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    Kas

    selerPhiloso

    phischeSchriften

    Neue

    Folge

    Hans Immler, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Marx und die Naturfrage

    Ein Wissenschaftsstreit um die

    Kritik der politischen konomie

    kasseluniversity

    press

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    Hans Immler & Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Marx und die Naturfrage

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    Kasseler Philosophische Schriften Neue Folge 4

    Herausgegeben von

    Heinz Eidam und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    DieKasseler Philosophischen Schriftenwaren ursprnglich eine Reihe derInter-

    disziplinren Arbeitsgruppe fr philosophische Grundlagenproblemeder Univer-

    sitt Kassel, in der von 1981 bis 2004 insgesamt 38 Bnde und Hefte erschienen.

    2006 wurde die Interdisziplinre Arbeitsgruppe fr philosophische Grundlagen-

    probleme nach generellen universitren Umstrukturierungen aufgelst, obwohl sie

    ohne Zweifel durch 25 Jahre hindurch das Profil der Universitt Kassel mit gro-

    en Kongressen, internationalen Symposien, Ringvorlesungen und eben durch

    ihre Schriftenreihe erfolgreich geprgt hat. Die dadurch verwaisten Kasseler

    Philosophischen Schriften sollen nun in einer Neuen Folge unter vernderter

    Herausgeberschaft fortgefhrt werden.

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    Hans Immler

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Marx und die Naturfrage

    Ein Wissenschaftsstreit um die

    Kritik der politischen konomie

    kassel

    universitypress

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    Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

    Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber

    http://dnb.ddb.de abrufbar

    ISBN 978-3-89958-566-7

    2011, kassel university press GmbH, Kassel

    www.upress.uni-kassel.de

    Umschlaggestaltung: Heike Arend, Unidruckerei der Universitt Kassel

    Druck und Verarbeitung: Unidruckerei der Universitt Kassel

    Printed in Germany

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    Inhalt

    Vorwort (2011)Ein Streit der Autoren um den Wert der Wiederaufnahmedes vorliegenden Wissenschaftsstreits 7

    Der Wissenschaftsstreit (1983) 23

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Die Entfremdung der gesellschaftlichen Produktion von der Naturund ihre revolutionre berwindung 25

    Hans Immler

    Ist nur die Arbeit wertbildend?Zum Verhltnis von politischer konomie und kologischer Krise 35

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Weder Arbeit noch Natur sind wertbildend,aber sie sind die Quellen allen Reichtums 56

    Hans Immler

    Und die Natur produziert doch WertEine kologische Kritik am Begriff der abstrakten Arbeit 73

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Ohne Kenntnis des Ziels fhren die Wege in die Irre 112Hans ImmlerWas uns trennt und was uns eint 134

    Nachtrge (1986) 141

    Hans ImmlerDu antwortest richtig, aber Deine Frage war falsch 143

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Auch richtige Fragen knnen zu falschen Antworten fhren 174

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    Inhalt6

    Anhang (2010) 191

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Der Grundwiderspruch zwischen der Wertlogik des Kapitals sowiedem Reichtum aus der menschlichen Arbeit und der Erde 193

    Literaturhinweise 205

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    Vorwort (2011)Ein Streit der Autoren um den Wert der Wiederaufnahme

    des vorliegenden Wissenschaftsstreits

    Anlsslich des 100. Todesjahres von Karl Marx begannen wir 1983 vorachtundzwanzig Jahren einen Wissenschaftsstreit ber Marx und die Natur-frage. Die Resonanz war gro und wir verffentlichten unsere Streitvorlagenin zwei Auflagen.1Weitere Tagungen folgten in den Jahren 1986 und 1988,an denen sich weitere Kollegen aus der konomie und Philosophie beteilig-ten.2Auch danach riss die Diskussion um die Naturfrage nicht ab, sondernerweiterte sich sogar angesichts der Katastrophen von Bhopal und Tscherno-byl, wohl aber versiegte bald darauf mit dem Zusammenbruch der Staatendes real-existierenden Sozialismus 1989 das Interesse an der MarxschenTheorie.

    Hat sich die Problemstellung von damals wirklich berholt? Wir sind ausunterschiedlichen Grnden, die aus dem Wissenschaftsstreit selbst hervorge-hen, der Meinung, dass sie nach wie vor oder sogar dringender denn je fort-gefhrt werden sollte. Deshalb haben wir uns entschlossen unsere Kontro-verse Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die Kritik derpolitischen konomie durch Nachtrge und Ergnzungen fast um das Dop-

    pelte erweitert , erneut in die Diskussion einzubringen.Die Frage, wie die Industriegesellschaften kologische Konflikte er-zeugen, wie sie diese beurteilen und was sie zu deren Beseitigung bzw. Ver-meidung unternehmen, wird zusammenfassend als Naturfrage bezeichnet.Ganz offensichtlich wird an der Naturfrage die existentielle Bedrohung derMenschheit durch die wertgetriebenen Industriegesellschaften sichtbar. Um-gekehrt kann man sagen, dass jegliche Zukunft nicht nur der Industriege-sellschaften von der Lsung der Naturfrage abhngt. Die elementarenSchwierigkeiten einer Lsung dieser Frage sind aber schon daran erkennbar,dass es fragwrdig ist, ob es eine Harmonie zwischen Natur und Industrie

    berhaupt geben kann.Die DiskussionMarx und die Naturfragebegrenzt diese sehr allgemeine

    und offene Problemstellung auf folgende Aspekte: 1. ob die Marxsche Theo-1 Hans Immler und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik,Marx und die Naturfrage(Kasseler

    Philosophische Schriften 10), Kassel 1983 und Hans Immler und WolfdietrichSchmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit, VSA Verlag,Hamburg 1984

    2 Hans Immler und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Marxistische Werttheorie.Dokumentation einer interdisziplinren Arbeitstagung Kassel 1986(Kasseler Philo-

    sophische Schriften 23), Kassel 1988 sowie Heinz Eidam und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Natur konomie Dialektik. Weitere Studien zum Verhltnis vonNatur und Gesellschaft, (Kasseler Philosophische Schriften 26), Kassel 1989

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    Marx und die Naturfrage Vorwort8

    rie und eine von ihr geleitete Praxis einen Weg zur Lsung der Naturfragein sich bergen oder aber, ob sie an der Erzeugung der kologischen Konfliktehnlich beteiligt sind wie die kapitalistische Praxis und Theorie; 2. ob die

    Marxsche Theorie, insbesondere die Werttheorie, selbst urschlich beteiligtwar an der naturzerstrenden konomie in den realsozialistischen Lndern;3. ob die kologischen Konflikte zu einer grundlegenden Neubewertung derMarxschen Theorie zwingen.

    Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die Kritik der poli-tischen konomieist ein zwar fairer, aber doch unnachgiebig vorgebrachter,wissenschaftlicher Streit um diese drei Aspekte, gefhrt von einem ko-nomen und einem Philosophen.

    Die Ausgangshypothese der vorgetragenen konomischen Position ist,dass die Marxsche Werttheorie sowohl als Kritik der brgerlichen Gesell-schaftsverhltnisse wie auch als positivierte sozialistische konomie dasVerhltnis von Natur und Wert unzureichend behandelt hat und daher einerfalschen Naturpraxis Vorschub leistet. In der vorgetragenen philosophischenPosition wird genau dies heftig bezweifelt. Stattdessen wird gezeigt, dass imMarxschen Gesamtentwurf sehr wohl eine elementare kologische Kompo-nente enthalten ist, die lediglich falsch begriffen wurde und dadurch zu einernaturfeindlichen konomischen Praxis fhren musste. Es gilt folglich, derganzen Marxschen Theorie wieder gerecht zu werden und aus ihr herauseine mit der Natur vermittelte gesellschaftliche Praxis zu entwickeln.

    Der wissenschaftliche Streit wird mit offenem Visier ausgetragen. Da-mit soll gesagt sein, dass keiner der beiden Kontrahenten von einer vorabgefassten Meinung aus argumentiert und diese stur verteidigt. Dennoch er-weisen sich die Unterschiede in der Bewertung der Marxschen Theorie inBezug auf die Naturfrage als so gro, dass in den wichtigsten Punkten derDiskussion nur wenig Annherung stattfindet. In den folgenden Erffnungs-erklrungen stellen die Kontrahenten ihre Positionen nochmals explizit her-aus.

    Mit der Verffentlichung des BandesMarx und die Naturfrage. Ein Wis-senschaftsstreit um die Kritik der politischen konomiegeht es uns nicht nur

    um die Dokumentation einer achtundzwanzig Jahre whrenden interdiszipli-nren Diskussion, sondern darum, Impulse zu geben fr die Wiederaufnahmedes theoretischen Ringens um eine kologisch orientierte Kritik der politi-schen konomie, die angesichts der inzwischen noch angewachsenen kolo-gischen Probleme und Herausforderungen uns heute dringlicher den je er-scheint.

    Kassel, im Juni 2011Hans Immler

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

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    Marx und die Naturfrage Vorwort 9

    Vergiss Marx, entdecke Schelling!

    Lieber Wolfdietrich Schmied-Kowarzik,

    wir haben uns entschieden, unser gemeinsames Bchlein Marx und die Na-turfrageaus dem Jahr 1984 mit einigen Erweiterungen neu aufzulegen, ver-mutlich aus sehr unterschiedlichen Motiven. Du glaubst wohl, dass uns dieMarxsche Theorie immer noch fr das Verstndnis und die praktische Be-wltigung der Naturfrage in der Form der heutigen kologischen Problemeetwas zu sagen hat. Ich dagegen bin noch mehr als vor 28 Jahren davonberzeugt, dass die Marxsche Theorie einer Lsung des wohl grten Zu-

    kunft bestimmenden Menschheitsproblems eher im Wege steht. Unser wis-senschaftlicher Streit wird also erbitterter, hoffentlich beschdigt er nichtunsere Freundschaft. Nun zu den Argumenten.

    Was ist heute neu?

    Vor 28 Jahren sah die Welt noch anders aus. Vor allem zwei Ereignissehaben auch unser Thema Marx und die Naturfrage radikal verndert: er-stensder Zusammenbruch der realsozialistischen Lnder, zweitens die Glo-balisierung.

    Natrlich kenne ich Deine Kritik an den realsozialistischen Lndern undan ihrem Naturumgang. Aber man muss einrumen, dass praktisch das ganze20. Jahrhundert dem Sozialismus, der sich auf Marx berief, eine extremehistorische Chance gegeben hat. Wohl die Mehrheit der Weltbevlkerungerkannte im Sozialismus die gerechtere und zukunftsfhige Gesellschafts-form, am Ende des Zweiten Weltkriegs existierte eine Mehrheit an Staaten,die sich auf unterschiedliche Weise auf den Sozialismus und seine Theoriesttzte. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese historische Linie regel-recht pulverisiert und die realsozialistischen Staaten sind wie wegradiert.Warum? Weil sie nicht gerecht, nicht demokratisch, nicht effizient und nichtzukunftsfhig waren. Und was die Naturfrage und die kologischen Kon-flikte angeht, waren sie Tter und keine Retter.

    Nun zur Globalisierung. Sie stellt die beherrschende sozialkonomischeEntwicklung dar. Sie lsst den marxistisch erwarteten Verlauf der Geschichtevom Kapitalismus zum Sozialismus als vllig absurd erscheinen, weil siesich jetzt schon zum realen Geschichtsmodell entwickelt hat. Die nchstenhundert und mehr Jahre gehren der Globalisierung, ob man das will odernicht. Es kmmt darauf an, sie zu verndern. Mit dem geschichtlichenModell des Kommunismus wird dies aber nichts zu tun haben. Warum?

    Der wesentliche Gegenpart zur Globalisierung sind nicht die Multis oderdas Finanzkapital, sondern ist der einzelne Brger mit seiner Freiheit und

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    Marx und die Naturfrage Vorwort10

    seiner fairen Chance auf ein gutes Leben. Es wird also nicht mehr zuerst einegerechte Gesellschaft geben, in der sich dann der Einzelne entfalten kann. Eswird umgekehrt laufen. Die Brger werden weltweit fr ihre Freiheit und fr

    eine faire Lebensbasis kmpfen, daraus werden sich auch gesellschaftlicheStrukturen bilden. Der alte Sozialismus/Kommunismus hat gegenber demeinzelnen Menschen als Brger und als Individuum grauenhaft versagt. DasVertrauen in die Realform eines theoretisch groartigen Gesellschaftssy-stems ist einfach verbraucht, seit selbst die klgsten Anhnger dieses Sy-stems einen Kopf krzer herumlaufen mussten. Noch wichtiger aber ist, dassdie heutige Lebenswirklichkeit weltweit derart individuell ausgestaltet ist,dass die theoretische Basis fr eine Entwicklung zum Sozialis-mus/Kommunismus historisch weggebrochen ist. Von heute aus betrachtetenthlt das Marxsche System auch in theoretischer Hinsicht so gravierendeMngel, insbesondere hinsichtlich der Naturfrage, dass seine Revitalisierungerneut in einem Alptraum enden msste. Das will ich kurz erlutern.

    Marx hat sowohl die Arbeit als auch die Natur falsch verstanden

    Lieber Wolfdietrich, damit sind wir wieder inmitten unserer Kontroverse, sieist jetzt aber noch deutlicher. Es bleiben die absoluten und sich verheerendauswirkenden Fehler in der Marxschen Theorie, dass nur die menschlicheArbeit als wertproduktiv und somit die Natur als wertunproduktiv behandelt

    wird. Beide zentralen Punkte erscheinen von heute aus als grundlegendfalsch und als irreparabel.Indem Marx in seiner Kapitalismusanalyse die menschliche Arbeit ver-

    absolutiert hat und als abstrakte Arbeit zur einzigen Wertproduzentin werdenlie, hat er einerseits seinem System eine enorme Klarheit und Radikalittgegeben, andererseits aber auch das Dynamit mitgeliefert, das sein Gebudezum Einsturz bringt. Seine Arbeitswertlehre basiert auf konomischen Posi-tionen von Adam Smith und David Ricardo, leider hat Marx aber nicht derenPositionen zur wertproduzierenden Natur bernommen. Bei Smith ist dieNatur direkt, bei Ricardo ber die Grundrente wertproduzierend. Marx

    Theorem, die Natur produziere Gebrauchswerte, aber keine Tauschwerte,gert zur Konstruktion einer Tautologie, weil er im Begriff der allen Wertenthaltenden abstrakten Arbeit die Wert erzeugende Natur ja systematischausgeschlossen hat. Das stellt eine analytische Katastrophe dar.

    Die Folgen waren und sind gravierend. Damit enthlt auch aller Mehr-wert keine Natur, alles Kapital enthlt keine Natur, die Kapitalismuskritikenthlt keine wertproduzierende Natur, und als geschichtliche Folge knnenSozialismus bzw. Kommunismus auch nichts von der Natur verstehen. So istes dann ja auch gekommen.

    Der zentrale Begriff, an dem letztlich das gesamte Marxsche System zer-bricht, ist die abstrakte Arbeit mit ihrem wertproduzierenden Alleinan-spruch. Von heute aus betrachtet ist dieser noch weniger haltbar als vor

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    Marx und die Naturfrage Vorwort 11

    hundert Jahren, als zweifellos die menschliche Arbeit beim Aufbau der Indu-strie und ihren Reichtmern noch eine viel grere Rolle spielte. Heuteaber ist die Annahme einer allein wertproduzierenden Arbeit ziemlich l-

    cherlich. Die Natur selbst ist allerorts zu einem berragenden Wertprodu-zenten geworden, ganze Volkswirtschaften existieren auf ihrer Grundlage.Gleichzeitig hat die Rolle der menschlichen Arbeit stark abgenommen. Sokommen auch die Wertproduzenten wie Automation und Technik, diemoderne Bioproduktivitt oder die Organisationsfhigkeit in die strategischePosition von Wertproduzenten. Ist es nicht lcherlich zu sagen, der Wert derFische aus einer Aquakultur entstehe zu hundert Prozent aus der Arbeit desMenschen, der die Fische fttert und rausholt? Und so knnten unendlicheBeispiele genannt werden.

    Ist alle Arbeit produktiv?

    Ein weiterer Aspekt ist heute wichtig geworden. Wenn alle Arbeit bzw.Lohnarbeit produktiv ist und Wert bzw. Mehrwert erzeugt, dann natrlichauch die, die die Natur systematisch zerstrt. Die kologische Krise ist jakein Naturereignis, sondern das Ergebnis menschlicher Arbeit. Marx hat dieNaturkrise der Industrie zwar erahnt, aber er hat durch die Begriffe der ab-strakten Arbeit und der keinen Wert produzierenden Natur ein analyti-sches Instrumentarium geliefert, das die kologische Krise im realen Kapita-

    lismus und noch mehr im realen Sozialismus uneingeschrnkt vorangetriebenhat. Man msste das Gebude der Marxschen Theorie heute regelrecht ent-kernen, um von hier aus eine neue Perspektive fr das individuelle und dasgesellschaftliche Leben zu errichten. Wie knnte es also weiter gehen?

    Vergiss Marx, entdecke Schelling

    Lieber Wolfdietrich, es ist von mir eine kleine Frechheit, Dich an Schellingzu erinnern, da Du im Vergleich zu mir ein Schelling-Kenner bist. Abervielleicht siehst Du vor lauter Bumen den Wald nicht mehr.

    Marx ist out, auch theoretisch. In der Naturfrage hindert er und fhrtnicht weiter. In der Frage der Globalisierung knnte man mit ihm Keulenschwingen, aber man wrde auch nur Wind erzeugen, weil das entscheidendeSubjekt der globalen Welt, der Einzelne bzw. das Individuum, bei ihm ge-schichtsphilosophisch entschieden vernachlssigt, dagegen die Gesellschaftbevorzugt wird. Die realen globalen Verhltnisse verlaufen aber genau um-gekehrt. Eine Geschichtsphilosophie, die dem Einzelnen eine so dnne Rollegibt, wie es Marx und in seiner Folge die realsozialistichen Gesellschaftengetan haben, hat keine Zukunft. Zukunft hat, wer die sieben Milliarden Men-schen, die auf der Erde leben, im Prinzip als Einzelne und miteinander ko-operierende Menschen versteht, weil genau diesen Anspruch alle diese Men-

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    Marx und die Naturfrage Vorwort12

    schen haben und von anderen erwarten, so unfassbar schwierig und nochnicht gelungen dieses Groprojekt auch ist. Vergiss also Marx.

    Entdecke Schelling und die Anderen. Die Freiheitsphilosophie und die

    Naturphilosophie von Schelling waren ber Jahrzehnte unverstndlich, ja erist sogar zum Reaktionr erklrt worden, weil er Fragen gestellt hat, fr diees zu antworten zu frh war. Jetzt verschwinden die Nebel. Und ein bemer-kenswerter Doppelpeak wird sichtbar. Schellings Freiheitsphilosophie undseine Naturphilosophie sind nicht unverbundenes Zweierlei, sondern es sinddie beiden scharfen Augen auf die heutige sehr schwierige Welt. Wohin gehtder Mensch, wer ist er berhaupt noch? Wohin geht die Natur, will sie unsberhaupt noch? Vor allem: Was knnen wir tun, um uns zu erhalten, indemwir unsere Natur erhalten? Wolfdietrich, Du solltest Dich an diesem Projektbeteiligen, noch mehr als bisher!

    Dein Hans Immler

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    Marx und die Naturfrage Vorwort 13

    Vergiss Dein Vorverstndnis und entdecke Marx neu!

    Lieber Hans Immler,

    Du hast recht, mir zu empfehlen, Schelling zu entdecken, ist schon ganzschn provokativ, denn ich nehme fr mich in Anspruch durch eine neueLektre und Interpretation, Schellings Naturphilosophie fr die kologischeDebatte mageblich mit erschlossen zu haben. Auch Schellings Freiheits-philosophie und spterer Religionsphilosophie kann ich viel abgewinnen, indiesem Bezug fhle ich mich der linken Schelling-Lektre von Ernst Blochoder Enrique Dussel verbunden, die immer eine Affinitt zwischen Schelling

    und Marx gesehen haben.Was aber in Dich gefahren ist, mich aufzufordern, Marx zu vergessen, istmir gnzlich unverstndlich. Mag sein, dass innerhalb der konomie alsWissenschaft eine solche Empfehlung einen Sinn macht, denn die konomiesucht nach konkreten Lsungsanstzen fr jeweils vernderte konkrete Pro-blemkonstellationen. Aber innerhalb der Philosophie das Vergessen einesDenkers zu predigen, ist geradezu mrderisch oder selbstmrderisch, denndie Philosophie lebt davon, sich immer wieder neu mit den Fragen der vor-ausgehenden Philosophen auseinanderzusetzen, insofern ihre Fragen nichtihre zeitbedingten Antworten uns heute noch betreffen. So sind die unter-

    schiedlichen Diskussionsbeitrge von Platon und Aristoteles zum Verhltnisvon Politik und konomie auch fr uns heute noch von so grundstzlicherBedeutung, dass wir in ihnen immer noch Anregungen zur Entschlsslunggegenwrtiger Kontroversen erblicken knnen.3

    Marx ist bis in sein Sptwerk derKritik der politischen konomiehineinein durch und durch philosophischer Denker und nur als solcher interessierter mich. Denn die von ihm aufgeworfene Kritik der politischen konomiestellt aus argumentativ aufweisbaren Grnden, nicht nur fr die immer nochungelsten sozialen, sondern darber hinaus auch fr die kologischen Pro-bleme eine unabgegoltene Herausforderung dar, auf die keine mir bekannteTheorie bisher auch nur annhernd so grundlegend einzugehen vermag.

    Worin liegt das Herausfordernde?

    Im Gegensatz zu Hegel, dessen Enkelschler er war, sah Marx von Anfangan die Aufgabe der politischen Philosophie nicht darin, die gesellschaftlicheWelt in ihrem fundamentalen Zusammenhngen nur zu begreifen, sondern esging ihm darum hierin eher Rousseau und Kant vergleichbar die Men-

    3 Siehe dazu den Anhang Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Der Grundwiderspruch

    zwischen Wertlogik des Kapitals und dem Reichtum aus der menschlichen Arbeit undder Erde, S. 190

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    Marx und die Naturfrage Vorwort14

    schen ber ihre Lebensverhltnisse aufzuklren, um sie zu entschiedenempolitischen Handeln zu befhigen.

    Zunchst war Marx bis 1843 radikaler Demokrat, seine gegen Hegels

    Verdammung ausgefochtene Verteidigung der Demokratie gehrt bis heutezu den grundlegendsten Fundierungen des demokratischen Gedankens. Dochschon im selben Jahr tauchen bei Marx Zweifel auf, ob die politischeEmanzipation zu einer demokratischen Verfassung ausreichen werde, umauch die bestehende soziale Ungerechtigkeit zu berwinden. Denn beweistnicht die demokratische Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordameri-ka, dass die soziale Ungleichheit von zwischen Kapitaleignern und Lohnar-beitern auch in dieser noch extensiver voranschreitet?

    Im Pariser Exil wird Marx vollends klar, dass die soziale Ungerechtigkeitder kapitalistischen konomie nicht durch die politische Emanzipationbehebbar ist, sondern dass es dazu einer menschlichen Emanzipation be-darf, die die konomisch verankerte soziale Ungerechtigkeit durch eineUmwlzung der bestehenden konomischen Verhltnisse berwinden muss.Seit 1844 strzt sich Marx daher in das Studium der Politischen konomieder kapitalistischen Gesellschaft, um ihre Entstehung, ihr Funktionieren unddie Mglichkeiten ihrer berwindung aufzuklren.

    Der dialektische Grundgedanke ist dabei der, dass alle Gesellschaftensich auf die gemeinsame Produktivitt ihrer Mitglieder grnden. Die Men-schen produzieren die Gter ihres Lebensunterhalts, aber sie schaffen, kreie-

    ren, entwerfen dabei auch die Formen ihres gesellschaftlichen Zusammenle-bens und ihre kulturellen Selbst- und Weltanschauung. Aber die bisherigeEntwicklungsgeschichte der gesellschaftlichen Produktion geschah undgeschieht naturwchsig, d.h. gesellschaftlich bewusstlos, so dass die her-vorgebrachten Gesellschaftsverhltnisse den handelnden Individuen alsNaturgegebenheiten und Systemzwnge erscheinen. Daher ist die bisherigegesellschaftliche Entwicklungsgeschichte eine der entfremdeten Arbeit, diein der gegenwrtigen kapitalistischen Produktionsweise ihre letzte entfrem-dete Gestalt angenommen hat denn hier beherrscht das Kapital, was nichtsanderes ist als aufgehufte vergegenstndliche Arbeit, die lebendige Ar-

    beit der arbeitenden Menschen.Diese Entfremdung und Verkehrung der kapitalistischen Gesellschaft

    kann Marx zufolge nur dadurch aufgehoben werden, dass sich die ar-beitenden Menschen ihrer Entfremdung bewusst werden, sich zusammen-schlieen und das verkehrte Verhltnis ihrer Fremdbestimmung durch dasKapital radikal umwlzen, um bewusst und gemeinsam ihr gesellschaftlichesZusammenleben neu und sozial gerecht zu gestalten.

    Die Bedeutung der Marxschen Kritik der politischen konomie

    1858 wechselt Marx in kritisch-polemischer Anknpfung an Hegels Wissen-schaft der Logikseine Darstellungsmethode und dies hat bei allen, die die

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    Marx und die Naturfrage Vorwort 15

    philosophischen Bezge nicht mehr berschauten, zu verheerenden Fehl-deutungen des Sptwerks gefhrt , denn Marx verfolgt nun mit dem Projektder Kritik der politischen konomiedas ausschlieliche Ziel, durch die Re-

    konstruktion der hybriden Wertlogik des Kapitals, deren grundlegende Ne-gation der lebendigen Arbeit und der lebendigen Natur aufzudecken, die imletzten da sie dadurch ihre eigenen Grundlagen negiert zur eigenenSelbstzersetzung fhren muss.

    Wie jede Gesellschaftsformation grndet auch der Kapitalismus in dergesellschaftlichen Bearbeitung der Natur Arbeit und Natur sind auch imKapitalismus die Quellen allen Reichtums. Aber in ihrer Wertlogik vermeintdas Kapital hnlich wie Hegel dies fr seine Logik darstellte sich selbsthervorbringen, erhalten und wertvermehren zu knnen. Es verheimlichtdabei vor sich selbst, dass die Wertvermehrung einzig und allein aus demMehrwert erwchst, den die Arbeit ber den Gegenwert des Lohnes hinaus,dem Kapitaleigner erbringt.

    In ihrem Heihunger nach Mehrwert aus der Arbeit verhlt sich das Ka-pital zwangslufig negativ gegenber den lebendigen Arbeitern, denen es wo es kann nur soviel Lohn als Vergtung ihrer Arbeit zu belassen ver-sucht, als sie zur Regeneration ihrer Arbeitskraft bedrfen. Insofern dasKapital sich so gegen die lebendige Arbeit richtet, auf die es im Grundeangewiesen ist, richtet es sich ohne dies zu durchschauen im letztenselbst zu Grunde.

    Da eine solche Selbstzersetzung mit einem Ruin menschenwrdigen Le-bens einhergeht, dient die Kritik der politischen konomie der Aufklrungder arbeitenden Menschen, die praktische Notwendigkeit einer revolution-ren Umwlzung der verkehrten Verhltnisse einzusehen und sie gemeinsamin die Hand zu nehmen, damit sie nicht lnger von den sie fremdbestimmen-den kapitalistischen Verhltnissen beherrscht werden, sondern beginnenbewusst und solidarisch ihre Lebensverhltnisse selbstbestimmt zu gestalten.

    Die Bedeutung von Marx fr die kologische Debatte

    Marx ging es primr um die soziale Frage, die Behebung der strukturellenUngerechtigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Aber gleichzeitigweist er in seinem Gesamtwerk durchgehend auf die negativen Folgen derkapitalistischen Produktionsweise hin: auf die Ausplnderung und die Ver-giftung der Erde, der Biosphre. Und er hat auch immer betont ganzentschieden nochmals in seiner Kritik des Gothaer Programms der Deut-schen Arbeiterparteivon 1875 , dass aller Reichtum der gesellschaftlichenEntwicklung aus Arbeit und Natur stammt. Dies kann niemand leugnen, derdas Gesamtwerk von Marx unvoreingenommen liest.

    Weshalb behandelt Marx jedoch dann im Kapital als erstem TeilstckderKritik der politischen konomiedie Arbeit ganz offensichtlich anders alsdie Natur und spricht davon, dass allein die Arbeit wertbildend sei? Dies

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    Marx und die Naturfrage Vorwort16

    deshalb, weil er in der Kritik der politischen konomie nicht seine eigeneGrundlegung einer solidarischen und kologischen Oikonomia darlegt, son-dern die Wertlogik des Kapitals aufdeckt. Und fr die Wertlogik des Kapitals

    geht nur die Arbeit wertbildend in die Wertrechnung des Kapitals ein, wh-rend die Natur wie Marx in seiner Analyse der Grundrente darlegt zumNulltarif in der Wertrechnung aufscheint. Gerade aus dieser Grundeinstel-lung, dass die Natur gratis zu haben, also nichts wert sei, stammt die Aus-plnderungsmentalitt des Kapitals gegenber der Natur.

    Was man also Marx allenfalls vorhalten kann, ist, dass er hiermit dieWertlogik des Kapitals nicht erschpfend charakterisiert habe. Was aber garnicht geht, ist, ihm vorzuwerfen, er selbst habe die Natur nicht neben derArbeit als eine der Grundsulen der Reichtumsbildung anerkannt. Denn dashiee, den Kritiker mit dem zu identifizieren, was er kritisiert.

    Viele Interpretationsfragen bleiben offen

    Nun will ich nicht verhehlen, dass es schwierig ist, den philosophischen Kernder Marxschen Theorie aufzuspren, nicht nur deshalb, weil anderthalbJahrhunderte Marx-Dogmatisierungen und -Verfemungen zwischen ihm unduns liegen, sondern auch, weil er selbst nicht gerade zur Klrung seinesAnsatzes beigetragen hat. Von vielen kleinen zeitbedingten Hoffnungen,Eitelkeiten und Fehleinschtzungen abgesehen, die man ihm sicherlich vor-

    werfen kann, scheint mir ein Hauptproblem darin zu liegen, dass Marx nie-mals den Darstellungswechsel aufgehellt hat, zu dem er sich 1858 nach einererneuten Lektre von Hegels Wissenschaft der Logikentschloss. In der sog.Einleitung zu den Grundrissenvon 1857 spricht Marx ein letztes Mal vonden allgemein abstrakten Bestimmungen, die daher mehr oder minder allenGesellschaftsformen zukommen4, die sowohl die Basis seiner Kritik bilden,als auch der Ansatzpunkt einer solidarischen-kologischen Oikonomia seinknnen. Danach analysiert er nur noch die negative Wertlogik der kapitalisti-schen Produktionsweise, ohne das positive Fundament seiner Kritik sowieeiner revolutionren Gegenbewegung weiter aufzuhellen, obwohl er auch

    weiterhin an beiden festhlt, wie aus seinen politischen Schriften eindeutighervorgeht. Mglicherweise war er sich selbst nicht ganz ber die letztenKonsequenzen dieses Darstellungswechsels im Klaren. Vielleicht war esgerade diese Ungeklrtheit, die ihn in den letzten Lebensjahren einerseitsimmer wieder dazu drngte eine Ausarbeitung seiner Dialektik anzukndi-gen und andererseits ihn davon abhielt, diese auszufhren.

    Jedenfalls hat diese Ungeklrtheit seine Interpreten ob Freund oderFeind in ein Dilemma gestrzt, denn liest man die Kritik der politischenkonomieals eine Theorie auf die eine solidarische und kologische Oiko-

    4 Karl Marx zitiert nach Karl Marx / Friedrich Engels, Werkein 42 Bden., Berlin 1956ff. abgekrzt zitiert MEW 42, S. 42

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    Marx und die Naturfrage Vorwort 17

    nomia abgeleitet werden knne, dann schleppt man unweigerlich ber dieWerttheorie die kapitalistischen Grundlagen in den Sozialismus mit ein,versteht man dagegen die Kritik der politischen konomieals eine rein ne-

    gative Aufklrungstheorie fr eine revolutionre Bewegung, dann kann manauf ihrer Grundlage keine solidarische und kologische Oikonomia errichten.

    Lieber Hans, es ist genau dieser Punkt, um den unser Wissenschaftsstreit seitfast drei Jahrzehnten kreist. Denn mit Recht kannst Du mir vorhalten, dassman auf die Kritik der politischen konomie von Marx keine solidarischeund kologische Oikonomia aufbauenDu hast nur darin unrecht, Marx zuunterstellen, er htte solches gewollt. Ich dagegen habe darin recht, immerwieder den negativen Theoriecharakter der Kritik der politischen konomieherauszukehren, der nur dazu dienen kann, die arbeitenden Menschen berdie Negativitt der Wertlogik des Kapitals aufzuklren. Mein Unrecht be-steht allenfalls darin, dass ich mich zu lange mit der Verteidigung derMarxschen Philosophie herumschlage, anstatt wie Du einen Beitrag zurFundierung einer solidarischen und kologischen Oikonomia zu leisten.

    Doch gerade darin besteht der Reiz unseres verbissenen Wissenschafts-streites so scheint es mir , dass er zur Scheidung dieser beiden Aufgabenbeitrgt: einerseits die Strken und Grenzen der Marxschen Philosophieaufzudecken und andererseits sichtbar zu machen, dass die Marxsche Kritikder politischen konomie allein nicht ausreicht,eine kritische Oikonomia zu

    fundieren.

    Dein Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

  • 7/22/2019 Marx Und Die NaTur fRage Scmied-Kowarzik

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    Marx und die Naturfrage Vorwort18

    Kann man Marx wiederbeleben?

    Lieber Wolfdietrich,

    ich muss betrbt feststellen, dass Du therapieresistent bist. Du willst dieMarxsche Theorie retten, ohne sie zu korrigieren. Ich will nun in wenigenWorten sagen, an welchen Stellen die Marxsche Theorie gendert werdenmsste, um sie an die heutige Realitt heranzufhren.

    Auch Dienstleistungen produzieren Wert!

    In der Marxschen Theorie gelten Dienstleistungen bisher als wertmigunproduktiv. Das ist vllig berholt. Danach wre Deine groartige Arbeit,lieber Wolfdietrich, wertlos. Ich gehe davon aus, dass Du zu dieser Korrekturschnell bereit bist.

    Natrlich produziert die Natur Wert

    Die Annahme einer nicht wertproduzierenden Natur ist vielleicht der grteBock in der Marxschen Theorie. Selbstverstndlich produziert die Naturmarktfrmigen Wert, sonst gbe es keine Bauern, keine reichen Grundbesit-

    zer, keine Rohstoffindustrie, keine Bioindustrie, keine reichen lstaaten undkeine Rohstoffbrse. Dass der Koch den Fisch, der Scheich das l und derBauer die Gurken produziert ist vllig albern. Naturproduktion und Natur-produktivitt werden in Zukunft sogar eine noch grere Rolle spielen, weildie modernste Produktion, die Bioproduktion in all ihren Varianten, einewachsende Bedeutung hat. Der Marxschen Theorie stnde es gut an, hier ihrkomplettes Versagen einzurumen.

    Moderne Werttheorie

    Es war verstndlich, aber historisch falsch, die menschliche Arbeit als allei-nige Wertproduzentin anzusetzen. Das hat die Theorie und die realsozialisti-sche Praxis in eine frchterliche Sackgasse gebracht und letztlich ihren Un-tergang verursacht. Heute ist mehr denn je eine moderne Werttheorie erfor-derlich.

    Wertproduzenten sind die menschliche Arbeit und die produzierendeNatur. Darber hinaus muss der Wirtschaftsprozess geplant und organisiertwerden. Daher sind Planung und Organisation Faktoren, die wertrelevantsind. Und schlielich sind die Technologie und die Wissenschaft als wertre-

    levant anzusehen. Allerdings gengt der Begriff des Technischen Fort-schritts nicht mehr, weil zunehmend die technologischen Risiken wertzer-

  • 7/22/2019 Marx Und Die NaTur fRage Scmied-Kowarzik

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    Marx und die Naturfrage Vorwort 19

    strend wirken. Der Faktor Technischer Fortschritt muss also durch einenFaktor Technisches Risiko ergnzt werden. Aus diesen sechs Faktorenmuss eine moderne Werttheorie gestaltet werden. Eine plumpe und malose

    Kapitalismuskritik hilft da wenig weiter.

    Geschichte folgt keinem Gesetz

    Wenn im Wert nicht nur Arbeit steckt, also auch nicht ausschlielich imMehrwert etc., dann ist die ganze Marxsche Ausbeutungstheorie brchig undseine Geschichtsphilosophie hinfllig. Sozialismus und Kommunismus sindkeine geschichtlichen Mechanismen. Geschichte muss gestaltet werden.

    Unverstandene Globalisierung

    Die geschichtsphilosophischen Fehler der Marxschen Theorie zeigen sichbesonders krass beim mangelnden Verstndnis fr die Globalisierung. Dieentscheidende geschichtliche Aufgabe der Menschen besteht in der humanenGestaltung der Globalisierung, dazu gehren sowohl Mrkte als auch Pla-nung. Einen autoritren Sozialismus braucht man dafr nicht.

    Die Karriere des Individuums

    Im realen Sozialismus galt die Gesellschaft alles, der Einzelne wenig, fastnichts. Diese Grundhaltung hat zu einem politischen Terrorismus gegen denMenschen gefhrt, der ungezhlte Opfer brachte. Mit der Globalisierung aberbetritt ein ganz neues gesellschaftliches Subjekt die Szene, nmlich ausge-rechnet dieses Individuum, das der reale Sozialismus so geschmht hat. DasEntscheidende an der globalen Welt, wie sie sich heute abzeichnet, sind janicht dieglobal playersoder die Finanzspekulanten, sondern sind die siebenMilliarden Einzelne, die sich als Individuen verstehen und als solche lebenwollen. In einem Milliardenheer von Menschen will der Einzelne sich re-spektiert sehen, will ein Leben mit Sinn gestalten und will sein Ich bin

    bewusst gestalten. Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was der realeSozialismus zu bieten hatte. Die Marxsche Theorie hat auf die Frage diesesmodernen, globalen Individualismus noch berhaupt keine Antwort.

    Komplexe Zukunft gestalten

    Dann gibt es noch groe ungelste Fragen, die nicht individuell gelst wer-den knnen. Gentechnik und Reproduktionsmedizin beginnen neue Men-schen zu basteln, die globale kokrise wchst, die Industrialisierung desganzen Globus macht riesige Schritte, die Zahl der Menschen wchst unauf-hrlich. Natrlich bruchte man eine starke und humane Weltgesellschaft,was der Sozialismus einmal sein wollte, aber nicht halten konnte.

  • 7/22/2019 Marx Und Die NaTur fRage Scmied-Kowarzik

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    Marx und die Naturfrage Vorwort20

    Lieber Wolfdietrich, das sind nur einige Stichworte, die eine revitalisierteMarxsche Theorie aufgreifen msste. Sie tut das bisher aber nicht. Vielmehrstellt sie ihre reine Lehre in einen Tabernakel, schliet dessen Tre zu und

    wartet auf das Wunder der Fleischwerdung. So aber verndert man die Weltnicht.

    Dein Freund Hans

  • 7/22/2019 Marx Und Die NaTur fRage Scmied-Kowarzik

    22/210

    Marx und die Naturfrage Vorwort 21

    Ja, man muss!

    Lieber Hans,

    all dem, was Du als Zielperspektiven einforderst, kann ich weitgehend zu-stimmen. All dies muss von der von Marx begonnene und von uns weiterzu-fhrenden Kritik der politischen konomie geleistet werden. Und es kannauch von ihr her, wenn sie aus ihren philosophischen Wurzeln verstandenwird, auch geleistet werden. Nichts anderes versuchen meine Diskussions-beitrgen zu zeigen.

    Unser Wissenschaftsstreit arbeitet mit einem Vexierbild. Wenn Du auf

    dieKritik der politischen konomievon Marx schaust, siehst Du darin einenkritischen Klassiker der konomie, der der Bewltigung der uns bedrngen-den Probleme der kologischen Krise im Wege steht. Wenn ich dagegen aufdie Kritik der politischen konomie von Marx schaue, sehe ich darin eineradikale Kritik der die kologische Krise erzeugenden Krfte der Wertlo-gik des Kapitals , und erahne darin den Ansatzpunkt fr die Bewltigungder uns bedrngenden Probleme.

    Wir knnen uns gegenseitig nicht berzeugen, das Vexierbild im jeweilsanderen zum Umschlag zu bringen. Gerade deshalb scheint mir eine erwei-terte Wiederaufnahme unseres 1983 begonnen Wissenschaftsstreits von so

    entscheidender Bedeutung. Es geht dabei nicht darum, dass die Leser, demeinen oder dem anderen Recht geben, sondern darum, dass sie das VexierbildderKritik der politischen konomiein ihren eigenen Gedanken bewegen unddadurch vielleicht ber uns hinaus, zu einer Konkretisierung einer sozial-kologischen Oikonomia kommen, wie sie uns beiden gemeinsam vor-schwebt.

    Dein Freund Wolfdietrich

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    Der Wissenschaftsstreit (1983)

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    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Die Entfremdung der gesellschaftlichen Produktionvon der Natur und ihre revolutionre berwindung

    In den folgenden Thesen mchte ich zeigen, dass Karl Marx der erste Philo-soph und Gesellschaftstheoretiker war, der in Antizipation der kologischenKrise, die damals vor 150 Jahren allererst erahnbar war, die Problematik derEntfremdung der kapitalistisch bestimmten industriellen Produktionsweisegegenber der lebendigen Natur sowie ihre revolutionre berwindung

    grundlegend durchdacht hat.Ich wei, dass ich mit dieser Behauptung gegen fast den gesamten Inter-pretationsstrom stehe; denn Marx gilt nicht nur bei seinen Gegnern, sondern fast mehr noch bei seinen dogmatischen Anhngern der diversen Mar-xismen als Propagandist ungehemmter industrieller Produktivkraftentwick-lung und Naturbeherrschung.

    Nun behaupte ich keineswegs, dass Marx die kologische Problematik inder uns heute bewusstwerdenden Dramatik der Lebenszerstrung durch dieindustrielle Produktionsweise bereits gnzlich durchschaut habe wie htteer dies auch vor ca. 150 Jahren tun knnen ; fr Marx tritt vielmehr die

    kologische Problematik noch ganz hinter den sozialen Widersprchen derkapitalistischen Produktionsweise zurck. Und doch ist ihm die Bewltigungder kologischen Krisenerscheinungen von den Frhschriften an bis insSptwerk der Kritik der politischen konomie1 keineswegs nebenschlich,sondern durchweg ein wesentliches Anliegen seiner kritischen Analyse undeine Zielsetzung der revolutionren kommunistischen Bewegung.

    Dies sollen die folgenden Thesen darlegen; wobei ich vor allem auf diephilosophisch-grundlegende Bestimmung des dialektischen Verhltnissesvon Mensch und Natur in den Frhschriften eingehe, um von daher denStellenwert der kologischen, industrie- und wissenschaftskritischen Bemer-kungen von Marx im Sptwerk derKritik der politischen konomieprzisie-ren zu knnen. Ich gebe in sieben Thesen eine Zusammenfassung von dem,was ich in meinem Buch Das dialektische Verhltnis des Menschen zurNaturausfhrlich dargelegt habe2, um so den Ausgangspunkt zu markieren,an dem sich unser Wissenschaftsstreit entzndete.

    1 Unter Kritik der politischen konomie werden hier durchgngig alle Schriften und

    Manuskripte von Marx verstanden, die er seit 1858 im Rahmen seines groen Projektseiner Kritik der brgerlichen konomie verfasst hat. Das bedeutendste darunter ist na-

    trlich das von Karl Marx selbst 1867 herausgebrachte BuchDas KapitalI.2 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik,Das dialektische Verhltnis des Menschen zur Natur.Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx, Freiburg 1984

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    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik26

    I

    Fr Marx ist die produktive Ttigkeit der Menschen als Gattungswesen derentscheidende Ausgangspunkt seiner Theorie, denn in ihr ist sowohl dieNaturhaftigkeit des Menschen und seine Eingebundenheit in die Gesamtnaturals auch die schpferische Potenz der gesellschaftlichen Verwirklichung derMenschen in der Geschichte gefasst. In der produktiven Lebensttigkeit inArbeit und Praxis offenbart sich einerseits die ganze Besonderheit des Men-schen in seiner naturbeherrschenden Potenz, insofern er mit seinen Produk-tivkrften Wissenschaft und Industrie gesellschaftlich im Laufe der Ge-schichte sich selber seine Welt aufbaut: Das praktische Erzeugen einergegenstndlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die

    Bewhrung des Menschen als eines bewussten Gattungswesens [...]. DieseProduktion ist sein werkttiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Naturals sein Werk und seine Wirklichkeit3. Andererseits drckt sich in der pro-duktiven Lebensttigkeit des Menschen seine unauflsliche lebendige Ver-bindung mit der Natur aus, deren Teil die menschliche Produktion dochimmer bleibt: Der Mensch lebt von der Natur, heit: Die Natur ist sein Leib,mit dem er in bestndigem Prozess bleiben mu, um nicht zu sterben. Dadas physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammen-hngt, hat keinen anderen Sinn, als da die Natur mit sich selbst zusammen-hngt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur4.

    In dieser Doppelbestimmung des Verhltnisses von Mensch und Naturwird deutlich, dass Marx nicht nur, hnlich wie vor ihm Hegel, die pro-duktive Ttigkeit als die wirkliche gesellschaftliche und geschichtliche Her-vorbringung der ganzen menschlichen Welt begreift, sondern zugleich inAnlehnung an die Naturphilosophie Schellings aufzeigt, dass die produkti-ve Ttigkeit des Menschen doch immer zugleich Teil der Produktivitt derNatur bleibt; dass die Geschichte als Gestaltung der Welt durch die Men-schen selber noch Teil der sie bergreifenden Naturgeschichte ist, die in unddurch den Menschen zu einem bewussten produktiven Verhltnis zu sichselbst kommt. Natur ist nicht nur das, was aller menschlichen Ttigkeit vor-ausliegt und gegenbersteht, sondern auch das, was durch diese selbst leben-dig fortwirkt. So fhrt das Bewusstwerden der Menschen, dass sie es sind,die durch gesellschaftliche Praxis Geschichte machen, im letzten zur Ein-sicht, dass sie dies nur im Einklang mit der durch sie selbst wirksamen Pro-duktivitt der Natur knnen.

    3 Karl Marx, konomisch-Philosophische Manuskripte, MEW 40, S. 516 f.4 MEW 40, S. 516

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    Die Entfremdung der gesellschaftlichen Produktion 27

    II

    Mit dieser Aussage haben wir aber in Gedanken der erst zu verwirklichendenGeschichte vorausgegriffen, denn gegenwrtig ist unser natrliches undgesellschaftliches Leben bis hin zu den menschlichen Bedrfnissen und zurmenschlichen Sinnlichkeit, bis hinein in die produktive Aneignung der Naturdurch Wissenschaft und Technik, bis hinein in die Beziehungen der Men-schen zueinander geprgt durch eine Entfremdung der gesellschaftlichenLebensttigkeit. Diese entfremdete gesellschaftliche Praxis betrifft auch dasVerhltnis des Menschen zur Natur, zu seiner eigenen und zur Gesamtnatur.So sagt Marx ganz ausdrcklich, dort wo er die Entfremdung kennzeichnet:Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2.

    sich selbst, seine eigene ttige Funktion, seine Lebensttigkeit, so entfremdetsie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mitteldes individuellen Lebens. [...] Die entfremdete Arbeit macht also: 3. dasGattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungs-vermgen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellenExistenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eigenen Leib, wie die Naturauer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen.5

    Wo jeder einzelne auf sich selbst zurckgeworfen wird, um seine Le-benserhaltung fr sich und gegen andere zu betreiben, da geht ihm nicht nurder Verantwortungshorizont fr die Gesellschaft als Ganzes verloren, son-

    dern ebenso sehr fr den das Leben der Menschen tragenden Na-turzusammenhang. An die Stelle eines bewussten Gattungslebens in Ver-antwortung fr die gesellschaftlich und im Einklang mit der Natur zu be-wltigenden Aufgaben treten naturwchsig, d.h. gesellschaftlich-bewusstloshervorgebrachte Produktions- und Herrschaftsverhltnisse, die rcksichtslosgegen Mensch und Natur agieren und diesen ihre blinden Entwick-lungsgesetze aufdrcken.

    IIIDa nun aber die Entfremdung nicht etwas ist, was dem Mensch-Natur-Verhltnis naturnotwendig anhaftet, sondern durch die gesellschaftlichePraxis wenn auch bewusstlos hervorgebracht wird, so kann sie auchprinzipiell durch die gesellschaftliche Praxis der bewusst und solidarischhandelnden Individuen aufgehoben werden eben dies ist der revolu-tionstheoretische Grundgedanke der Marxschen Theorie. Die revolutionrePraxis ist nun nicht nur Umwlzung der sozialen Verhltnisse und bewussterNeubeginn solidarischer Gesellschaftskonstitution, sondern muss auch Um-

    5 MEW 40, S. 516 f.

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    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik28

    wlzung und bewusster Neubeginn im Verhltnis der gesellschaftlichenProduktion zur Natur sein: Der Kommunismus als positive Aufhebung desPrivateigentums als menschlicher Selbstentfremdung [...] ist die wahrhafte

    Auflsung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mitdem Menschen [...] Er ist das aufgelste Rtsel der Geschichte und wei sichals diese Lsung.6

    Erst indem die Menschen ihrer gesellschaftlichen Praxis als geschichtli-cher Aufgabe bewusst nachkommen, kann auch ihre Einbezogenheit in denlebendigen Naturzusammenhang als eine menschheitliche Aufgabe begriffenund erfllt werden. Ausdrcklich unterstreicht Marx, dass in der menschli-chen, menschheitlichen Gesellschaft auch das Verhltnis der menschlichenProduktion zur Natur ein vllig neues sein wird: Also die Gesellschaft istdie vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resur-rektion der Natur, der durchgefhrte Naturalismus des Menschen und derdurchgefhrte Humanismus der Natur.7

    In der gesellschaftlich bewusst bernommenen Verantwortung fr diegesellschaftliche Praxis durch die freie solidarische Assoziation der Indivi-duen begreifen diese ihre produktive Ttigkeit nicht nur als gesellschaftlichePotenz, sondern zugleich in ihrer natrlichen Produktivitt aus dem le-bendigen Zusammenhang der Natur; das aber bedeutet, dass sie nun in einebewusste Allianz mit der Natur (Bloch) eintreten.

    IV

    Auf der Grundlage dieser Geschichtsdialektik diskutiert Marx nun die Ent-wicklung der vergesellschafteten Produktivkrfte der Menschen, wie sieinsbesondere in Naturwissenschaft und Industrie manifest werden. Nun giltMarx bekanntlich nicht nur als einer, der den wissenschaftlichtechnischenFortschrittsglauben der brgerlichen Theorie beerbt, sondern diesen sogarnoch zur berzeugung gesteigert hat, dass bei Aufhebung der hemmendenkapitalistischen Verhltnisse die industriellen Produktivkrfte unbeschrnktexpandieren werden. Wobei von diesen Marx-Interpreten noch dazu unter-stellt wird, dass Wissenschaft und Industrie in ihrer gegenwrtigen Form dieProduktivkrfte sind, die Marx dabei nur gemeint haben knne. Dies ist aberdurchweg eine Verdrehung der Marxschen Analyse von Wissenschaft undIndustrie, deren entfremdete und verdinglichte Form in der gegenwrtigenGesellschaftsformation er immer wieder unterstreicht. Marx arbeitet kritischden Doppelcharakter von Industrie und Wissenschaft heraus: Einerseits sindsie die vergesellschafteten produktiven Krfte der Menschen, die die Repro-

    6 MEW 40, S. 5367 MEW 40, S. 538

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    Die Entfremdung der gesellschaftlichen Produktion 29

    duktion und Fortentwicklung der Menschheit in ihrer Geschichte gewhrlei-sten, aber andererseits sind sie dies gegenwrtig in vllig entfremdeter Form,wodurch sie sich als Mittel erweisen, im Auftrage der kapitalistischen Akku-

    mulation die Menschen wie die Natur auszubeuten8.Den Doppelcharakter der Industrie in ihrer naturwchsig vergesell-

    schafteten Form unterstreichend, sagt Marx: Man sieht, wie die Geschichteder Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskrfte [...]ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen,sondern immer nur in einer ueren Ntzlichkeitsbeziehung gefasst wurde[...]. In der gewhnlichen, materiellen Industrie [...] haben wir unter derForm sinnlicher, fremder, ntzlicher Gegenstnde, unter der Form der Ent-fremdung, die vergegenstndlichten Wesenskrfte der Menschen vor uns.9

    Marx stellt also heraus, dass die Industrie zwar die produktive Entfaltungder menschlichen Wesenskrfte in Bearbeitung der Natur und Gestaltung desgesellschaftlichen Lebens darstellt, aber gegenwrtig unter dem Diktat desKapitals nicht nur der Ausbeutung der menschlichen Wesenskrfte der Ar-beiter dient, sondern auch die wirkliche Verachtung, die praktische Herab-wrdigung der Natur10 betreibt. Erst die Aufhebung und Abschaffung derIndustrie in ihrer gegenwrtigen Gestalt, erst die revolutionre Aneignungder geistigen und materiellen Krfte der Menschen durch die vereinigtenIndividuen kann dazufhren, dass Wissenschaft und Technik in neuer Formzu gesellschaftlichen Fhigkeiten und Mglichkeiten zur Errichtung einer

    solidarischen Gesellschaft in Allianz mit der Natur werden knnen.So sagt Marx ausdrcklich im Hinblick auf die entfremdete Gestalt derIndustrie und ihre revolutionre berwindung: Die Naturmchte und so-zialen Mchte, welche die Industrie ins Leben beschwrt (ruft), stehen ganzin demselben Verhltnis zu ihr wie das Proletariat. Heute noch sind sie seineSklaven, in denen er nichts als Trger (Werkzeuge) seiner eigenntzigen(schmutzigen) Profithabsucht sieht, zerbrechen sie morgen ihre Ketten undzeigen sich als Trger einer menschlichen Entwicklung, die ihn mit seinerIndustrie in die Luft sprengt, die nur die schmutzige Hlle angenommenhatte, die er fr ihr Wesen hielt, bis der menschliche Kern Macht genug

    gewonnen hatte, sie zu sprengen und in seiner eigenen Gestalt zu erschei-nen.11

    8 Karl Marx: ber F. Lists Buch Das nationale System der politischen konomie, in:

    Karl Marx / Friedrich Engels, Kritik der brgerlichen konomie, Westberlin 1972, S.31

    9 Karl Marx, konomisch-Philosophische Manuskripte, MEW 40, S. 542 f.10

    Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 37511 Karl Marx, ber F. Lists Buch Das nationale System der politischen konomie,a.o.0., S. 29

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    V

    Aber nicht nur die Industrie, sondern auch die Naturwissenschaften weisen inihrer gegenwrtigen Formbestimmtheit jenen widersprchlichen Doppelcha-rakter auf, und zwar nicht erst in ihrer Anwendung durch die Industrie, alsoin ihrer Indienstnahme durch die kapitalistische Produktionsweise, sonderndie Naturwissenschaften in ihrem gegenwrtigen Wissenschaftscharakterselbst sind entfremdet, wie Marx in den konomisch-Philosophischen Manu-skripten ausdrcklich herausarbeitet. Die Naturwissenschaften haben eineenorme Ttigkeit entwickelt und sich ein stets wachsendes Material angeeig-net. Die Philosophie ist ihnen indessen ebenso fremd geblieben, wie sie der

    Philosophie fremd blieben. [...] Aber desto praktischer hat die Naturwissen-schaft vermittelst der Industrie in das menschliche Leben eingegriffen und esumgestaltet, so sehr sie unmittelbar die Entmenschung vervollstndigenmute.12

    Auch hier lsst Marx keinen Zweifel daran, dass die Naturwissenschaf-ten, wiewohl sie unser Wissen von der Natur und damit unsere Herrschaftber sie enorm erweitern, in ihrer gegenwrtigen Form abstrakter, vom Le-benszusammenhang losgerissener Naturgesetze nicht nur unmittelbar dieEntmenschung vervollstndigen, sondern auch die Natur in ihren lebendi-gen Krften denaturieren. Die Naturwissenschaften in ihrer gegenwrtigen

    Form verdinglichen unser Wissen von der Natur und von uns zu einer unsund der Natur fremden Gesetzlichkeit, die uns ber unsere eigene Selbstun-terwerfung unter ihre Verdinglichung tatschlich fremdbestimmt. Die ab-strakt idealistische Naturwissenschaft entfremdet gerade in ihrer Reduktionauf eine objektive Gesetzmigkeit die Natur von uns und unser Leben vonder Natur, sie spaltet die lebendige Einheit, aus und in der wir leben, in einenSubjekt-Objekt-Gegensatz auf und betreibt gerade darin zunehmend die De-struktion beider.

    Aber auch hier drfen wir ber die entfremdete Form der gegenwrtigenNaturwissenschaften nicht bersehen, dass sich durch sie wenn auch ent-fremdet die produktiv-geistige Auseinandersetzung der Menschen mit derNatur vollzieht. Gerade diese Einsicht in die Bestimmtheit der Naturwissen-schaften aus der gesellschaftlichen Praxis, die selbst einbezogen ist in denlebendigen Naturzusammenhang, ermglicht die Kritik der Naturwissen-schaften in ihrer gegenwrtig entfremdeten Gestalt und die Antizipation ihrerbestimmten Aufhebung in eine neue Wissenschaft von Mensch und Natur,was natrlich nur Hand in Hand mit der Umwlzung des praktischen Ver-hltnisses des Menschen zur Natur in der Industrie gelingen kann:

    12 Karl Marx, konomisch-Philosophische Manuskripte, MEW 40, S. 543

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    Die Entfremdung der gesellschaftlichen Produktion 31

    Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhltnis der Natur unddaher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterischeEnthllung der menschlichen Wesenskrfte gefasst, so wird auch das

    menschliche Wesen der Natur oder das natrliche Wesen des Menschenverstanden, daher die Naturwissenschaft ihre abstrakt materielle oder viel-mehr idealistische Richtung verlieren und die Basis der menschlichen Wis-senschaften werden, wie sie jetzt schon obgleich in entfremdeter Gestalt zur Basis des wirklichen menschlichen Lebens geworden ist, und eine andreBasis fr das Leben, eine andre fr die Wissenschaft ist von vornherein eineLge.13

    Erst dort, wo wir die Naturwissenschaft als geistige Arbeit aus dem Zu-sammenhang der gesellschaftlichen Praxis und diese selbst als ein Teil-moment der produktiven Natur begreifen, wird unser Wissen von der Naturund von uns zu einem Begreifen der Natur aus sich und von uns in ihr. Hiernun steigert sich Marx in deutlichem Bezug zu Schelling zu einer auchdie menschliche Geschichte mitumgreifenden Naturphilosophie, die zugleicheine die Natur mitumgreifende Praxis- und Geschichtsphilosophie ist: Da-mit der Mensch zum Gegenstand des sinnlichen Bewusstseins und dasBedrfnis des Menschen als Menschen zum Bedrfnis werde, dazu ist dieganze Geschichte die Vorbereitungs-Entwicklungsgeschichte. Die Ge-schichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens derNatur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird spter sowohl die Wis-

    senschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen dieNaturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.14

    VI

    Alle die bisher genannten Punkte: die substantielle Einheit von Mensch undNatur in der gesellschaftlichen Produktion, die Entfremdung der na-turwchsigen gesellschaftlichen Produktion von der Natur insbesondere inihrer kapitalistischen Formbestimmtheit , die aufgegebene revolutionreAufhebung der Entfremdung und die Vershnung von gesellschaftlicherProduktion und Natur sowie schlielich die Kritik von Naturwissenschaftund Industrie als den vergesellschafteten Produktivkrften in ihrer gegen-wrtigen, entfremdeten Formbestimmtheit all diese Momente lassen sichauch im Sptwerk derKritik der politischen konomienicht nur als sporadi-sche Randbemerkungen aufweisen, sondern finden sich dort zum Teil sehrviel prziser im Kontext der Kapitalanalyse ausgefhrt beispielsweise alsKritik an der kapitalistischen Formbestimmtheit der Maschinerie und der

    13 MEW 40, S. 54314 MEW 40, S. 544

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    verdinglichten Gestalt der Wissenschaften.15Gerade von hier her findet Marxauch das theoretische Rstzeug, die sich zu seiner Zeit bereits abzeichnendenkologischen Krisenerscheinungen aus dem grundlegenden Widerspruch der

    kapitalistischen Produktionsweise gegenber der lebendigen Arbeit und derlebendigen Natur zu erfassen.

    Nun hat aber dieKritik der politischen konomieeinen anderen theoreti-schen Charakter als die philosophische Grundlegung der 40er Jahre. Deshalberscheinen all die genannten Momente nun auch in einem anderen Kontext.DieKritik der politischen konomiestellt sich durchweg nur eine Aufgabe:Sie will immanent an den Struktur- und Bewegungsgesetzen des Kapitalsderen grundstzliche innere Widersprchlichkeit aufweisen, um zu zeigen,dass die kapitalistische Produktionsweise da sich mit ihrer Expansion auchihre Widersprche steigern an ihrer eigenen Logik zugrundegehen unddamit die Menschen und die Natur zugrunderichten muss. Die Kritik derpolitischen konomieist also durchweg nur als negative Theorie zu begrei-fen; in ihr kann daher ebenso wenig von der Arbeit und der Natur, den Ar-beitern und der Erde, als den eigentlichen Quellen des gesellschaftlichenReichtums positiv die Rede sein, wie von der revolutionren Aufgabe derer,die eine solidarische Gesellschaft in Allianz mit der Natur zu erkmpfenhaben.

    In der negativen Theorie der Kritik der politischen konomie kommenvielmehr Arbeit und Natur immer nur in ihrer durch die kapitalistische Pro-

    duktionsweise ausgebeuteten und verstmmelten Gestalt vor. So schreibtMarx beispielsweise im kurzen, aber direkt auf kologische Probleme be-zogenen Kapitel Groe Industrie und Agrikultur im ersten Band des Ka-pital: Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur einFortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, denBoden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit freine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauerndenQuellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land [...] von der groen Industrieals dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zer-strungsproze. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die

    Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses,indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergrbt: die Erdeund den Arbeiter.16

    Viele weitere solche Stellen lieen sich anfhren, in denen Marx von dervorzeitigen beranstrengung und Erschpfung durch Strung des Gleich-gewichts spricht, wodurch die Zukunft realiter [...] verwstet werde17. Inall diesen Stellen kann die Natur jedoch selbst nur negativ, in der Art und

    15 Vgl. hierzu das Kapitel Die Naturproblematik in derKritik der politischen konomie

    in meinem BuchDas dialektische Verhltnis des Menschen zur Natur16 Karl Marx,Das Kapital I, MEW 23, S. 529 f.17 Karl Marx, Theorien ber den Mehrwert, MEW 26/3, S. 303

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    Die Entfremdung der gesellschaftlichen Produktion 33

    Weise wie sie durch die kapitalistische Produktionsweise behandelt wird, inErscheinung treten, eben weil die Kritik der politischen konomie nichtsanderes ist als die Rekonstruktion des Kapitals in seiner eigenen wider-

    sprchlichen, Mensch und Natur ruinierenden Entwicklungsgesetzlichkeit.Lediglich im dritten Band des Kapitalgibt es eine Reihe von Aussagen,

    die die politische konomie der kapitalistischen Gesellschaft transzendierenund von dem zu erstrebenden Reich der Freiheit sprechen und daher wirdin ihnen ausdrcklich auch die Allianz mit der Natur betont. Zu diesen Aus-sagen gehren auch die Schlusspartien zu Marx' Ausfhrungen zur Grund-rente, die ebenfalls die kapitalimmanente Rekonstruktion der Wertlosigkeitder Natur transzendieren und einen Blick auf ein qualitativ anderes Verhlt-nis der Menschen zur Erde als seinem natrlichen Lebensraum werfen las-sen: Ein Teil der Gesellschaft verlangt hier von der andern einen Tribut frdas Recht, die Erde bewohnen zu drfen, wie berhaupt im Grundeigentumdas Recht der Eigentmer eingeschlossen ist, den Erdkrper, die Eingeweideder Erde, die Luft und damit die Erhaltung und Entwicklung des Lebens zuexploitieren. [...] Vom Standpunkt einer hheren konomischen Gesell-schaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdballganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen aneinem andren Menschen. Selbst die ganze Gesellschaft, eine Nation, ja allegleichzeitigen Gesellschaften zusammen genommen, sind nicht Eigentmerder Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznieer und haben sie als boni

    patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlas-sen.18

    VII

    Fassen wir nochmals das Grundlegende der Marxschen Aussagen zusam-men: Im Gegensatz zu Hegel erkennt Marx, dass die Entwicklung der in-dustriellen Produktionsweise in ihrer kapitalistischen Formbestimmtheitnicht nur negative Folgen fr die an die Arbeit gebundene Klasse, sondernauch zerstrende Auswirkungen auf die lebendige Natur hat. Weder durchwissenschaftlich-technische noch durch politisch-staatliche Gegenmanah-men kann dieser doppelte Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweisegegenber Arbeit und Natur grundlegend behoben werden, da der Wider-spruch in der Formbestimmtheit dieser Produktionsweise selbst wurzelt undauch all ihre Instrumente durchherrscht. Nur eine radikale Umwlzung dergesamten kapitalistischen Produktionsweise, und zwar nicht nur die Abschaf-fung der kapitalistischen Eigentumsverhltnisse, sondern auch die revolutio-nre Umstrukturierung der industriellen Produktion selbst mit den Wissen-

    18 Karl Marx,Das KapitalIII, MEW 25, S. 782 ff.

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    schaften und der Technik in ihrer gegenwrtigen Formbestimmtheit , kn-nen aus der immer mehr zum Destruktionsprozess gewordenen Entwicklungbefreien.

    Ist dies aber nicht eine bodenlose Utopie? Natrlich haben wir nicht dieGewissheit, dass uns eine solche radikale Revolutionierung unseres gesamtenkonomisch-industriellen Reproduktionssystems je gelingen wird.

    Entscheidend aber ist, dass Marx die prinzipielle Mglichkeit einer sol-chen revolutionren Selbstbefreiung der Menschen aufzuzeigen vermag. DaMarx gerade nicht wie Hegel die menschliche Praxis allein aus der Negationzur Natur bestimmt, also in grundstzlicher Antinomie zu ihr begreift, son-dern mit Schelling aufdeckt, dass sie nicht nur ursprnglich mit der Naturverknpft ist, sondern ihre Erfllung nur erreichen kann, wenn wir sie imEinklang mit der Natur zu gestalten vermgen, so wird klar, dass der gegen-wrtige Widerspruch, die gegenwrtig sich zuspitzende Entfremdung vongesellschaftlicher Produktion und Natur nicht ein naturnotwendiger, unauf-hebbarer Konflikt zwischen Mensch und Natur, sondern ein durch gesell-schaftliche Praxis wenn auch bewusstlos selbst hervorgebrachter ist, derdaher auch grundstzlich durch die revolutionre Praxis derer aufgehobenund berwunden werden kann, denen bewusst geworden ist, dass nur nocheine grundstzliche Umkehr uns retten kann.

    Mit der letzten uerung berziehe ich allerdings die Marxsche Aussage.Zwar arbeitet Marx heraus, dass grundstzlich nur eine radikale Re-

    volutionierung der kapitalistischen Produktionsweise durch die Gegenmachtder assoziierten Produzenten zu einer freien solidarischen und mit der Naturvershnten Gesellschaft zu fhren vermag; aber er rechnet dabei noch mitunabsehlichen Zeiten (Kant). Marx sieht zwar die Mglichkeit einesScheiterns dieser revolutionren Hoffnungen; wenn die revolutionre Gegen-bewegung nicht erfolgreich ist, so kann der kapitalistische Selbstzerstrungs-prozess auch zu einem Rckfall in die Barbarei fhren, und alles muss wieMarx unterstreicht wieder von vorne beginnen. Gerade das aber wird wiewir heute wissen nicht mglich sein, denn nach einer kologischen Kata-strophe wird der Menschheit nicht mehr die Chance gegeben sein, nochmals

    von vorne zu beginnen.

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    Ist nur die Arbeit wertbildend?Zum Verhltnis von politischer konomieund kologischer Krise

    I

    Zwischen Wolfdietrich Schmied-Kowarzik und mir besteht keine Kontrover-se jedenfalls von meinem Standpunkt aus gesehen , was die philoso-

    phisch-konomische Grundlegung des Naturproblems mit seinem Kernpunktder doppelten Dialektik zwischen Mensch und Natur angeht: dass nmlichdie Menschen durch ihre Arbeit zugleich die Gestalter der Natur sowie selbstein Teil von ihr sind. Nach meiner berzeugung fhrt daher gerade die ko-nomische Vermittlung von Mensch und Natur zur realen Einheit von Naturund Geschichte. Die kologische Krise der Industriegesellschaften erscheintmir dafr ein besonders stringenter, wenn auch negativer Beweis.

    Auch in den Zielen und Wegen zu einer produktiven und humanen Ein-heit von Mensch und Natur vermute ich eine weitreichende bereinstim-mung zwischen Schmied-Kowarzik und mir: Eine wirklich solidarischeGesellschaft muss auch das gegenwrtige Verhltnis der gesellschaftlichenProduktion zur Natur umwlzen, ihre bewusste gesellschaftliche Produktionmuss in bewussten Einklang zur Produktivitt der Natur gebracht werden.1

    Die Aufhebung der entfremdeten Arbeit muss immer auch eine nicht-entfremdete Natur zum Inhalt haben. Die doppelte Dialektik von Mensch undNatur besagt doch, dass das eine vom andern gar nicht zu trennen ist.

    Trotz dieser bereinstimmung besteht aber zwischen Schmied-Kowarzikund mir eine grndliche Kontroverse, die sich auf das Verhltnis von Kritikder politischen konomieund Naturfrage zentriert. Meinerseits beruht die

    Kontroverse nicht allein auf einer unterschiedlichen Marxinterpretation,sondern auch auf einer Kritik an der Marxschen Wertanalyse aus heutigerSicht und von den heute bestehenden kologischen Problemen her betrachtet.Meine These ist, dass die Marxsche und erst recht die marxistische Kritik derpolitischen konomiein der Naturfrage unzureichend geworden sind, insbe-sondere was die Bestimmung des Verhltnisses von Wert und Natur anbe-langt. Diese These und einige Folgerungen aus ihr versuche ich im folgendenzu erlutern.

    1

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik,Das dialektische Verhltnis des Menschen zur Natur,Freiburg 1984, S. 99. In diesem Satz vermute ich eine zustimmende Interpretation derMarxschen Bestimmung des Verhltnisses von Mensch und Natur.

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    II

    So brillant ich Schmied-Kowarziks Argumentation in theoretisch-naturphilosophischer Hinsicht finde und darin eine weit in die Zukunft wei-sende Perspektive fr die marxistische Philosophie und konomie erkenne,so bedenklich kommt mir die Eleganz vor, mit der bei ihm die theoretischenund praktischen Krisenherde der marxistischen Lehre in bezug auf dasNaturproblem bzw. auf die kologischen Konflikte umschifft werden. Eserscheint mir zu einfach, das Versagen der realsozialistischen Praxis und dieanhaltende Blindheit des berwiegenden Teils der marxistischen politischenkonomie dem Naturproblem gegenber allein einer verkrzten Marx-Interpretation zuweisen zu wollen. Umgekehrt meine ich, dass Schmied-

    Kowarzik unterschtzt, wie die Kritik der politischen konomie selbst ur-schlich geworden ist fr Entwicklungen im Marxismus, die das Naturpro-blem betreffen. Ich mchte dies mit folgenden drei Fragen umschreiben:

    1. Wie ist es zu erklren, dass die gesamte praktische konomie des rea-len Sozialismus, die sich der Marxschen Theorie verpflichtet sieht und sichals aus ihr abgeleitet versteht, sich in ihrem Naturverhalten in krassem Ge-gensatz befindet zu jener Auffassung des Marxschen Denkens ber Natur,Produktivkraft und gesellschaftlichen Fortschritt, wie es von Schmied-Kowarzik vorgetragen wird? Meines Erachtens kann man diese Frage garnicht ernst genug nehmen. Wenn man nmlich die realsozialistischen Syste-

    me ganz von der Marxschen Tradition lsen wollte, dann wrde dies unver-meidlich bedeuten, dass das gesellschaftliche Ziel einer humanisierten Naturweder im Realsozialismus noch im Kapitalismus erreichbar wre. Wo erff-net sich dann aber immerhin angesichts eines global existenten und dro-henden kologischen Zusammenbruchs eine Perspektive fr eine solida-risch-sozialistische Gesellschaft?

    2. Wie ist es zu erklren, dass die sich Schritt fr Schritt vielleicht zurdominierenden Systemfrage entwickelnde Naturkrise der Gesellschaft vonder marxistischen Theorie und insbesondere von der marxistischen politi-schen konomie bis heute unbegriffen und unerklrt blieb? Ist es nicht be-rechtigt zu sagen, dass die marxistische politische konomie mit ihrer ein-seitigen Konzentration auf Wert und Wertanalyse und mit ihrer prinzipiellenVernachlssigung der physisch-naturalen Sphre (Gebrauchswert, Natur,Sinnlichkeit) sprachlos und analyseunfhig geblieben ist gegenber jenenEntwicklungen in der Gesellschaftspraxis, von denen einerseits die elemen-tarsten Bedrohungen des Lebens und andererseits, etwa als kologischePolitik, aber auch entscheidende Impulse zur Vernderung der gesellschaft-lich-konomischen Realitt ausgehen?

    3. Ich bin wie Schmied-Kowarzik fasziniert von der Weitsichtigkeit, mit

    der Marx bereits in den 6oer Jahren des 19. Jahrhunderts das Problem derZerstrung der Natur durch unsere Produktionsweise benannt und beschrie-

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    ben hat.2Aber ich bin im Gegensatz zu ihm schon sehr erstaunt darber,dass Marx die Naturfrage in seiner philosophisch-konomischen Grundle-gung so weitsichtig dargestellt, sie aber in der Kritik der politischen kono-

    mieund insbesondere in der Analyse des Werts in der brgerlichen Gesell-schaft so konsequent gemieden hat. Meine Kontroverse mit Schmied-Kowarzik und meine Kritik an der Marxschen und der sich auf Marx beru-fenden politischen konomie betreffen wesentlich diesen Aspekt. Ichmchte daher behauptend fragen, ob nicht in der radikalen Trennung vonNatur und Wert, wie sie in derKritik der politischen konomie entschiedenschrfer als in der kritisierten brgerlichen konomie selbst vollzogen ist,jene analytische Schwche der Marxschen Kritik den kologischen Proble-men gegenber schon im Ansatz enthalten ist und sich in dem Grade verstr-ken musste, in dem die kologischen Probleme gesellschaftsrelevant wur-den?

    Meine Kontroverse mit Schmied-Kowarzik liegt przise in folgendem: Erbehauptet, dass die Natur in der Kritik der politischen konomie nicht alsNatur thematisiert werden kann. Seine Begrndung ist: Erstens ist dieKritikder politischen konomiekeine philosophische Grundlegung, sondern setztdiese [...] immer schon voraus; bis auf einige wenige grundlegende Andeu-tungen beschrnkt sich die kritische Analyse ganz bewusst allein auf diekonomische Basis der gegenwrtigen Gesellschaft. Zweitens versteht siesich vom ersten Satz an als Kritik der gegenwrtigen konomie in der Logik

    ihrer Entfremdung, d.h. die affirmative Basis aller gesellschaftlichen Praxis,die in ihr als kritischer Theorie selbst natrlich zugrunde liegt, kann in ihrselber nur indirekt thematisiert werden.3

    Diese Aussagen bezweifle ich zutiefst. Selbstverstndlich sehe ich, dassMarx in seiner Kapitalanalyse der Logik des Kapitals folgen muss, um dieinneren Gesetze der Kapitalbewegung zu entschlsseln. Er kann daher si-cherlich nicht eine Natur aufspren, wenn diese gar nicht in Wert und Kapi-tal enthalten ist. Mit dieser Bemerkung mchte ich mich ausdrcklich undvon vornherein gegen den Vorwurf wehren, Marx als positiven, wenn auchkritischen konomen zu lesen. Meine Argumentation ist prinzipiell anders

    aufgebaut.

    III

    Die These, dass in der Kritik der politischen konomiedie Natur gar nichtmehr als Natur thematisiert werden konnte, stellt auch nach meiner berzeu-gung eine zutreffende Marx-Interpretation dar. Wenn diese These in Frage

    2 Ebenda, S. 963 Ebenda, S. 90 f.

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    gestellt wird, ist damit logischerweise eine gewisse Kritik an der MarxschenBehandlung der Natur innerhalb der Kritik der politischen konomie ver-bunden. Es muss aber betont werden, dass diese Kritik von heute aus erfolgt

    und sich bewusst ist, dass sich die geschichtlich-konomische Situation,insbesondere in bezug auf die Natur, vllig gewandelt hat.

    Voll und ganz kann ich der Formulierung zustimmen, dass es Marx in derKritik der politischen konomiedarum geht, die Entfremdung der kono-mischen Basis der gegenwrtigen Gesellschaft in den Mechanismen ihrerVerkehrtheit konkret aufzudecken. Genauer: Marx will zeigen, dass unseregesellschaftliche Praxis von ihrer Basis her durch das Kapital beherrschtwird [...]4Im Mittelpunkt der Marxschen Analyse der konomischen Basisaber steht die Analyse des gesellschaftlichen Werts als Tauschwert, weil inihm das regelnde Prinzip und die bewegende Kraft der Gesellschaft zumAusdruck kommt. Indem Marx nachweist, dass im Wert und damit auch imKapital ausschlielich abstrakte Arbeitsquanten enthalten sind und dieseallein im Gebrauch der Arbeitskraft ihre wertbildende Quelle haben, kann ervon der Basis seiner Arbeitswertlehre zur Mehrwert- und Ausbeutungstheo-rie gelangen. Da demnach kein Atom an physischer Natur im Tauschwertenthalten ist, scheint in der Tat die Wertanalyse, auch die kritische, der fal-sche Platz zu sein, um die Natur aufzuspren bzw. das Naturproblem aufzu-rollen.

    Genau an diesem Punkt aber setzen meine Zweifel an. Ich behaupte, dass

    im brgerlichen Wertbegriff, also im Tauschwert, die Natur und ihre Pro-duktivkrfte in durchaus hnlicher, wenn auch konkret unterschiedlicherWeise mystifiziert sind wie die Arbeit und deren Produktivkrfte. Genauer:Die Natur ist keineswegs nur allgemeine Bedingung der gesellschaftlichenProduktion und daher allen Gesellschaftsformationen gemeinsam, sie istauch spezielle Produktionsbedingung und wirkt bei jedem Wertbildungspro-zess jeder einzelnen Ware direkt oder indirekt mit. Demnach wren Wertbil-dung und Wertgre obwohl dies die brgerliche konomie annimmt gerade nicht unabhngig von der Natur. Vielmehr sind folgt man diesemGedanken Wert und Wertgre direkt oder indirekt von der physischen

    Natur abhngig und es besteht ein bisher nicht bewusster innerer Zu-sammenhang von brgerlicher Wertsphre und konkret-physischer Na-tursphre. Der wesentliche Aspekt ist also, dass es einen in der brgerlichenkonomie mystifizierten Zusammenhang nicht nur von Wert und Ge-brauchswert der Arbeit, sondern auch von Wert und Gebrauchswert derNatur gibt, dass also der Trennung von Tauschwert und Gebrauchswert, vonWert und Natur sowie von Gesellschaft und Natur ein unbewusster, aber realvorhandener Zusammenhang von Wertsphre und Natursphre gegenber-steht.

    4 Ebenda, S. 89

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    Auf der Grundlage dieser These drfte der Ansatzpunkt meiner Marx-Kritik unmittelbar deutlich werden. Wenn es zutrifft, dass der brgerlicheWertbe-griff gerade nicht unabhngig von der Natur als Natur ist, sondern

    ein mystifizierter innerer Zusammenhang zwischen ihnen besteht, dann httedie Kritik der politischen konomiedie Aufgabe gehabt, dieses Geheimnisder nur vermeintlichen Unabhngigkeit von Wert und Physis aufzudecken,das heit, sie htte zeigen mssen, worin die Beteiligung der Natur an derWertbildung und an der Verwertung von Wert besteht und welche Folgendies fr die gesellschaftliche Praxis und Theorie hat. Marx hat die Kritik ander politischen konomie nur auf eine Sule gestellt, nmlich auf die Kritikan der mystifizierten Produktivkraft der Arbeit mit all ihren Konsequenzen.Er hat eindringlich davor gewarnt, die Natur selbst als die andere Sule, d.h.als spezifische Produktionsbedingung und als spezifische Wertbildnerin, zusehen. Meine These beinhaltet aber, dass die Natur doch eine spezifischeMitwirkung an der gesellschaftlichen Wertbildung und Wertbestimmung hat,wenn auch in anderer Weise als die Arbeit. Prziser: Dass die implizite Be-dingung, gem der die brgerliche konomie insbesondere Ricardo dieNatur vom Wertgeschehen ausschlieen durfte und die Marx innerhalb derKritik der brgerlichen Wertverhltnisse bernahm, erstens einen logischenWiderspruch enthlt und zweitens historisch zu einem Auseinanderfallen vonkonomie und Natur sowohl brgerlicher als auch sozialistischer kono-mie fhrte. Hier liegt auch die Wurzel fr das Natur-Unverstndnis der

    Industriesysteme kapitalistischer wie realsozialistischer Prgung.Indem ich jetzt versuche, die These vom inneren Zusammenhang vonNatur und Wertbildung zu beweisen, gehe ich auch auf die Ansicht vonSchmied-Kowarzik ein: Wenn es mir gelingt, im brgerlichen Wertgesche-hen in relevanter Weise physische Natur aufzuspren und ihre Beteiligung ander Wertbildung nachzuweisen, dann wird er sicher mit mir der Ansicht sein,dass die Natur doch in derKritik der politischen konomiehtte thematisiertwerden mssen, weil sie dann die zweite und ebenfalls mystifizierte Quelledes Werts darstellt.

    IV

    In ihrer gesamten Geschichte hat sich die brgerliche konomie als Wa-renkonomie in der Praxis von Produktion und Reproduktion keine Gedan-ken ber die Natur als Natur gemacht. War die physische Natur nur in derWarenform konomisch nutzbar, dann musste man nicht denken, sondernzahlen; war sie dagegen auerhalb der Warenform vorhanden und ntzlich,erbrigte sich das Denken erst recht: Die Natur stand kostenlos, wertlos,

    beliebig und scheinbar unbegrenzt zur Verfgung, jeder konnte zulangen undNatur in beliebiger Qualitt und Quantitt konsumieren. Die konomische

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    Praxis hatte daher keine Grnde, eine Theorie der Natur zu fordern. Sienutzte die Natur und ihren Reichtum und schtzte ohne viel Aufsehen derenkostenlose Leistungen. Sicherlich ahnte die konomische Praxis einen Zu-

    sammenhang von konomischer Wertbildung und Konsumtion der Natur:Wie kam der glckliche Eigentmer einer Kohlemine oder eines lvorkom-mens zu seinem hohen Gewinn? Warum schufen die fleiigen Arbeiter imeinen Bergwerk nur den halben Gewinn eines anderen? Warum siedelte sichdie Industrie in Abhngigkeit von bestimmten Naturvorkommen an?

    Die konomische Theorie (politische konomie) nherte sich der Frageanders. Theoretiker wie Petty oder Cantillon stellten zwar eine konomischeProduktivitt der Natur fest, scheiterten aber beim Versuch, den Tauschwert-Anteil der Natur zu berechnen. Es war dann Ricardo, der allen Versuchen, imTauschwert die Natur zu suchen, den Garaus machte (Ausnahme Grundren-te). Mit Ricardo betrat die reine Arbeitswertlehre die politkonomische Bh-ne und seither blieb die physische Natur bei allen Vertretern der Arbeits-wertlehre als Wertbildnerin prinzipiell ausgeschlossen. Seit einhundertfnf-zig Jahren liegt die Frage nach dem inneren Zusammenhang von konomi-scher Wertbildung und Naturkonsumtion im Safe wissenschaftlicher Dog-matik:

    Wie kommt Ricardo und mit ihm fast die gesamte klassische und marxi-stische konomie dazu, Tauschwert und Natur so konsequent voneinandergetrennt zu sehen? Sein entscheidender Schritt dazu ist, dass er in seiner

    Werttheorie die uere, nicht in der Warenform existente Natur als konstanteVoraussetzung aller Produktion und aller Wertbildung determiniert, d.h.diese Natur als ewige, unerschpfliche, unzerstrbare und unbegrenzte Be-dingung der konomie einfhrt. Wenn man diese Annahme aber trifft, dannist die Natur in der Tat aus aller Beteiligung an der Wertproduktion ausge-schlossen, da es berhaupt keinen Grund dafr gibt, die konomische Wert-bildung von einer ewigen Natureigenschaft abhngig zu sehen. Die ricardia-nische Annahme der allgemeinen Naturkonstanz wird daher zur notwendigenBedingung der klassischen und marxistischen Wertlehren, die auf der reinenArbeitswertlehre beruhen. Die Lehre von der Arbeit als der alleinigen Wert-

    bildnerin ist dann und nur dann wertkonomisch relevant und realhisto-risch konsistent, wenn sie auf das unbewegliche Fundament einer konstantenNatur gestellt wird.

    Durfte Ricardo diese folgenreiche Annahme der Naturkonstanz in seineWerttheorie einfhren, d.h. entsprach sie den wirklichen Verhltnissen in derkonomisch-gesellschaftlichen Praxis? An dieser Stelle gilt es, auf einenWiderspruch zwischen brgerlicher Gesellschaft und Natur hinzuweisen, denRicardo nur einseitig geklrt hat. Tatschlich nmlich verhalten sich dieSubjekte der Warenkonomie so, wie es Ricardo beschreibt: Sie tun so, alsob die nicht-warenfrmige Natur ewig und konstant vorhanden sei, d.h. siesehen in ihrem produzierenden Eingriff keine Vernderung dieser Natur,selbst wenn sie durch diesen Eingriff einen Extrawert zu ihren Gunsten reali-

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    sieren. Dass die Einzelbetriebe so tun, als ob eine Naturkonstanz bestnde,ist die eine, von Ricardo aufgezeigte Wirklichkeit; dass diese Naturkonstanzim Bewusstsein der Produzenten existiert, nicht aber tatschlich besteht, ist

    die andere, von ihm unbegriffene Wirklichkeit. Tatschlich nmlich ist dieAnnahme der Naturkonstanz eine brgerlich-konomische Fiktion, die ausEigentumsdenken und Warenkonomie resultiert, die aber mit jedem einzel-nen produzierenden oder konsumierenden Eingriff in die Natur, d.h. durchjede Arbeit, durchbrochen wird. Die Arbeitswertlehre basiert somit auf einerVoraussetzung, die prinzipiell durch jede Arbeitshandlung aufgehoben wird.

    Der Grund dafr ist, dass die Natur durch jeden Arbeitsschritt verndertwird, die vernderte Natur aber fr die Komponenten der Wertbildung je-weils neue Bedingungen setzt, das heit, direkten und/oder indirekten Ein-fluss nimmt auf die Reproduktion und damit auch auf den Wert der Arbeits-kraft, auf die Gre und damit auf den Wert der Grundrenten, auf die Be-stimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit und damit auf den Wertder Arbeit sowie auf die Reproduktion der Produktivkrfte und somit auf denWert von Produkten und Produktionsmittel. Obwohl also die brgerlichekonomie bei der Erklrung der Tauschwerte von einer konstanten Naturausgeht, wird durch die Produktion des Tauschwerts (Arbeit) genau dieseBedingung aufgehoben, indem eine jeweils vernderte Natur neue Konditio-nen fr die Wertbildung hervorbringt. Das Ergebnis ist, dass in jedem Tau-schwert eine bestimmte, spezifische Naturqualitt enthalten ist, die seine

    Wertgre neben der Arbeit mitbestimmt und sie mit jedem produzierendenSchritt verndert. Der Widerspruch von ricardianisch-brgerlicher konomieund Natur liegt darin, den realen Widerspruch der konomischen Praxiszwischen angenommener Naturkonstanz mit der Folge der vermeintlichenUnabhngigkeit von der Natur einerseits und der tatschlichen Abhngigkeitdes gesellschaftlichen Wertgeschehens von der Natur und ihren Produktiv-krften andererseits voll bersehen zu haben. Wert, Wertbildung und Wert-gre erweisen sich als von der physischen Natur abhngig. Zwischen ge-sellschaftlicher Entwicklung und den Naturverhltnissen in der Gesellschaftbesteht ein innerer konomisch-wertmiger Zusammenhang, von dem die

    auf Ricardo beruhende politische konomie allerdings nichts wissen wollte.

    V

    Wollte die Kritik der politischen konomiedavon etwas wissen? Die frheklassische politische konomie hat in der Diskussion um die Wertfragezumindest gesprt, dass der Zusammenhang von konomisch-gesellschaftlichem Wert und Physis (Gebrauchswert) nicht nur ber die

    menschliche Arbeit, sondern auch ber die uere Natur und deren Produk-tivkrfte hergestellt wird. Erst mit Ricardo wurde die Natur endgltig aus der

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    konomischen Wertdiskussion verbannt. In der Kritik der politischen ko-nomiebernimmt nun Marx fr mich durchaus berraschend mehr oderweniger vollkommen den Natur-Standpunkt Ricardos und damit die Position

    der reinen Arbeitswertlehre. Man kann nach meiner berzeugung nun nichtargumentieren, dass Marx hier der Logik des Kapitals in ihrem verdrehtenNaturverstndnis htte folgen mssen. Es wre doch gerade die Aufgabe derKritik der politischen konomie gewesen, den verborgenen und in der Ar-beitswertlehre nivellierten Zusammenhang von Wertproduktion und Natur-konsumtion aufzudecken und den in der brgerlichen konomie enthaltenenWiderspruch zwischen vermeintlicher und tatschlicher Naturbeteiligung ander Wertproduktion zu erklren. Von den beiden physischen Fundamenten,auf denen alle gesellschaftliche Wertproduktion steht, hat Marx nur denGebrauchswert der Arbeitskraft als wertbildend angesehen und hat daraufseine gesamte Wert-, Mehrwert- und Gesellschaftstheorie aufgebaut. Erkonnte dies unter der Bedingung, dass die Kritik der politischen konomiemit dem ricardianischen Theorem der Naturkonstanz und somit mit derWertneutralitt der Natur einverstanden sein durfte. Durfte sie das?

    Marx hat allen Versuchen, bei der Entstehung des Werts eine Naturbetei-ligung zu vermuten, eine radikale, ja hhnische Absage erteilt. Hier zeigtsich, dass Marx auerhalb der Kritik der politischen konomie, also etwa inder philosophischen Grundlegung, der Natur einen so hohen Rang einrumenkonnte, sie jedoch aus der Kritik der politischen konomieverbannte. Mei-

    nes Erachtens liegt darin eine groe Schwche der marxistischen Theorieund der marxistisch-sozialistischen Praxis, die in dem Ma zunehmen wird,wie die Naturfrage fr die gesellschaftliche Entwicklung relevant werdenwird. Solange der Natur-Wert-Zusammenhang aus der Kritik der politischenkonomieund damit in gewisser Weise auch aus der konomischen Praxisder sozialistischen Lnder herausgehalten wird, solange erscheint mir einkonomisches Verstndnis von Natur und Naturkrise ausgeschlossen.

    Aus dem historischen Kontext heraus war die Annahme der Naturkon-stanz durchaus verstndlich. Man muss sich verdeutlichen, dass damals einekologische Krise in keiner Weise bestand, und dass sich die Natur den

    konomen tatschlich als praktisch unbegrenzt zeigte, zumindest aber nichtzur Wertdiskussion herausforderte. Ganz anders dagegen verhielt es sichmit der sozialen Problematik. Hier war es vor allem die Arbeitswertlehre, diemit ihrer Erklrung von Wertentstehung und Wertverteilung fr politkono-mischen Sprengstoff sorgte und mitten hinein in die sozialen Klassenausein-andersetzungen fhrte. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Kritikder politischen konomie der sozialen Frage und ihrer wissenschaftlichenErklrung ihr ganzes Augenmerk schenkte.

    Dennoch bleibt festzustellen, dass schon in der Marxschen Kritik der po-litischen konomie logisch angelegt ist, was im weiteren historischen Ver-lauf zum Bruch zwischen Naturfrage und politischer konomie fhrenmusste. Von Marx wurde trotz seines tiefen kologischen Verstndnis-