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Einleitung Adephage Käfer haben nestflüchtende Larven, während Polyphaga typischer- weise nesthockende Larven besitzen. Da- her unterscheiden sich sowohl die Struk- tur des Bruthabitats als auch die Ent- wicklungsverläufe zwischen diesen Großtaxa (Dettner 2003). Laufkäfer (Carabidae) legen als typische Vertreter der Adephaga ihre Eier zwar an ge- schützten Orten ab, aber die schlüpfende Larve (campodeider Typus) geht eigen- ständig auf Nahrungssuche, auch weit entfernt von der Stätte der Eiablage. Bockkäfer als Vertreter der Polyphaga (Cerambycidae) legen dagegen ihre Eier in geeignetem organischen Substrat wie Totholz ab, das die Larve durchdringen, aber nicht verlassen kann. In diesem Fall ist das Bruthabitat eng eingrenzbar und gleichzeitig der Ort der gesamten Larval- entwicklung bis zur Imaginalhäutung. Markus Rink & Ulrich Sinsch, Bruthabitat und Larvalentwicklung des Hirschkäfers 229 Bruthabitat und Larvalentwicklung des Hirschkäfers Lucanus cervus (Linnaeus, 1758) (Coleoptera: Lucanidae) Markus Rink & Ulrich Sinsch analysiert worden sind, mit dem Ziel, wirtschaftliche Schäden zu vermeiden. Baier (1996) beschreibt die Beziehun- gen zwischen Baumzustand und Brut- stättenqualität und damit den Bruterfolg und Wermelinger (2004) formuliert Kriterien bezüglich der Eignung (Gefähr- dung) von Bäumen in Beziehung zum Standort. Im Rahmen des Artenschutzes kommt auch der Kenntnis der Bruthabi- tate seltener Arten eine besondere Be- deutung zu. Die Bruthabitate des Hirsch- käfers sind zwar nach Paragraph 42 des Bundesnaturschutzgesetzes geschützt, allerdings wird die Umsetzung in die Praxis dadurch limitiert, dass die Lage der Brutstätten nur selten bekannt ist. Nachfragen bei der Forstlichen Versuchs- anstalt Rheinland-Pfalz und der Zentral- stelle der Forstverwaltung in Neustadt brachten klare Aussagen über die Funde von Imagines, Angaben zu Bruthabitaten waren jedoch nicht möglich. Dies galt auch für das Untersuchungsgebiet Alf/ Bullay. Brutstättennachweise waren kurz- fristig nur über umfangreiche und schä- digende Grabungen möglich, ansonsten das Ergebnis von intensivem Monitoring. Die Ausweisung von FFH-Gebieten schützt zwar den Lebensraum des Hirschkäfers, ob aber eine bestimmte Brutstätte da- durch vor Zerstörung bewahrt bleibt, kann nicht sicher gestellt werden, wenn bei Genehmigungsverfahren die Lage nicht erkannt werden (BNatSchG 2002, FFH-Richtlinie 1992). Für den Eichen- heldbock (Cerambyx cerdo Linnaeus, 1758) konnten bereits detailliert die An- sprüche an das Bruthabitat formuliert werden, die ein Auffinden potentieller Eiablageorte und damit ganz gezielten Schutz und Schutzmaßnahmen ermögli- chen (Neumann 1996). Die publizierten Angaben zur Larvalent- wicklung des Hirschkäfers sind meist anekdotischer Natur und die Bruthabita- te erst von Tochtermann (1992) und Sprecher-Uebersax (2001) genauer be- schrieben worden. Die Brutstätte der Hirschkäfer dient der Entwicklung vom Ei bis zur Imago. Die Larven ernähren Abstract. Twelve breeding habitats of the stag beetle were located using direct observation and radio-teleme- tric monitoring of adults as well as on excavations to corroborate the pres- ence of larvae. The specific habitat re- quirements for breeding sites were quantitatively described using six site variables (exposition, altitude, shad- ing, tree species, state of decay, soil structure). Duration of larval develop- ment was at least three years under field and laboratory conditions. In an experimental assay, larvae and imag- ines survived surface flooding for a week, whereas frost tolerance proved to be low. Size and shape of imagines emerging from oak (Quercus petraea) and cherry (Prunus avium) breeding sites did not differ. Quality of food did not seem to depend from on tree species. Zusammenfassung. Zwölf Bruthabi- tate des Hirschkäfers wurden mittels Einzelbeobachtungen von Imagines, telemetrischen Untersuchungen und Grabungen lokalisiert. Die Ansprüche an das Bruthabitat wurden anhand von sechs Standortvariablen (Expositi- on, Höhenlage, Beschattung, Baumart des Stumpfes, Absterbejahr und Zer- setzungsgrad, Bodenstruktur) quanti- tativ beschrieben. Die Larvalentwick- lung betrug im Freiland und in Insek- tarien minimal drei Jahre. Experimen- te wiesen ein wenigstens einwöchige Überschwemmungstoleranz und eine hohe Frostempfindlichkeit nach. Ima- gines aus Eichen- (Quercus petraea) und Kirschbrutstätten (Prunus avium) unterschieden sich nicht in Körpergrö- ße und Form. Baumartspezifische Un- terschiede in der Qualität des Nahrungs- substrates waren nicht nachweisbar. Key words. Lucanus cervus, ecology, radio telemetry, dead wood, breeding habi- tat, larval development. Nach dem Schlüpfen der Imagines findet die Dispersionsphase statt, die beim Hirschkäfer fast alle Imagines zur Repro- duktion von der eigenen Geburtsstätte wegführt (Rink & Sinsch 2007a). Die po- lyphagen Borkenkäfer (Scotylidae) legen in der Baumrinde Gänge an, in denen zu- nächst die Paarung, der Brutstättenbau, die Eiablage und später die Brutpflege durch die Adulten erfolgen. Das Brutha- bitat ist eng eingrenzbar und Lebens- raum für Larve und Imagines bei der Brutpflege (Dettner 2003). Kenntnisse über die Struktur des Brutha- bitats und die Abläufe darin sind in erster Linie über Arten vorhanden, die wirt- schaftliche Schäden verursachen, wie z. B. beim Borkenkäfer Ips typographus (Linnaeus, 1758), dessen Ansprüche an das Bruthabitat intensiv beschrieben und

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Einleitung

Adephage Käfer haben nestflüchtendeLarven, während Polyphaga typischer-weise nesthockende Larven besitzen. Da-her unterscheiden sich sowohl die Struk-tur des Bruthabitats als auch die Ent-wicklungsverläufe zwischen diesenGroßtaxa (Dettner 2003). Laufkäfer(Carabidae) legen als typische Vertreterder Adephaga ihre Eier zwar an ge-schützten Orten ab, aber die schlüpfendeLarve (campodeider Typus) geht eigen-ständig auf Nahrungssuche, auch weitentfernt von der Stätte der Eiablage.Bockkäfer als Vertreter der Polyphaga(Cerambycidae) legen dagegen ihre Eierin geeignetem organischen Substrat wieTotholz ab, das die Larve durchdringen,aber nicht verlassen kann. In diesem Fallist das Bruthabitat eng eingrenzbar undgleichzeitig der Ort der gesamten Larval-entwicklung bis zur Imaginalhäutung.

Markus Rink & Ulrich Sinsch, Bruthabitat und Larvalentwicklung des Hirschkäfers

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Bruthabitat und Larvalentwicklung des Hirschkäfers Lucanus cervus(Linnaeus, 1758) (Coleoptera: Lucanidae)

� Markus Rink & Ulrich Sinsch

analysiert worden sind, mit dem Ziel,wirtschaftliche Schäden zu vermeiden.Baier (1996) beschreibt die Beziehun-gen zwischen Baumzustand und Brut-stättenqualität und damit den Bruterfolgund Wermelinger (2004) formuliertKriterien bezüglich der Eignung (Gefähr-dung) von Bäumen in Beziehung zumStandort. Im Rahmen des Artenschutzeskommt auch der Kenntnis der Bruthabi-tate seltener Arten eine besondere Be-deutung zu. Die Bruthabitate des Hirsch-käfers sind zwar nach Paragraph 42 desBundesnaturschutzgesetzes geschützt,allerdings wird die Umsetzung in diePraxis dadurch limitiert, dass die Lageder Brutstätten nur selten bekannt ist.Nachfragen bei der Forstlichen Versuchs-anstalt Rheinland-Pfalz und der Zentral-stelle der Forstverwaltung in Neustadtbrachten klare Aussagen über die Fundevon Imagines, Angaben zu Bruthabitatenwaren jedoch nicht möglich. Dies galtauch für das Untersuchungsgebiet Alf/Bullay. Brutstättennachweise waren kurz-fristig nur über umfangreiche und schä-digende Grabungen möglich, ansonstendas Ergebnis von intensivem Monitoring.Die Ausweisung von FFH-Gebieten schütztzwar den Lebensraum des Hirschkäfers,ob aber eine bestimmte Brutstätte da-durch vor Zerstörung bewahrt bleibt,kann nicht sicher gestellt werden, wennbei Genehmigungsverfahren die Lagenicht erkannt werden (BNatSchG 2002,FFH-Richtlinie 1992). Für den Eichen-heldbock (Cerambyx cerdo Linnaeus,1758) konnten bereits detailliert die An-sprüche an das Bruthabitat formuliertwerden, die ein Auffinden potentiellerEiablageorte und damit ganz gezieltenSchutz und Schutzmaßnahmen ermögli-chen (Neumann 1996).

Die publizierten Angaben zur Larvalent-wicklung des Hirschkäfers sind meistanekdotischer Natur und die Bruthabita-te erst von Tochtermann (1992) undSprecher-Uebersax (2001) genauer be-schrieben worden. Die Brutstätte derHirschkäfer dient der Entwicklung vomEi bis zur Imago. Die Larven ernähren

Abstract. Twelve breeding habitats ofthe stag beetle were located usingdirect observation and radio-teleme-tric monitoring of adults as well as onexcavations to corroborate the pres-ence of larvae. The specific habitat re-quirements for breeding sites werequantitatively described using six sitevariables (exposition, altitude, shad-ing, tree species, state of decay, soilstructure). Duration of larval develop-ment was at least three years underfield and laboratory conditions. In anexperimental assay, larvae and imag-ines survived surface flooding for aweek, whereas frost tolerance provedto be low. Size and shape of imaginesemerging from oak (Quercus petraea)and cherry (Prunus avium) breedingsites did not differ. Quality of food did not seem to depend from on treespecies.

Zusammenfassung. Zwölf Bruthabi-tate des Hirschkäfers wurden mittelsEinzelbeobachtungen von Imagines,telemetrischen Untersuchungen undGrabungen lokalisiert. Die Ansprüchean das Bruthabitat wurden anhandvon sechs Standortvariablen (Expositi-on, Höhenlage, Beschattung, Baumartdes Stumpfes, Absterbejahr und Zer-setzungsgrad, Bodenstruktur) quanti-tativ beschrieben. Die Larvalentwick-lung betrug im Freiland und in Insek-tarien minimal drei Jahre. Experimen-te wiesen ein wenigstens einwöchigeÜberschwemmungstoleranz und einehohe Frostempfindlichkeit nach. Ima-gines aus Eichen- (Quercus petraea)und Kirschbrutstätten (Prunus avium)unterschieden sich nicht in Körpergrö-ße und Form. Baumartspezifische Un-terschiede in der Qualität des Nahrungs-substrates waren nicht nachweisbar.

Key words. Lucanus cervus, ecology, radio telemetry, dead wood, breeding habi-tat, larval development.

Nach dem Schlüpfen der Imagines findetdie Dispersionsphase statt, die beimHirschkäfer fast alle Imagines zur Repro-duktion von der eigenen Geburtsstättewegführt (Rink & Sinsch 2007a). Die po-lyphagen Borkenkäfer (Scotylidae) legenin der Baumrinde Gänge an, in denen zu-nächst die Paarung, der Brutstättenbau,die Eiablage und später die Brutpflegedurch die Adulten erfolgen. Das Brutha-bitat ist eng eingrenzbar und Lebens-raum für Larve und Imagines bei derBrutpflege (Dettner 2003).

Kenntnisse über die Struktur des Brutha-bitats und die Abläufe darin sind in ersterLinie über Arten vorhanden, die wirt-schaftliche Schäden verursachen, wiez. B. beim Borkenkäfer Ips typographus(Linnaeus, 1758), dessen Ansprüche andas Bruthabitat intensiv beschrieben und

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sich nach dem Schlüpfen zunächst vonHumusteilchen (Escherich 1923), an-schließend drei bis acht Jahre lang von inZersetzung befindlichem, morschem,feuchtem und verpilztem Holz, das siemit der Zeit zu Mulm umsetzen (Zah-radnik 1985, Klausnitzer 1995). ImSeptember des letzten Larvaljahres ver-puppt sich die Larve außerhalb des Sto-ckes (Horion 1958), in einer Puppen-wiege erfolgt die Metamorphose, die Im-ago schlüpft im Folgejahr. Als bevorzug-te Baumart für die Anlage einer Brutstät-te wird fälschlicherweise meist die Eichegenannt, als seltener genutzte Habitatedie Rotbuche, Weiden, Ulmen, Pappelnund Obstbäume (Klausnitzer 1995,Tochtermann 1992). Neuere Untersu-chungen zeigen eine deutlich flexiblereStandortwahl (Smith 2003, Rink &Sinsch 2006). Nach Tochtermann(1992) soll die Größe der Imaginesdurch das von der Eiche produzierteMyoinosit beeinflusst werden. Der mini-male Durchmesser des Stockes liegt bei40 cm, um mehreren Generationen Auf-wuchsmöglichkeiten zu geben (Toch-termann 1992). Zur Standortfrage desBruthabitates werden lichte alte Eichen-wälder mit entsprechenden Eichenstöckensowie Streuobstwiesen in Waldnähe an-gegeben (Klausnitzer 1995, Tochter-mann 1992).

Ziele dieser Untersuchung im BereichAlf/Bullay sind es, das Bruthabitat mög-lichst umfassend zu charakterisieren unddie in der Literatur genannten Kennzei-chen zu evaluieren, Methoden für dieLokalisierung besiedelter Brutstätten zuermitteln, die Larvalentwicklung zu be-schreiben und Vorschläge für die erfolg-reiche Anlage künstlicher Bruthabitatezu erarbeiten.

Untersuchungsgebiet

Das Untersuchungsgebiet liegt in denGemeinden Bullay und Alf, Kreis Co-chem-Zell, Rheinland-Pfalz, beiderseitsder Mosel und hat eine Größe von etwa855 ha (Details in Rink & Sinsch 2007b).Der Höhenbereich umfasst 94 bis 395 m,das Klima lässt sich als warmes Wein-bauklima charakterisieren. Die Ortschaf-ten liegen an der Mosel umgeben vonWeinbergen, Gärten und Resten alterStreuobstwiesen, die in den Bergen undNordhängen in Traubeneichen-Hainbu-chen-Wälder mit unterschiedlichen An-teilen anthropogen eingebrachter Nadel-baumarten übergehen.

Identifikation und Charakteri-sierung von Brutstätten

Brutstätten des Hirschkäfers wurden zu-nächst der von Tochtermann (1992),Klausnitzer (1995), Sprecher-Ueber-sax (2001) beschriebenen Merkmale ge-sucht. Es sind Baumstümpfe (von Eicheoder Kirsche), die seit mindestens dreiJahren abgestorben waren und Pilzbefallaufwiesen, einen Stammdurchmesservon wenigstens 40 cm aufwiesen, derenLage am Waldrand (auch angrenzendeObstwiesen) und ihr Standort als südex-ponierte Eichenwälder, bevorzugt Alt-hölzer. Ab 2003 wurden dann gezielt be-siedelte Habitate untersucht, die im Lau-fe anderer Untersuchungen (Telemetrie,Kartierung der Aufenthaltsorte von Ima-gines; Rink & Sinsch 2007a, b) identifi-ziert worden waren.

An den zwölf untersuchten Brutstättenwurden folgende Strukturmerkmale desStandorts erfasst: Exposition, Höhenlage,Beschattung (lokal), Baumart des Stump-fes, Absterbejahr/Zersetzungsgrad undBodenstruktur. Die Bruthabitate B1, B2,und B7 wurden mit Temperaturdaten-loggern (Tinytalk) versehen. Die Tempe-raturen wurden in 40 cm Tiefe gemessensowie in einem Fall in 27 cm Tiefe beieiner Puppenwiege. Weiterhin wurdenVergleichsmessungen in potenziellen Brut-stätten (W1, W5), die vom Erstautor amRand eines Eichenaltholzes bzw. im Ei-chenaltholz angelegt wurden. Die Spei-cherkapazität der Logger lag bei zwei-stündigem Messintervall je nach Logger-typ zwischen drei Monaten und dreiJahren.

Suchgrabungen zur Lokalisierung vonHirschkäferentwicklungsstadien erreich-ten eine Maximaltiefe von 60 cm und einemaximale Radialdistanz von 1,5 m umden jeweiligen Stamm. Es wurden so-wohl Stichprobengrabungen (n = 11) alsauch umfassende Grabungen (n = 11)durchgeführt. Anzahl, Position der Lar-ven und der Imagines, Substratbeschaf-fenheit und Fraßspuren wurden doku-mentiert. Alle gefundenen Entwicklungs-stadien wurden gewogen (Messgenauig-keit: 0,01 g) und der Durchmesser derKopfkapsel (breiteste Stelle, Messge-nauigkeit: 0,1 mm) gemessen. Zur Be-schreibung des Entwicklungsstandeswurde anhand der Kopfkapselbreite derLarve eine dreiteilige Einstufung vorge-nommen (van Emden 1941): Larvalsta-dium 1 : 2,65 mm mittlerer Kopfkapsel-

durchmesser (Minimum-Maximum: 2,4–3,0 mm); Larvalstadium 2: 5,45 mm (5,2–5,7 mm); Larvalstadium 3: 9,63 mm(8,2–11,0 mm).

Im Jahr 2005 wurden die biometrischenKennzeichen von 16 männlichen und 20weiblichen Imagines erfasst, die ent-weder aus einem Eichenstock oder auseinem Kirschstock geschlüpft waren. Fol-gende Variablen wurden erhoben: Längeder Mandibel, Länge des Caput, Breitedes Caput, Länge des Thorax, Breite desThorax, Länge des Abdomen, Breite desAbdomen, Gesamtlänge mit Mandibeln,Gesamtlänge ohne Mandibeln und Kör-permasse.

Insektarienuntersuchungen zurLarvalentwicklung

Fünfundzwanzig befruchtete Hirschkä-ferweibchen legten zwischen 2002 und2005 in speziell präparierten Plastikter-rarien Eier ab. Die Maße der Insektarienbetrugen minimal 35 x 20 x 20 cm undmaximal 40 x 25 x 15 cm. Als Substratdiente Sägemehl unterschiedlicher Span-größe aus abgestorbener Eiche oder Kir-sche in unterschiedlichen Mischungenmit Erde. Das Kunstsubstrat wurdefeucht gehalten. Die Haltungsbedingun-gen waren tages- und jahresperiodischwechselnden Temperaturen bei Dauer-dunkelheit. Erste Messungen (Körperma-sse, Durchmesser der Kopfkapsel) wur-den einige Wochen nach dem Schlüpfender Larven aus der Eihülle vorgenom-men, um mögliche Schädigung der frü-hen Entwicklungsstadien durch die Mes-sprozedur so klein wie möglich zu hal-ten. Die Larvalentwicklung bis zur Anla-ge der Puppenwiege und der Verpup-pung selbst wurde auch in Küvetten un-terschiedlicher Maße photographisch do-kumentiert. Die Messintervalle variiertensaisonal (15 Tage bis ein Monat vonFrühjahr bis Herbst, alle drei Monate imWinter). In wenigen Einzelfällen wurden die Hal-tungsbedingungen experimentell zur Be-stimmung der Frost- und Überschwem-mungstoleranz abgeändert. Zur Messungder Frosttoleranz wurden zwei Larven inihren Insektarien in 10 cm Bodentiefe po-sitioniert und eine weitere Larve eben-falls im Insektarium auf die Bodenober-fläche gestellt wurde. Die Exposition er-folgte während einer winterlichen Frost-periode (24.II.–6.III.2005) im Untersu-chungsgebiet. Die Lufttemperaturen lagennachts zwischen –2,8°C und –13,8°C,

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an zwei Tagen herrschte auch tagsüberFrost. Parallel wurde die Substrattempe-ratur mittels Logger gemessen. Die Vita-lität der Larven wurde regelmäßig wäh-rend und nach der Frostperiode festge-stellt. Die Körpermasse wurde zu Beginnund am Ende der Frostperiode erfasst.Zu Abschätzung der Überschwemmungs-toleranz wurde in einem Insektarium dasSubstrat mit einer Larve im L3-Stadiumund einer Puppenwiege mit schlüpfberei-ter Imago vom 19. bis 26.II.2006 voll-ständig geflutet, um Hochwasserbedin-gungen zu simulieren. Die Larve wurdevor und nach der Flutung gewogen undin den Folgetagen beobachtet. Bei derImago wurde nur der Schlupftermin er-fasst.

Statistische Datenanalyse

Normalverteilte Datensätze wurdendurch Mittelwerte, Standardfehler, Mini-mum und Maximum statistisch beschrie-ben. Der Vergleich der Mittelwerte undVarianzen erfolgte mittels der einfachenVarianzanalyse (ANOVA). Zum biomet-rischen Vergleich männlicher und weibli-cher Imagines aus Brutstätten mit Ei-chen- oder Kirschstöcken stand ein Da-tensatz mit zehn morphometrischen Va-riablen sowie dem Geschlecht und derBaumart als zusätzlichen, unabhängigenVariablen zur Verfügung. Dieser Daten-satz wurde einer Hauptkomponentenan-alyse unterzogen, um die gemessenenVariablen zu statistisch unabhängigenHauptkomponenten (Linearkombinatio-nen der Messvariablen) zusammenzufas-sen (Bookstein et al. 1985). Die ersteHauptkomponente (mit dem größten Ei-genwert) repräsentiert bei morphometri-schen Daten den Anteil der Gesamtvari-anz des Datensatzes, der durch Körper-länge verursacht wird. Die folgendenHauptkomponenten beschreiben die kör-perlängen-unabhängige Varianz der Kör-perform. Das Signifikanzniveau wurdeauf 5 % festgesetzt. Alle Berechnungenwurden mit dem Statistikpaket Statgra-phics plus, Version 5.0 durchgeführt.

Ergebnisse

Lage und Kennzeichen der Brutstätten

Zwölf Brutstätten wurden innerhalb derOrtschaften Alf und Bullay lokalisiert,während trotz intensiver Suche keineweitere Brutstätte im Waldgebiet identi-fiziert werden konnte (Abb. 1). In allen

Brutstätten wurde das Eingraben vonWeibchen zur Eiablage beobachtet undin neun der zwölf Brutstätten auch diePräsenz von Larven nachgewiesen.

Exposition und Beschattung. Alle Brut-stätten lagen sonnenexponiert im offe-nen Gelände. Lediglich die BrutstättenB5 und B3 wurden durch einen Baumbzw. Gebäude zeitweise beschattet. FünfBrutstätten lagen eben, sieben in leichtansteigender Hanglage mit Südwestex-position.

Höhenlage. Drei Brutstätten befanden sichin 90–100 m Höhe, fünf in 110–120 m,zwei in 130–140 m und zwei in 160–170 m. Davon lagen drei in Uferlagen,die regelmäßig und mehrtägig über-schwemmt werden. Dennoch wurde anzwei dieser Brutstätten das erfolgreicheSchlüpfen von Imagines beobachtet.

Baumart. Die besiedelten Tothölzer wa-ren die Reste von drei Eichen (Quercuspetraea/robur), zwei Kirschen (Prunusavium), einer Birke (Betula pendula),zwei Weiden (Salix alba tristis) und zweiPflaumenbäumen (Prunus domestica).Zwei weitere Laubbaumstümpfe warennicht mehr identifizierbar. Die beidenBrutstätten B6 und B8 fanden sich nichtEichenstümpfen, sondern in imprägnier-ten Eisenbahnschwellen aus Eichenholz,die im Verbund zu Umrandungen gestelltwaren und 30–40 cm tief in die Erde ein-gegraben waren.

Dimension. Die Stumpfdurchmesser vari-ierten zwischen 24 cm und 79 cm, fünfhatten weniger als 40 cm Durchmesser.Die Eisenbahnschwellen waren zwareinzeln schwach dimensioniert, stelltenaber wegen der dichten Bauweise fak-tisch einen größeren Brutraum dar.

Zersetzungsgrad. Alle besiedelten Stöckewaren wenigstens drei Jahren vor derBesiedlung abgestorben. Die beiden Wei-denstümpfe wurden am schnellsten be-siedelt. An fünf Brutstätten waren Frucht-körper des Weißfäulepilz Ganoderma lip-siense vorhanden. Stöcke, die bereits vonmehreren Larvalgenerationen besiedeltwaren, wiesen deutliche Zerfallsstruktu-ren auf, äußere Teile ließen sich vonHand lösen. Die imprägnierten Eisen-bahnschwellen wurden erst nach vielenJahren Erdkontakt als Bruthabitat ge-nutzt. Der luftexponierte oberirdischeTeil war nahezu unzersetzt.

Boden. Die Böden um die Stümpfe warentiefgründig und skelettarm. VerdichteteBöden waren lediglich in zwei Brutstät-ten vorhanden.

Temperaturen im Bruthabitat. Die Brut-stätte B1 war im gesamten Messzeitraum(2003–2006) in einer Tiefe von 40 cmfrostfrei (Abb. 2a). Während des Winters2005/06 ergaben Temperaturmessun-gen in Tiefen von 27 cm in B2 und in15 cm Tiefe in B2 ebenfalls Frostfreiheit(Abb. 2b). Offenlandstandorte wie die

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Abb. 1. Lage der Brutstätten, die 2003–2006 im Untersuchungsgebiet lokalisiert wurden.

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Abb. 4–12. Entwicklungsstadium des Hirschkäfers.4. L1-Larve. 5. L2-Larve (0,4 g, durchsichtigerKörper) bei der Produktion von Abwehrflüssigkeit.6. L3-Larve (2,6 g). 7. L3-Larve im Gangsystem. 8. Kotpellet einer L3-Larve. 9. Vorpuppenstadium.10. Puppenstadium. 11. Imaginalstadium. 12. Haupt-komponentenanalyse der biometrischen Kenn-zeichen von Hirschkäferimagines. a. Körperlängen-abhängigkeit der Hauptkomponente 1. b. Körper-form beschreibende Hauptkomponenten 2 und 3.

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Brutstätte B1 haben eine bessere Wärme-versorgung als Waldstandorte (anthro-pogen gestaltete potenzielle BrutstätteW1, Abb. 2c). B1 lag in Westexposition,sehr sanft ansteigend, ohne Beschattung,Höhenlage 130 m. W1 lag im Eichenalt-holz in einer kleinen Bestandslücke, Nord-Ost, 160 m. Die Sommertemperaturen inB1 waren bis zu 6,5 °C (Juli) höher, dieWintertemperaturen aber nur bis zu2,3 °C geringer.

Unbeeinflusste Larvalentwicklung

Im Freiland gruben sich die Weibchenzur Eiablage tief und lange in das Brut-substrat ein. Sie starben oftmals im Brut-substrat oder kurz nach dem Verlassen.In der Terrarienhaltung zeigten die 25untersuchten Weibchen ähnliches Ver-halten. Sie durchwanderten das angebo-tene Substrat und starben nach einigenTagen bzw. Wochen auch bei ausrei-chendem Nahrungsangebot. Die Oviposi-tion konnte nicht beobachtet werden,aber in fünf Fällen wurden nach wenigenWochen 2–20 Hirschkäferlarven im Sub-strat festgestellt. Die Larvenstadien L1und L2 (van Emden 1941) wurden inden Insektarien im Laufe des ersten Le-bensjahres durchlaufen. Die Wägung derLarven zeigte, dass die Larven vor allemin Frühjahr und Sommer, aber auch wäh-rend des Winters zunahmen (Abb. 3).

Bewegungs- und Fraßverhalten. Die L1-und L2-Larven waren bei Temperaturenoberhalb von + 4,5 °C lokomotorisch aktiv.Im Brutsubstrat legten die Larven Gängean (Abb. 4 – 7). Dazu löste die Larve mitHilfe der Schaufel-ähnlichen Mandibelndas holzige Substrat und die Erde, trans-portierte das gelöste Material mit denBeinen ans Körperende und baute es an-schließend in die Kotballen ein. Der Kör-per der Larve wurde zum Transport vonder gestreckten Form zu einer C-Formkontrahiert. Die Pellet-förmigen Kotbal-len wurden zur Stabilisierung in die Wän-de des Gangsystems eingebaut (Abb. 8).Die Gänge waren auch im losen Säge-mehl-Substrat der Terrarien dauerhaftstabil und ermöglichten der Larve ein ra-sches Wandern im Substrat. Nach demEinbau der Kotballen wanderten die Lar-ven zunächst weiter, kehrten einige Tagespäter wieder zurück und fraßen an denKotpellets (Koprophagie).

Verhalten bei mechanischer Reizung. AlsReaktion auf Berührung schied die Larve

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Abb. 2. Bodentemperaturen in Hirschkäfer-Brutstätten. a. Temperatur in 40 cm Tiefe in BrutstätteB1 (Juni 2003–Juni 2006); b. Temperatur in 27 cm und in 40 cm Tiefe in Brutstätte B2; c. Temperaturin 40 cm Tiefe in einem Waldstand (künstliche Brutstätte W1) und der Offenland-Brutstätte B1.

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einen Kotballen aus und begann dann,sowohl über den Hinterleib als auch denMund ein dunkles Sekret auszuscheiden.Mit ihren Mandibeln nahm sie eine extre-me C-Stellung ein und stimulierte so dieAbgabe des Sekretes durch Klammerndes Hinterteiles mit den Mandibeln. ImGang selbst konnte sich die Larve durchKrümmung gegen Herausziehen wehren.Bei Stimulation mit einem Holzstöck-chen (simulierter Fressfeind) biss sichdie Larve mit ihren Mandibeln fest. Lar-ven stridulierten durch Aneinanderrei-ben des zweiten und dritten Beinpaares,was zu einer deutlich wahrnehmbarenVibration führte. In einzelnen Fällenwurde dieses Stridulationsverhalten beimAufeinandertreffen zweier Larven be-obachtet.

Verpuppung und Metamorphose. Die L3-Larven, die kurz vor der Verpuppungstanden, bauten im Substrat eine Pup-penwiege. Im Insektarium bewegten siesich aus dem Nahrungssubstrat in stärkererdiges Material. In dieser Phase schie-den die Larven anstatt der festen Kotbal-

len breiigen, erdigen Kot aus, mit demsie die Hülle der Puppenwiege formten.Durch entsprechende Bewegungen glät-tete die Larve die Innenwand der Pup-penwiege. Der Bau begann zwischen En-de April und Anfang Juni und dauerte je-weils etwa sieben Tage. Die L3-Larve lagzunächst mehrere Wochen fast unverän-dert in der Wiege. Bei Störung wurde ei-ne Larve wieder aktiv und baute eineneue Wiege. Später nahm die Larve anUmfang zu und bewegte sich weniger.Die Larvenhaut wirkte zunehmend per-gamentartiger und trockener. Die Anal-spalte am Abdomen schloss sich. DiesesStadium wird nach Klausnitzer (1995)auch als Vorpuppe bezeichnet (Abb. 9).Die Umwandlung zur Puppe erfolgte in-nerhalb eines Tages (Abb. 10). Die Pup-pe war im Abdominalbereich beweglich,da sie krallenartige Fortsätze hatte, dieihr ein Abstützen und Drehen in der Pup-penhülle ermöglichten. Die Puppenzeitbetrug 60 Tage. Nach Abschluss der Me-tamorphose im September überwintertendie Imagines in der Puppenwiege (Abb.11). Die geschlüpften Käfer wechselten

in der Hülle häufiger ihre Lage. Im fol-genden Frühjahr verließen die Käfer dieWiege und gruben sich bis unter die Erd-oberfläche nach oben. Die Gesamtdauerder Entwicklung von der Zygote bis zurImago betrug im Insektarium drei Jahre.

Experimentelle Beeinflussungder Larvalentwicklung

Frosttoleranz. Die Larven fielen bei Tem-peraturen unterhalb des Gefrierpunktesin eine Starre, die auch über die Frostpe-riode hinweg noch einige Tage anhielt.Dabei nahmen sie eine fast geschlosseneC-Form ein. Temperaturen von bis zu –2 °C wurden ohne erkennbare Schädi-gung überstanden. Eine Larve, die zwi-schen dem 23.II. und 11.III.2005 Tempe-raturen von bis zu –3 °C im Substrat aus-gesetzt war, starb Ende März unter steti-gem Massenverlust. Tiefere Frosttempe-raturen führten unmittelbar zum Tod,den Larven gelang es dann nicht mehr,die C-Form einzunehmen, sondern sie la-gen gestreckt und tot im Substrat.

Überschwemmungstoleranz. Sowohl dieLarve als auch das Imago überlebten diesiebentägige Überflutung des Substrates.Die Larve blieb in C-Form bewegungslosim Substrat. Dabei nahm sie osmotischWasser auf, denn ihre Körpermasse stiegvon 8,6 g auf 9,92 g. Etwa zwei Tagenach Ende der Überflutung begann siesich wieder zu bewegen und zu fressen.Parallel sank die Körpermasse wieder auf8,73 g. Da sich die untersuchte Imago inder Puppenwiege befand, konnten ihrespezifischen Reaktionen nicht beobach-tet werden. Nach dem Schlüpfen konn-ten keine Beeinträchtigungen festgestelltwerden.

ImaginalbiometrieAus neun untersuchten Puppenwiegenschlüpften zwei vitale Männchen undfünf Weibchen. Larvengröße und Körper-masse der Larven unmittelbar vor demVerpuppen im L3-Stadium variierten er-heblich. Die Masse der fünf Larven, diesich zu weiblichen Imagines entwickel-ten, betrug 6,35 – 10,18 g, die der Imagi-nes 2,16 – 2,26 g (= 21,2 – 35,6 % derLarvenmasse). Die entsprechenden Mes-sungen ergaben bei den beiden Männ-chen Larvenmassen von 6,56 g bzw.12,19 g, bei den Imagines 1,44 g bzw.2,97 g (= 22,0 % bzw. 24,4 % der Larven-masse).

Entomologische Zeitschrift · Stuttgart · 118 (5) 2008

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Männchen Weibchen Mittlere Länge Mittlere Länge (Minimum – Maximum) (Minimum – Maximum)

Diese Untersuchung 5,44 cm (3,71 – 7,15) 3,80 cm (3,08 – 4,50)N = 82 N = 83

Schweiz 1991 – 1998 5,16 cm (3,80 – 6,20) 3,75 cm (2,80 – 4,30)(Sprecher-Uebersax 2001) N = 168 N = 31

Sammlungen Naturhistorischer Museen 5,37 cm (3,10 – 7,90) 3,64 cm (2,60 – 4,40)(Sprecher-Uebersax 2001) N = 211 N = 102

Tab. 1. Geschlechtsspezifische Variabilität der Körperlänge von Hirschkäferimagines.

Abb. 3. Wachstum (Zunahme der Körpermasse, IX.2004–X.2005) von vier Hirschkäferlarven (L1–L3) unter Insektariumsbedingungen.

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Der statistische Vergleich der 165 imRahmen dieses Projektes gefangenerImagines mit Literaturangaben (Spre-cher-Übersax 2001) ergab weder Unter-schiede in der mittleren geschlechtsspe-zifischen Körperlänge noch im Variations-bereich (ANOVA, P > 5 %; Tab. 1). EineHauptkomponentenanalyse der biome-trischen Daten von Imagines, die entwe-der aus einem Eichenstock oder aus ei-nem Kirschstock geschlüpft waren, zeig-te, dass die Baumart der Brutstätte we-der einen Einfluss auf die Körperlänge(Hauptkomponente 1; Eigenwert: 7,1;erklärte Varianz: 70,6 %) noch auf diekörpergrößenunabhängige Form (HK 2,Eigenwert: 2,4, erklärte Varianz: 23,8 %;HK 3, Eigenwert: 0,2, erklärte Varianz:2,2 %;) der Imagines hatte (Abb. 12). Diegeschlechtsspezifischen Unterschiede inKörperlänge und Gestalt machten bei denuntersuchten Hirschkäfern den größtenTeil der Varianz aus.

Besiedlungsstruktur einer Brutstätte im Freiland

Alle folgenden Angaben beziehen sichauf die Brutstätte B2, einer Kirsche miteinem Stockdurchmesser von 60 cm, dieim März/April 2004 teilweise ausgegra-ben wurde (Abb. 13). Im Bruthabitatwurden 25 Hirschkäfer-Entwicklungssta-dien gefunden: Zwölf L1-Larven, 16 L2-Larven, drei L3-Larven und drei weibli-che Imagines. Da unter dem Stock nichtgegraben wurde, um die Brutstätte auchin Zukunft nutzbar zu halten, wurdenwahrscheinlich nicht alle vorhandenenTiere erfasst. Die Mehrzahl der Entwick-lungsstadien befand sich auf der Ostseitedes Stockes und war so vom Sonnengangbegünstigt. Alle Larven hielten sich stetsin einem feuchten Substrat auf. Larven wurden zwischen 11 cm bis42,5 cm Tiefe gefunden, Imagines zwi-schen 27 cm und 30 cm. Die Radialdis-tanzen zum Stamm lagen zwischen 5 cmund 80 cm. Die Raumposition (E = Ent-fernung zum Stock, T = Tiefe im Sub-strat) unterschied sich nicht signifikantzwischen den drei unterschiedenen Lar-valstadien (ANOVA, p > 5 %). Die Larvendes L1-Stadiums befanden sich in einermittleren Entfernung von 12,3 cm (10 –15 cm) und in einer mittleren Tiefe von19,7 cm (11 – 20 cm). Die entsprechen-den Werte für Larven des L2-Stadiumsbetrugen E = 37,6 cm (10 – 80 cm) undT = 28,7 cm (14 – 46 cm), diejenigen fürLarven des L3-Stadiums E = 26,7 cm (5 –40 cm) und T = 22 cm (15 – 28 cm). Die

Raumposition der drei gefundenen Ima-gines unterschied sich ebenfalls nicht sig-nifikant von derjenigen der Larven (ANO-VA, p > 5 %): E = 33,2 cm (17 – 43 cm);T = 24,8 cm (20 – 28 cm). Die Larven desL1-und L2-Stadiums saßen in der Regeldicht unter der Rinde oder in dünnenWurzeln. Die des L3-Stadiums wurdenneben Wurzeln in der Erde gefunden.Die Imagines saßen in von innen ausge-glätteten Erdhüllen.

Diskussion

Anhand von zwölf lokalisierten Eiablage-orten des Hirschkäfers Lucanus cervuswar in der Kulturlandschaft Moseltal ei-ne quantitative Analyse der Ansprüchean potentielle Bruthabitate möglich.Trotz der Nähe von Eichenwäldern mitalten vermodernden Stöcken, die als ty-pische Brutstätten gelten (Tochtermann1987), bevorzugte die lokale PopulationOffenlandstandorte und war in bezugauf die besiedelte Baumart polyphag.Dies fanden auch Tochtermann (1992),Klausnitzer (1995), Sprecher-Ueber-sax (2001) und Smith (2003) in ande-ren Populationen in Deutschland,Schweiz und England. Somit sind nun 15Laubbaumarten bekannt, an derenStümpfen Hirschkäfer Eier legen. Einevon Tochtermann (1987) postulierteBevorzugung der Eiche (Quercus petraea/robur) ist weder in der von uns noch inden anderen untersuchten Populationennachweisbar. Waldbaumarten spielen kei-ne dominierende Rolle, allerdings fanden

alle Untersuchungen in stark anthropo-gen überformten Landschaften statt.

Die Dimension des Wurzelstockes be-stimmt die Dauer, in der er als Brutstättefür Hirschkäfer nutzbar ist. Nur beimehrjähriger kontinuierlicher Nutzbar-keit entwickelt sich die Brutstätte zu ei-nem Treffpunkt für Hirschkäfer andererBrutstätten und fördert so den Genaus-tausch innerhalb der Population (Rink &Sinsch 2008). Dies wurde bereits auf dieBaumart Eiche bezogen von Tochter-mann (1987) angenommen. Der not-wendige Zersetzungsgrad eines Wurzel-stockes für eine erstmalige Besiedlungwird in Abhängigkeit von der Baumartund den klimatischen Bedingungen nacheinigen Jahren erreicht. Hirschkäfer tre-ten immer erst im fortgeschritten Zerset-zungsstadium auf (Klausnitzer 1995).Der Eiche (Quercus petraea/robur)kommt im Vergleich zu anderen Laub-hölzern wegen ihrer höheren Zerset-zungsresistenz wahrscheinlich eine be-sonders nachhaltige Wirkung für dieBruthabitatbereitstellung zu. Tochter-mann (1992) vermutete, dass ein erhöh-ter Gerbsäuregehalt der Wurzel zur Un-tauglichkeit als Brutsubstrat führt. Dieswürde für Stöcke gelten, die im Wintergefällt wurden, denn in dieser Jahreszeitist der Gerbsäuregehalt im Wurzelstockerhöht. Gegen eine hemmende Wirkungvon Gerbsäure spricht die Besiedlungvon imprägnierten Eisenbahnschwellenaus Eiche (diese Untersuchung) und vonimprägnierten Masten (Smith 2003).

Markus Rink & Ulrich Sinsch, Bruthabitat und Larvalentwicklung des Hirschkäfers

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Abb. 13. Grabung an der Ostseite der Brutstätte B 2 mit Tiefen- und Entfernungsangaben.

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Sonnenexponierte Offenlandschaftenmit tiefgründigen Böden begünstigtendie Anlage von Bruthabitaten im Unter-suchungsgebiet. In England wurden75 % aller Hirschkäfer in Gartenland-schaften beobachtet und auch die weitü-berwiegende Anzahl von Brutstätten be-fand sich dort (Smith 2003). Auch Spre-cher-Uebersax (2001) lokalisierte dieVorkommen um Basel nicht in den gro-ßen, naturnahen Wäldern, sondern inkleinen Wäldchen dicht neben besiedel-ten Bereichen an. Tochtermann (1992)deute die Tendenz zu Offenlandstandor-ten mit einem Abwandern der Hirschkä-fer aus dem Wald. Wir halten dies für un-wahrscheinlich, denn in den Waldgebie-ten des Untersuchungsgebietes war eineweitaus größere Anzahl geeigneter Brut-habitaten vorhanden als im Offenland,das dicht von Hirschkäfern besiedeltwar. Aufgrund der Sonnenexpositionsind die Offenlandbrutstätten in aller Re-gel thermisch günstiger als Waldstandor-te. Somit werden geeignete Bruthabitatein thermisch ungünstigen Gebieten an-scheinend solange nicht besiedelt, alswärmere Brutstätten vorhanden sind.Die hier nachgewiesene Fähigkeit, zeit-weilige Überflutungen der Brutstätten zuüberleben, ermöglicht eine Besiedlungder tiefgründigen skelettarmen Auebe-reiche, in denen stets Offenlandcharak-ter herrschte. Hochwasser im Moselbe-reich dauern äußerst selten länger als ei-ne Woche an. Die Frostempfindlichkeit(diese Untersuchung, Tochtermann1987) stellte im relativ warmen Moseltalkeinen begrenzenden Faktor bezüglichder Standortswahl dar. In bezug auf dieAnsprüche an Brutstätten ist der Hirsch-käfer eher als euryök einzustufen. Im Insektarium betrug die Dauer der Ent-wicklung von Zygote zu Imago drei Jah-re, wobei die Imagines relativ klein wa-ren. Die Ursache für die auch von Spre-cher-Uebersax (2001) und Klausnit-zer (1995) beschriebenen kleinen Imagi-nes könnte also in einer erhöhten Ent-wicklungsgeschwindigkeit bei thermischbesonders günstigen Bedingungen lie-gen. Im Freiland mit durchweg niedrige-ren Temperaturen in den Brutstättensind in der Regel längere Entwicklungs-zeiten zu erwarten, laut anderer Autorendrei bis acht Jahre (Klausnitzer 1995,Zahradnik 1985, Sprecher-Uebersax2001). Smith (2003) nennt eine Mindes-tentwicklungsdauer von drei Jahren. Esbleibt unklar, ob die große Variation derKörpergröße der Imagines allein eineFolge unterschiedlicher Entwicklungs-

dauern ist, denn auch die Qualität desNahrungssubstrats dürfte das Größen-wachstum beeinflussen.

Die Hirschkäferlarve verändert das ver-modernde Holz zu einem hochwertigenNahrungssubstrat, indem sie Kotpelletsin die Gänge im Boden einbaut. Die Kot-ballen werden bei der Darmpassage mitPilzen und Bakterien versetzt, die überCellulasen verfügen und damit die Holz-substanz vorverdauen, also eine analogeStrategie zu derjenigen des Nashornkä-fers (Oryctes nasicornis; Rössler 1961,Bayon 1981). Die mehrfache Durchwan-derung des Substrats ist mit Koprophagieverbunden und damit mit einer mehrfa-chen Darmpassage, ein Verfahren, das anWiederkäuer erinnert. Diese mikrobielleVorverdauung relativiert den absolutenSubstratverbrauch (ca. 250 ml pro Mo-nat, Tochtermann 1987), da mehrfachdasselbe Substrat gefressen wird.Schließlich bedeutet eine Mehrfachbe-siedlung über Jahre eine kontinuierlicheVerbesserung der Nahrungsqualitätdurch erhöhte mikrobielle Abbautätig-keit. Dieser Faktor ist für die Endgrößeder Imagines vermutlich wichtiger als dieBaumart der Brutstätte, denn unsere Un-tersuchung konnte die von Tochter-mann (1992) angenommene größereKörperlänge von Imagines aus Eichen-brutstätten nicht bestätigen. Die komple-xen Wechselwirkungen zwischen Ent-wicklungsdauer, Substratqualität undGröße der resultierenden Imagines be-darf weiterer gezielte Untersuchungen.

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� Dr. Markus Rink& Prof. Dr. Ulrich Sinsch, Institut für Integrierte Naturwissenschaften– Biologie, Universitätsstr. 1, D-56070 Koblenz; E-Mail: [email protected]

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