungen der Rahmenbedingungen für die länd­liche Entwicklung begleitet: Im Jahre 1984 setzte die rasche Expansion der ländlichen Industrie vom vorher geschaffenen Fundament aus ein, die zu ei­nem beträchtlichen Teil aus Bankkrediten finanziert wurde.

Die wichtigsten Maßnahmen zur Vertiefung der Reformen waren die schrittweise Dezentralisierung des Planungssystems bei gleichzeitiger Aus­weitung der Unternehmensautonomie im Staatssektor, die Umstellung von der Gewinnabführung zur Gewinnbesteuerung im Rahmen der Einkommen­steuer, die entsprechende Umstellung der fiskalischen Regulierungen, und die Gründung eines zweistufigen Bankensystems.

Was zunächst das erste betrifft, so bedeutet Dezentralisierung vor allem zweierlei, nämlich zum einen die tatsächliche Rücknahme von Kompetenzen zentraler Distributionsorgane entlang des erwähnten Schemas der Klassifika­tion von Gütern, zum anderen aber eine klare Differenzierung zwischen den Kanälen der Preispolitik. Dieses Modell der Marktliberalisierung wird als "Doppelgleissystem" bezeichnet, was nicht mit einem "Zwei-Sektoren-Mo­dell" zu verwechseln ist. Im Prinzip wurde hier der Ansatz der Landwirt­schaftsreform auf den industriellen Bereich übertragen: Die Unternehmen erhielten das Recht, nach Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber den staatlichen Instanzen zunächst einen beschränkten Teil ihrer darüber hinaus gehenden Produktion auf dem freien Markt abzusetzen - und das bedeutete auch, zu anderen Preisen. Die Lage bei der Preispolitik wurde rasch unüber­sichtlich, weil schon im alten System verschiedene Preise für gleiche Produk­te existiert hatten, etwa wenn die Unternehmen zwar planmäßig produzierte, aber nicht staatlich verteilte Ware über die erwähnten Quasimärkte absetzten. Mit dem Übergang zum Doppelgleissystem wurde dieser Tatbestand jedoch

136

Page 136: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Abbildung 21: Plan und Markt für verschiedene Gütergruppen

Million tons

A. Coal

TOla1 production

Unknown Local auihoriliC5 and othen 45'1.

800

700

600

SOO

400

300

200

100

/ .-. .... . ~t-.- .... /

/ . Unified

distribution Centra1 govcrnment 53'" 75'1,

1965

Million 10m

140

120 110

100

90 80

70 60

1978 1981 1984 1982 1985

C . Cemcnt

Local aUlhorities and others 69." 50

40

30

20

10

/ ~.-1"-'-' .-'

Unified distribution _. ,. Central government 25'1.

1978 1981 1984 1982 1985

Million tons

40

30

2

10

70

60

SO

20

10

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1965

63'10

1965

B. Rolle<! stee1

TOlal production

j!unknown

local aulhorities and others

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, distribution

Centra1 govcrnment 53"0

1978 1981 1984 1982 1985

D. Lumber

Total production

_~_ .............. Unknown ....,. local

.,-..... , "'J' authoritics " /~. and olhers

\41% . Unificd \ distribution

Central government 57%

1978 1981 1984 1982 1985

Erläuterung: Die sog. "einheitliche Verteilung" ist nicht mit einer "zentralisierten Vertei­lung" gleichzusetzen. Der Anteil der Zentralregierung ist immer schon begrenzt gewesen, ging aber mit Beginn der Reformen stetig zurück. Die Kategorie "Unbekannt" nahm bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre stetig zu und spiegelt Markttransaktionen wider.

Quelle: Kyoichi Ishihara, China's Conversion into a Market Economy, IDE, Tokyo 1993, S. 47

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verallgemeinert, und es gab jetzt vor allem auch mehrere Preise für Güter, die traditionell eigentlich stark zentralisiert verteilt worden waren, wie etwa Stahl (Abbildung 21).

In jedem Fall wurde der Preis zunehmend zu einem Aktionsparameter der Unternehmensführung. Unter den chinesischen Verhältnissen schloß dies die Wahl zwischen verschiedenen Allokationssystemen und Distributionskanälen ein. Als Konsequenz der Erfahrungen während der ersten Experimente zur größeren Finanzautonomie der Unternehmen bedeutete Dezentralisierung nun aber außerdem, daß der Unternehmensführung größere Handlungsspiel­räume eingeräumt werden sollten. Dies war vorher nicht der Fall gewesen. Allerdings diskutierten Wissenschaft und Politik intensiv über die möglichen Nachteile, die entstehen könnten, falls die Spielräume und auch die Verant­wortung der Unternehmen ausgeweitetet würden, bevor ein funktionsfähiges wettbewerbliches Preissystem eingerichtet worden ist. Insgesamt wurde aber die Preisliberalisierung im industriellen Bereich langsamer durchgeführt als erwartet, was mit vielen verzerrten Anreizen für die Entscheidungen des nun freier agierenden Managements verbunden war.

Mitte der achtziger Jahre bedeutete die Ausweitung der Entscheidungs­spielräume industrieller Unternehmen zunächst nur, daß damit begonnen wurde, eher kurzfristige Management-Verträge zwischen Betriebsdirektoren und den zuständigen Verwaltungen abzuschließen, in denen Rechte und Pflichten genannt und vor allem auch Leistungskennziffern verankert waren. Für diesen Ansatz wurde in der Tat auch derselbe Begriff gewählt wie für die entsprechende Maßnahme im landwirtschaftlichen Bereich, nämlich "Verant­wortungssystem" (zeren zhi). Bei genauer Betrachtung blieben die Freiräume der Manager aber in vielen Bereichen noch recht beschränkt. Die wichtigsten Probleme lagen in der Beziehung zwischen Verwaltung und Management und bei der Nutzung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Es zeigte sich nämlich bald, daß die Dezentralisierung des Planungssystems nicht un­bedingt uno actu auch zu einer Ausweitung der Entscheidungsspielräume des Managements führte, sondern häufig zunächst nur die Kompetenzen der nachgeordneten Verwaltungen (in der Regel also lokale Gebietskörperschaf­ten) erhöhte, die Planungsbefugnisse an sich zogen. Das heißt, häufig änderte sich an den tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen nichts, obgleich die zentralen Instanzen auf bestimmte Interventionsformen verzich­tet hatten. Damit wurde deutlich, daß ein Schlüsselproblem der chinesischen Reformen genau darin bestand, daß im alten System nachgeordnete staatliche Instanzen eine starke Position gegenüber der Zentrale besessen hatten, und daß entsprechend weder Planungsmaßnahmen noch Liberalisierungsschritte durch zentrale politische Akte durchsetzbar waren.

Davon unabhängig blieben aber die Entscheidungsspielräume des Manage­ments in einem Bereich weiterhin stark eingeschränkt, nämlich bei der Verfügung über die Arbeitskräfte. Erst Mitte der achtziger Jahre wurde vorsichtig damit

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begonnen, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren, indem eine besondere Kategorie von "Vertragsarbeitern" eingeführt wurde. Solche Maßnahmen blieben jedoch in der Staatsindustrie bis zu Beginn der neunziger Jahre marginal, so daß die Unternehmensleitungen weiterhin mit einer der wichtigsten Lasten der "danwei" konfrontiert wurden und damit einem zentralen Marktaustrittshemmnis.

Umgekehrt blieb aber auch der Markteintritt stark reguliert, denn zuminde­stens im Staatssektor behielten staatliche Instanzen weitreichende Kontroll­rechte im Bereich der Genehmigung von Investitionen. Mit der Bankreform von 1984 entstanden jedoch gerade in diesem Bereich weitreichende Diffe­renzen zwischen der staatlichen und der ländlichen Industrie: 1984 setzte die starke Expansion der ländlichen Industrie ein, indem Kredite aus den Staats­banken in diesen lukrativen Sektor umgelenkt wurden. Da diese Investitions­projekte typischerweise klein waren, entschieden, wenn nicht die Unterneh­men selbst, so doch die zuständigen lokalen Behörden weitgehend autonom und in Verhandlungen mit lokalen Zweigen der Banken. Die ehemaligen Kommuneverwaltungen waren ja nicht eng den staatlichen Behörden auf Stadt- oder Provinzebene unterstellt und begannen nun als "öffentliche Un­ternehmer" zu agieren. Diese Entwicklung war nicht unmittelbar von den Re­formmaßnahmen angestrebt worden, trug jedoch mittelfristig erheblich zur Veränderung der wirtschaftlichen Strukturen bei. Im Gegensatz zur krisen­haften Entwicklung der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre blieb das Wachstum der ländlichen Industrie robust, solange nicht kre­ditpolitische Restriktionsmaßnahmen die Finanzierung erschwerten. Aller­dings zeigte sich auch bald, daß die geographische Verteilung dieser Indu­strien keinesfalls gleich war, so daß weitreichende Unterschiede zwischen Provinzen und Kreisen entstanden.

Die Bankreform von 1984 hatte nicht nur in diesem Bereich einen großen Einfluß auf die Entwicklung der Reformen, obgleich sie im eigentlichen Kern, nämlich bei der Umgestaltung der Banken in Wirtschaftsunternehmen, so erfolgslos blieb, daß zehn Jahre später, 1994, die Bankreform erneut zu einem Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik erklärt worden ist, und, soweit ge­genwärtig absehbar, auch erneut auf erhebliche Umsetzungsprobleme stößt. 1984 wurde das Bankensystem endgültig als zweistufiges ausdifferenziert, indem zwischen sog. "Spezialbanken" mit einem bestimmten Zuständigkeits­bereich und der Zentralbank (der "Chinesischen Volksbank") unterschieden wurde, wobei letztere in der Theorie Bank der Banken werden sollte, also de­ren Kreditgeschäft refinanzieren und Überwachungs- und Garantiefunktionen ausüben sollte. Die Spezialbanken sollten schrittweise in Bankunternehmen umgewandelt werden, was vor allem bedeuten mußte, daß ihre bislang hoch­zentralisierte Struktur auf der Filial- und Zweigebene aufgeloCkert und libe­ralisiert werden mußte, daß die Kreditvergabe verstärkt nach unternehmeri­schen Kriterien orientiert sein sollte, und daß zwischen den Banken auch Marktbeziehungen ermöglicht werden, also ein Geldmarkt entwickelt wird. .

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Page 139: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Die tatsächlichen Folgen dieser wesentlichen Maßnahme sind komplex. Wie schon gesagt, blieben die Banken in vielerlei Hinsicht staatlich kontrol­liert, was aber konkret oft bedeutete, daß ihre Zweigstellen eng in die lokalen und regionalen Behörden eingebettet und damit auch ungeachtet formaler Kompetenzverteilungen politisch beeinflußbar waren. Banken wurden zu In­strumenten lokaler Wachstums- und Industriepolitik. Ihre durchaus gewach­senen HandlungsspieIräume wurden also nicht autonom genutzt, wie etwa bei der Kreditfinanzierung der ländlichen Industrie, die aus Sicht lokaler Ent­scheidungsträger Beiträge zu den "Fonds außer Bilanz" leistete, vor allem aber auch Arbeitsplätze im unterbeschäftigten ländlichen Raum schuf.

Abbildung 22: Unternehmen, Banken und lokale Verwaltungen

Taxes Fees

Enterprise

Administrative decrees

(i) Input supplies (ii) Lax enforcement of policies

and regulations

(i) For fixedasset investment (ii) For technical transformation

*_ : Direetion of flows of funds - --: Direetion of flows of poliey benefits ---~: Direction of orders

Quelle: Huang Yasheng, Wehs of loteTest and Patterns of Behavior of Chinese Local Economic Bureaucracies and Enterprises During Reforms, in: The China Quarterly No. 123, 1990, S. 453

Dies wäre prinzipiell nicht nachteilig gewesen, wenn die geplanten Reformen im Bereich der Zentralbank gegriffen hätten. Jedoch bestanden erhebliche Widerstände gegen die Einrichtung durchgreifender und kostenwirksamer Refinanzierungsinstrumente wie dem Wechselrediskont. Die tatsächlich ko­stenwirksamen Kreditzinsen blieben gering (und waren außerdem steuerab­zugsfähig), insbesondere im Vergleich mit der Inflationsentwicklung. Die Volksbank traf auch auf erhebliche Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Refinanzierungsplafonds, die im Übergangszustand des Systems eben­falls erhalten bleiben sollten. Ein Faktor war hier, daß die Volksbank nicht konsequent zur Zentralbank umgestaltet wurde, indem auch ihre Kreisfilialen abgeschafft worden wären. In vielen Städten und Kreisen gibt es weiterhin Zweigstellen der Volksbank, die ebenfalls in das Interessengeflecht der loka­len Behörden hineingezogen werden (Abbildung 22).

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Page 140: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Tabelle 13: Makroökonomische Entwicklungen, 1978-1993

Jahr 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

1975 8,3 0,2 -0,53 1976 -0,3 0,3 4,0 -2,96 1977 7,8 2,0 -2,4 3,10 1978 12,3 0,7 -6,6 1,01 1979 7,0 7,6 2,0 -4,5 9,7 5,31 0,84 -17,06 12,7

1980 6,4 7,9 6,0 1,9 24,1 6,07 -1,30 -12,75 13,4 0,314 1981 4,9 4,4 2,4 5,8 19,7 7,70 2,71 -2,55 3,8 0,310

1982 8,3 8,7 1,9 3,3 13,1 7,97 6,99 -2,93 5,7 0,328

1983 9,8 10,3 1,5 4,2 19,2 7,55 8,90 -4,35 4,5 0,349

1984 13,4 14,6 2,8 -0,4 42,4 8,34 8,22 -4,45 18,5 0,339

1985 13,1 12,7 8,8 17,2 17,0 9,45 2,64 2,16 13,2 0,353

1986 7,9 8,3 6,0 8,1 30,2 11,16 2,07 -7,05 14,0 0,377 1987 10,2 11,0 7,3 16,3 25,3 13,01 2,92 -7,96 6,0 0,409

1988 11,1 11,0 18,5 30,3 20,7 12,60 3,37 -7,86 4,6 0,448 1989 3,7 4,4 17,8 10,8 18,7 12,29 5,55 -9,23 -4,7 0,494

1990 5,1 5,6 2,1 -5,7 28,9 16,88 11,09 -13,96 10,6 0,519 1991 7,7 7,3 2,9 -0,9 26,7 19,30 21,71 -20,27 9,7 0,536 1992 15,4 13,0 5,4 2,4 31,3 19,19 19,40 -23,66 13,1 0,534 1993 15,1 13,4 14,7 12,5 24,0 16,84 21,20 -20,50 6,4 0,518

Erläuterungen: Das Defizit im Staatshaushalt entspricht offiziellen chinesischen Angaben und wird damit seit Mitte der achtziger Jahre immer stärker unterschätzt, da die chinesische Regierung die Einnahmen aus der Emission von Staatsschuldverschreibungen nicht zur Verschul­dung rechnet: Die tatsächliche Verschuldung liegt in den neunziger Jahren jährlich um das 3-4fache über den Regierungszahlen. Die Geldmenge M2 entspricht der Abgrenzung des IWF, also der Summe von Bargeldumlauf plus kurzfristige Spar- und Termineinlagen. I: Wachstumsrate des Volkseinkommens, real, % 2: Wachstumsrate des Bruttosozialproduktes, real, % 3: Inflationsrate nach dem Index der Lebenshaltungskosten 4: Inflationsrate nach dem Index der Preise freier Märkte 5: Wachstumsrate der Geldmenge (M2) in % 6: ExportlBSP (%) 7: Währungsreserven (Mrd. US$) (ohne Reserven der Bank of China) 8: Defizit des Staatshaushaltes, in offizieller Abgrenzung 9: Wachstumsrate der Lohnsumme, real 10: Private Spareinlagen im Verhältnis zu den gesamten Spareinlagen

Quelle: Statistisches Jahrbuch der VR China und R. I. McKinnon, Financial Growth and Macroeconomic Stability in China, 1978-1992 - Implications for Russia and Other Transitional Economies, in: Journal of Comparative Economics Vol. 18(3), 1994, S. 438-469.

Nach der raschen Zuspitzung makroökonomischer Ungleichgewichte 1979/ 80 trat die chinesische Wirtschaft nun in eine bis heute anhaltende Über­gangsphase im makroökonomischen Regime ein, die durch ein laufendes

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Stop-and-Go bei der Kreditexpansion mit entsprechender Beschleunigung der Inflation und der darauffolgenden Restriktion bis hin zur Austerität ge­kennzeichnet ist. Dabei muß die Zentralregierung weiterhin auf konventio­nelle administrative Methoden der Restriktion zurückgreifen, also vor allem Investitionsstops und direkte Kreditsperren bei den Spezialbanken. Sie ist al­so nicht in der Lage, indirekte und marktkonforme Regulierungsmechanis­men zu etablieren. Außerdem setzt sie gezwungenerweise bei demjenigen Bereich an, wo ihre Autorität am größten ist, nämlich bei Investitionen staat­licher Stellen. Im Konsumbereich ist sie zurückhaltend und steuert kaum ge­gen die anhaltend hohe Expansion der Löhne im urban-industriellen Sektor. Stabilisierend wirkt hier lediglich die sehr hohe Sparquote der chinesischen Bevölkerung.

Es wird also deutlich, wie die verschiedenen Maßnahmen in Teilbereichen ineinandergreifen und dabei Daten für andere Bereiche setzen, die bei der Gestaltung wirtschaftspolitischer Maßnahmen nicht antizipiert worden waren und daher oft zu anderen Folgen führen als erwartet. Dies gilt auch für den anderen großen Bereich makroökonomischer Reformen Mitte der achtziger Jahre, nämlich die Steuerreform (Abbildung 23).

Abbildung 23: Die Steuerreform in der Staatsindustrie (%)

90

80

70

60

50

30

10 1 o 1953 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990

Erläuterung: Die Strecke a gibt den Anteil der Steuerzahlungen staatlicher Unternehmen an den staatlichen Gesamteinnahmen wider, die Strecke b die direkten Gewinnabführun­gen dieser Unternehmen.

Quelle: Watanabe Toshio/Shirasego Tetsuya, Zu setsu Chügoku keizai, Tokyo 1992, S. 4

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Page 142: Marktwirtschaft in China: Geschichte — Strukturen — Transformation

Die Volksrepublik erhielt prinzipiell ein marktwirtschaftlich orientiertes Steuersystem, daß sich vor allem auf Einkommen- und Umsatzsteuern stüt­zen sollte. Auf diese Weise sollte vor allem erreicht werden, daß die finan­zielle Grundlage der Unternehmensautonomie langfristig und berechenbar abgesichert werden kann, nämlich in Gestalt des Gewinnes nach Steuern, der im Unternehmen verbleibt. Doch wurde dies gleich bei Einführung des neuen Systems aufgeweicht, weil angesichts des weiterhin administrierten Preissy­stems stark verzerrende Effekte auf die Gewinnlage der Unternehmen auftra­ten, die dann durch Modifikation des Steuersatzes ausgeglichen werden soll­ten. Da solche Modifikationen natürlich auf der Ebene der zuständigen Ver­waltungen ausgehandelt wurden, öffnete sich erneut ein Einfallstor für die Verfolgung von deren Eigeninteressen, denn tatsächlich waren ja Gewinne, die im Unternehmen verblieben, in wesentlicher Hinsicht auch Einnahmen lokaler Gebietskörperschaften: Entweder unmittelbar, weil die Gewinne ent­gegen den Reformzielen als Bestandteil der Fonds außer Bilanz unter Kon­trolle der Gebietskörperschaften gerieten, oder indirekt, weil etwa der Bau von Betriebswohnungen aus den Gewinnen nach Steuern als öffentliche Ge­meinschaftsaufgabe betrachtet wurde.

Im Steuergesetz wurden allerdings die Steuereinnahmen tatsächlich nicht einer nationalen Finanzbehörde zugewiesen, sondern denjenigen Behörden, die für die Unternehmen auch in anderer Hinsicht zuständig waren, also de­ren Quasieigentümer sind. Dies legitimierte die skizzierte Aushebelung der Steuerrefom auf lokaler Ebene. Hinzu kommt, daß auch die Kompetenzen zur Steuererhebung stark dezentralisiert sind, also die Behörden gewisserma­ßen kommissarisch für den Zentralstaat handeln. In der Wechselwirkung zwi­schen den verschiedenen Reformbereichen entstanden damit Anreize und Möglichkeiten, öffentliche Gelder in lokalen Haushalten zu belassen, um mit ihnen die lokale Wirtschaft zu fördern. Diese institutionelle Struktur hatte dann auf der makroökonomischen Ebene eine wesentliche Konsequenz, die in enger Wechselwirkung mit der monetären Entwicklung steht: Nämlich zum einen der Rückgang des Anteils zentralstaatlicher öffentlicher Finanzen am Budget und zum anderen die wachsenden Schwierigkeiten, auf zentraler Ebene ein ausgeglichenes Budget zu realisieren.

Mitte der achtziger Jahre waren auf diese Weise wesentliche Rahmenbe­dingungen für den chinesischen Systemwandel festgeschrieben, und zwar auch was das mittelfristig stabile Resultat betrifft: Das System hatte sich nämlich zu einem regional-korporatistischen Regime entwickelt, in dem auf der einen Seite die Bereiche der Allokation durch Marktpreise und auch die Wettbewerbsintensität stetig zunahmen, auf der anderen Seite aber eine Pri­vatisierung nur zögerlich vonstatten ging, weil lokale und regionale Behör­den ihre Position als Eigentümer von Vermögensrechten nicht aufgeben wollten. Vor allem die fiskalische Situation führte dazu, daß Privatisierungs­prozesse im engeren Sinne stark durch die jeweilige Interessenlage zuständi-

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ger Stellen bestimmt wurden, die etwa im Falle chronisch verlusträchtiger Unternehmen durchaus motiviert sein konnten, solche Unternehmen zu (qua­si)privatisieren, etwa in Gestalt der Verpachtung an Einzelunternehmer.

Der Blick auf die Entwicklung der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zeigt die Wirkungsweise dieses Regimes in aller Deutlichkeit. Bis zum Beginn der neunziger Jahre überlagerten sich nämlich Tendenzen beschleunigten Sy­stemwandels mit nachhaltiger Stagnation in anderen Bereichen in einer komplexen und undurchsichtigen Weise. Das Fanal des Massakers am Tia­nanmen-Platz 1989 führte zu einem politischen Rückschritt und gleichzeitig zur Verschärfung der bereits vorher eingeleiteten Austeritätspolitik. Viele Beobachter sahen daher ein Scheitern der chinesischen Reformen, einschließ­lich des Verfassers dieser Zeilen.

Das Massaker am Tiananmen hatte natürlich eine Fülle von Ursachen, die außerhalb des Bereiches der Wirtschaft lagen. Doch gab es einige wesentli­che Faktoren, die entweder rein ökonomisch bedingt waren oder in der Wechselwirkung zwischen Politik und Wirtschaft lagen. Sie geben gleichzei­tig Aufschluß über die Natur des Systems.

Die chinesische Wirtschaft war bis 1988 auf einen Pfad beschleunigter In­flation geraten (siehe Tabelle 13), da gleichermaßen die Kontrollverluste bei der Lohnpolitik wie der Investitionsdrang lokaler Behörden auf die Kreditex­pansion wirkten. Einfach gesagt, fehlte es in beiden Bereichen an einer genau zugewiesen Verantwortlichkeit für die tatsächlichen Kosten der jeweiligen Maßnahmen, so daß sich kein Widerstand formierte gegen die "Aufwei­chung" der formal an sich härter geworden Budgetbeschränkungen. Da den meisten Entscheidungsträgern bis 1987/88 klar geworden war, daß eines der hiermit verbundenen Probleme darin bestand, daß das Preissystem noch nicht ausreichend liberalisiert war, bildete sich auf zentraler Ebene eine starke Gruppe der Befürworter einer raschen Preisliberalisierung. Nachdem diese Pläne aber unter der Bevölkerung bekannt geworden waren, ergriffen weite Teil der städtischen Bevölkerung die Flucht aus der Währung und antizipier­ten die Preissteigerungen, indem sie Hortungskäufe tätigten. Die Folge war eine rasche nachfrageseitige Preissteigerung, die mit dem wachsenden Risiko verbunden war, daß die chinesische Wirtschaft in einen hyperinflationären Zyklus zwischen Preissteigerungen und ausgleichender Geldschöpfung hin­eingeriet. Daher wurde eine durchgreifende Austeritätspolitik eingeleitet, die dann auch restriktiv auf die Entwicklung der städtischen Einkommen wirkte, also im Zusammenspiel mit der Preis steigerung eine Stagnation bzw. sogar einen Rückgang der Realeinkommen zur Folge hatte.

Diese rapide relative und subjektive Verschlechterung der Situation städti­scher Haushalte hatte im raschen Wechsel zwei gegensätzliche Folgen für die Stabilisierung der Wirtschaftslage, die jeweils gleichermaßen die inzwischen große Rolle der privaten Sparer für die Finanzierung des Bankensektors de­monstrieren. Im Jahre 1988 konnte das Sparerverhalten binnen kürzester Frist

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das gesamte Kreditsystem destabilisieren, indem die Sparguthaben rasch li­quidiert wurden und damit eine Finanzierungskrise ausgelöst wurde, nach 1989 war jedoch gerade die Bereitschaft der Sparer, ihre Bestände zu halten, eigentliche Quelle des Erfolges der Austerität. Abgesehen von den politi­schen Unsicherheiten über die künftige Wirtschaftslage bewirkte natürlich die Indexierung der Sparzinsen das Ihrige.

Für die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Transforma­tion vor 1989 war nun ein weiterer Aspekt des bestehenden Übergangssy­stems bedeutsam, nämlich die wachsende Korruption und die scheinbar weite Verbreitung von Profiten aus Spekulation und Schattenwirtschaft. In Verbin­dung mit den zurückgehenden Realeinkommen mußte also die Empfindung einer Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung Platz greifen. Ausschlagge­bend für die reale Existenz solcher Phänomene war das Doppelgleissystem, denn es schuf eine Fülle von illegalen oder halblegalen Gewinnmöglichkei­ten, indem Güter vom Plansektor in den Marktsektor transferiert wurden, denn letzterer wies insbesondere im inflationären Klima regelmäßig ein hö­heres Preisniveau auf. Genau dieser Effekt ist sicherlich eine der wichtigsten unbeabsichtigten Reformwirkungen des Zustandes Mitte der achtziger Jahre gewesen, denn er wirkte ambivalent auf den Systemwandel: Einerseits war das Ergebnis der wachsenden Korruption und Schatten wirtschaft eine Aus­weitung der Marktbereiche, andererseits trugen sie aber zu einer sinkenden Akzeptanz der Reformen bei. Vor allem bei den Belegschaften städtischer Staats unternehmen gibt es daher bis heute erhebliche Widerstände gegen eine Ausweitung der Reformen auch auf diesen Bereich.

Zu beachten ist aber, daß die Ereignisse am Tiananmen nicht nur direkt durch die Verschlechterung der Rahmenbedingungen der städtischen Wirt­schaft bedingt waren. Daß mit einer solchen Brutalität und Maßlosigkeit ge­gen die Bevölkerung vorgegangen wurde, hatte ohne Zweifel auch noch ei­nen Grund, der häufig übersehen wird. Die Austeritätspolitik vom Herbst 1988 hatte die Folge, daß viele Investitionsprojekte gestoppt wurden, und daß außerdem die Kreditversorgung der ländlichen Industrie stark reduziert wurde. Die letzte Maßnahme hielt auch nach 1989 noch längere Zeit an und war notwendige Konsequenz der Tatsache, daß die Zentralregierung anderer­seits durch präferentielle Kredite versuchte, den urban-industriellen Sektor vor den Auswirkungen der allgemeinen Austerität zu schützen. Im Winter und Frühjahr 1989 zog dies nach sich, daß die Mobilität vor allem der Ar­beitskräfte vom Lande, die saisonal in der städtischen Bauindustrie tätig wa­ren, rapide zunahm. Die Wanderung schien gerade im Vorfeld des Massakers außer Kontrolle zu geraten, und es war eine weitere Verschärfung der Situa­tion zu erwarten, wenn, wie absehbar, die Kreditrestriktion die ländliche In­dustrie treffen mußte. Eine Synergie zwischen städtischen Demonstrationen und ländlicher Unruhe hätte rasch zu einer großflächigen gesellschaftlichen

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Destabilisierung führen können, die dann die politische Position der Partei gefährdet hätte. Genau dies wurde aber durch das Massaker verhindert.

Insofern kann das politische Fiasko der Partei am Tiananmen durchaus als Ausfluß der Reformen und ihrer Defizite der achtziger Jahre aufgefaßt wer­den. Tatsächlich hatte sich in der zweiten Hälfte dieser Dekade gezeigt, daß in einigen wesentlichen Bereichen trotz aller politischer Willenserklärungen kein eigentlicher Erfolg erzielt worden war. Dabei spielte eine Schlüsselrolle, daß das alte System der forcierten Industrialisierung über die Abschöpfung oder Beschränkung landwirtschaftlicher Einkommen nicht wirklich geändert worden war, sondern nun lediglich indirekt wirksam wurde, wie etwa in Ge­stalt der bereits erwähnten selektiven Restriktion von Krediten und der ent­sprechenden Umverteilung von Einkommensmöglichkeiten zwischen Land und Stadt.

Mitte der achtziger Jahre hatte man nach einer Rekordernte 1984 eigentlich das Ankaufsystem schrittweise liberalisieren wollen, da sich der Staat ohne­hin kaum noch in der Lage sah, die Kosten des Systems zu tragen. Doch stellte sich rasch das Problem ein, daß die Inflationsentwicklung eine erneute Schere zwischen den Preisen auch im teilliberalisierten Distributionssystem beim Ankauf und den wesentlich weiter liberalisierten Inputmärkten öffnete. Die Produktion von Getreide und Baumwolle war zunehmend finanziell un­attraktiv und führte zu Verlusten an Realeinkommen der Bauern, die entspre­chend in anderen Bereichen aktiv wurden. Die lokalen Behörden, die für den Ankauf zuständig waren, gingen entsprechend wieder zu einem de-facto Zwangs ankauf über. Zwar wurden immer wieder die Verhältnisse entspannt, indem auch die Ankaufpreise angepaßt wurden, doch wirkten sich die Pro­bleme letzten Endes in einer Stagnation der Landwirtschaft aus, die sich deutlich vom dynamischen ländlich-industriellen Sektor abhob. Dies ging zu­nehmend mit einem endgültigen Verlust an landwirtschaftlichen Produktions­kapazitäten einher, indem etwa landwirtschaftliche Nutzfläche für Industrie­unternehmen umgewidmet wurde.

Ähnlich war auch die Reform der Staatsindustrie in eine Sackgasse geraten. Die beiden Stränge der Finanzreform und der Ausweitung der Unterneh­mensautonomie hatten sich zu einem gordischen Knoten geschnürt, der vor allem in der Entstehung des sog. "Cheng bao" Systems Ausdruck fand: Über die fortbestehenden Verträge mit Direktoren hinaus wurden die Unternehmen selbst ebenfalls in Vertragsbeziehungen mit den zuständigen Verwaltungen eingebunden, die dann aber auch wesentliche Aspekte der Steuerreform aus­hebelten, indem Unternehmen zur Abführung bestimmter absoluter Steuerbe­träge verpflichtet wurden. Das unabhängige fiskalische Interesse der lokalen Gebietskörperschaften wurde also formal anerkannt, wenn auch nicht explizit ausformuliert. Die Unternehmensleitungen blieben in ein kompliziertes Be­ziehungsgeflecht von Interessen eingebunden, ohne häufig in der Lage zu sein, die Belange des Unternehmens im engeren Sinne zu verfolgen. Im Be-

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trieb war stets ein Ausgleich zwischen Partei, Management und Belegschaft zu suchen, der in jedem Fall solchen Umstrukturierungsmaßnahmen Steine in den Weg räumte, die zu einer Verschlechterung der Bedingungen für einen Teil der Belegschaft geführt hätten. In der Beziehung zwischen Verwaltung und Unternehmen blieben viele Unternehmen darauf angewiesen, die Unter­stützung durch die Behörden explizit zu suchen, etwa bei der Organisation kostengünstiger Inputs oder bei der Beschaffung von Krediten. Da das Ma­nagement freilich wiederum nicht als Eigentümer auftrat, besaß es ohnehin nur eine geringe Motivation, gegen solche, möglicherweise Interessen des Unternehmens schädigende Kräfte zu handeln.

Wie konnte also die chinesische Reform diese vielfältigen Schwierigkeiten zumindestens teilweise überwinden, und nach der Krise von 1989 in wenigen Jahren eine Entwicklung nehmen, die sie heute in den Augen vieler Betrach­ter zum "Wirtschaftswunder" qualifiziert?

5.3. Wende zur "sozialistischen Marktwirtschaft"

Es gibt im wesentlichen drei Bereiche, wo ungeachtet der skizzierten Re­formbarrieren ein Reformfortschritt erzielt werden konnte, ohne daß dies freilich im Mittelpunkt der eigentlichen Reformstrategie gestanden hätte.

Zunächst einmal bewahrten nicht-staatliche Unternehmen trotz aller Wid­rigkeiten ihre dynamische Position in der Wirtschaft. Allerdings bildeten sich hier zunehmend regionale Unterschiede heraus, wie etwa mit den Provinzen Shandong, Jiangsu oder Zhejiang als den Speerspitzen dieser Form der Transformation, die höchstens verdeckt und nur teilweise mit einer Privati­sierung gleichzusetzen ist, in der Regel aber den öffentlichen ("kollektiven") Charakter der Unternehmen bewahrt. Ein wichtiger Faktor für diese Dynamik ist die große Flexibilität dieser Betriebe auf der Kostenseite, und zwar vor al­lem beim Einsatz des Faktors Arbeit. Sie sind zum einen nur gering durch Sozialausgaben belastet und können zum anderen die tatsächliche Entloh­nung flexibel an die Marktsituation anpassen und bei einem Einbruch des Absatzes direkt die laufenden Kosten auf ein Minimum reduzieren. Da viele solcher Unternehmen durch schon lange Zeit existierende Kollektive getra­gen werden, also etwa als Eigentum einer Dorfgemeinschaft gelten, werden solche Wettbewerbsmechanismen auch durchaus akzeptiert, da sie zum Schutz der Arbeitsplätze beitragen. Hinzu kommt seit Ende der achtziger Jah­re, daß die Unternehmen auch vermehrt Migranten beschäftigen, um die Ko­sten weiter zu reduzieren.

Der zweite, sehr unübersichtliche Bereich ist der Finanzierungssektor außerhalb des staatlichen Bankensystems. Zwar hat es immer wieder Ansätze zur Gründung privater Banken gegeben, doch hat die zentrale Wirtschaftspo-

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litik dies immer wieder unterdrückt. Ähnliches gilt auch für Versuche von Gebietskörperschaften, die sich durch Gründung regionaler Banken vom zen­tralstaatlichen Kreditsystem abzukoppeln suchten. Dennoch ist der gesamte Finanzierungssektor in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre immer dynami­scher geworden, gerade weil eine Zunahme des Restriktionsdruckes erhebli­che Anreize bot, Kapitalquellen außerhalb des offiziellen Sektors zu er­schließen. Dies gab Anlaß für eine Fülle lokaler und regionaler Experimente mit Aktiengesellschaften, Schuldverschreibungen, Kreditgenossenschaften und verschiedenen Formen der kooperativen Selbstfinanzierung kleinerer und mittlerer Unternehmen. In ehemaligen Finanzzentren wie vor allem Shang­hai verband sich diese Entwicklung mit dem schon lange bestehenden Bestre­ben, vorhandene Potentiale zur Börsen- und Bankenentwicklung auch zu nut­zen. Dort wurden auch Ansätze zur Regulierung des Finanzsektors entwik­kelt. Diese Eigendynamik wurde von der Zentralregierung möglichst unter­bunden oder strikt kontrolliert, da der öffentlich-private Finanzierungssektor natürlich in direkte Konkurrenz mit den Staatsschuldverschreibungen trat, die für die Finanzierung der Staatsschuld zunehmend wichtiger werden. Den­noch war dies letztlich kaum möglich, weil das stetig wachsende Volumen an privaten Sparguthaben von den Privaten bereitwillig mobilisiert wurde, so­bald neue Finanztitel auch mit einer hohen Gewinnmarge versehen wurden, gleichzeitig aber auch von öffentlichen Instanzen gedeckt waren.

Bis heute hat dieser Bereich von seiner Unübersichtlichkeit nichts verloren, und insbesondere auf lokaler Ebene gibt es immer wieder spontane Formen der Emission verschiedenster Formen von Wertpapieren. Die vielfältigen Ex­perimente vor 1989 boten jedoch die Grundlage für eine Fortentwicklung auch im offiziellen Sektor nach 1989, so daß trotz eines zwischenzeitlichen Verbotes aller Neuerungsversuche in diesem Bereich eine rasche Beschleuni­gung des Reformtempos möglich war.

Der dritte Bereich, wo eine ähnliche Kontinuität der Entwicklung über den Bruch von 1989 hinaus zu verzeichnen ist, betrifft die Außenwirtschaft (Tabelle 14). Das chinesische Außenwirtschaftssystem ist in hohem Maße von makroökonomischen Entwicklungen beeinflußt, weil die administrativen Wechselkursveränderungen regelmäßig den eigentlich gebotenen Anpassun­gen an die Entwicklung der Inflation hinterherliefen. Die chinesische Wäh­rung war also während des gesamten Reformzeitraumes mehr oder weniger überbewertet. Dies schuf stets starke Anreize zur Ausweitung des Importes, während auf der anderen Seite die Exportunternehmen durch besondere Ex­portsubventionen einen Ausgleich der Benachteiligung erfahren mußten. So­bald daher die Außenwirtschaftsorganisation selbst liberalisiert wurde, ent­stand regelmäßig eine starke Tendenz zu einer defizitären Handelsbilanz. Da die Zentralregierung nicht gewillt war, das Wechselkurssystem selbst in der gebotenen Geschwindigkeit umzustellen, griff sie entsprechend auf strikte Regulierungen der Außenwirtschaftsorganisationen zurück. Dabei ist bemer-

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kenswert, daß auch im Bereich der Außenwirtschaft ähnliche Reformprinzi­pien realisiert wurden wie in anderen Bereichen, d.h. der Schwerpunkt lag bis Ende der achtziger Jahre bei einer Ausweitung der Autonomie von Behörden, nicht aber von Unternehmen. Dies geschah in Gestalt der Gründung einer Vielzahl von Außenhandelsgesellschaften der Fachministerien, vor allem aber der Gebietskörperschaften. Da gleichzeitig der Außenwirtschaftplan stark dezentralisiert wurde (traditionell auch in der chinesischen Wirtschaft ein zentralisierter Plan), eröffneten sich große Handlungsspielräume für der­artige öffentliche Unternehmen. Erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde das Außenhandelsregime auch für die Unternehmen liberaler, aller­dings vornehmlich in Gestalt des sog. "Agentursystems", bei dem die Au­ßenhandelsgesellschaften in Konkurrenz Exportaufträge von Unternehmen übernehmen können.

Tabelle 14: Die Entwicklung der chinesischen Außenhandelsorganisation Jahr Im· Ex- FTC2 UN2 Off3. Swap3 Abw.3 An- Wert An- Wert

~rtl ~rtl zahl4 (%)4 zahl5 (%)5

1978 12 1,68 3000 > 90 3000 95 1979 1980 1,50 1981 24 1982 21 74 1,89 1983 99 1984 18 129 1200 2,33 1985 127 1986 45 235 3,45 -75 120 -80 1987 45 159 2200 ? 3,72 6,50 75 1988 53 166 5300 ? 3,72 6,10 65 112 -45 17 -40 1989 53 173 3,76 5,70 52 1990 53 185 4,78 5,50 15 1991 53 234 4000 450 5,32 5,70 7 1992 53 234 4000 500 5.51 6,55 20 16 1993 53 138 5,72 8,55 50

I Anzahl der Im- und Exportlizenzen, 2 Anzahl der Außenhandelsgesellschaften (FTC) und Unternehmen (UN) mit

Außenhandelsrecht, 3 Offizieller und der Swapmarktwechselkurs (YuanJUS$) im Jahresdurchschnitt seit

1980 und Abweichungen in %, 4 Anzahl der Güter im Rahmen der Exportplanung. 5 Anzahl der Güter im Rahmen der Importplanung.

Quelle: Song Xueming. Außenhandelsreform und komparative Vorteile Chinas. Duisburger Arbeitspapiere zur Ostasienwirtschaft Nr. 3(1994).

Zu beachten ist nun, daß es während des gesamten Zeitraumes durchaus Möglichkeiten gab, die chinesische Währung zu einem höheren, also relativ

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zum offiziellen Kurs abgewerteten Kurs umzutauschen, anfänglich in Gestalt eines internen gespaltenen Wechselkurses, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre aber vor allem in Gestalt der "Devisen-Swap-Märkte". Diese halblibe­ralisierten Devisenbörsen wurde vor allem aus den Devisenüberschüssen von Unternehmen und Außenhandelsgesellschaften gespeist, die im Zuge der or­ganisatorischen Reformen nach dem Muster des "chengbao" einen bestimm­ten Devisenbetrag einbehalten durften. Da diese Swap-Märkte regional unter­schiedlich verteilt waren, ergaben sich bestimmte Anreize für die Konzentra­tion von Außenwirtschaftstransaktionen etwa in Guangdong, denn Exporteu­re konnten durch den Umtausch auf Swapmärkten erheblich höhere Gewinne in Inlandswährung erzielen, als wenn sie in Binnenprovinzen die Devisenein­nahmen bei der Staatsbank eintauschten.

Die Außenwirtschaft ist damit der Musterfall eines schrittweisen Wandels der Wirtschaftsordnung. Der Bruch von 1989 hatte zwar eine Zunahme ad­ministrativer Interventionen im Rahmen der Austeritätspolitik zur Folge, doch veränderte dies nichts am Trend der Veränderungen. Für das Wechsel­kursregime hatte die Austerität sogar in dem Sinne positive Konsequenzen, als sich die Differenz zwischen dem offiziellen und dem Swapmarktkurs stark verringerte und damit auch die allerorts vorhanden Devisen-Schwarz­märkte verschwanden. Als die chinesische Wirtschaftspolitik wieder einen Kurs der Reinflationierung der Wirtschaft einschlug, hatte dies unmittelbare Konsequenzen für das erneute Auseinanderdriften zwischen den verschiede­nen Kursen. Nun war der Zentralregierung jedoch der skizzierte Zusammen­hang zwischen Wechselkurs, makroökonomischen Entwicklungen und institu­tioneller Instabilität durch administrative Intervention hinreichend klar gewor­den, um zur Entscheidung zu gelangen, am 1.1.1994 ein einheitliches Wech­selkurssystem einzuführen, das im Prinzip einem "managed floating" ähnelt.

Die skizzierten drei Bereiche gehören zu den treibenden Kräften, die es der chinesischen Reform ermöglichten, über den toten Punkt von 1989 hinauszu­gelangen. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, daß genau an dieser Stelle auch der Einfluß des "chinesischen Westens" noch einmal sprunghaft zunahm. Nach 1989 hatten die nachhaltig gedämpften Erwartungen westli­cher Investoren an die chinesische Entwicklung zur Folge, daß Direktinvesti­tionen stagnierten oder gar zurückgingen. Die Volksrepublik hatte nur noch erschwerten Zugang zu Krediten internationaler Institutionen. Diesen Ein­bruch machten aber die chinesischen Investoren, allen voran diejenigen aus Taiwan, mehr als wett. Die auslandschinesischen Investitionen auf dem Festland expandierten weiter kräftig und unterstützten auf diese Weise den Exportboom der VR China (Abbildung 22).

Deshalb brauchte die chinesische Restriktionspolitik auf der Importseite nicht derart scharf durchgreifen, wie andernfalls erforderlich gewesen wäre, um eine ausgeglichene Handelsbilanz zu sichern. Daher konnte nach einiger Zeit die Politik weitergehender Liberalisierung des Außenhandelsregimes

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wieder greifen, etwa in Gestalt der Öffnung auch des Konsumgüterhandels für ausländische Investoren. Das System war sogar hinreichend stabilisiert, um einen erneuten Inflationsschub und ein stark wachsendes Handelsbilanz­defizit im Laufe des Jahres 1993 zu verkraften.

Abbildung 24: Die Entwicklung des chinesischen Außenhandels, 1978-1993 120 r--;::::==~==;--------------,

I mI brq>on OExport I 1 00 ................... ---........ ----.• -.--..•••••• - . .......................... - •.••••• ---..... ---__ .. _ ...... _ ..... .

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,Il~~ I 1978 1913 1988 1993

Jahr

Quelle: Song Xueming, Außenhandelsreform und komparative Vorteile Chinas, Duisburger Arbeitspapiere zur Ostasienwirtschaft Nr. 3 (1994), S. 5

Auslandschinesisches Kapital ist jedoch nicht nur im Bereich des Außenwirt­schaftssystems zu einer unterstützenden Kraft der Liberalisierung geworden. Es übt auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf weitergehende Re­formen im Bereich des Kapitalmarktes aus, denn auslandschinesische Inve­storen sind deutlich stärker geneigt als westliche, Aktien oder Wertpapiere chinesischer Unternehmen zu kaufen, da sie die Risiken besser abschätzen können.

Wird versucht, den Standort des chinesischen Systemwandels Mitte der neunziger Jahre knapp zu skizzieren, dann sind folgende Punkte erwähnens­wert.

In der Landwirtschaft wurde zunächst die Produktion durch eine erneute stärkere Betonung von kollektiven Infrastrukturmaßnahmen gesichert, denn die chinesische Regierung sieht hier eine entscheidende Determinante gesell­schaftlicher Stabilität. Dies war auch ein Ventil für den Beschäftigungsdruck, der von den Anfang der neunziger Jahre in die Dörfer zurückgesendeten Ar-

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beitskräften ausging, die in den Städten als Folge der Austerität keine Arbeit mehr fanden. Gegen Mitte der neunziger Jahre wurden allerdings wieder wei­tergehende Reformmaßnahmen ergriffen, die sich nun einmal mehr auf das Distributionssystem zu konzentrieren hatten. Während Fragen wie die Zu­weisung von Eigentumsrechten im ländlichen Raum inzwischen kaum noch Gegenstand zentraler wirtschaftspolitischer Maßnahmen sein können, son­dern lokal gestaltet und organisiert werden, ist das früh zentralisierte Distri­butionssystem gleichzeitig auch der am spätesten liberalisierte Bereich gewe­sen, weil es nur gemeinsam mit einer endgültigen Abschaffung des Rationie­rungssystems in den Städten hätte durchgreifend und vor allem ohne Sub­ventionslasten für den Staat reformiert werden können. Außerdem war das Rationierungssystem auch an die Haushaltsregistration gekoppelt. Obgleich die Rationierung in den meisten städtischen Gebieten faktisch bedeutungslos geworden war, war es doch weiterhin ein Instrument der Preisstabilisierung bei Grundgütern und der Sicherung eines bestimmten Versorgungsniveaus in den Städten geblieben. Mitte der neunziger Jahre ist es nun in fast allen chi­nesischen Städten abgeschafft worden; zeitlich vorlaufend wurden landesweit Großhandelsmärkte vor allem für Getreide gegründet, auf denen vermehrt auch der interprovinzielle Getreidehandel abgewickelt werden soll. Auch wenn diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, dürfte damit die Ge­schichte des sozialistischen Distributionssystems ihrem Ende zugehen. Seine Funktionen im Rahmen staatlicher Zielsetzungen werden wenn, dann von Preisregulierungen und Subventionen übernommen. Allerdings schließt dies nicht aus, daß, wie im August 1994, Teilmärkte (hier für chemische Dünge­mittel) per Anweisung der Regierung für nicht-staatliche Unternehmen ge­schlossen werden, und die staatlichen Handelsunternehmen angewiesen sind, sich an staatlich festgelegte Preise zu halten.

Der Bereich der ländlichen Industrie entwickelt sich weiter, ohne daß zur Zeit grundlegende institutionelle Neuerungen zu erkennen wären. Der Grund hierfür ist die ohnehin bereits große Vielfalt von lokalen Organisationsfor­men, die von Privateigentum in kollektiver Rechtsform über Kommunalun­ternehmen bis zu Formen der Arbeiterselbstverwaltung reichen. Im Zentrum steht freilich der Unternehmenstyp des lokalen öffentlichen Unternehmens, das vergleichsweise autonom wirtschaftet, aber eng an die lokale Verwaltung gebunden bleibt, etwa hinsichtlich der fallweisen Besteuerung oder der Kre­ditversorgung.

Im Gegensatz hierzu ist der Bereich der staatlichen Industrieunternehmen weiterhin ein Schwerpunkt der Reformpolitik. Dies hängt vor allem mit der sozialen Problematik zusammen. Daher ist diese Frage auch eng mit der Neugestaltung der chinesischen Sozialpolitik verbunden, die ungeachtet na­tionaler gesetzlicher Regelungen weiterhin stark auf die Initiative von Ge­bietskörperschaften angewiesen bleibt. Die Reform der Staatsunternehmen betrifft in dieser Hinsicht freilich nur noch einen Teil des staatlichen Sektors

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insgesamt (schätzungsweise 50 Mill. Beschäftigte, das sind rund 10% aller chinesischen Arbeitnehmer), denn viele kleinere Unternehmen und Betriebe nachgeordneter Gebietskörperschaften sind zum einen schon immer gering mit sozialpolitischen Lasten befrachtet gewesen (etwa Betriebskrankenhäu­sern) und sind zum anderen teilweise schon längst in andere Betriebsformen überführt, etwa in Gestalt der Verpachtung.

Die Reform des engeren Bereiches großer Staatsunternehmen geht nun in der Tat schrittweise vor sich und ist immer noch nicht Gegenstand von Pri­vatisierungsprogrammen. Es ist unter Fachleuten umstritten, ob die bisheri­gen Maßnahmen zu Effizienzgewinnen geführt haben oder nicht. Zu beach­ten ist aber, daß in den neunziger Jahren die Umstrukturierung des Staatssek­tors verstärkt dezentral erfolgt. Da der Staat seit längerem nicht mehr in der Lage ist, die alten finanziellen Privilegien zu gewähren, haben sich viele Ver­fahren ausgebildet, Einnahmen aus anderen Aktivitäten zu erwirtschaften. Dabei wird die Beurteilung der Ergebnisse erheblich erschwert, da die Staats­unternehmen solche Erfolge häufig verbergen, um der Steuer ausweichen zu können. Beispielsweise gründen Manager von Staatsunternehmen mit Unter­stützung der lokalen Verwaltung "Kollektivunternehmen" aus bestimmten Dienstleistungseinheiten ihres Betriebes (etwa Wagenflotte). De jure gehen die Gewinne dieses Unternehmens natürlich auf das Konto des Kollektivun­ternehmens und vermindern also nicht die Verluste des Staatsunternehmens. De facto aber werden beide als eine wirtschaftliche Einheit betrachtet. Der gesamte Staatssektor scheint intensiv mit solchen dezentralen, flexiblen und vor allem gewinnorientierten Formen der Umgestaltung befaßt, allen voran bemerkenswerterweise die Unternehmen der Volksbefreiungsarmee und der (zivil verwalteten) Rüstungsindustrie, die mit dem Hintergrund der besonde­ren militärischen Infrastruktur (etwa im Transportwesen) oft weit außerhalb ihres ursprünglichen Tätigkeitsbereiches operieren.

Auch bei dieser stillen Umwandlung des Staatssektors findet aber in der Regel keine Privatisierung statt. Besonders deutlich tritt dies bei dem "offi­ziellen" Reformmechanismus der Umwandlung der Staatsunternehmen in Aktiengesellschaften hervor. Die chinesische Zentralregierung kontrolliert diesen Bereich, zu dem auch die Gründung und Veranstaltung von Börsen gehört, sehr strikt. Dafür gibt es gute Gründe, denn weiterhin operieren an den wachsenden Börsen vor allem von Shanghai und Shenzhen viele Unter­nehmen, deren Rechnungslegung selbst dann undurchsichtig ist, wenn Aus­länder deren Aktien kaufen dürfen. Solche Aktiengesellschaften erlauben freilich eine "graduelle" Umwandlung der Staatsunternehmen im wörtlichen Sinne. Ursprünglicher und auch heute noch vorherrschender Gedanke dieses Konzeptes war, Staatsunternehmen direkt in "manager-kapitalistische" Un­ternehmen zu transformieren, deren Aktien zwar auf der Börse gehandelt werden, die aber im mehrheitlichen Besitz öffentlicher Körperschaften blei­ben (also nicht notwendig einer einzigen). Heute gibt es diesbezüglich eigent-

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lich keine Norm mehr, und es gibt schon Fälle einer "Quasiprivatisierung", bei der auslandschinesische Unternehmer Mehrheitsaktionäre eines Staatsun­ternehmens werden.

Das zentrale Problem für die Reform der Staatsunternehmen liegt an ande­rer Stelle, nämlich bei der Umwandlung der Betriebswohnungen und bei der weitergehenden Flexibilisierung und Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Beides gehört allein schon aus dem Grund eng zusammen, weil der sehr hohe Anteil an Betriebswohnungen im Wohnungsbestand chinesischer Städte ein Mobilitätshindernis ersten Ranges darstellt. Obgleich beide Bereiche seit Mit­te der achtziger Jahre Gegenstand von Reformprogrammen sind, wurden nur geringe Fortschritte erzielt. Die mit Sicherheit erwarteten, negativen sozialen Folgen der weitergehenden Umstrukturierung des Staatsektors waren auch im Sommer 1994 der Grund für eine erneute Verzögerung von weiterreichenden Reformmaßnahmen.

Zügiger voran schritten die großen gesetzlichen Maßnahmen des Jahres 1994, nämlich eine erneute, umfassende Neuregelung des Steuerwesens, die Schaffung neuer Banken und die Ersetzung vieler verwaltungsmäßiger Au­ßenhandelsregulierungen durch ein Außenwirtschafts gesetz. Mit letzterem will China vor allem den Anforderungen an den GATI-Beitritt gerecht wer­den und setzt entsprechend die Politik der Liberalisierung fort, behält sich aber vor allem bei der Importregulierung wesentliche staatliche Kompeten­zen vor.

Die Steuerreform konzentriert sich vor allem auf die Vereinheitlichung und Vereinfachung des Steuersystems dergestalt, daß die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer Schwerpunkt werden. Die entscheidenden Neuerungen be­trafen die Einführung einer vergleichsweise einheitlichen Mehrwertsteuer (als Ersatz für die alte Bruttoumsatzsteuer) und in diesem Rahmen eine Neu­regelung der Steueraufteilung zwischen Zentrale und Provinzen, die der Zen­trale einen größeren Anteil am gesamten Steuervolumen einräumt. Damit ist ein wesentlicher Schritt in Richtung einer größeren Marktkonformität des Steuersystems getan worden. Ob insgesamt stabilisierende Effekte auf die weiterhin stark defizitäre Tendenz im zentralen Staatshaushalt ausgehen wer­den, ist fraglich - man denke nur an die überaus große Bedeutung der "Fonds außer Bilanz" für die Gebietskörperschaften.

Die Bankenreform knüpft an die vorherigen Reformziele an. Wichtigstes Ziel ist, die Stellung der Zentralbank zu stärken, indem ihre eigentlich nicht beabsichtigte Rolle als "politischer" Bank an neue Staatsbanken übertragen wird, die speziell industrie- und entwicklungspolitische Funktionen überneh­men, die bislang doch bei der Volksbank verblieben waren. Es bleibt abzu­warten, ob diese Maßnahme hinreichen wird, um die enge Einbindung der Banken in lokale und regionale Interessengeflechte aufzuheben.

Die eigentlich zentrale Maßnahme der Reformpolitik Mitte der neunziger Jahre ist jedoch ohne Zweifel die entschiedene Öffnung des Binnenmarktes,

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und zwar nicht nur im engeren Sinne der außen wirtschaftlichen Öffnung et­wa von Gebieten nahe der kontinentalen Grenzen Chinas. Deng Xiaopings "Reise nach Süden" im Frühjahr 1992 gab den entscheidenden Anstoß für viele Binnenprovinzen, sich der bisherigen Praxis der flexiblen Öffnung zur Marktwirtschaft an der Küste anzuschließen. Dieser Propaganda-Effekt darf nicht unterschätzt werden. Gleiche gesetzliche Maßnahmen der Zentralregie­rung sind immer wieder von Küsten- und von Binnenprovinzen unterschied­lich interpretiert und praktisch umgesetzt worden, und zwar in den Binnen­provinzen regelmäßig "konservativer" und auch buchstabengetreu. Seit 1992 gehört jedoch ein allgemeiner Enthusiasmus für die marktwirtschaftliche Öff­nung auch zum politischen Selbstbild des Landesinnern.

5.4. Eine kurze Beurteilung der Reformpolitik

Wir werden im nächsten Kapitel die eigentlich zentrale Frage nach der Be­wertung der Reformen als Transformationsstrategie oder gar als "Modell" ausführlich diskutieren. Hier seien nur einige unmittelbar greifbare Aspekte einer Beurteilung erwähnt. Der sicherlich einfachste ist die Tatsache, daß China in der Tat ein hohes Wirtschaftswachstum erzielt hat, daß gleichzeitig deutlich über dem Niveau der Ära Mao lag. Dies ist eigentlich nicht verwun­derlich, hatte die maoistische Wirtschaftspolitik doch in vielen Bereichen Dy­namik unterdrückt, entweder durch politische Verschlechterung der Rahmen­bedingungen wie während des "Großen Sprunges" oder der Kulturrevolution, oder durch die Unterdrückung von Marktbeziehungen, die es den Unterneh­men und Wirtschaftssubjekten erlaubt hätten, sich auf ihre jeweiligen kompa­rativen Vorteile zu spezialisieren. Umgekehrt darf nicht übersehen werden, daß die Reformen in mancher Hinsicht vom Erbe der Ära Mao profitierten, und zwar im ländlichen Raum von den Infrastrukturleistungen und im städti­schen gerade von der vergleichsweise geringen Verhärtung administrativer Strukturen und bürokratischen Verhaltens.

Insofern ist der Anstieg des Wachstumsrate in der ersten Hälfte der achtzi­ger Jahre fast ohne den Bezug auf aktive staatliche Wirtschaftspolitik zu er­klären. Danach ist zu beachten, daß bis auf die Phase des Hochwachstums, die seit Deng Xiaopings "Reise nach Süden" eingesetzt hat, der Wachstums­prozeß eigentlich gemischte Ergebnisse gezeitigt hat, wenn die Analyse re­gionale und sektorale Unterschiede berücksichtigt. Vor allem sind die ländli­che Einkommen in den meisten Regionen Chinas seit der Mitte der achtziger Jahre nur langsam gewachsen, in manchen Jahren sogar stagniert. Dem steht das rapide Wachstum mancher Küstenprovinzen gegenüber, das durch den Zustrom an chinesischem Auslandskapital wesentlich angeregt wurde. Das Wachstum mancher Provinzen mit einem hohen Anteil der Staatsindustrie

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könnte wiederum eine extensive Komponente enthalten, im Sinne einer star­ken Stützung durch Investitionen im schwerindustrielIen Bereich, die sich langfristig als weniger effizient erweisen dürften.

Insofern scheint das Wachstum der späten achtziger und der frühen neunzi­ger Jahre durchaus den unvollendeten und gemischten Zustand des institu­tionellen Wandels widerzuspiegeln. Der Boom der neunziger Jahre ist seiner­seits eher eine Kraft des institutionellen Wandels als durch diesen Wandel ge­trieben. Daß es ohnehin Vorbehalte gegenüber einer direkten Übersetzung chinesischer Wachstumsdaten in ein allgemeines Wohlfahrtsmaß gibt, ist im zweiten Kapitel ausführlich diskutiert worden.

Die Schwierigkeiten bei der Bewertung der Reformdekade resultieren nun heute vor allem daher, daß die Realität der chinesischen Wirtschaft sehr komplex ist und im Grunde jeder einfachen Kennzeichnung spottet. Ist China heute noch ein sozialistisches Wirtschaftssystem? Oder ist es längst eine Marktwirtschaft? Für jede denkbare Antwort auf solche Fragen lassen sich gute Argumente finden:

China kennt weite Bereiche "manchester-kapitalistischer" Ausbeutung billigster Arbeits­kraft von Migranten nicht nur in den Unternehmen Hongkonger Investoren, sondern auch in vielen Unternehmen der ländlichen Industrie prosperierender Küstengebiete, Privatunternehmen spielen nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle in der Wirtschaft, und der "nicht-staatliche" Sektor besteht vor allem aus den öffentlichen Unternehmen des ehemaligen kollektiven Sektors, die freilich vollständig auf den Markt hin orientiert sind, Chinas Staatsquote ist heute niedriger als in vielen entwickelten Industrienationen, und der Staat zieht sich immer weiter aus vielen Bereichen zurück, die auch in Marktwirtschaften oft als Staats aufgabe angesehen werden, Der chinesische Staat mit seinen Vertretern ist nach wie vor der beherrschende Faktor in Wirtschaft und Gesellschaft, und sei es in Gestalt eigener erwerbswirtschaftlicher Aktivitä­ten.

Für dieses System sind verschiedene Begriffe geprägt worden, wie unter an­derem durch den Verfasser dieser Zeilen die Begriffe des "kollektivistischen Manchester-Kapitalismus" oder des "Kaderkapitalismus". Gemeint ist in je­dem Fall immer, daß China heute eine Marktwirtschaft ist, in der die Grenzen zwischen Staat und Markt äußerst diffus sind, und in der öffentliche Aufga­ben und Marktfunktionen eng verwoben sind. Beispielsweise übernehmen ländliche Industriebetriebe unter Umständen durch "Verantwortungsverträ­ge" Pflichten hinsichtlich der Geburtenkontrolle und der Kriminalitätspräven­tion, und staatliche Industrieunternehmen sind weiterhin für viele soziale Aufgaben zuständig - staatliche Instanzen wiederum gründen Unternehmen und decken die Gehälter ihrer Angestellten und Beamten zunehmend durch Gewinne.

Wer einige Kenntnisse über die Geschichte der letzten chinesischen Dyna­stie besitzt, wird gewisse Ähnlichkeiten mit den damaligen Verhältnissen er­kennen. Das Problem der Vermengung von "privat" und "öffentlich" gehörte zu den grundlegenden Gestaltungsproblemen der Politik im 18. und 19. Jahr-

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hundert, vor allem was die Verhältnisse bei den Lokalverwaltungen betraf. Wie ein führender Spezialist für diese Frage einmal bemerkte, war die kai­serliche Kreisverwaltung ein Unternehmen, weIches das Gut der öffentlichen Ordnung zu Höchstsätzen verkaufte. Insofern stellt sich die Frage nach den eventuellen historischen Wurzeln der heutigen chinesischen Verhältnisse. Ei­ne Antwort auf diese und die vielen anderen Fragen nach den systematische Bestimmungsgründen der gegenwärtigen chinesischen Entwicklung soll im letzten Kapitel dieses Buches versucht werden.

Literaturempfehlungen

Es gibt inzwischen einige umfassende Darstellungen zum Verlauf der chine­sischen Reformpolitik. Besonders empfehlenswert sind zur Einführung Ernst Zander/Steffen Richter, China am Wendepunkt zur Marktwirtschaft? Heidel­berg 1992, die sich auch mit den historischen Wurzeln des heutigen China befassen, und vertiefend Kyoichi Ishihara, China's Conversion to a Market Economy. Tokyo 1993, der besonders die Veränderungen im Finanz- und Distributionssystem sowie die Frage der heutigen Reformalternativen prä­gnant diskutiert, und Barbara Krug, Chinas Weg zur Marktwirtschaft, Eine politisch-ökonomische Analyse der Wirtschaftstransformation 1978-1988, Marburg 1993, deren Schwerpunkt bei der genauen Analyse der Reformse­quenz und des Wechselspiels zwischen Reformschritten liegt, soweit diese besonders durch eigeninteressierte Handlungen der jeweils Zuständigen und Betroffenen bestimmt sind.

Zum Verlauf der Wirtschaftsreformen sind zunächst in fast allen Bereichen die Publikationen der Weltbank Standardliteratur (etwa im Rahmen der Country Reports), die fortlaufend ausführliche Untersuchungen zu speziellen Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Wirtschaftspolitik durch­führt, wie zuletzt zum Außenhandel und zur Preisreform. Die Literatur ist da­rüber hinaus inzwischen fast unüberschaubar geworden, so daß es entweder unmöglich oder ungerecht ist, einzelne Beiträge besonders hervorzuheben. Aktuelle Entwicklungen lassen sich seit einigen Jahren besonders gut in der jährlich erscheinenden "China Review" verfolgen, Chinese University Press, Hong Kong. Noch näher am Puls der Zeit sind Beiträge in der Zeitschrift China aktuell und der 14-täglich erscheinenden China News Analysis, vor­mals Hong Kong, jetzt Taiwan.

Als Vertiefung der eingangs genannten Analysen der Wirtschaftstransfor­mation sind verschiedene Aufsatzsammlungen zu empfehlen. Die Zeitschrif­ten Journal of Economic Perspectives (Vol. 8, No. 2, 1994), Modern China (Vol. 18, Nos. 1,2, 1992) und The China Quarterly (No. 131, 1992) haben ei­nige richtungweisende Konferenzen und Symposia publiziert.

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6. Determinanten: Singularität, lokale Optimierung und evolutorische Transformation

6.1. Einzigartigkeit der Ausgangsbedingungen und lokale Optimierung

Nachdem nun einige empirische Aspekte des chinesischen Weges zur Marktwirtschaft erläutert worden sind, wollen wir versuchen, eine grund­sätzliche theoretische Einschätzung zu gewinnen. Anlaß dieses Versuches ist die jüngste Tendenz in der Literatur zu Transformationsfragen, China als ein "Modell" darzustellen. Diese These ist von großem politischen Interesse, weil die jeweilige Einschätzung des chinesischen Falls natürlich unmittelbar auch Implikationen für die Praxis hat, und hier vor allem für die wirtschafts­politische Beratung, aber teilweise auch für die innenpolitische Auseinander­setzung in anderen postsozialistischen Staaten.

Beispielsweise spielt China eine gewisse Rolle in der russischen wirt­schaftspolitischen Diskussion. Sein "Zwei-Sektoren"-Ansatz mit der Bewah­rung eines großen Staatssektors habe eigentlich die Wirtschaftsentwicklung während der Transformation stabilisiert, und gleichzeitig seien negative Wir­kungen einer allzu frühen Demokratisierung bzw. eines Abbaus stabiler au­toritärer Herrschafts strukturen vermieden worden: so die Sichtweise vieler Vertreter der russischen Staatswirtschaft, die sich durch radikale Privatisie­rungsprogramme natürlich unmittelbar in ihren Interessen betroffen fühlen. Die chinesische Erfahrung besitzt auch in den asiatischen Nachfolgerepubli­ken der Sowjetunion beträchtliche politische Relevanz. Der Vergleich zwi­schen China und Rußland kommt aber auch in der westlichen Transformati­onsliteratur leicht zur Hand, um auf der einen Seite den Triumph des Gra­dualismus und auf der anderen Seite das Scheitern der Schocktherapie zu verkünden. China wird ein Faktor der Frontbildung innerhalb der Wirt­schaftswissenschaft, denn ein weltwirtschaftlich derart bedeutender empiri­scher Fall erhält dann auch ein beachtliches Gewicht bei der Argumentation für und wider die rasche Privatisierung.

Die größte Schwierigkeit, zu solchen Auseinandersetzungen Stellung zu beziehen, liegt nun darin, daß wir auf der einen Seite nach wie vor mit be­trächtlichen Unschärfen bei der Auswertung und Bewertung der empirischen Daten über China konfrontiert sind, und daß auf der anderen Seite der rele­vante theoretische Rahmen nicht verläßlich fixiert ist. Hinzu tritt als viel­leicht wichtigste methodische Barriere gerade im Vergleich zwischen ver­schiedenen Fällen der Transformation, daß Argumente leicht zur Hand kom-

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men, jeden Fall als genuin singulär, also als einzigartig zu identifizieren, und damit den Vergleich zwischen verschiedenen Fällen für die Prüfung von Theoriealternativen auszuschließen. Dann ergibt sich notwendig, daß die Ent­scheidung zwischen den verschiedenen transformationstheoretischen Positio­nen voraussetzen müßte, daß zwischen dem tatsächlich realisierten Einzelfall und seiner kontrafaktischen Entwicklung unter einem hypothetisch anderen institutionellen Rahmen, aber den sonst gleichen Randbedingungen vergli­chen werden müßte: Was wäre in China ceteris paribus passiert, wenn ein ra­sches Privatisierungsprogramm durchgeführt worden wäre? Da solche kon­trafaktischen Überlegungen zwar angestellt, aber nicht empirisch geprüft werden können, erhält die Diskussion eine theoretische Beliebigkeit.

Im Folgenden soll versucht werden, dieser Beliebigkeit auszuweichen, oh­ne gleichzeitig die These von der Singularität abzulehnen. Dabei sind zwei prinzipielle begriffliche Klärungen nötig. Zum einen geht es um den Begriff der "Singularität", zum anderen um die Abgrenzung zwischen "Gradualis­mus" und "Evolution".

Es erscheint meines Erachtens unstreitig, daß Chinas Entwicklung in ent­scheidender Weise durch besondere Ausgangsbedingungen der Transforma­tion ebenso wie durch besondere Randbedingungen während der Transfor­mation gekennzeichnet ist. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der besondere Charakter des chinesischen Planungssystems vor der Reform bedingte not­wendig eine andere Wirkung von Liberalisierungsmaßnahmen als in anderen sozialistischen Planwirtschaften, und die Existenz einer großen und wohlha­benden chinesischen Wirtschaftsgemeinschaft außerhalb der Volksrepublik übte während der Transformation starke Impulse aus. Beide Merkmale könn­ten bereits hinreichend sein, um einen direkten Vergleich zwischen Rußland und China aussagelos werden zu lassen.

Diese Erkenntnis gibt aber gleichzeitig den Hinweis auf ein weitreichendes Defizit der transformationstheoretischen Diskussion vor allem in den ersten Jahren nach dem Kollaps des Sozialismus: Es wurde und zum Teil wird zu wenig

- erstens, zwischen nomologischen Aussagen und den empirischen Bedingungen ihrer Anwendung,

- und zweitens, zwischen dem erwünschten Endzustand der Transformation und der institu-tionellen Struktur des Übergangssystems

unterschieden. Zum Beispiel war es auch für China eine typische Erschei­nung, daß zu einem gewissen Zeitpunkt die Theorie des Kapitalmarktes und der indirekten Managerkontrolle durch die Aktieneigentümer direkt auf die Transformationsstrategie übertragen wurde, und daß also aus theoretischen Aussagen zur Marktwirtschaft unmittelbar normative Konsequenzen für die Transformation und deren Endzustand gleichermaßen gezogen wurden. Da­bei wurde freilich nicht hinreichend reflektiert, daß die moderne Theorie des Kapitalmarktes und der Managerkontrolle ein analytisches Konzentrat der

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realen Verhältnisse im amerikanischen Raum ist, also tatsächlich in ihrer Ge­samtheit gar nicht den Status einer allgemeinen theoretischen Aussage hat, sondern in wesentlichen Teilen eine abstrakte Beschreibung konkret vorlie­gender historischer Tatbestände ist. Das heißt, wirtschaftstheoretische Aussa­gen, die dann für die Transformationspraxis relevant wurden, sind tatsächlich Konglomerate aus nomologischen Hypothesen und verdeckten empirischen Aussagen über deren Antecedensbedingungen: Damit die Kapitalmarkttheo­rie überhaupt praktisch relevant sein kann, muß die institutionelle Struktur eines solchen Kapitalmarktes real gegeben sein. Die Theorie sagt aber nichts darüber aus, wie diese Struktur entsteht, und auch nichts über deren Detail­aspekte oder über die Interdependenz des Kapitalmarktes mit anderen Berei­chen der Marktwirtschaft. Genau das sind aber die eigentlich entscheidenden Probleme der Transformation.

Sobald solche Differenzierungen hinreichend genau getroffen werden, zeigt sich, daß der Bereich echter nomologischer Aussagen der Wirtschafts­wissenschaft begrenzter ist als in der etablierten Lehre suggeriert, daß aber auf der anderen Seite das Problem der Singularität erheblich entschärft wird. Hypothesen der Ökonomie dienen dann als Verbindungsglieder zwischen den verschiedenen Einzelbeobachtungen zu Anfangs- und Randbedingungen der Transformation, ohne daß sie selbst zu einem kohärenten theoretischen Gan­zen zusammengesetzt werden. Die theoretische Analyse der Transformation wird zu einer Analyse einzelner Mechanismen, ohne daß das Bild eines ein­zigen, kohärenten Mechanismus entsteht. In diesem Sinne wird die Analyse selbst singulär, bleibt aber nomologisch fundiert. Zum Beispiel ist die Quantitätstheorie des Geldes ein wichtiges Instrument für die Analyse von Inflationsprozessen während der Transformation, verweist aber gerade durch ihre Anwendung auf die Fülle institutioneller Besonderheiten des System­wechseis, die ihre Ausweitung im Sinne einer "monetaristischen" Konzeption der Wirtschaftspolitik unmöglich werden lassen. Das heißt, die Quantitäts­theorie kann kein Bestandteil mehr einer umfassenden theoretischen Begrün­dung eines "Mechanismus" auf der Ebene des "Wirtschaftssystems" sein (und damit auch eines umfassenden wirtschaftswissenschaftlichen Dogmas), wohl aber ein wichtiges Instrument der Analyse eines der verschiedenen Me­chanismen, die während der Transformation zu Inflation führen.

Die zweite begriffliche Klärung betrifft das Verhältnis zwischen den Kon­zepten des "Gradualismus" und der "Evolution". Die bisherige Differenzie­rung zwischen "Gradualismus" und "Schocktherapie" begeht regelmäßig den schweren analytischen Fehler, unzulänglich zwischen den allgemeinen Kon­zepten der "lokalen" und der "globalen Optimierung" zu unterscheiden. Nun mag man den Gegensatz von "Gradualismus" und "Schocktheorapie" schon aus dem Grunde für wenig fruchtbar halten, weil in wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik gar keine "Schocktherapie" vorstellbar ist, wie etwa bei der Neuschaffung eines kompletten gesetzlichen Rahmens für die Marktwirt-

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schaft, es sein denn in Gestalt einer einfachen Übertragung vorhandener Ge­setze wie im ostdeutschen Fall. Doch selbst wenn also nur zwischen "Gra­dualismen" unterschiedlicher Geschwindigkeit differenziert wird, unterliegt allen diesen Konzepten die Vorstellung erstens einer aktiven und umfassen­den Gestaltung des Transformationsprozesses durch die Politik und zweitens ihrer Orientierung an einer bestimmten Zielvorstellung.

Das heißt aber, Transformationsstrategien sind unabhängig von ihrer zeitli­chen Struktur regelmäßig "konstruktivistisch": Es herrscht die Vorstellung, daß ein außenstehender Beobachter in der Lage wäre, die Menge der mögli­chen Transformationspfade zu überschauen und anschließend denjenigen auszuwählen, der mit einer Minimierung der Übergangskosten einher geht. Der Gradualismus ist also eine Strategie globaler Maximierung, bei der, bild­lich gesprochen, die Berge und Täler der verschiedenen Wege zur erfolgrei­chen Transformation auf einer Karte überschaut werden, und anschließend der Gipfel in Gestalt des wünschenswerten Endzustandes mit einem minima­len Kraftaufwand erklommen wird. In genau dieser Hinsicht gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen "Gradualismus" und "Schocktherapie", nur daß letztere die Vorstellung unterhält, es gäbe eine Seilbahn, mit deren Hilfe der Gipfel auf direktem Wege erreichbar ist - wobei die Seilbahn gege­benenfalls durch ausländische Unterstützung gebaut werden soll.

Globale Maximierung ist gleichzeitig rationale Wirtschaftspolitik im ei­gentlichen Sinne des Begriffs. Zu wenig beachtet wurde aber die Möglichkeit, daß Transformation prinzipiell nur als lokale Maximierung möglich sein könnte. Um wieder im Bild zu bleiben, heißt das, daß die Politik und auch die beobachtende Wissenschaft zwar eine Vorstellung darüber haben, daß ein glo­bales Optimum im Sinne des Gipfels erreicht werden soll, daß sie aber nicht wissen, wo dieser Gipfel ist, und den Weg dorthin aus der beschränkten Per­spektive des Zustandes zu einem bestimmten Zeitpunkt suchen, also den Weg geringster Kosten zum nächsten erkennbaren Gipfel. Dieser Gipfel mag sich dann als relativ niedrig erweisen, wenn von ihm aus Aussicht genommen werden kann, und sich womöglich der gewählte Weg als suboptimaler Umweg zum eigentlich höheren Gipfel entpuppt, auf den nur die Sicht versperrt war.

Lokale Optimierung kann auch mit dem Begriff der Evolution bezeichnet werden: Transformation als Evolution bedeutet dann, daß im Verlauf der Transformation nicht nur konkurrierende Transformationskonzepte über die optimale Auswahl der nächsten praktischen Gestaltungsmaßnahmen auftreten und versuchen, auf die Politik Einfluß zu nehmen, sondern daß diese sich au­ßerdem hinsichtlich der Auffassung über die Lage des globalen Optimums unterscheiden, aber gleichzeitig nicht wirklich wissen können, welchen Ver­lauf der kostenminimale Weg dorthin nimmt. Es werden bestimmte Ent­scheidungen gefällt, die ungeachtet ihres möglichen Selbstverständnisses als globaler Optimierung tatsächlich zunächst eine lokale Optimierung vollzie­hen. Ist dieses lokale Optimum erreicht, wird jedoch gleichzeitig neue Infor-

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mation über die verschiedenen Politikalternativen und deren Kosten gewon­nen, die möglicherweise die ursprüngliche, implizite Annahme über die Re­lation zwischen dem tatsächlich gewählten lokalen und dem vermuteten glo­balen Optimum obsolet werden lassen. Dieselbe Situation kann aber wieder für die anschließende Politikänderung entstehen.

Eine solche Evolution der Transformationspolitik verläuft zwar in einzel­nen Schritten, ist aber nicht "gradualistisch" im konstruktivistischen Sinn. Vielmehr kann Evolution selbstverständlich die Schocktherapie einschließen, und zwar sogar eine tatsächlich realisierte. Entscheidend ist bei der evolutori­schen Sicht der Transformation, daß die Politik und auch deren Berater als endogenes Element der Transformation angesehen werden, und daß ange­nommen wird, daß deren Wissen über die relativen Kosten von Transforma­tionspfaden in prinzipieller Weise beschränkt und unvollkommen ist. Inso­fern wird deutlich, daß an dieser Stelle auch ein schon lange Zeit anhaltender Methodenstreit in der Wirtschaftswissenschaft involviert ist, der in der Tat implizit auch für die transformationspolitische Beratung relevant geworden ist: Nämlich der Gegensatz zwischen der sogenannten "Neoklassik" und vor allem den "evolutorischen" Theoriealternativen.

Die "Neoklassik" ist inzwischen bei vielen Ökonomen postsozialistischer Länder zum Prügelknaben geworden; diese Haltung mischt sich auch stark mit dem Unbehagen an einer starken US-amerikanischen Präsenz in der wirt­schaftspolitischen Beratung, nicht zuletzt über die internationalen Institutio­nen wie des IMF. Dies ist etwa besonders ausgeprägt in Ungarn, greift aber auch in Rußland immer weiter um sich, nachdem es eine Phase gewisser Be­geisterung für die neoklassischen Reformkonzepte gegeben hatte, die nicht nur umfassend waren, sondern auch einen raschen Erfolg versprachen. Hier ist kein Raum, auf diesen Aspekt der Problematik einzugehen, obgleich in­teressant ist, daß er auch in China eine gewisse Rolle gespielt hat. Es scheint nur, daß zu mindestens im engeren Umfeld der fachwissenschaftlichen Dis­kussion die Auseinandersetzung um die Neoklassik weiterhin zu wenig zwi­schen den prinzipiellen theoretischen Alternativen globaler und lokaler Op­timierung unterscheidet.

Der Grund für dieses Defizit ist gleichzeitig einfach und von wesentlicher theoretischer Bedeutung: Sämtliche normativen Konzepte für die Transfor­mation müssen zwingend die Position globaler Optimierung einnehmen, um sich überhaupt normativ legitimieren zu können - welche konkrete Politik ließe sich mit dem Argument verteidigen, daß es sich mit einer beträchtlichen Wahrscheinlichkeit um eine zu teure Alternative in falscher Richtung han­dele, weil das Wissen aller Beteiligten beschränkt ist? Wer so argumentierte, könnte sich nicht hinreichend gegen andere normative Positionen verteidi­gen. Der Standard für die Vorzugswürdigkeit konkreter politischer Program­me wäre schwankend, ein transformationstheoretischer Anarchismus schiene die Konsequenz. Die Politik würde in fundamentaler Weise beliebig, es sei

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denn, sie beschränkte sich explizit auf das Streben nach lokalen Optima. Dann bleibt sie aber ohne Perspektive für die Zeit nach Erreichen eines sol­chen Optimums. Lokale Optimierung steht daher in einem grundsätzlichen Konflikt mit der Legitimation von normativen Ansprüchen der Politik und ih­rer wissenschaftlichen Beratung.

Insofern sich Politik demnach zwingend durch das Ziel globaler Optimie­rung legitimieren muß, entsteht zum einen die ausgeprägte Tendenz, Trans­formation auch tatsächlich als Prozeß globaler Optimierung zu begreifen. In­dem diese Tendenz dann auch die Wahl theoretischer Modelle präjudiziert, entsteht zum anderen ein allgemeiner Bias in der Transformationstheorie, konstruktivistisch zu argumentieren. Beides gemeinsam legitimiert dann die Politik als "rationale". Das bedeutet aber nichts anderes, als daß die Neo­klassik, ob explizit gewollt oder nicht, zum vorherrschenden transformations­theoretischen Paradigma werden mußte und muß, denn sie ist in ihrem Kern eigentlich nichts anderes als das notwendige Resultat bestimmter sehr allge­meiner Annahmen über menschliches Verhalten und vor allem über die Struktur und Qualität der Information, die diesem Verhalten zu grundeliegen. Das Unbehagen an der Neoklassik ist also in gewisser Weise ungerechtfer­tigt, wenn nicht in viel grundsätzlicherer Weise die Prämissen von rationaler Politik selbst in Frage gestellt werden.

Solche Überlegungen sind in anderer Form aus der Konfrontation zwischen neoklassischer und evolutorischer Markttheorie schon lange vertraut. Für die Transformationstheorie sind sie jedoch weitestgehend neu. Wird die Per­spektive der lokalen Optimierung gewählt, so ergeben sich weitreichende Po­sitionswechsel nicht nur für normative, sondern auch für empirische Fragen. Im Zusammenhang des Themas des vorliegenden Buches wird natürlich der Begriff des "Modells" selbst fragwürdig, denn ein "Modell" setzt voraus, daß erstens, entweder die politischen Entscheidungsträger ein bestimmtes ,,Mo­dell" verfolgt haben bzw. daß sich die durchgeführten Maßnahmen hinrei­chend genau zu einem Modell synthetisieren lassen, und zweitens, daß dieses Modell hinreichend allgemein ist, also die konkreten Erfahrungen so weit vergleichbar sind, daß es tatsächlich hypothetisch auf andere Verhältnisse übertragen werden könnte. Ein Modell muß auch so umgesetzt werden kön­nen, daß die für seine Analyse notwendigen und hinreichenden Informatio­nen entsprechend auch für die erfolgreiche Anwendung notwendig und hin­reichend sind. In diesem Sinne ist ein Modell notwendig Gegenstand globaler Optimierung, inbesondere wenn es, wie in der Rede vom ,,Modell China?", auf eine gesamte Gesellschaft als Gegenstand bezogen wird. Kann aber auch lokale Optimierung Modellcharakter haben?

Diese Frage läßt sich auch paradox zuspitzen: Kann lokale Optimierung Gegenstand globaler Optimierung sein, also als "global optimale" Strategie gewählt werden? Kann Evolution selbst als "Modell" dienen im Sinne, daß der Wahl rationale Informationen über die alternativen Kosten und Erträge

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konstruktivistisch-gradualistischer, konstruktivistisch-schockartiger und evo­lutorischer Transformation zu Grunde liegen, und daß sich dann letztere als die rational vorzugs würdige Strategie entpuppt?

Wie oben bereits angesprochen, könnte auf deskriptiver Ebene argumen­tiert werden, daß Transformation immer lokale Optimierung ist, weil die Ent­scheidungsträger immer unvollständig und falsch informiert sind und immer nur begrenzt-rational handeln, so daß sie notwendig lokal optimieren, obwohl sie meinen, global zu optimieren. Sobald aber die Entscheidungsträger und die Wissenschaft als der Transformation endogen betrachtet werden, fallen eigentlich alle Strategien in eine zusammen, es sei denn, es wird explizit auf die genannten informatorischen Annahmen Bezug genommen und behauptet, daß die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger prinzipiell den Informati­onsstand realisieren könnten, um zur globalen Maximierung fähig zu sein. Der Verzicht auf die globale Optimierung wäre dann eine Frage des politi­schen Wollens. Diese Haltung existiert bei manchen Ökonomen durchaus. Das heißt, der Konflikt um die Neoklassik geht eigentlich wirklich nicht um spezifische Programme, sondern um grundlegende, eher anthropologische Überzeugungen über das mögliche Wissen von Entscheidungsträgern. Genau diese Frage liegt aber auch im Kern der Auseinandersetzung um die neoklas­sische Markttheorie. Unser Problem betrifft daher nicht nur die Transforma­tion selbst, sondern auch das Bild des Endzustandes der Transformation, der Marktwirtschaft.

Gesetzt nun den Fall, daß Transformation wegen der grundlegenden In­formationsmängel der Entscheidungsträger faktisch immer lokale Optimie­rung darstellt. Dann ergibt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zum Pro­blem der Singularität: Lokale Optimierung ist nämlich typischerweise im weiten Sinne ein pfadabhängiger und von vielen speziellen Anfangs- und Randbedingungen beherrschter Prozeß, was gleichzeitig nicht ausschließt, daß die Optimierungsschritte selbst allgemeinen Gesetzmäßigkeiten oder all­gemeinen Entscheidungskriterien gehorchen. Vor allem ist nicht ausgeschlos­sen, daß unterschiedliche lokale Optimierer zum gleichen Endergebnis gelan­gen, obgleich sie völlig unterschiedliche Wege gehen. Wenn sie aber von un­terschiedlichen Startpunkten aus beginnen, und wenn sie auf dem Weg zum Optimum unterschiedliche lokale Optima überschreiten, dann bleibt der Weg als solcher singulär. Hinzu kommt, daß die einzelnen Optimierungsschritte auch wesentlich durch die vorher erfolgten Optimierungsschritte bestimmt sind, sich also jeweils eine andere Perspektive für die Wahl weiterer Schritte eröffnet.

Wenn also Transformation lokale Optimierung ist, kann die Transformati­onstheorie die Hypothese der Singularität akzeptieren, ohne gleichzeitig no­mologische Ansprüche aufgeben zu müssen. Gleichzeitig muß sie aber die Rede vom ,,Modell" prinzipiell ablehnen. Vergleichbar sind nur einzelne Mechanismen der Transformation im Sinne einzelner Entscheidungsschritte

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bei der Verfolgung lokaler Optima, wobei sich dann auch notwendig das Er­fordernis einstellt, genau die jeweils herrschenden Anfangs- und Randbedin­gungen zu analysieren. Eben dieser Gedanke lag aber der Schilderung des chinesischen Falls in den vorherigen Kapiteln zu Grunde.

6.2. Theoretischer Rückblick auf den chinesischen Weg zur Marktwirtschaft

China als "Modell" darzustellen, ist, wie gesagt, inzwischen eine weit ver­breitete Auffassung in den Transformationsliteratur und wird vor allem auch von einer chinesischen Lobby unter den jüngeren Wirtschaftswissenschaft­lern unterstützt, die mittels der Propagierung dieses "Modells" Positionen und Einladungen im westlichen Ausland und in internationalen Institutionen erlangen können. Ähnlich wie schon in den siebziger Jahren für den Fall des Maoismus, scheint eine kleine "Meinungsindustrie" im Entstehen begrifflich, die handfeste individuelle Eigeninteressen verfolgt.

Es gibt jedoch ein Argument, das den möglichen Modellcharakter Chinas in prinzipieller Weise in Zweifel zieht, selbst wenn dieser Anspruch für ein­zelne, aber zentrale Mechanismen seiner Transformation erhoben wird, nicht aber für den Weg insgesamt. Sein Kern besteht darin, daß in China be­stimmte Wechselwirkungen zwischen der Erwartungsbildung der Bevölke­rung einerseits und den Maßnahmen der Wirtschaftspolitik andererseits eine Schlüsselrolle für die Transformation gespielt haben, und daß diese Wech­selwirkungen wesentlich auf Fehlinformationen aller Beteiligter über die spä­teren Handlungsfolgen und über die Kausalzusammenhänge beruhten. Jeder Versuch, China als "Modell" zu folgen, würde dann bedeuten, daß genau die­ser Zustand der Fehlinformation absichts voll nachgeahmt werden müßte. Dies ist aber ein Widerspruch in sich, denn die Nachahmung impliziert, daß bereits das Wissen über die Inhalte der Fehlinformation vorhanden ist, also tatsächlich dieselbe Art der Fehlinformation gar nicht möglich sein kann.

Dieses Argument ist formal gleichwertig dem bekannten Argument gegen eine Geldpolitik, die durch Täuschungen der Wirtschaftssubjekte reale Wir­kungen auf Output und Beschäftigung erzielen soll, geht also interessanter­weise auf die neoklassische Theorie rationaler Erwartungen zurück. Wenn es der Geldpolitik eines Landes gelingt, die Wirtschaftssubjekte durch eine be­stimmte Strategie über die tatsächliche spätere Konsequenz dieser Politik in Gestalt von mehr Inflation zu täuschen, dann reagieren diese zunächst in ei­ner Weise, die Wirtschaftswachstum und damit Zielerreichung der Politik zur Folge hat. Genauso aber, wie ein solcher "Trick" nicht wiederholbar ist, weil die Wirtschaftssubjekte aus der Erfahrung lernen und sich nicht ein zweites

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Mal täuschen lassen, kann derselbe "Trick" natürlich auch nicht durch die Notenbank eines anderen Landes nachgeahmt werden, wenn sie explizit er­klärt, diesem Modell zu folgen, und die Wirtschaftssubjekte also darüber in­formiert sind.

Dasselbe Argument besitzt natürlich auch für andere Bereiche der Wirt­schaftspolitik Geltung. Verallgemeinert formuliert besagt es, daß eine be­stimmte Wirtschaftspolitik unter Umständen bestimmte Ziele dadurch errei­chen kann, daß die Wirtschaftssubjekte über die tatsächlichen Kosten dieser Politik systematisch fehlinformiert sind oder getäuscht werden. Dies kann, muß aber nicht, sogar mit eindeutigen Wohlfahrtsgewinnen im Vergleich zum Status quo verbunden sein. Die Transformation könnte wie viele andere speziellere Probleme des Strukturwandels ein solcher Fall sein: Die Wirt­schaftssubjekte könnten genau dadurch angetrieben werden, eine bestimmte Kostenklippe der Transformation zu überwinden, indem sie über deren künf­tige Höhe zum Zeitpunkt des Transformationsbeginns fehlinformiert sind. Befinden sie sich jedoch erst einmal in der Lage, diese höheren Kosten tat­sächlich tragen zu müssen, könnte nur noch der endgültige Vollzug der Transformation die einzige weitere sinnvolle Handlungsalternative sein, die später auch tatsächlich mit den gewünschten Wohlfahrtszuwächsen einher geht. Dieselbe Transformationsstrategie kann aber nicht mehr gewählt wer­den, wenn die Wirtschaftssubjekte die Höhe der Kosten richtig einschätzen, da sie dann zum Zeitpunkt der Strategiewahl völlig anders reagieren.

Nun kommt aber komplizierend noch die Möglichkeit hinzu, daß die Wirt­schaftspolitik die Wirtschaftssubjekte täuscht, weil sie sich selbst täuscht, al­so eine unbeabsichtigte Täuschung vollzieht. Diese Konstellation ist deshalb theoretisch und empirisch bedeutungsvoll, weil eine Selbsttäuschung umge­kehrt impliziert, daß die gewählte Politik glaubwürdig ist, so daß also die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Täuschung erheblich verbessert wer­den. Gleichzeitig löst die Selbsttäuschung, insbesondere falls sie später auch tatsächlich von allen Beteiligten erkannt wird, das Legitimitätsproblem, das sich in jedem Fall (also auch unabhängig von einer tatsächlich absichtsvoll durchgeführten Täuschung) dann stellt, wenn die tatsächlichen Kosten einer wirtschaftspolitischen Maßnahme offenbar werden. Haben sich alle Beteilig­ten gleichermaßen getäuscht, wird der Politik nicht mit der gleichen Kraft Schuld zugewiesen, wie im Falle einer absichtsvollen Täuschung.

Dieses grundlegende Problem der Täuschung und der Fehlinformation während der Transformation ist vielleicht der entscheidende Schlüssel zur These von der Transformation als lokaler Optimierung. Transformation wird damit auch in prinzipieller Weise ein subjektives Phänomen, das nicht aus­schließlich an exogenen Determinanten festgemacht werden kann, die auch einem außenstehenden Beobachter zugänglich sind. Fehlinformation weist gleichzeitig eine viel größere Spannweite möglicher Ausprägungen auf als die Realität, von der sie ja per definitionem abgekoppelt ist. Versuchen wir

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aber, diese und andere theoretische Überlegungen nun am chinesischen Fall konkret zu illustrieren.

Die Führung der Volksrepublik China wurde sehr früh als "pragmatisch" bezeichnet, und tatsächlich gibt es auch vielzitierte Aussagen darüber, daß der Fluß zu überqueren sei, indem man sich von Stein zu Stein vorwärtstastet - vielleicht auch noch ohne das Ufer in Sicht zu haben. Dieses Bild mag also tatsächlich dem theoretischen Konzept der lokalen Optimierung entsprechen. Jedoch wird dann aus dem Auge verloren, daß die chinesische Politik zumin­destens in negativer Hinsicht ein klares wirtschaftspolitisches Leitbild besaß und teilweise auch besitzt: Nämlich daß die institutionellen Veränderungen der chinesischen Wirtschaftsordnung nicht zur Etablierung einer kapitalisti­schen Marktwirtschaft führen sollen.

Wenngleich diese Forderung heute sicherlich ziemlich weit ausgedünnt ist, besaß sie lange Jahre einen zentralen Stellenwert für die Politik. Dies muß als eine wesentliche Differenz zur Transformation in anderen postsozialistischen Gesellschaften betrachtet werden: Wenn China als ein erfolgreicher Fall der Transformation zur Marktwirtschaft betrachtet wird, dann muß gleichzeitig Beachtung finden, daß die chinesische Führung zu keinem Zeitpunkt dieses Ziel verfolgt hat, daß sie glaubwürdig das Gegenteil vertreten hat und daß somit die Bevölkerung über das Endergebnis des institutionellen Wandels ge­täuscht wurde. In diesem Sinne wäre es also verfehlt, die chinesische Politik nur als "pragmatisch" anzusehen, denn pragmatisch wurde nur innerhalb ei­nes bestimmten weltanschaulichen Rahmens gehandelt, der etwa bis heute ausschließt, daß in China ein systematisches Programm zur Privatisierung der Staats industrie verfolgt wird. Dies aber umgekehrt als "gradualistische" Stra­tegie des Systemwandels zu deuten, wäre ebenfalls irreführend, denn die ge­genwärtige schrittweise Umwandlung der Staatsindustrie erfolgt nicht expli­zit mit der Absicht, auf diese Weise den größeren Teil des Staatssektors möglichst zu den geringsten Transformationskosten zu privatisieren. Dies wird zwar, wie erwähnt, gerade auch von manchen jüngeren chinesischen Ökonomen suggeriert, die tatsächlich das Ziel der Marktwirtschaft als anstre­benswert erachten, ist aber keinesfalls der Wille der eigentlichen wirtschafts­politischen Entscheidungsträger.

Die sozialistische Weltanschauung in der chinesischen Variante des Re: formsozialismus ist in vielerlei Hinsicht eine Restriktion der Spannweite möglicher wirtschaftspolitischer Maßnahmen gewesen. So bleibt etwa das Kollektiv Eigentümer des Bodens in den ländlichen Gebieten Chinas, auch wenn die Pachtverträge langfristig sind, und bewahrt auf diese Weise seine zentrale Position in der ländlichen Gesellschaft - je nach den lokalen Rah­menbedingungen mehr oder weniger. So bleibt der Staat auch im Falle der Umwandlung von Staatsunternehmen in Aktiengesellschaften möglichst wichtigster Anteilseigner. So bleiben die staatlichen Banken absolut domi­nant im Finanzsektor. Natürlich ist es bei solchen Beispielen möglich, sie

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auch im Sinne "gradualistischer" Transformationsstrategien als "optimal" zu rationalisieren. Solange noch keine alternativen, funktionsfähigen öffentli­chen Verwaltungen auf dem Lande eingerichtet sind, kann das kollektive Ei­gentum am Boden ein Pfand sein, das Individuen an kooperative Strategien zur Produktion unerläßlicher öffentlicher Güter bindet (etwa beim Wasser­bau). Solange kein tragfähiger sozialpolitischer Rahmen geschaffen worden ist, bleibt die dominante Eigentümerfunktion öffentlicher Instanzen in der Staatsindustrie unerläßlich, um die Gefahr sozialer Krisen zu minimieren. So­lange Gesetze und Institutionen im Finanzsektor nicht hinreichend verläßlich sind, kann ein bürokratischer und starrer Apparat von Staatsbanken stabilisie­rend auf die makroökonomische Entwicklung wirken.

Solche Argumente sind jedoch nur gerechtfertigt, wenn sie sich auf die Bewertung lokaler Optima relativ zu einem globalen Optimum beziehen, das der außenstehende Beobachter als solches identifiziert. Falsch wäre es aber, diese Argumente als Bestandteil des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens der Akteure in China anzusehen. Welches sind aber die wirklichen Einfluß­größen auf den Verlauf der chinesischen Transformation gewesen?

Ich möchte hier folgende Faktoren nennen und sie anschließend knapp skizzieren, wobei hinsichtlich der empirischen Belege nurmehr auf die je­weiligen Informationen in den vorherigen Kapiteln hinzuweisen ist:

Weltanschauung und Infonnationslage seitens der Politiker und der Wirtschaftssubjekte, Anfangsbedingungen in institutioneller und realwirtschaftlicher Hinsicht, Internationale Rahmenbedingungen, Kulturelle Detenninanten des Entscheidungsverhaltens, Eigeninteresse der Vertreter öffentlicher Instanzen unter gegebenen fiskalischen Beschrän­kungen. Interessengegensätze zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen.

Zur Frage des weltanschaulichen Einflusses ist bereits einiges gesagt, zu er­innern ist aber außerdem an die verschiedenen Aspekte, die zu Beginn des vierten Kapitels angeschnitten worden sind, also vor allem die spezifischen wirtschaftspolitischen Positionen der fünfziger Jahre und das geistige Erbe des Maoismus in der Gesellschaft. Für den besonderen Verlauf der Reform­politik sind außerdem die Veränderungen wichtig, die das Bild des Wandels selbst vollzogen hat. Beispielsweise haben wichtige Entscheidungsträger der chinesischen Politik besonders in der ersten Hälfte der achtziger Jahre kein klares Bild über die Funktionsweise des eigenen Systems, geschweige denn von real existierenden Marktwirtschaften gehabt. Die wirtschaftspolitische Beratung hat innerhalb eines idiosynkratischen begrifflichen Horizontes statt­gefunden, der von kreativen Umdeutungen marxistischer Konzepte be­herrscht wurde. Es ist davon auszugehen, daß Politik und interessierte Öf­fentlichkeit lange Zeit mehrheitlich tatsächlich der Überzeugung waren, daß Marktmechanismen in ein sozialistisches Wirtschaftssystem integriert werden können. Dieser Glaube war eine wichtige Voraussetzung dafür, daß Einzel-

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maßnahmen ergriffen wurden, die später tatsächlich zur Ausbildung der Marktwirtschaft führten.

Es war schon im zweiten Kapitel ausdrücklich auf die Bedeutung subjekti­ver Faktoren im Systemwandel hingewiesen worden. Für den Bereich welt­anschaulicher Fragen sollte hier auch auf das wichtige Thema der Legitimität von Wirtschaftspolitik hingewiesen werden. Für den chinesischen Fall ist da­von auszugehen, daß insgesamt eine starke Präferenz für Maßnahmen be­steht, die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung gewährleisten. Dies war wäh­rend der ersten Hälfte der achtziger Jahre besonders ausgeprägt der Fall, weil die Mehrheit der Bevölkerung unbedingt einen Rückfall in kulturrevolutionäre Verhältnisse vermeidet sehen wollte. Danach zog allein der Generationen­wechsel die Abschwächung dieses Effektes nach sich, mit dem Resultat, daß die jüngere Generation zur treibenden Kraft der demokratischen Bewegung von 1989 wurde. Seitdem hatte jedoch gerade die Erfahrung mit dem System­wandel in der ehemaligen Sowjetunion zur Folge, daß die bestehenden chinesi­schen Verhältnisse zunehmend als die bessere Option wahrgenommen wurden.

Insgesamt kann also die These in vielerlei Hinsicht gestützt werden, daß die chinesische Transformation in spezifischer Weise durch herrschende Weltanschauungen und die Veränderung von Informationslagen im Zeitab­lauf bestimmt worden ist. Dieser Zusammenhang läßt sich aber nicht im Sin­ne globaler Optimierung auffassen.

Die Bedeutung von Anfangsbedingungen ist in den vorherigen Kapiteln ebenfalls wiederholt betont worden. Auch in der transformationstheoreti­schen Literatur ist etwa darauf hingewiesen worden, daß China allein wegen des großen Umfangs seines agrarischen Sektors nicht mit anderen postsozia­listischen Systemen verglichen werden kann, sieht man etwa von Albanien ab. Wir hatten gesehen, daß dies sogar für die Bewertung quantitativer Daten und die Konstruktion von Standards für die Bestimmung des Transformati­onserfolges bedeutsam ist, also in engem Zusammenhang mit der vorher auf­geworfenen Frage der Informationslage steht. Allerdings sollte der Hinweis auf den agrarischen Sektor nicht nur realwirtschaftlich, sondern vor allem auch institutionell aufgefaßt werden, denn ein wesentlicher Faktor für die spätere Dynamik des ländlichen (nicht unbedingt des landwirtschaftlichen) Raumes in China war eben die Auskopplung von dessen nicht-Iandwirt~ schaftlichem Bereich aus der regionalen und nationalen Planung.

Die Dynamik des kollektiven industriellen Sektors in China war im we­sentlichen dadurch bedingt, daß er sich in unregulierten Nischen des alten Systems entfalten konnte. Interessanterweise spielte aber auch eine besondere Randbedingung während seiner Entfaltung eine wichtige Rolle. Es handelt sich um die Beschränkung der Arbeitskräftemobilität, also gerade um ein De­fizit das alten Systems im Bereich des Arbeitsmarktes. Dieses Beispiel zeigt auch sehr deutlich, wie schwer eine Bewertung einzelner Mechanismen der Transformation in ihrem Zusammenwirken ist. Bei isolierter Betrachtung

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ebenso wie im Kontext eines global optimierenden Schock-Ansatzes hätten die administrativen Beschränkungen der Arbeitskräftemobilität eindeutig rasch zum Gegenstand von Liberalisierungsstrategien erklärt werden müssen.

Im chinesischen Fall ist aber der Zusammenhang zwischen Mobilitätsbe­schränkungen und Entwicklung der ländlichen Industrie zu beachten, denn gerade die ständige Konfrontation mit dem lokalen Arbeitskräfteüberschuß in der Landwirtschaft zwang und zwingt lokale Instanzen ebenso wie auch Pri­vatleute, aktiv die Schaffung industrieller Arbeitsplätze zu betreiben. Das heißt, es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Mobilitätsbeschränkun­gen und dem anhaltenden Investitionsboom in der ländlichen Industrie. Die­ser Boom hat selbstverständlich nicht nur positive Wirkungen (beispielsweise führt er sicherlich zu einem suboptimal hohen Grad an lokaler Umweltschä­digung), doch hat er in jedem Fall zur raschen relativen Ausweitung der Marktallokation in China beigetragen. Insbesondere entsteht auch ein enger Zusammenhang zwischen den bei den Zielen der Gewinnmaximierung und der Beschäftigungsmaximierung, denn erstere kann im Dienste der Reinvesti­tion in neue Arbeitsplätze stehen. Gleichzeitig läßt sich in vielen ländlichen Unternehmen Chinas beobachten, daß gerade ihr kollektiver Charakter eine hohe Akzeptanz von Lohnsenkungen mit sich bringt, die bei Absatzkrisen nötig werden, um das Unternehmen überlebensfähig zu halten. Es besteht eine gewisse Identifikation der lokalen Belegschaft mit dem unternehmeri­schen Geschick des Unternehmens.

Internationale Rahmenbedingungen können nun als eine spezielle Art von Randbedingungen aufgefaßt werden. Sie werden hier besonders aufgeführt, weil sie von Randbedingungen innerhalb des Systems zu unterscheiden sind: Sie sind häufig exogen, während es, wie im genannten Fall der Migrationsbe­schränkungen, auch endogene Randbedingungen des Systemwandels gibt, insbesondere wenn die Aufmerksamkeit einzelnen Mechanismen gilt. Hier zeigt sich außerdem, wie das Konzept der lokalen Optimierung konkreter auf empirische Transformationsverläufe angewendet werden kann. Offenbar ist es sehr hilfreich, unterschiedliche Randbedingungen zu identifizieren, die gleichsam die Steigungen und Senken in der Landschaft möglicher Trans­formationspfade darstellen. Aus der Perspektive einzelner Transformations­schritte können bestimmte Randbedingungen als exogen fixiert betrachtet werden, obgleich sie in einem anderen Bereich oder auf einer anderen Ebene des Transformationsprozesses verändert werden. Entscheidend ist nur, ob diese Veränderung zum einen erheblich langsamer erfolgt als der in Frage stehende einzelne Transformationsmechanismus wirkt, und ob die Wechsel­wirkung zwischen diesem Mechanismus und der Randbedingung sehr schwach ist. Genau in dieser Hinsicht unterscheiden sich Transformations­prozesse im Einzelnen nachhaltig, und werden somit zu singulären Phäno­menen. Dies schließt aber nicht aus, daß die Wirkung der Randbedingungen auf den Mechanismus nicht nomologisch untersucht werden könnte.

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Randbedingungen internationaler Natur haben Chinas Entwicklung immer stark beeinflußt, obgleich dies eigentlich nur selten im Sinne eines direkten Eingriffes in innere Entwicklungen geschah. Wie wir gesehen haben, kann aber die Genese des Maoismus gar nicht ohne den internationalen Kontext verstanden werden. Ähnliche Faktoren wirken immer wieder auf China ein. Der jüngste Fall ist sicherlich der Boom ausländischer Direktinvestitionen, der sich wesentlich auch aus der Position des chinesischen Investitionsstand­ortes relativ zu anderen möglichen Standorten erklärt. Beispielsweise ist das zur Zeit intensive Interesse der deutschen Unternehmen an China auch ein Spiegel der Desillusionierung durch die komplizierte Lage in Rußland. Aber auch außenpolitisch ergeben sich für die chinesische Führung seit 1989 be­trächtliche Zwänge, eine aggressive Reformstrategie zu fahren, da dies ange­sichts politischer Repression im eigenen Lande einer der wichtigsten Fakto­ren ist, mit denen sich die kommunistische Führung Ansehen im Ausland verschaffen kann. Damit wird aber gleichzeitig die Transformationspolitik selbst glaubwürdiger, da sie sich aus dem Eigeninteresse der Politiker erklärt.

Die wichtigste Klasse internationaler Rahmenbedingungen hatten wir im dritten Kapitel ausführlich diskutiert, nämlich die Passung zwischen Trans­formation auf dem chinesischen Festland einerseits und dem erforderlichen Strukturwandel in Hong Kong und Taiwan andererseits. In diesem Zusam­menhang tritt auch immer wieder der Begriff der "Kultur" auf, denn offen­sichtlich vollzieht sich die Integration im chinesischen Wirtschaftsraum vor dem Hintergrund der gemeinsamen Kultur.

Die Frage nach dem Einfluß kultureller Faktoren auf die chinesische Trans­formation ist schwierig zu beantworten. Zu unterscheiden wäre hier zwischen historischen und kulturellen Aspekten, denn ein Fortwirken der Geschichte ist nicht unbedingt mit der langfristigen Bestimmung individuellen Verhal­tens durch internalisierte Normen gleichzusetzen, die in ihrer Gesamtheit Be­standteil der Kultur einer Region sind. Beispielsweise ist der Transformati­onsprozeß in den ländlichen Räumen ohne Zweifel durch beide Faktoren in spezifischer Weise geprägt.

Historisch betrachtet, haben die verschiedenen agrarpolitischen Maßnah­men der KPCh zum Teil nur eine recht oberflächliche Wirkung auf die ge­sellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen des Landes gehabt. Bei­spielsweise läßt sich bei Dorfstudien in unterschiedlichen Gebieten Chinas zeigen, daß die Kontinuität mit den gesellschaftlichen Strukturen vor 1949 teilweise groß ist, weil die kommunistischen Institutionen häufig nur auf in­formell fortexistierende soziale Beziehungen aufgestülpt wurden, also nur ei­ne Art Etikettenwechsel erfolgte. Zwar ist der Staat in Gestalt des "Kaders" weiter in die ländliche Gesellschaft vorgedrungen als je zuvor, doch hat der gleiche Staat, wie gesehen, die Position dieses Kaders immer wieder gestört und verunsichert. Solche historischen Kontinuitäten können beispielsweise in ärmeren nördlichen Dörfern Chinas darin bestehen, daß nationalchinesische

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Organisationsmuster des Dorfes zu Zwecken der Besteuerung auf die Zu­sammensetzung der Produktionsgruppen und -brigaden übertragen wurden, die während der Kollektivierung gebildet wurden. Im Süden knüpfte die Neuorganisation der ländlichen Gesellschaft hingegen häufig an die dort we­sentlich stärker ausgeprägten weiteren Verwandtschaftsorganisationen ("Li­neages") an, so daß zum Teil die Produktionsgruppen und die Verteilung des Landes zwischen ihnen eigentlich die alten Koalitionen im Dorf fortschrieb, mit dem wichtigen Unterschied, daß die Verteilung des Vermögens innerhalb solcher Gruppen egalitärer war als früher. Bezeichnenderweise galt dies aber schon nicht mehr für die Vermögensverteilung zwischen den Gruppen, nachdem die Phase radikaler Kollektivierung ausklang.

Solche historischen Kontinuitäten führen zu Organisationsmustern der heu­tigen ländlichen Gesellschaft, die für China spezifisch sind, aber nicht eigent­lich als "kulturell" bezeichnet werden dürfen. Sie lassen sich nämlich durch­aus erklären, indem jeweils auf das Eigeninteresse der beteiligten Akteure und die jeweiligen institutionellen Anfangs- und Randbedingungen von deren Entscheidungsverhalten hingewiesen wird. Dies könnte für bestimmte Ver­haltensweisen anders sein, die etwa im Bereich der religiösen Fundierung der Familie zu suchen sind. Hier trifft der Betrachter aber auf die grundsätzliche Schwierigkeit, daß eine ausgeprägte Orientierung an materiellen Interessen -also im Prinzip eben die Verfolgung des Eigeninteresses - aus anthropologi­scher Sicht durchaus als Spezifikum der chinesischen Kultur betrachtet wer­den könnte. Das heißt, es tritt ein Problem der mangelnden analytischen Trennschärfe auf.

Ohne Zweifel ist jedoch eine Triebkraft der Transformation in China, daß die traditionelle Kultur sehr stark die wirtschaftliche Funktion der Familie be­tont und das Individuum dazu verpflichtet, sich intensiv für die Bildung von Wohlstand einzusetzen. In der Literatur zu China sind zwar immer noch die Klischees verbreitet, daß der Konfuzianismus den Händler und wirtschaftli­che Interessen verachtet habe. Dabei wird jedoch völlig übersehen, daß sol­che Werte der traditionellen Herrschaftselite zuzurechnen sind, nicht aber der Volkskultur, die ohne Zweifel, wenn überhaupt, dann heute zu den Faktoren der Transformation zu rechnen wäre. Die Volkskultur kannte nicht nur die normative Bindung des Einzelnen an das wirtschaftliche Wohlergehen der Familie, sondern gleichzeitig auch recht differenzierte Formen wirtschaftli­cher Organisation im Kontext von Familie und Verwandtschaft. Beispiels­weise erlaubte das chinesische Verwandtschaftssystem stets eine klare Diffe­renzierung zwischen rituellen Funktionen in der Familie und wirtschaftlichen Funktionen im Sinne von Management-Autorität. Rituelle Einheiten mußten nicht gleichzeitig wirtschaftliche sein, und das Idiom der Verwandtschaft diente oft der Bildung wirtschaftlich effizienter Organisationsformen. Dieses kulturelle Erbe dürfte eindeutig hinter der großen unternehmerischen Moti­vation zu sehen sein, die auf dem Lande Platz gegriffen hat.

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Es gibt sicherlich noch weitere Aspekte der Transformation, wo bei hinreichend genauer Unterscheidung zwischen "Geschichte" und "Kultur" kulturelle Faktoren identifiziert werden können. Beispielsweise spielt der Grundwert staatlicher Einheit offenbar weiterhin eine wichtige Rolle in der chinesischen Wirtschaftspolitik. Ungeachtet aller realwirtschaftlichen Zentri­fugalität und fiskalischer Interessengegensätze wirkt die Vorstellung zemen­tierend auf die staatliche Einheit Chinas, daß alle Chinesen Teil eines ge­meinsamen kulturellen Universums sind, in deren Zentrum der politische Re­präsentant des unitarischen Zentralstaates steht. Das heißt, die staatliche Ein­heit ist ein kultureller Wert, der zum Teil abgelöst besteht von dem tatsächli­chen Status einer Zentralregierung in fiskalischer oder sogar militärischer Hinsicht. Dieser Faktor hat bereits in der chinesischen Geschichte immer wieder als Kraft gewirkt, die Einheit Chinas zu wahren oder wieder herzu­stellen, und dürfte auch künftig einigendes Band jenseits des Regionalismus bleiben.

Auf der anderen Seite ist dieser chinesische Einheitsstaat aber hinsichtlich seiner Strukturen deutlich anders aufgebaut als die gesellschaftlich stark inte­grierten Nationalstaaten des europäischen 19. und 20. Jhds. Hier spielt unter Umständen auch ein weiterer kultureller Aspekt hinein, nämlich der gerin­gere Grad der Selbstbindung der Individuen an Regeln formaler Organisatio­nen. Im chinesischen Kulturraum läßt sich auch außerhalb der VR China nachweisen, daß soziale Beziehungen auch dann vergleichsweise schwach durch formale Institutionen strukturiert sind, wenn diese Teil von Organisa­tionen sind, also etwa Industrieuntemehmen oder staatlichen Verwaltungen. Flexible informelle Verhaltensformen sind vielmehr die eigentliche Trieb­kraft sozialer Beziehungen, die neuerdings mit dem Begriff des "Netzwer­kes" bezeichnet werden, der in gewisser Weise dem chinesischen Gegenstück entspricht, den "guanxi". Dabei wird die Rolle langfristiger Reziprozität zwi­schen konkreten Personen und der menschliche Gehalt ihrer Beziehungen viel stärker betont als die Geltung bestimmter formaler Verhaltensregelun­gen. Diese Gegenüberstellung der "Herrschaft durch Gesetz" mit der "Herr­schaft durch Menschen" reicht bis in die vorchristliche Geschichte Chinas zu­rück und besitzt bis heute Bedeutung für ein besseres Verständnis sozialer Prozesse im chinesischen Kulturraum. Dies mag beispielsweise ein Faktor sein, der wesentlich zur immer wieder erstaunlichen Flexibiltät des organisa­torischen und institutionellen Wandels beiträgt. Beispielsweise ist der tat­sächliche eigentumsrechtliche Status eines verpachteten Staatsbetriebes weni­ger durch die herrschenden formalen Bestimmungen determiniert, als viel­mehr durch die Position seines Managers in einern komplexen Gefüge per­sönlicher Beziehungen an der lokalen Schnittfläche zwischen Wirtschaft und Politik. Diese Tatsache trägt auch dazu bei, daß die Grenze zwischen Korrup­tion und regelkonformen Verhalten fließend ist. Persönliche Reziprozität muß sich etwa auch im Austausch materieller persönlicher Gefälligkeiten

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ausdrücken, da sie sonst gehaltlos bleibt. Sie dient aber nicht nur dem indivi­duellen Profit, sondern vor allem der langfristigen Stabilisierung bestimmter Verhaltenserwartungen in Netzwerken.

Damit läßt sich die Bedeutung der Kultur für die Transformation gerade auch hinsichtlich der kulturellen Bedeutung der Wirtschaft durchaus von rein historischen oder realwirtschaftlichen Determinanten des Systemwandels dif­ferenzieren. Insofern wirtschaftliche Interessen des Einzelnen über den in­strumentellen Charakter hinaus einen Wertstatus in der traditionellen chinesi­schen Kultur besitzen, ist die Transformation von der Plan- zur Marktwirt­schaft besonders begünstigt. Wirtschaftliche Eigeninteressen als solche sind jedoch selbstverständlich auch ohne Vermittlung der Kultur eine Triebkraft der Transformation.

In diesem Zusammenhang ist der öffentliche Sektor von besonderem Inter­esse. Zwischen dem Staat und der Wirtschaft besteht häufig ein prinzipieller Interessenkonflikt, da die Inhaber staatlicher Machtpositionen regelmäßig im Eigeninteresse versuchen, Ressourcen an sich zu ziehen, handele es sich um Autokraten, um wohlmeinende Repräsentanten öffentlicher Interessen oder um Vertreter der staatlichen Bürokratie. Je nach der Art und Weise und dem Umfang, mit dem Ressourcen durch den Staat appropriiert werden, gehen negative oder positive Anreize auf die wirtschaftlichen Aktivitäten aus. Von besonderer Relevanz in unserem Zusammenhang sind Konstellationen, wo es im Eigeninteresse staatlicher Akteure liegt, den System wandel beschleunigt zu vollziehen, wo also entweder beabsichtigt oder vor allem auch unbeab­sichtigt die enge Maximierung fiskalischer Ziele staatlicher Vertreter die Li­beralisierung der Wirtschaft zur Folge hat, und zwar ganz unabhängig davon, ob die staatlichen Akteure selbst ein Liberalisierungsprogramm verfolgen bzw. die Liberalisierung als politischen Wert betrachten, an den sie sich un­abhängig vom fiskalischen Eigeninteresse binden.

Dieser Faktor dürfte eine große Rolle in der chinesischen Transformation gespielt haben. Wir hatten die besonderen Merkmale des chinesischen Fi­nanzsystems kennengelernt. Ihr wesentliches Ergebnis bestand und besteht darin, daß sich das Interesse des Fiskus an einer Maximierung der Einnah­men mehr oder weniger direkt umsetzt in ein Interesse an der Maximierung des Gewinnes öffentlicher Unternehmen, so daß sich ein wichtiger Aspekt jeglicher Transformation zur Marktwirtschaft, nämlich die Etablierung der Gewinnmaximierung als Zielfunktion wirtschaftlicher Akteure, direkt ablei­ten läßt aus den fiskalischen Anreizstrukturen, somit also nicht in prinzipiel­lem Gegensatz mit dem Fiskus steht. Dies ist im wesentlichen das Ergebnis des Systems regionaler Eigentumsrechte, das sich fiskalisch in der Zuwei­sung von Einnahmekompetenzen an diejenigen Gebietskörperschaften äu­ßert, die auch für die jeweiligen Unternehmen in anderer Hinsicht zuständig sind. Institutioneller Spiegel dieser Konstellation sind die Fonds außer Bilanz ebenso wie die dezentrale Struktur des chinesischen Fiskus.

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Seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre überlagert sich dieser Effekt mit den weitreichenden Eigenaktivitäten von Beamten und Verwaltungsange­stellten. Große Bereiche der öffentlichen Verwaltung, die allerdings zum Teil weit in die Wirtschaft hineinreichen, werden in gewinnorientierte Quasiunter­nehmen umgewandelt. An dieser Stelle ist die Grenze zum Mißbrauch von Verwaltungsmacht sehr dünn. Dennoch wirkt die unmittelbare Transforma­tion fiskalischer Interessen in Gewinnmotive in ähnlicher Weise transforma­torisch auf die Sozialstruktur wie etwa der Ämterkauf beim Übergang von der aristokratischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Selbstverständlich ergibt sich dann das Erfordernis, die Rolle staatliche Akteure in Wirtschaft und Ge­sellschaft neu zu gestalten. Die Transformation im engeren Sinne wird aber eindeutig unterstützt und beschleunigt.

Die schrittweise Verwandlung staatlicher Akteure in gewinnorientierte Un­ternehmer bedeutet also tatsächlich auch eine nachhaltige Veränderung der sozialen Strukturen in China. Es entstehen neue Interessenkonstellationen, die dann auch zu neuen sozialen Gegensätzen führen. Dieser Bereich ist der zur Zeit interessanteste, aber gleichzeitig noch wenig überschaubare Aspekt des Fortgangs der chinesischen Transformation. Allerorts verändern sich so­ziale Strukturen in nachhaltiger Weise. Es entstehen neue gesellschaftliche Gruppierungen wie die "Neuen Reichen", erfolgreiche Unternehmer, die in ihren Heimatorten beträchtliche Reichtümer angesammelt haben und dies auch in ihrem Konsumverhalten zur Schau tragen. Vor dem Massaker am Tiananmen gab es durchaus schon Privatunternehmer, die demokratische Kräfte unter den Studenten unterstützten. Insgesamt ist dies jedoch noch we­niger bedeutungsvoll als die Versuche der Partei, diese Gruppe als ,,rote Ka­pitalisten" in die bestehenden politischen Strukturen zu integrieren, sei es auf lokaler Ebene, sei es auf der Ebene des Nationalen Volkskongresses.

Die Ausbildung einer wohlhabenden Unternehmerschicht wird von vielen Faktoren unterstützt, zu der die eben erwähnte Kommerzialisierung des öf­fentlichen Sektors gehört. Nicht unerwähnt bleiben darf aber auch der wach­sende Einfluß auslandschinesischer Unternehmer im lokalen Kontext. So können beispielsweise in südostchinesischen Dörfern ehemalige Auswande­rer heute wieder ein beträchtliches Prestige besitzen und beispielsweise Schu­len stiften. Dies führt aber auch dazu, daß traditionelle Verwandtschaftsbe­ziehungen und -organisationen an Bedeutung gewinnen. In den Städten spielt andererseits das wirtschaftliche Gewicht von auslandschinesischen Investo­ren eine wachsende Rolle, die ihre Interessen wie im Falle der Taiwanesen auch durch formalisierte Bildung von Lobbyismus zu verfolgen suchen.

Eine solche Formierung von Interessen in Vereinigungen und Organisatio­nen gewinnt immer mehr an Bedeutung für die chinesische Politik. In lokalen Zusammenhängen könnte dies bereits Anzeichen für die Entstehung einer "ci vii society" sein: Der Staat ist jedoch stets bemüht, die Autonomie solcher Organisationen zu unterbinden und sie stattdessen für die indirekte Lenkung

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gesellschaftlicher Prozesse zu instrumentalisieren. Werden diese verschiede­nen Kräfte betrachtet, so scheint die gegenwärtige chinesische Entwicklung eher in Richtung eines korporatistischen Regimes zu gehen, unter dem viele gesellschaftliche Organisationen parastaatlichen Status erhalten. Dies schließt freilich nicht aus, daß innerhalb dieser Organisationen der Ausgleich konfli­gierender Interessen gesucht wird.

Zunehmend wird aber deutlich, daß es auch gesellschaftliche Gruppen gibt, die sich außerhalb der staatlichen Kontrolle bewegen, in mancher Hinsicht sogar gesellschaftlich marginalisiert sind. Dies betrifft vor allem die Migran­ten aus den ländlichen Räumen. Es ist noch schwer abschätzbar, ob hier au­tonome Kräfte entstehen; hinzuweisen ist aber auf eine wachsende Streikhäu­figkeit in den südlichen Provinzen. Der Staat versucht, der Entstehung auto­nomer Gewerkschaften zu begegnen, indem nun verstärkt die Einrichtung von Zweigen der staatlichen Gewerkschaft in Betrieben ausländischer - und das heißt vor allem, auslandschinesischer - Investoren betrieben wird.

Insgesamt haben daher im Laufe der Reformen gesellschaftliche Interes­senkonflikte immer stärkeren Einfluß auf den Transformationsverlauf ge­nommen, ohne daß dies aber bislang mit einer autonomen Interessenvertre­tung verbunden wäre. Es gibt aber viele Bereiche der Transformation, wo eindeutig die einzelnen Schritte durch Prozesse des Interessenausgleichs ge­prägt sind. Beispielsweise ist die Reform des Arbeitsmarktes stark geprägt durch die vielfältigen Interessen, die einzelne Fabrikdirektoren bei ihren Per­sonalentscheidungen zu berücksichtigen haben. Selbst wenn auf gesetzlicher Ebene Liberalisierungsmaßnahmen ergriffen werden, hat dies häufig nur marginale Wirkungen für die effektive betriebliche Personalpolitik, weil bei­spielsweise innerhalb des Betriebes die Parteimitglieder entgegensteuern, die auf diese Weise aus der Vertretung der Interessen von Inhabern gefährdeter Arbeitsplätze Nutzen ziehen, oder außerhalb des Betriebes die örtlichen Be­hörden starken Druck ausüben, daß potentiell Arbeitslose weiterhin in den Betrieben aufgefangen werden.

6.3. Schluß

Ziehen wir nun die Schlußfolgerung aus unseren vielfältigen empirischen und theoretischen Betrachtungen. Sie ist einfach und klar.

Erstens, China ist noch nicht als "Wirtschaftswunder" zu qualifizieren, weil die Problemen, Krisenpotentiale und Grenzen des Wachstums gravierende Zweifel aufwerfen, ob die zu­rückliegende Entwick:lungsdynamik sich in die Zukunft fortsetzen wird. Zweitens, China ist kein "Modell", weil die Ausgangs- und Randbedingungen seiner Transformation sowie die subjektiven Faktoren singulär waren und sind. Drittens, Chinas Transformation ist nicht "gradualistisch", sondern ist ist lokale Evolution.

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Der zuletzt genannte Aspekt läßt sich freilich auch verallgemeinern. Chinas Transformation ist eine Lehre über die Begrenztheit menschlichen Wissens um politische Gestaltungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen. Sie weist auf die grundsätzlichen Beschränkungen für die Anwendbarkeit globaler und rationaler Transformationspläne hin. Positiv gewendet, muß sich die Trans­formationspolitik selbst verstärkt auf die Vielfalt lokaler Strategien besinnen, und damit auch einen weitreichenden Prozeß der Dezentralisierung politi­scher Kompetenz der Transformation einleiten. Es mag als ein paradoxes Merkmal vieler Transformationskonzepte der Vergangenheit gelten, daß sie eigentlich das Machtpotential eines hochgradig zentralisierten wirtschaftli­chen und politischen Systems nutzen wollten, um den Übergang zur Markt­wirtschaft zu entwerfen und auch gegen widerstrebende gesellschaftliche Kräfte durchzusetzen. Dies widerspricht aber eigentlich dem Grundgedanken marktwirtschaftlicher Freiheit und Autonomie des Einzelnen, staatsrechtlich auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzipes. Insofern könnte Chinas Transfor­mation vielleicht in grundlegenderer Weise als eine "marktwirtschaftliche" gelten als viele andere bislang realisierte Transformationsstrategien.

Literaturempfehlungen

Auch zur Problematik der Transformation gibt es inzwischen ganze Biblio­theken. Der Verfasser dieses Buches hat das evolutorische Konzept der Transformation früh formuliert in dem Aufsatz, Systemtransformation als ökonomisches Problem, in: Außenpolitik 2/1991, S. 171-181. Empirische und theoretische Aspekte der Transformation werden im umfangreichen Sammelband vorgestellt: C. Herrmann-Pillath/O. Schlecht/H.F. Wünsche, Hrsg., Marktwirtschaft als Aufgabe: Wirtschaft und Gesellschaft im Über­gang vom Plan zum Markt, Stuttgart/New York 1994. Es gibt inzwischen Fachzeitschriften, die sich fast ausschließlich den Übergangsfragen widmen, wie etwa "Communist Economies & Economic Transformation" und "Trans­ition". Aber vor allem auch die vergleichende Wirtschaftswissenschaft be­trachtet dies selbstverständlich als einen Forschungsschwerpunkt. Einschlägi­ge Zeitschriften sind beispielsweise ,,Economic Systems", das "Journal of Comparative Economics" (mit häufigen Beiträgen zu China) und "Compara­tive Economic Studies".

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