Megafon Nr. 291

34

description

Schwerpunkt ‹Schnee›

Transcript of Megafon Nr. 291

Page 1: Megafon Nr. 291
Page 2: Megafon Nr. 291

ENTREE

3 CARTE BLANCHE D’UVM

3 PASSAGIERE INS NEUE JAHREditorial

4 DER SCHALMANNEntree

SCHWERPUNKT SCHNEE

5 SCHNEE IN LATEINISCH HEISST NIXEinleitung Schwerpunkt Schnee

6 DIE ZEITEN, ALS FRAU HOLLE DIE BETTDECKE SCHÜTTELN MUSSTEWoher kommt der Schnee?

9 BAUCHSCHMERZEN VOR DER LAWINESchnee als Beruf

10 UND ES FIEL SCHNEELicht aus

11 IMMER WENIGER SCHNEEKlimawandel

13 LANDSCHAFTSARCHITEKTEN UND BOTEN DES KLIMAWANDELSGletscher

16 AUF ZUR EISERNTEDie Eisgewinnung im Vallée de Joux

17 ECHO DER ZEITWeile weilt im

18 ALPINISMUS UND UMWELTFreizeit

20 SAISON IST NICHT GLEICH JAHRESZEITIST NICHT GLEICH JAHRESZEITWenn es zuwenig Schnee hat

22 «KALTGEPRESST» ZWISCHEN BUCHDECKELNSchnee bis Poesie

23 EIN ÄSTHETISCHES MYSTERIUMWhite Noise

INTERNATIONALISTISCHE

24 ES KNIRSCHT IM FORTSCHRITTLICHENREGIERUNGSGEBÄLKUruguay

INNENLAND

25 WAS TUN, WENN BULLEN PRÜGELNPolizeigewalt

27 NODEMO – LAUTSTARK UND KREATIV GEGEN DAS WEF-JAHRESTREFFENAnti-WEF-Demos

BLICK NACH RECHTS

29 DIE SCHWEIZER NEONAZIS ENTDECKEN DAS «KAMERADSCHAFTSMODELL»

KULTUR ET ALL

30 GIPI: NACHTAUFNAHMEN31 YVONNE MOORE HÖRT MUSIK

PROGRAMM

KINODACHSTOCKTOJOSOUSLEPONTFRAUENRAUM

42 STORY OF HELL

IM JANUAR

2 megafon Nr. 291, Januar 2006

INHALT

IMPRESSUM

Redaktion AG megafon | Postfach 7611, CH-3001 [email protected] | Fon 031 306 69 66Layout megafon Plakat uvm Umschlag Simone Egger Bilder uvmDruck DRUCKEREI REITSCHULE BERNIn dieser Nummer Ruth Ammann (tut), Ursula Häni (ush), Tom Hänsel(#tt), Agnes Hofmann (ans), Christa Kläsi (cdk), Heiko Morf (hako), LisaStrahm (las), Urslé von Mathilde (uvm), Markus Züger (maz).

Redaktionsschluss 14. Dezember 2005 näxter 11. Januar 2005 | Erscheint monatlich Auflage ca. 1300 Ex.; Jahresabo (mind. Fr. 54.–) beiobenstehender Adresse.Die in den Beiträgen wiedergegebene Meinung muss sich nicht mit der Meinung der Redaktiondecken. Die Schwerpunkt-Beiträge dokumentieren die Entwicklung von Kunst- und Jugend- und Po-litszenen. Weder mit bildlichen noch textlichen Inhalten sollen die LeserInnen dazu aufgerufenwerden, Straftaten zu begehen.Für unsignierte Beiträge ist in der Regel die jeweilige AG verantwortlich.

Haiku – das ist die kürzeste aller bekannten lyrischen Formen.

Diese dreizeilige Gedichtform ist im sechzehnten und siebzehnten Jahrhun-

dert in Japan aufgekommen und bis heute in lebendiger Tradition. Die klare

Poesie und die nur vermeintlich einfachen Aussagen sind sinnlich, unmittel-

bar, nachvollziehbar, spontan und direkt.

Ein warmes Bad

ein Gebet zu Buddha

ein Kirschblütenzweig

das wörtlich übersetzt hiesse:

nachdem ich ein warmes Bad genommen habe,

nachdem ich zu Buddha gebetet habe,

sehe ich nun einen Kirschblütenzweig

Die Kürze des Haikus hat zur Folge, dass den einzelnen Wörtern eine gros-

se Bedeutung zukommt und die Klarheit unterstützt. Haikus sind geprägt

vorallem von der Lehre des Zens, zudem vom chinesischem Buddhismus,

Konfuzianismus und Taoismus.

Mach was aus mir, sagt das Haiku – oder auch: spiel mit mir.

E

Page 3: Megafon Nr. 291

CARTE BLANCHE D’UVM

EDITORIAL

PASSAGIERE INS NEUE JAHR

Die gute Nachricht vorneweg: Auf dieJammerzeilen des letzten Editorials haben sich zwei Leute gemeldet, uns zuunterstützen. Das tut uns gut. Aber überden Berg sind wir noch nicht. Darum trauteuch, meldet euch, wir sind meistens liebund machen ein feines Heft. Da wollt ihrdabei sein.

Bereits sind wir in den Diskussionen überdie Themen für die nächsten Monate, imSteilflug ab ins neue Jahr sozusagen. Was würdet ihr denn gerne lesen? Mehrvon was? Die Mailbox des megafons istoffen und verständnisvoll und nimmt eureIdeen gerne entgegen. Nur versprochenist dann noch nichts.

Denn das ist etwas vom cooleren beimmegafon-machen: Die Tatsache, dass wirzusammen mit anderen Engagierten jedenMonat genau so ein Heft machen, wie wires wollen.

Wie die Reitschule. Die macht auch immer noch, was sie will. Hat im vergangenen Jahr zum vierten Mal einer Abstimmung(und verschiedenen anderen Unannehmlichkeiten) getrotzt – und springt vielleicht sogar stärker ins neue Jahr. Soviel Reak-tionen und (positives) Medienecho wie in den letzten Monatenhatten wir als Reitschule selten. Und im Zusammenhang mit derSondernummer zur Reitschule kriegte sogar das megafon einpaar Zeilen ab – und etliche Bestellungen der Sondernummerund des Bastelbogens. Darauf sind wir sogar ein bisschen stolz!

Das megafon hüpft mit, wohlan in den Januar – mit schon fastalten Bekannten: Wie die letzten Jahre gibts auch heuer MitteJanuar eine Tour de Lorraine gegen das WEF. Wir sind dabei undschicken euch das Programm. Weil immer wieder aktuell:

Stop WEF!

Und jetzt: aufbrechen, mitreisen, losziehen: ab ins neue Jahr.

> ANS <

megafon Nr. 291, Januar 2006 3EDITORIAL

Page 4: Megafon Nr. 291

4 megafon Nr. 291, Januar 2006

ENTREE

DEM SCHNEEMANN DEN SCHAL

Der kleine Greis war in der Nacht auf den Er-sten nicht überraschend aber doch plötzlichverstorben. Falls jemand davon Notiz nahm,dachte er sich wohl, dass es so besser sei.Früher hatte der kleine Greis ein mehr oderminder glückliches und erfülltes Leben ge-führt, doch zuletzt war er nur noch alt undeinsam, leicht vergrämt und untröstlich da-rüber, der Welt nichts Bleibendes hinterlas-sen zu können. Er hatte kein grosses Werkgeschaffen und auch Erben kamen ihm keinenach. Sein ganzer Besitz bestand aus einpaar alten Fetzen, die er Kleider nannte, einem Kurbelgrammophon und seinem ge-liebten Schal. Um sich noch ein letztes Malwichtig zu fühlen, wollte der Alte neben demWenigen auch ein Testament hinterlassen.Mit den Kleidern, das sah er ein, hätte manbestenfalls Almosenempfänger in ärmerenWeltgegenden beleidigen können und dasGrammophon ging zwecks Honorar an denNotar. Es blieb der mit Goldfaden durchwirk-te Schal, auf den der Notar schon ein Augegeworfen hatte. Lieber gebe ich ihn demSchneemann, sagte sich der kleine Greis und starb in der Gewissheit, noch bis zumTauwetter weiter zu leben.

DER SCHAL DES SCHNEEMANNS

Es war einmal ein Schneemann,der hatte einen Schal.Denn ohne solchen sein kanndas Frieren eine Qual.Dich friert am Ohr, dich friert am Bein,doch warm, so sollt der Nacken sein.In frostigen Nächten, an kalten Tagen,braucht Schalmann nicht frieren

noch verzagen.Doch kommt mit mildem Wetter Tau,wird's Schneemann unterm Schal ganz lau.Und wenn die ersten Fliegen fliegen,bleibt nur des Schneemanns Schal noch liegen.

DER SCHALE SCHNEEMANN

Drei Schneemänner standen am Strassen-rand. Der erste schmeckte nach Zitrone und der zweite nach Himbeere. Nur der drit-te hatte gar keinen Geschmack. Da kam dieSapperliesl mit ihren Balgen. Die Görenstürzten sich auf die Schneemannen und brachen grosse Stücke heraus. Sapperliesl,nicht die hellste aber immer um Korrektheitbemüht, ermahnte ihre Brut, nicht so gierigzu sein. Eis wird nicht gefressen, sagte sie,sondern geleckt. Die Kleinen, die doch nurzerstören wollten, legten brav ihre Zungenan die eisigen Herren. Zitrone!, rief die erste und Himbeere!, die zweite erstaunt.Ganz schal, greinte die Dritte enttäuscht. Der schale Schneemann jedoch stand derStrasse am nächsten und bekam deshalb in der frostigen Nacht so richtig Salz ab. Auf dem nächsten Spaziergang heulte diedritte Tochter vor Freude: Der schaleSchneemann schmeckt nach Snack.

> MIKE <

DER SCHALMANN

Page 5: Megafon Nr. 291

SCHWERPUNKT SCHNEE

SCHNEE IN LATEINISCH HEISST NIX

IN DER STADT

In der Nacht, wenn es schneit unddie Strassenlampen leuchten und ichbeim Laufen zur Lampe hoch sehe,dreht und wirbelt dieser Schnee so ummich herum, dass ich ein erweitertesGefühl der Dreidimensionalität habe.Er landet auf meinem Arm um kurz zusein, und dann ist er weg. Wie das Le-ben, da und nicht da, da und nicht halt-bar… Schnee ist vergänglich und besitztAlter, also Zeit und eine Geschichte.

STRUKTUR

Die hexagonale Struktur vonSchneeflocken war im Kaiserreich Chi-na schon mindestens seit dem 2. Jahr-hundert v. u. Z. bekannt. Erste systema-tische Untersuchungen unternahmerst Ukichiro Nakaya, der 1936 als er-ster synthetische Schneeflocken her-stellen konnte und diese 1954 in über200 verschiedene Typen kategorisierte.Und weshalb diese Formen der Flockeentstehen, erklärt euch Bea.

Schnee ist weiss und Weiss als Far-be ist nix. Es gibt jedoch noch den rotenSchnee: Blutschnee. Dieser ist so kaltwie jeder andere Schnee auch, dennkalt ist unabhängig von subjektiven Ein-flüssen. Nein, das ist «kei Schnee vogeschter». Der wiederum ist dannschon subjektiv, wenn auch kalt.

RAUSCHEN

Es entsteht ein neuartiges semanti-sches Universum, dessen Sprache fürden Menschen nicht mehr entzifferbarist, und doch versucht Brigitte, uns die-ses Nirgendwo näherzubringen. Weis-ses Rauschen für die Augen. Dass Rau-schen nicht nur ästhetische Form ist,sondern auch in Form von Hochwasserund Ansteigen des Meeresspiegels unsmehr umrauscht als lieb, bringt der

Klimawandel mit sich – oder trägt erwieder mit sich fort.

Was bleibt ist der Schal, der Schaldes Schneemanns. Schal hingegen derSchnee in meiner Stadt, diesen Schneegibt’s immer und deshalb kommt ernicht ins megafon. Denn der wirklicheSchnee kann angefasst werden. Wennsich in beiden Händen Schnee befindetund die Hände diese Schneemasse zu-sammenpresst, entstehen Schneebäl-le. Schneebälle werden verwendet umsie sich gegenseitig anzuwerfen, zumSpielen, zum Aufeinanderlegen und umnach dem Hunde zu werfen.

Im und um Schnee kann gespieltwerden. Als Kind, in einem andernLand weit mehr Schneefall gewohnt,liebten wir Kinder es, ganze Tunnelsys-teme in den Schnee zu bauen und sounsere eigene Welt.

Denn im Schnee drinnen ist das Hö-ren anders. Auch mit den Schneeschu-hen oder dem Snowmobil in die unend-liche Weite des Schnees zu gehen, warfmich jeweils aus Zeit und Raum undEmpfindung. Und da begann meineLiebe zum Schnee, dem Nichts, das so-viel gibt. Hoch bei uns oben, in den Ber-gen, da gibt es Schnee. Dieser Schneekann befahren werden und birgt auchGefahren. Deshalb wird der Schnee ge-nau beobachtet, damit mann weiss,was er wissen muss um anzukündigen,ob es eine Lawinengefahr gibt odernicht. Theo Mauer ist so ein Mann, derdas kann, und er kann vom Schnee le-ben, weil er das kann.

WEISS AUCH GOLD BEDEUTEN KANN

Also ist Schnee doch mehr als nix.95 Prozent ist Wasser. Und wenn dasEis zu Wasser wird, dann ist das das ge-naue Gegenteil von einer Tätigkeit, dieheute der Kühlschrank übernimmt.

Oder früher ein Erwerbszweig war: derVerkauf von Eis. «Und es fiel Schnee»entführt in unbehagliche Erinnerun-gen, Schnee als Assoziation.

Doch Schnee gilt auch als Symbolfür Reinheit, und so kaltgepresst zwi-schen Buchdeckeln vermag er auch öf-ters zu wärmen. Aber auch aus Kano-nen wird geschossen und nicht zuknapp. Ganze Landstriche werdenweiss pulverisiert und wir – dann mitSchwung über das Gut, das planiertsich bis in den Sommer ziert zu blühen.In den Alpen ist der Schnee nicht nurweiss, sondern auch Gold wert. Überdie Hälfte des Schnees, welcher mo-mentan in unseren Bergen liegt, istkünstlich. Wenn ich so an heute denke,an all die weissen Flocken, die da hinterScheiben locken und sich wohl auch inden Bergen nun auf den Kunstschneehocken, dann… dann ist die Hälfte nichtimmer die Hälfte.

SCHNEE IST POESIE

Schnee kann der Zeit eine neue Di-mension bieten, und ist er verfestigt,fliesst er plastisch und gleitet doch aufleisen Sohlen. Der Gletscher.

Schnee hellt auf Schnee ist kalt Schnee ist eine Freude

schneefall schneeflocken schnee-kanone schneetogglen schneehaseschneeball schneekette schneeglockeschneebruch industrieschnee schnee-gedichte schneeschuhe schneeboardmariaschnee schneebrett schneehausschneepflug neuschnee altschneeschneeeule feuchtschnee schnee-schmelze blutschnee schneeblattschneeblind schneekarma eisschneeschneebesen instantschnee weiss-schnee stadtschnee schneelippen

> UVM/HAKO <

EIN KLEINES MEIST 6-ECKIGES TEIL FÄLLT VOMHIMMEL IN MASSEN, MAL GRÖSSER MAL KLEINER,ES DREHT SICH, ES ENTSTEHT, ES WIRBELTDURCH DIE LUFT.

ein ton klingt nachwährend der schneeden schatten verfeinert

megafon Nr. 291, Januar 2006 5SCHWERPUNKT

Page 6: Megafon Nr. 291

Woher kommt der Schnee? Vom Himmel natürlich. Was für eineFrage! Die Antwort ist trotzdem etwaskomplizierter als vordergründig ange-nommen. Zudem gibt es mehrere Artenvon Schnee:

Schnee als Niederschlag, der vomHimmel fällt, entsteht in höheren, kal-ten Luftschichten. Winzig kleine undunterkühlte Wassertröpfchen gefrierenoder lagern sich als Wasserdampf di-rekt um sogenannte «Kondensations-kerne» und gefrieren dann.

Fällt dieser Niederschlag vom Him-mel auf die Erde, muss ein bestimmtesTemperaturniveau vorhanden sein, da-mit der Schnee als Schnee überhauptauf der Erde bleibt, was heisst: damitdie Landschaft weiss wird, muss es vorallem kalt, am liebsten Winter, sein.Kalt ist unabhängig vom subjektivenEmpfinden eine Grösse, die wiederumabhängig von weiteren wichtigen Ein-flussgrössen ist – im Himmel fast nochmehr als auf der Erde – wie beispiels-weise der Einfallswinkel der Sonne, dieStrahlungsbilanz und die Advektion(Anhebung von warmer durch unter-schiebende kalte Luft) von Luftmassen.Ob sich die Luft abkühlt oder erwärmt,wird über das Strahlungsgeschehenvom Untergrund (Wasser, Bodenbe-deckung, Vegetationstyp, Schneedecke,etc.) gesteuert. Das Auftreten und dieIntensität von Kälte ist deshalb an keinefixe Temperatur gebunden.

Schauen wir deshalb noch einmal inden Himmel, wo der Weg einer Schnee-flocke beginnt. In der Atmosphäre gibtes höhere, kalte Luftschichten, wo un-terschiedliche Aggregatszustände desWassers (flüssig, fest, gasförmig)nebeneinander bestehen. Der Himmellebt dem Menschen vor, was dieser alssoziale Utopien oft und zum Glück im-

mer wieder zu verwirklichen versucht:eine friedliche Koexistenz verschiede-ner Daseinsformen nebeneinander.

Es ist möglich, dass in der Atmos-phäre Wasser in flüssiger Form (soge-nanntes «unterkühltes Wasser»; bis -40°C) neben gasförmigem Wasser(normale Wolke) besteht und diesewiederum in unmittelbarer Nachbar-schaft von Wasser in fester Form (Eis-kristallen) leben. Die Eiskristall- bzw.Schneekristallbildung setzt meist beiWolken ein, deren Kälte unter -12°C ist.Einzelne Wassermoleküle – bestehendaus zwei Wasserstoffatomen und ei-nem Sauerstoffatom (H2O) – lagern sichdabei um einen Kondensationskernoder einen Eiskeim an (= Sublimation),deren Mitte zum Beispiel ein Staubpar-tikel ist, der Wassermoleküle an sichzieht. Es ist auch möglich, dass sichunterkühlte Wassertröpfchen um einenEiskeim reihen (=Akkredeszenz).

Daraus entstehen Eiskristalle, diekleiner als 0,1 Millimeter sind. Diesefallen der Erdanziehung folgend inRichtung Erde und können aufgrundunterschiedlicher Dampfdruckverhält-nisse zwischen Eis und unterkühltemWasser weiter anwachsen. Es ist zu-dem möglich, dass durch Resublima-tion Wasserdampf in der Luft direkt in6 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

WOHER KOMMT DER SCHNEE?

DIE ZEITEN, ALS FRAU HOLLE DIE BETTDECKE SCHÜTTELN MUSSTE DAMIT ÜBER EINE GANZE LANDSCHAFT SCHNEEFÄLLT, SIND VORBEI. HEUTZUTAGE KÖNNEN WIRAUF NATURWISSENSCHAFTLICHE ERKLÄRUNGENZURÜCKGREIFEN, UM DAS WUNDER DER ENTSTEHUNGVON SCHNEE ZU VERSTEHEN. IN DIESEM MÄRCHENGIBT ES KEINE PRINZESSINNEN UND KÖNIGE,SONDERN WASSERTRÖPFCHEN, KONDENSATIONSKER-NE, DRUCK- UND TEMPERATURSCHWANKUNGEN SOWIEEIN HEXAGONALES KRISTALLSYSTEM, WOBEI BEILETZTEREM NICHT DOCH NOCH DER BEZUG ZURGUTEN ALTEN MÄRCHENHEXE HERGESTELLT WIRD,SONDERN EINE SECHSECKIGE MOLEKÜLSTRUKTURGEMEINT IST.

augen aufgeschlagen dasbalu weissgesprenkeltdie spurenzugedeckt

Page 7: Megafon Nr. 291

du machst feuer und ichwill dir was schönes zeigeneinen ball aus schnee

>

Eis übergeht, und dadurch ein beste-hendes Eiskristall weiter anwachsenlässt.

Das Anwachsen der Eiskristallefolgt eigentlich immer derselben Idee:Im Durcheinander der bewegten Mole-küle bietet das Eiskristall eine ruhen-de, mit ortsfesten Anziehungskräftenausgerüstete und dazu noch ver-gleichsweise grosse Anlegestelle, wel-che andere Moleküle in ihrer Bewe-gung stoppen, und diese im Ordnungs-system einbauen kann. Zudem besitztein Eiskristall genau das Ordnungssy-stem, in welches ein H2O-Molekül hin-einpasst.

6000 KRISTALLFORMEN

Wie gesagt: Schnee fällt in ver-schiedenen kristallisierten Eisformenaus der Atmosphäre nieder. Diese Eis-kristalle sind wegen der Struktur derWassermoleküle immer als hexagona-le (sechseckige) Ordnungs- oder Kri-stallsysteme aufgebaut. Der Grund: Ei-ne Anordnung der Molekülverbindun-gen der beiden H’s und des einen 0’ssind nur in den beiden Winkel von 60°und 120° möglich. Die beiden Winkelbilden die architektonische Grundlagefür eine, in alle Richtungen sechseckiausgerichtete, räumliche Molekular-ordnung. (aus: snowcrystals.com)

Jeder dunkelgraue Punkt ist einSauerstoff-Atom-O mit jeweils zweiWassermolekülen-H. (Grafik oben)

Eiskristalle sind in ihrer Formge-bung ausserordentlich vielfältig undfantasiereich. In einem Atlas derSchneekristalle (Snow Crystals, WilsonBentley) beispielsweise sind über 6000verschiedene Eiskristallformen doku-mentiert, obschon ihnen allen dieidentische Aufbaulogik eigen ist. Wel-che Form ein Schneekristall annimmt,ist direkt abhängig von den atmosphä-rischen Bedingungen. Auch hier spieltdie Temperatur erneut eine wichtigeRolle. Neben der Verweildauer in derAtmosphäre, die von 10 Minuten bismehreren Stunden betragen kann,

wirken sich auch die Turbulenz oderdas Feuchtigkeitsangebot formbildendaus. Wenn sich Schneekristalle bilden,steigt – scheinbar paradox – die Tem-peratur in der Wolke (beim Gefrierengeben die Kristalle Wärme ab). Gleich-zeitig bewegen sich die Kristalle bei ei-ner hohen Thermik mehrfach vertikaldurch die Atmosphäre und werden da-bei teilweise aufgeschmolzen und neugefroren. Die Kristallregelmässigkeitverändert sich dadurch stark und esergeben sich mannigfaltige Mischty-pen einer Kristall-Grundform. (aus:snowflakebentley.com)

Damit aus einzelnen Schneekristal-len Schneeflocken entstehen, bedarf es – wie beschrieben – einer gewiss

Turbulenz in den höheren Luftschich-ten. Die Schneeflocke ist dann als einZusammenschluss einzelner Schnee-kristalle zu verstehen, welche auf ih-rem Weg durch die Luftschichten meh-rere Veränderungen erfahren haben(schmelzen, gefrieren, wachsen, zer-brechen, Zusammenschlüsse, Anlage-rungen, etc.). Eine komplexe Angele-genheit. Je wärmer die Luftschichtenwerden, umso grösser werden dieSchneeflocken. Die Kristalle schmel-zen und verkleben zu grossen Flocken.Ihre maximale Grösse (ca. fünf Milli-meter) haben die Schneeflocken in denbodennahen Luftschichten erreicht.Senken sie sich langsam zur Erde und

megafon Nr. 291, Januar 2006 7SCHWERPUNKT

>

Page 8: Megafon Nr. 291

werden sie für uns Menschen sichtbar,ist ihre Blütezeit bereits längst über-schritten! Die grösste je geseheneSchneeflocke hatte einen Durchmes-ser von zwölf Zentimetern.

WÜSTENSAND IM SCHNEE

Schneeflocken enthalten bis zu 97Prozent Luft und schweben mit einerGeschwindigkeit von rund 0,9 km/h aufdie Erde. Im Vergleich: ein Regentrop-fen ist mit ca. 39,6 km/h unterwegs, ei-ne Biene mit 23,4 km/h, eine Fussgän-gerin mit 5,4 km/h.

Bei bodennahen Temperaturenrund um den Gefrierpunkt sind dieSchneeflocken am grössten. Bei tiefe-ren Temperaturen (unter -10°C) wer-den die Flocken nicht etwa grösser,wie frau naiverweise annehmen könn-te, sondern verwandeln sich in Pulver-schnee. Die relativ kurze Erstarrungs-zeit bei diesen Temperaturen reicht fürein Wassertröpfchen nicht mehr aus,um an ein bestehendes Schneekristallanzukoppeln. Es bleibt ein geschmol-zenes und wieder erhärtetes Eiskri-stall. Bei Temperaturen unter -30°Cschneit es meist gar nicht mehr, weildie Luft zu trocken ist, um nochSchneekristalle zu bilden.

Hingegen kann es bei Temperatu-ren über Nullgrad (um 5°Celsius) nochschneien. Andererseits kann es auchvorkommen, dass bei Temparaturenunter Nullgrad Regen fällt: als «gefrie-render» beiziehungsweise «unterkühl-ter» Regen. Dieser entsteht, wenn Re-gentropfen aus relativ warmer Luft fal-

len und in einer unterlagernden kaltenLuftschicht gefrieren. Dieses Phäno-men wird oft begleitet vom sogenann-ten Eisregen, da beim Fallen der Re-gentropfen durch kalte Luftschichtenauch Eiskörner entstehen.

Weiss ist der Schnee übrigenswegen der in den Schneeflocken ein-geschlossenen Luft. Das Licht allersichtbaren Wellenlängen wird an denGrenzflächen zwischen den Eiskristal-len und den eingeschlossenen Luftblä-schen reflektiert und gestreut.

Es gibt jedoch auch Schnee mit ei-ner dunkel-rötlichen Färbung, der inden Alpen oder Skandinavien vor allemim Frühling oder im Sommer auftretenkann: Dieser «Blutschnee» entstehtdurch die Massenentwicklung vonSchneealgen (zum Beispiel Chlamydo-monas nivalis), die bei der Schnee-schmelze zu keimen beginnen undsich mit der roten Farbe gegen die UV-Strahlung der Sonne schützen.

Eine bräunlich-gelbliche Färbungdes Schnees kann durch den Wüsten-staub in höheren Luftschichten herbei-geführt werden. Hingegen grau-schwarz wird der Schnee aus einemvöllig anderen Grund: wegen der vielenStaub- und Russteilchen, die von unse-rer Zivilisation produziert werden.

Das war zu Zeiten von Frau Holleauch noch anders. Und wer weiss, wiesich der Schnee in Zukunft verhält.Schneebabys im Himmel wird es im-mer wieder geben, doch wer weiss, obsie es schaffen, auch weiterhin bis zurErde niederzufallen. Die Geburt einerSchneeflocke ist ein dermassen fragi-ler und sensibler Vorgang, der allzu-leicht aus dem Gleichgewicht geratenkönnte.

> BEA MATTLE <

*) Strahlungsbilanz: Die reflektierteStrahlung ist grundsätzlich gleich dereinfallenden Strahlungsenergie minusder absorbierten und der weitergelei-teten Energie. Wichtige Einflussfakto-ren auf diese Bilanz haben der Bewöl-kungsgrad, der Wasserdampf, derAerosolgehalt und die Albedo. Albedoist das Verhältnis der reflektierten zurabsorbierten Strahlung.

8 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

so hat mein vater schondie bergen gesehen eingeschneit in schnee

Page 9: Megafon Nr. 291

die welt im schnee, lass uns dieschönste aussicht suchen, bis wirtaumeln und fallen in den schnee

SCHNEE ALS BERUF

BAUCHSCHMERZEN VOR DER LAWINE

megafon: Herr Maurer, Sie wurdenin einer Zeitschrift als «Schnee-flüsterer» bezeichnet. Eine pas-sende Bezeichnung?

Theo Maurer: Das ist eine Erfindungdes Journalisten, der das geschriebenhat. Als Sicherheitschef der KraftwerkeOberhasli untersuche ich die Schnee-verhältnisse und beurteile die Lawinen-situation. Dazu beobachte ich das ganzJahr über das Wetter und den Schneeim Oberhasli-Gebiet. Im Winter erstelleich zweimal im Monat ein Schneeprofil.Dazu gehe ich ins Einzugsgebiet derLauenen oberhalb von 2000 Metern.Meistens bin ich mit den Tourenskiunterwegs, dann merke ich schon beimAufstieg, wie der Schnee beschaffen ist.

Was ist ein Schneeprofil?Das Schneeprofil ist ein Längs-

schnitt durch die Schneedecke. Es gibtmir Aufschluss über die Schneeablage-rungen des ganzen Winters und ichkann im Profil kritische Gleitflächen er-kennen, auf denen Neuschnee schnellins Rutschen kommt. Auch untersucheich die Beschaffenheit der Schneekri-stalle und messe die Schneetempera-tur, um den Temperaturverlauf zwi-schen dem Boden und der oberenGrenze der Schneedecke bestimmenzu können – ein weiterer Hinweis aufdie Festigkeit der Schneedecke.

Was lässt sich aus der Beschaf-fenheit der Schneekristalleschliessen?

Die Schneekristalle untersuche ichunter der Lupe. Wenn sich auf derenOberfläche Reif bildet, sprechen wirvon Oberflächenreif. Fällt Neuschneedarauf, können Schneebretter entste-hen. Solch schlechten Schneedecken-

aufbau gibt es vor allem währendschneearmen Wintern. Dann ist die Ge-fahr für Lawinen gross – obwohl maneher das Gegenteil vermuten würde.

Die Beschaffenheit der Schneede-cke kann aber auch von der Art desSchneefalls abhängen. Graupelschau-er mit körnigen Schneekristallen sindschlecht für die Festigkeit des Schnees.Gefährlich sind auch Sturmwinde wäh-rend des Schneefalls, da dies zu Treib-schneeansammlungen führen kann.Ganz nach dem Sprichwort: «Der Windist der Erbauer der Lawinen.»

Wie sind Sie ein Schneeexpertegeworden?

Ich bin seit 1985 Bergführer. DieserBeruf bringt es mit sich, dass ich in-stinktiv auf Naturbedingungen, Wetter-verhältnisse und Lawinengefahren ach-te. Zusätzlich habe ich mich fachspezi-fisch am Schweizerischen Institut fürSchnee- und Lawinenforschung in Davos weitergebildet.

Was fasziniert Sie am Schnee?Schnee fasziniert mich als Natur-

phänomen. Es ist schon eindrücklich,wenn es im Winter auf dem Grimsel-pass so richtig stürmt. Das zeigt mirdann stets wieder, wie machtlos derMensch eigentlich gegenüber diesenNaturgewalten ist. Schnee ist aberauch für mich etwas Schönes und be-reitet mir zum Beispiel beim Tief-schneefahren grossen Spass. Ganzwichtig für meine Arbeit ist jedochauch, dass ich den Respekt vor demSchnee niemals verliere.

Sie tragen grosse Verantwortung,wenn Sie entscheiden, ob die Bau-stelle am Grimselkraftwerk – diehöchstgelegene Winterbaustelle inder Schweiz – freigegeben odergeschlossen wird. Wie treffen Sie

diese Entscheidung? Zum einen kann ich meine Entschei-

dung auf eine grosse Datenmenge zuden Schneeverhältnissen abstützen.Via Internet informiere ich mich von denautomatischen Schneestationen überSchneehöhen, Temperaturen und Luft-feuchtigkeit. Das gibt mir eine guteGrundlage zur Einschätzung der Ge-fahrensituation. Am Ende fälle ich mei-ne Entscheidung aber auch aus demBauch heraus, da die Daten alleinenicht ausreichen, um die Lawinenge-fahr hundertprozentig einschätzen zukönnen. Dabei spielt meine Erfahrungeine wichtige Rolle. Ich kenne mich imGrimselgebiet gut aus, kenne jeden La-winenzug und jedes Einzugsgebiet.

Am Ende kann schliesslich kein Pro-fessor und kein Spezialist mit absoluterSicherheit sagen, wann und in welchemAusmass eine Lawine niedergehenwird. Deshalb entscheide ich stets miteinem Sicherheitsspielraum und sper-re das Gebiet lieber zu früh als zu spät.Im Schnitt sperre ich die Strassenoberhalb von Guttannen zwischen No-vember und Mai an etwa 25 bis 30 Ta-gen. Aber sperren ist einfach. GrössereBauschmerzen bereitet es mir, bei kri-tischen Verhältnissen die Strasse frei-zugeben.

Wie genau können Sie eine Lawi-nengefahr vorhersagen?

Meine Prognosen orientieren sichsehr stark an den Wetterprognosen.Und da wissen Sie ja, wie genau diesemanchmal sind. Je ungenauer die Wet-tervorhersage, desto ungenauer wer-den meine Lawinen- und Strassenbul-letins. Am liebsten hätten es die Bau-stellenleiter am Grimselkraftwerk je-doch, wenn ich ihnen sagen könnte, wieder Schneebericht morgen um 17 Uhraussieht.

> INTERVIEW: MÄZ <

THEO MAURER, 43, IST SICHERHEITSCHEF AUFDER HOCHGEBIRGSBAUSTELLE AM GRIMSEL. WENNMAURER WILL, STEHT DIE GANZE BAUSTELLESTILL. ZUM BEISPIEL DANN, WENN ZUVIEL NEUSCHNEE AUF ZUVIEL GLEITFLÄCHE FÄLLT.SCHLIESSLICH IST MAURER DER MANN MIT DEMUNTRÜGLICHEN GESPÜR FÜR SCHNEE.

megafon Nr. 291, Januar 2006 9SCHWERPUNKT

Page 10: Megafon Nr. 291

Einmal, da war ich noch Lehrling, ha-ben Sie mich mit heruntergelassenerHose in einen Schneehaufen geworfen.Ich lag auf diesem Haufen, hörte ihr La-chen und spürte, wie einer auf michbrunzte, während die anderen michfesthielten. Damals wünschte ich mir,ich könnte auf der Stelle sterben, so wieder Vater vom Seppi, dem es von einemHirnschlag innert Sekunden die Lichterim Kopf ausgelöscht hatte. Das allesgeschah 1981 im Winter.

Entschuldigen Sie, wenn ich so mit-tendrin zu erzählen anfange, abermanchmal fallen einem die Sachen haltin eigenartiger Reihenfolge ein. Undmir selbst fiel alles gerade da ein, woSie zur Tür rein gekommen sind undgesagt haben, es liege schon wiederSchnee auf der Strasse. Aber wenn esIhre Zeit zulässt, Herr Doktor, wenn Siewollen, dann erzähle ich Ihnen gern alles der Reihe nach und wer weiss,vielleicht mögen Sie mich ja sogar zueinem Kaffee Luz einladen, Doppel-Luzmit viel Zucker. Das ist anständig vonIhnen, danke, Herr Doktor, merci.

Es fing mit dem Firmenfest an, alsomit dem Weihnachtsessen und damit,dass uns Lehrlingen auch Bier undWein eingeschenkt wurde, so viel wirwollten. Und Sie wissen ja, wie schnellsie hier draussen mit Pflügen anfan-gen, wenn es erst einmal zu schneienanfängt. An den Strassenrändern bil-den sich kleine Walme, die immer grös-ser werden, je öfter gepflügt wird. Inandern Ländern, wo es auch schneit,aber vielleicht seltener, haben siemeist gar nicht die Ausrüstung, um so-fort alles wegzumachen. Aber wie ge-sagt, es hatte geschneit und zwar nichtzu knapp und wir sassen im «Trojaner»im kleinen Saal, den sie für unser Fir-menessen reserviert hatten. Es gabBouillon und Butternudeln und Ge-schnetzeltes und Nüsslersalat und

zum Dessert Meringue mit viel Rahmund dann noch Grappa.

Und als wir alle fertig waren mitdem Essen gab es die Ehrungen derJubilare und der Chef überreichte Sola-ri, dem Baggerführer, eine Zinnkanne,weil er das fünfundzwanzigste Jahr inder Firma hinter sich hatte. Auf derKanne war sein Name eingraviert undzwei Jahrzahlen und alle applaudiertenund Solari hatte feuchte Augen undwollte auch etwas sagen, aber seineStimme funktionierte nicht mehr, alsoliess er es bleiben und kehrte an seinenPlatz zurück. Am Schluss sagte derChef noch, er wünsche allen alles Gute,auch unseren Angehörigen und jetztmache dann noch einmal die Grappa-flasche die Runde und wer wolle könneauch noch einen Kaffee bestellen under wünsche noch viel Vergnügen mitdem Duo «Sound Boys» aus Gondiswil.Und denen die mit dem Auto gekom-men seien sagte der Chef noch, sie sol-len vorsichtig sein beim Heimfahrenwegen dem Schnee und dem Eis aufder Strasse. Doch einer aus dem Saal,ich glaube es war der Fred, fragte laut,wer denn gesagt habe, dass er von hierdirekt nach Hause fahre und da lachtenwir laut und dann spielte die Musik.

Nachher wollte ich heim. Aber Fredund ein paar von unserer Baustelleüberredeten mich, noch in diesenNachtclub zu gehen. Ich dürfe gar nichtrein, sagte ich, denn ich sei erst sieb-zehn. Das müsse ich ja dem Türstehernicht unter die Nase reiben, sagten sieund was für ein Trottel ich doch sei, im-mer der gleiche Trottel, auf der Arbeitein Depp und danach, in der Freizeit,immer noch ein Depp. Und Gloor sangnoch das Lied, das sie manchmal in derBaracke zur Melodie von «Yellow Sub-marine» sangen. «Üse Fiechter Heinzisch e säute blöde Siech, säute blödeSiech, säute blöde Siech...»

Tatsächlich war es einfach, in denClub rein zu kommen, denn niemandfragte nach meinem Alter. Das Dummewar nur, dass wir danach, als derNachtclub zumachte, noch alle zu Cre-

mosi fuhren, auf einen Schlummer-trunk. Cremosi wohnte in Aarwangenund ich traute mich nicht mehr zu sa-gen, ich wolle heim, weil sie da schonlange angefangen hatten, ständig Witzeüber mich zu machen und Anekdotenzu erzählen, über Missgeschicke diemir auf der Arbeit passiert waren.

Nehmen wir noch einen Doppel-Luz, Herr Doktor? Mir wird vom erzäh-len der Hals ganz trocken. Es ist jasonst nicht so, dass ich kein Geld beimir habe, aber zurzeit bin ich geradenicht flüssig und Sie, Herr Doktor, Siekennen mich, Sie wissen, dass ich nichtso bin, wie manche glauben. Natürlichkönnte ich auch Regula fragen, ob sievielleicht, aber Sie wissen, wie das ist,Herr Doktor, Sie kennen sich aus.

Wie es in Cremosis Wohnung genauanfing, weiss ich heute auch nichtmehr. Aber auf einmal machten sie die-ses Spiel mit mir. Ich musste den Ober-körper auf den Küchentisch legen undeiner stellte alle Gläser auf meinenRücken und sie tranken und lachtenund mein Rücken war ihr Tischtuch.Und dann zog mir einer die Hosen run-ter und ich schrie, sagte, sie seien Sau-hunde und ich wolle jetzt gehen und essei nicht mehr lustig. Ich versuchtemich zu wehren, aber es war nichts zumachen. Sie trugen mich aus der Woh-nung und drückten mich am Strassen-rand in den frischen Schneehaufen.Dort lag ich mit heruntergelassenerHose, den Blick nach oben, zur Stras-senlampe, in deren Lichtkegel dieSchneeflocken tanzten. Ich spürte wieeiner auf mich runterpisste und dawünschte ich mir, ich könnte sofortsterben, wie der Vater vom Seppi, ein-fach das Licht aus und fertig.

> PEDRO LENZ <

LICHT AUS

UND ES FIEL SCHNEE

10 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

tiefer wintermein freundläuft im schnee

Page 11: Megafon Nr. 291

KLIMAWANDEL

IMMER WENIGER SCHNEE

Die Frage ist schon lang nicht mehr, ob,sondern um wieviel sich das Klima auf-grund des menschlichen Ausstossesan Treibhausgasen erwärmen wird.Laut IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), dem UNO-Klima-forschungsgremium, ist bis im Jahr2100 mit einem Temperaturanstiegzwischen 1,4 bis 5,8° Celsius zu rech-nen. Je nach dem, wie stark die CO2-Emissionen reduziert werden.

In der Schweiz wird die Erwärmungtendenziell höher sein. So liegt die Alpenregion schon beim bisherigentreibhausgasbedingten Temperaturan-stieg von 1,6° Celsius deutlich überdem globalen Schnitt von 0,6° Celsius.Überhaupt werden in Europa die Berg-regionen, zusammen mit dem Küsten-gebiet, vom Klimawandel am stärkstenbetroffen sein.

WENIGER SCHNEE IST MEHR REGEN

Höhere Temperaturen bedeuten,dass Schnee erst in höheren Lagen alsbisher liegen bleibt. Das hat Folgen fürden Wintertourismus, da es bis Endedieses Jahrhunderts erst ab 1500 Me-ter, im schlechtesten Falle gar erst ab1700 Meter genügend Schnee zum Ski-und Snowboardfahren haben wird. We-niger Schnee betrifft aber nicht nur Ski-und Snowboardfahrende. Eine Erwär-mung bedeutet, dass weniger Wasserin Form von Schnee und Eis gespei-chert wird. Dies wird zu einer Zunahmevon Hochwasser im Winter führen, so-wie den jährlichen Hochwasser-Höhe-punkt um bis zu zwei Monate vorver-schieben. Im Sommer wird daher weni-ger Wasser abfliessen und somit dieGefahr von Trockenheit im Gebirgsvor-land zunehmen, der Wassermangel inmediterranen Gebieten wird verschärft.

Veränderte Schnee- und Wasserver-hältnisse werden vor allem auch dieLandwirtschaft vor Probleme stellen:

Im Sommer die Gefahr von Wasser-mangel, im Winter mehr Frost, da derBoden weniger schneebedeckt ist. Zu-sätzlich kann ein verändertes Klimadazu führen, dass die Lebensräumevon Nutzpflanzen sich verändern undgewisse Pflanzen an bestimmten Ortennicht mehr wachsen, was vor allem fürden Anbau mehrjähriger Kulturen wieObst oder Weinreben Probleme bringenwird. Das gleiche gilt für Wildpflanzenund Tiere: die Veränderungen durch dieKlimaerwärmung werden zum Aus-sterben von Tier- und Pflanzenartenund, wenn keine Gegenmassnahmenergriffen werden, zum Absterben gan-zer Wälder führen.

Dies sind nur einige der zu erwar-tenden Veränderungen. Diese sind allenicht so harmlos, so banal, wie sie ein-zeln teilweise klingen, insgesamt führtdie Klimaerwärmung zu grundlegen-den Veränderungen unserer Umwelt-verhältnisse und somit zu markantenVeränderungen in der Nahrungsmittel-produktion, Wassergewinnung und der

WÄHREND ALLE WELT AUF DIE USA STARRT UNDBITTET, DASS DIESE DAS KYOTO-PROTOKOLLUNTERZEICHNEN, WIRD ÜBERALL SONST, AUCH INDER SCHWEIZ, PRAKTISCH NICHTS FÜR EINEREDUKTION DES CO2-AUSSTOSSES UNTERNOMMENUND SOMIT DIE KLIMAERWÄRMUNG WEITER VER-STÄRKT. WAS BEDEUTET ES, WENN ES IMMERWENIGER SCHNEE GIBT?

megafon Nr. 291, Januar 2006 11SCHWERPUNKT

>

sie zwirbeln im lichtdes kommenden tagesdie flocken rocken

Page 12: Megafon Nr. 291

Mehr Infos:> Ipcc.ch> Wwf.ch> Greenpeace.ch> Interview mit HaraldBugmann im Tagesan-zeiger vom 29.11.2005>Achim Brunnen-gräber/Melanie Weber:Klimawandel als KrisegesellschaftlicherNaturverhältnisse. ZurMehrebenenstruktur inder Klimapolitik in:Widerspruch 47

gesamten Lebensgestaltung.Und zwarin einer unheimlichen Geschwindig-keit; innerhalb von hundert Jahren er-leben wir Veränderungen, die sonstüber Jahrtausende passierten. ZumVergleich: vor 18 000 Jahren, in derletzten Eiszeit, war es durchschnittlichgerade mal 3 bis 4° Celsius kälter alsheute.

KLIMAERWÄRMUNG GLOBAL

Nicht nur der Schnee schmilzt,sondern auch Gletscher und Perma-frostböden (das heisst Böden, die dasganze Jahr über gefroren sind), dieskann einerseits zu einer Destabilisie-rung von Berggebieten und somit zumehr Erdrutschen führen, hat ande-rerseits auf globaler Ebene ein Anstei-gen des Meeresspiegels zur Folge (dasIPCC rechnet mit einem Anstieg vonbis zu 0,9 Meter in den nächsten hun-dert Jahren), was für viele Inseln undKüstenregionen verheerende Folgenhaben wird.

Im Kyoto-Protokoll verpflichtetensich die Staaten, den CO2-Ausstoss bisim Jahr 2010 zu reduzieren. Allerdingsweltweit bloss um 5,2 Prozent. DieSchweiz und die EU setzten sichimmerhin eine Reduktion von 8 Pro-

zent zum Ziel. Aber auch von diesenZielen sind wir weit entfernt. Dabei gilteigentlich: «Nicht eine Reduktion derEmissionen von 8 Prozent, sondernvon 80 Prozent stünde an, wenn wir dieKlimaerwärmung wirklich stoppenwollten», wie Harald Bugmann, Pro-fessor für Waldökologie an der ETHZürich und Mitverfasser einer europa-weiten Studie zu den sozialen, ökono-mischen und ökologischen Folgen desKlimawandels, in einem Interview imTagesanzeiger vom 29. November 2005sagt.

DIE POLITISCHE ÖKONOMIEDES KLIMAWANDELS

Der Klimawandel verdeutlicht eineder zentralen Irrationalitäten und Idio-tien der Marktwirtschaft: Ökologischeund soziale Konsequenzen werdenausgeklammert in einer Wirtschafts-weise, die – anstelle einer sinnvollen,lokal organisierten gesamtgesell-schaftlichen und demokratischen Pla-nung von Produktion und Verteilung –die private, auf Gewinnmaximierungausgerichtete Initiative der einzelnenUnternehmerInnen setzt. In deren Bu-siness-Plänen, die auf den Mikrokos-mos ihres Betriebes und dessen Um-feld ausgerichtet sind, spielen gesamt-gesellschaftliche und ökologische Fra-gen keine Rolle.

Somit ruft der Klimawandel auchnach einem anderen Wirtschaften.

Ausserdem geht es akut auch nichtmehr nur um eine massive Reduktiondes Ausstosses an Treibhausgasen,sondern auch darum, sich ökologischund sozial auf die bereits ausgelöstenVeränderungen vorzubereiten. Dennzu stoppen ist der Klimawandel nichtmehr, nur noch zu bremsen – dasallerdings dringend. Dabei ist ein kriti-scher Blick wichtig, denn verschiedeneInteressengruppen interpretieren dieVeränderungen auf ihre Weise, und soist nicht alles, was sich ökologischnennt, auch wirklich ökologisch. Soführen zum Beispiel Mechanismen,wie die in der Vereinbarung von Kyotoenthaltene Möglichkeit des Emissions-handels (also die Möglichkeit, dasRecht auf erhöhten CO2-Ausstoss imAusland einzukaufen, eben Emissions-rechte zu handeln), zu einer Kommer-zialisierung und Verlagerung von Um-weltverschmutzung, aber mitnichtenzum Erreichen ökologischer Ziele.

> JANN KRÄTTLI <

12 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

die kinderschnippen den den schneeder nachbaren

Page 13: Megafon Nr. 291

GLETSCHER

LANDSCHAFTSARCHITEKTEN UND BOTEN DES KLIMAWANDELS

Beginnen wir aber mit der nüchternenwissenschaftlichen Beschreibung die-ser eisigen Riesen. Entgegen einerlandläufigen Vorstellung ist ein Glet-scher nicht etwa ein grosser, starrerEisklotz, der in einem Alpental trägevor sich dahin liegt. Vielmehr ist derGletscher ein dynamischer und plasti-scher Körper: Unter dem Einfluss derSchwerkraft fliesst er langsam talab-wärts. Die Bewegung der alpinen Glet-scher basiert auf zwei Mechanismen:dem so genannt plastischen Fliessensowie dem Sohlgleiten. Das plastischeFliessen bezeichnet eine mikroskopi-sche Bewegung, die einerseits aus Ver-schiebungen der Kristallgitter inner-halb der Eiskristalle, andererseits ausVerschiebungen der einzelnen Eiskris-talle entlang ihrer Kontaktflächen re-sultiert. Der zweite Bewegungsmecha-nismus der alpinen Gletscher, das Sohl-gleiten, beruht auf der Herabsetzungder Schmelztemperatur des Eises un-ter hohem Druck. Am Grunde des Glet-schers, also unter einer mehrerenHundert Meter mächtigen Eismasse,ist der Druck so hoch, dass das Eisschmilzt und eine Art Schmierschichtbildet, auf welcher der Gletscher lang-sam talwärts rutscht. So sind alpineGletscher ständig in Bewegung, egal obsie vorrücken, stagnieren oder sich zu-rückziehen. Ein Rückgang des Glet-schers bedeutet «nur», dass an seinemunteren Teil – dem Zehrgebiet – mehrEis abschmilzt, als dass in seinem höher gelegenen Nährgebiet jährlichakkumuliert wird.

Neben den alpinen Gletschern gibtes einen zweiten Gletschertypen: denInlandgletscher – riesige Eismassen,

die in Form eines Schildes die Polarre-gionen – also primär Grönland und dieAntarktis – bedecken. In diesen mehre-re Kilometer dicken polaren Gletschernist der grösste Teil des weltweitenSüsswassers gespeichert.

DER GLETSCHER MACHT LANDSCHAFT

Dass Gletscher eine landschafts-prägende Wirkung haben, ist nicht nurin den Alpen sichtbar, wo sie breiteTrogtäler und hoch gelegene Hängetä-ler ausgeschürft haben. Während derletzten Eiszeit, die vor ungefähr 115 000Jahren begann und vor etwa 10 000Jahren endete, stiessen die alpinen Glet-scher bis weit ins Mittelland vor. DerAaregletscher beispielsweise mündetebei Bern in den von Westen her entlangdem Jura vorstossenden Rhoneglet-scher, der seinerseits bis in die Gegendvon Wangen an der Aare reichte. Darumfinden wir etwa auf dem Jolimont beiErlach mehrere riesige erratische Blö-cke («Teufelsburdi») aus dem Val deBagnes im Wallis vor, die der Rhone-gletscher hier zurückgelassen hat. Nachdem Ende der letzten Eiszeit hinterlies-sen die alpinen Gletscher im Mittellanddiverse charakteristische Landschafts-formen, die heute noch gut sichtbarsind: an den Hängen und Kuppen vielerHügel – etwa zwischen Bolligen undHabstetten sowie oberhalb von Wabern– lassen sich Moränen1 identifizieren,oder in diversen Gegenden – etwa imoberen Gürbetal – findet man Anhäufun-gen von Drumlins2. Zudem lagerten dieGletscher im Mittelland eine bis zu zehnMeter dicke Grundmoränenschicht ab,und Gletscherflüsse füllten im Vorfeldder Gletscher alle wichtigen Flusstälerim Mittelland mit Schottern auf. Letzte-re dienen heute als Grundwasser-reservoir für die Wasserversorgung.

KLIMAWANDEL UND GLETSCHERRÜCKGANG

Weltweit ziehen sich die Gletscherder Bergregionen seit Mitte des19. Jahrhunderts tendenziell zurück.So ist beispielsweise der grösste undlängste Gletscher der Alpen, der Gros-se Aletschgletscher, in den letzten 110Jahren um mehr als zwei Kilometer ge-schrumpft. Dies ist zweifellos ein Indizfür die globale Klimaveränderung, diesich in unseren Breitengraden alsatmosphärische Erwärmung manifes-tiert und dem Treibhauseffekt zuge-schrieben wird. Langfristig gesehen (imVerlauf der nächsten 10 000 Jahre),müsste sich die Erde jedoch wieder aufdem Weg in eine neue Eiszeit befinden,wenn die naturwissenschaftlichen Re-gel- und Gesetzmässigkeiten denn Be-stand haben. Der Geophysiker MilutinMilankovitch hat nämlich in den 1920erund 1930er Jahren die Periodizität derErdbahnschwankungen3 berechnetund diese in Übereinstimmung mit derPeriodizität der glazialen und intergla-zialen Perioden gebracht. Mittelfristig,das heisst in den nächsten hundertJahren, dürfte jedoch vielmehr der vonunseren Industriegesellschaften undihrer Ausbeutung fossiler Energieträ-ger angeheizte Treibhauseffekt klima-relevant werden. Das bedeutet nichtnur, dass kommende Generationen diealpine Gletscherpracht nicht mehr wer-den bestaunen können, sondern vielSchlimmeres noch: Schmelzen die po-laren Eisschilde ab, steigt der Meeres-spiegel an und dicht besiedelte Küsten-gebiete (gerade in südlichen Ländernwie etwa in Bangladesch) wären in Zei-ten von Stürmen und Flutwellen einemerhöhten Risiko mit womöglich des-aströsen Folgen ausgesetzt.

> MARKUS SCHÄR <

VERGLEICHBAR MIT DER ATMOSPHÄRISCHEN UNDRÄUMLICHEN WIRKUNG DES MEERES ODER DERWÜSTE, VERKÖRPERT DER GLETSCHER UNGEHEUER-LICHE RÄUMLICHE UND ZEITLICHE DIMENSIONEN. ER WAR PROTAGONIST DER EISZEITEN UND LAND-SCHAFTLICHER HERRSCHER ÜBER JAHRTAUSENDE.ETWAS FASZINIERENDES, GEWALTIGES, ARCHAI-SCHES STECKT IN IHM UND CHARAKTERISIERTSEIN WESEN.

1 Moränen sind Anhäu-fungen von Gesteins-schutt, die vor allem inden Stillstands- undRückzugsphasen derGletscher entstehen. Es gibt Seiten-, Mittel-,Grund- und Endmorä-nen.2 Drumlins sind 5-20Meter hohe, schildför-mige Hügel mit einemelliptischen Grundriss.Sie bilden sich unterdem Gletscher, beste-hen aus Grundmoräneund weisen zum Teileinen Felskern auf.3 Entfernung der Erd-umlaufbahn von derSonne, Position derRotationsachse derErde. megafon Nr. 291, Januar 2006 13

SCHWERPUNKT

es wird dunkelder fallende schneeleise erhellt

Page 14: Megafon Nr. 291

14 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

GLETSCHERBILDER VON [email protected]

Page 15: Megafon Nr. 291

megafon Nr. 291, Januar 2006 15SCHWERPUNKT

Page 16: Megafon Nr. 291

DIE EISGEWINNUNG IM VALLÉE DE JOUX

AUF ZUR EISERNTE

Schon die chinesischen Herrscher hat-ten große Eislager anlegen lassen, umihr Sorbet zu geniessen, und die Grie-chen erwähnten in Gedichten den Zau-ber aus Gletscherschnee mit Zutatenwie Früchten, Honig oder Rosenwasser.1660 wurde in Paris das erste Eiscaféerrichtet, doch bis zur Erfindung derKältemaschine durch Carl von Linde1881 war man auf Eis aus dem Winter,das in Eiskellern bis zum Sommer auf-bewahrt wurde, angewiesen. LindesKältemaschine brachte dann die tech-nische Verfügbarkeit von Kälte und ver-half dem künstlichen Eis zum Durch-bruch, doch es dauerte weitere fünfzigJahre, bis sich die künstliche Eisgewin-nung ganz durchsetzte und somit auchdas Ende der «société des glacières duPont» besiegelte.

Die alpinen Gletscher wie auch dienatürlichen Seegefrierungen des Jurawurden seit Jahrhunderten benützt,um Eis abzutragen und in Höhlen undKellern einzulagern. Doch erst die Ver-besserung der Lebensumstände unddie Herausbildung einer betuchterenBürgerschicht lösten Mitte des 19.Jahrhunderts eine veritable Nachfragenach dem Kühlmaterial Eis aus. DieseNachfrage zu decken bewegte GenferBankiers, die natürliche Eisdecke desLac Brenet, auf 1002 Metern gelegen,zu nutzen. Der Lac Brenet ist nur durcheine 200 Meter breite Landbrücke vomberühmteren Lac de Joux getrennt.Seine geringe Tiefe (maximal 18 Meter)und die bescheidene Grösse garantier-ten eine sichere Eisproduktion.

DIE SOCIÉTE DES GLACIÈRES DU PONT

In Le Pont direkt am Lac de Brenetgelegen, wurde 1879 eine riesige Hallezur Einlagerung von Eisblöcken errich-tet. Sie war mit doppelten Holzwändenund dazwischen eingelagerten Holz-spänen ausgestattet, damit die Ernte,das Eis, nicht gleich wieder weg-schmolz. Sie fasste 14 000 Kubikmeter.

Mehr als hundert Arbeiter wurdenzu Beginn für das Eissägen angestellt.Mit riesigen Sägen gingen sie auf denSee. Sie bohrten ein Loch in die Eisdek-ke und tauchten dann die Säge ein. Anderen unterer Seite, jener im Wasser,wurden etwa zehn Kilo Gewicht ange-hängt. Das Gewicht versorgte nun dasBlatt mit der nötigen Kraft beim Stos-sen der Säge. Die Männer sägten zuzweit, links und rechts vom Blatt.Zuerst wurden riesige Teppiche ge-schnitten. Diese grossen Eisflossestakten die Männer sodann ans Ufer,wo sie in Meterblöcke geschnitten undüber Leitern und Haken ins Gebäudegehievt wurden. Die Erntesaison warkurz, wurde sie doch durch Wärmeein-brüche immer wieder eingeschränkt.Und auch die Lagerhalle war schnellgefüllt.

Berichte erwähnen, dass Arbeitergelegentlich ins eisige Wasser fielen,doch seien sie stets mit Seilen und Ha-ken gesichert gewesen, sodass keintödlicher Arbeitsunfall belegt ist.

Die Gesellschaft florierte jedochnicht. Die Eisladungen mussten mitPferdefuhrwerken über den Col de Pe-tra-Felix (1144 m) nach Vallorbe ge-karrt werden und dort auf die Wagonsder Eisenbahnlinie Vallorbe-Pontarlier-Paris. Die Verluste auf diesem Weg wa-ren gross, zu gross. Teils blieben dieWagen im Morast stecken, teils zer-störten die Schläge viele Eisblöcke, wassie unverkäuflich werden liessen. Auchder lange Transport und das anschlies-sende Umladen führte zu Schmelzver-lusten. Das Eis respektive das Geld zer-floss zu Wasser. Viele Bestellungen

konnten nicht geliefert werden. Die ein-zige Zukunft der Gesellschaft war derAnschluss an die Bahnlinie Lausanne-Pontarlier-Paris.

DIE BAHNLINIE

Bereits 1881 wird nun eine Bahnliniezwischen Le Pont und Vallorbe son-diert. Sie kostet 1,5 Millionen. Franken.Doch die Aussichten im Eisgeschäftsind gut und so kommt das Geld zu-sammen. Die Linie wird 1886 fertigge-stellt. Ein Jahr später macht die Eishal-le mehreren Speichern platz, in deneninsgesamt 42 000 Tonnen Eis lagern.

Die Eisteppiche werden nun mit ei-ner Kreissäge geschnitten und über einFörderband in die Speicher gebracht.Die Produktion läuft auf vollen Tourenund täglich verlässt ein Wagon voll mitEis das Vallée de Joux Richtung Paris.Das entscheidende Etwas, was denVerkauf des Eises aus dem Lac de Bre-net bis ins 20. Jahrhundert andauernliess, war zum einen das Attest deskantonalen Labors über die Reinheitdes Wassers, wie wohl auch das nichtso reine Leitungswasser von Paris undanderen Städten.

Doch das Geschäft mit dem Eis warnicht besonders behaglich, nicht für dieArbeiter und auch nicht für die Sociéte.Schliesslich kommt das Geschäftwegen der Verbreitung des Kühl-schranks zum Erliegen. 1942 ist derletzte Eintrag der «sociéte des glaciè-res» verzeichnet.

Bis auf den heutigen Tag existiert dievon Carl von Linde 1879 gegründeteLinde AG (Kältetechnik). Der Lac deBrenet dient heute als Speicherbeckendes Kraftwerks Vallorbe.

Desweiteren möchte ich auf denwunderschönen Jura verweisen, undauch wenn jedes Jahr grosse farbigeReportagen zu Langlauftouren oder imSommer zu Fahrradtouren in den Me-dien gebracht werden: bist du dort, bistdu allein, so fein.

> HAKO <

HEUTE WERDEN DIE SEEN DES VALLÉE DE JOUX IMWINTER VORZUGSWEISE MIT SCHLITTSCHUHEN ODERLANGLAUFLATTEN GEQUERT. VOR NICHT ALLZULANGER ZEIT WAREN SIE JEDOCH AUCH NATÜR-LICHER ROHSTOFF DER EISGEWINNUNG UND VER-SORGTEN PARIS BIS IN DEN SOMMER HINEIN MITEIS.

16 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

laufend in der stadtauf schmutzige schneerestefällt neuschnee

Epilog von Mike Niederer:

Ewiges EisErst wenn der letzteGletscher seine Zungeeingerollt hat, erstwenn die Arktis einblaues Meer und dieAntarktis zu blühendenLandschaften aufgetautist, erst wenn der letzteSchnee zu braunemMatsch geworden,zusammenfegt undsondermüllgerecht ent-sorgt ist, werdet ihrmerken, dass die Welt-eisvorräte sich in meinLeck geschlagenesBilligeisfach zurückge-zogen haben.

Page 17: Megafon Nr. 291

schneeflocken haschenball rollen-riesen flockenden engel machen

WEILE WEILT IM

ECHO DER ZEIT

In jenem Dorf, hoch oben, wo die Bergeweisse Schärpen tragen, herrscht gros-se Stille. Die Sonne hängt schief in denWipfeln. Die Fichten stehen frech amHang. Eine Gämse pisst in den Schnee.

Sofie versteckt sich hinter einer klei-nen Tanne am Rand der Piste. Sie sitztin meterhohem Weiss versunken undsaugt an einem Eiszapfen. Sofie ist mü-de, die Skihose ist nass, die Strumpfho-se kratzt, unter dem Helm juckt es. Esjuckt etwa so, als würden Hunderttau-sendmillionen fieser Läuse die kleineSofie in den Kopf beissen. Sofie machtkeinen Mucks. Wie ein brütendesSchneehuhn beobachtet sie in ihremVersteck die anderen Kinder. Sofie ver-steht nicht, warum die Skischulklasseden Idiotenhang hoch trippeln muss,wo es doch einen Skilift hat, einen Tel-lerli-Lift! Der Lift gehört dem alten vonAllmen.

Von Allmen steht Jahr für Jahr amFusse der Anfängerpiste und schiebtden Kindern die Teller zwischen dieBeine. In der einen Hand hält er denTeller, die andere vergräbt er in seinerJackentasche. In von Allmens Mund-winkel dampft ein Stumpen vor sichhin. Der Einheimische spricht wenig,doch er hat den Blick einer Bergdohle.Der Blick teilt ein in begabte und min-derbegabte Skihasen. Für die kleinedicke Sofie sieht er wenig Hoffnung.Von Allmen selbst hat keine Kinder, erhat nicht einmal eine Frau. Er hat denMoment verpasst, damals, als sich dieweniger wortkargen Männer des Dor-fes mit den wenigen Frauen, die nichtmit ihm verwandt waren, unter derHaube einrichteten.

Die Teller gleiten durch die Luft. Zurgleichen Zeit zieht sich Ingrid auf derWaschbeckenablage eines Badezim-mers im Hotel Regina eine Linie rein.Sie gönnt sich das zwischendurch.

Aus von Allmens Transistorradio er-klingt Musik, DRS 1 spielt «Kleine Am-sel, pfeif' dein schönstes Liebeslied»

von Vico Torriani. Von Allmen denkt anfrüher, an die Curlingabende mit Marie.Die schweigsame Frau war eine ausge-zeichnete Guard-Spielerin gewesen.Nach dem Training hatten sie im «Hir-schen» dann und wann ein GläschenKirsch zusammen getrunken. An einem jener Winterabende hätte er Ma-rie beinahe gefragt, ob sie im Sommermit ihm auf das Meiesäss wandernwürde. Noch bevor der Schnee ge-schmolzen war, hatte Brändli sie ge-fragt.

Plötzlich klebt Sofies Zunge am Eis-zapfen. Sie heult auf und wird von derSkischule entdeckt.

Din hört in der Ferne das Schreieneines Kindes. Er blickt auf das nah ge-legene Dorf. Er kennt das Dorf nicht,denn sein Bewegungsradius ist aufzwei Kilometer beschränkt. Din trägtStiefel, die ihm die Leiterin des Mini-malzentrums beschafft hat. Mit denSohlen macht er Abdrücke in das wei-che Weiss.

Brändli kurvt sein ElektromobilRichtung Minimalzentrum. Dort musser einen Haufen Reis abliefern, weil dieFremden viel davon essen. Brändli ver-steht nicht, wie man jeden Tag Reis es-sen kann. Er hat Angst vor den Frem-den, doch das würde er am Stammtischim «Eigerpickel» nie zugeben. Brändlisieht die kleine Strasse kaum, derSchnaps benebelt seinen Kopf. Späterwird er heimkommen. Die Alte wird inder Küche stehen und ihn böse an-schauen. Er wird ihr eins runterhauenund sie wird keinen Laut von sich geben.

Din wundert sich, warum Brändlisein Elektromobil im Slalom den Hügelhochfährt. Er wundert sich auch, warum Menschen in der Freizeit auf

Skis die Hänge runterwedeln. Er wärelieber Fussballprofi, wie BonaventureKalou.

Sofie sitzt verheult auf einem Tabu-rettli im Skischulbüro, während die Ski-lehrerin Annerös mit einem Haarföhnden an Sofies Zunge hängenden Eis-zapfen zu entfernen versucht. Annerösist Veterinärstudentin und arbeitet inder Wintersaison als Skilehrerin. Siehätte jetzt lieber Feierabend. Ingrid be-tritt übermotiviert das Skischulbüround nimmt ihre unglückliche Tochter inden Arm. Ingrid sagt: «Mein armes ar-mes Sofielein!» Annerös denkt sich,dass Sofie ein burgeoiser Name ist, alssich der Eiszapfen von der Zunge löst.

Währenddessen hört von Allmen«S’isch Polizeistund» von Vic Eugsterund Sepp Trütsch zu Ende. Dann packter den Transistorradio ein und machtsich auf den Heimweg. Die Sonne hatsich verzogen. Der Himmel ist dunkelund weisse Flocken fallen raus.

Din sitzt mit zwei Kongolesen, einerTschetschenin, drei Serben, einerÄthiopierin und einem Kosovo-Albanerbeim Abendbrot. Brändli betritt die Kü-che. Marie blickt ihn böse an. Ingridträgt die dicke Sofie auf ihren Schulternins Hotel Regina. Von Allmen verpasstdas Lied «Wänn’s Abigglöggli lüte tuet»auf DRS 1. Annerös läutet ihren Feier-abend ein und stampft Richtung «Eigerpickel». Zu Hause angekommenschaltet von Allmen sein Transistorra-dio ein und macht sich in der Kücheseiner Erdgeschosswohnung ein Spie-gelei. Er schaut aus dem Fenster zuBrändlis rüber. Auf DRS 1 ertönt «Echoder Zeit.»

> [email protected] <

megafon Nr. 291, Januar 2006 17SCHWERPUNKT

Songtipp fürs Megafon-lesen: Schnee von denAeronauten.

Page 18: Megafon Nr. 291

FREIZEIT

ALPINISMUS UND UMWELT

Nun ist Wintersport nicht einfach gleichWintersport, sondern die Art und Wei-se, wie sich Menschen an schneebe-deckten Orten vergnügen, ist vielseitig.Während die einen auf klassischen Ski-tourismus in gut erschlossenen undausgebauten Skigebieten, mit vielseit-gem Angebot an Sportevents, wie zumBeispiel Heliskiing, setzen, bevorzugendie andern ruhigere und abgelegenereOrte, zum Beispiel zum Unternehmenvon Ski- oder Schneeschuhtouren.

RUMMEL IM SKIGEBIET

Was den klassischen Skitourismusanbelangt, ist man sich den Konse-quenzen für Umwelt und Natur schonlange bewusst. Durch das «Wettrüs-ten» der bekannten Skiorte untereinan-der, mit dem Ziel, das grösste und be-

ste Gebiet zu sein, wird die Natur (Bauvon neuen Bahnen, Liften etc.) immermehr verschandelt, der Druck, immerschneesicher zu sein, führt zum Dauer-beschneien der Pisten, was mit Ener-gie- und Wasserverbrauch verbundenist (siehe dazu Artikel zu Schneekano-nen auf Seite 20), für die grosse Besu-cherInnenzahl werden Strassen ausge-baut, Parkhäuser gebaut, Hotelkästenschiessen in die Höhe… Nichts Neues,und doch verändert sich wenig bis garnichts, die Zahl der klassischen Skitou-ristInnen nimmt eher noch zu. Auch dieLust, sich die Bergwelt mit einem mög-lichst kleinen physischen Aufwand im-mer neu zu erschliessen, ist ungebro-chen. Per Helikopter lassen sich Berg-touristInnen auf mehr oder weniger un-berührte Gipfel fliegen, um eine wun-derschöne Abfahrt im Pulverschnee zugeniessen und, unten angekommen,vom Helikopter wieder in Empfang ge-nommen zu werden. Ein teures Vergnü-gen für wenige, verbunden mit Luftver-schmutzung, Eingriffen in die Natur fürLandeplätze und Lärmemissionen zumLeidwesen der andern BergtouristIn-nen und der alpinen Tierwelt. (siehe da-zu umfassende Informationen aufwww.mountainwilderness.ch)

«DIE GUTEN»

Alles schlecht und schlimm, so ist’s,aber zum Glück gibt’s ja auch noch dieandern Bergtouristinnen, die Guteneben. Diejenigen, die die Bergweltwirklich noch ohne Helilärm und Mas-sen von Menschen erleben wollen, diedie Natur, die Höhe als Ort der Ruheund Erholung vom städtischen Alltagsehen und suchen. Sie sind bereit, dieGipfel durch die eigene Körperkraft zuerklimmen, am liebsten auf immerneuen Wegen, und wollen bei der Ab-fahrt als erstes ihre kurzbogigen Kur-ven im Pulverschnee hinterlassen.

Ist aber diese Art von Alpinismusganz frei von umweltbelastenden Ein-flüssen? Oder gibt es auch bei Skitou-renfahrerInnen und Schneeschuhläu-ferInnen Flecken auf der weissenWeste?

Die Umweltorganisation MountainWilderness (siehe Kasten) hat zu dieserFrage eine Studie in Auftrag gegeben(siehe Homepage von Mountain Wilder-ness) und befasst sich generell mit demThemenbereich «UmweltgerechterBergsport». Die Studie untersucht diedrei Bereiche a) Mobilitätsverhalten vonAlpinistInnen, b) Hüttenbewirtschaf-tung und c) Umweltprobleme in den Al-pen. Interessant ist, dass sich Skitou-renfahrerInnen, SchneeschuhläuferIn-nen, KlettererInnen generell als um-

WINTER FÜR WINTER ZIEHT ES TAUSENDE VONMENSCHEN IN DIE BERGE. SCHNEESPORT IST FÜRVIELE, DIE SICH WÄHREND DER HIESIGEN KALTENJAHRESZEIT NICHT VIA FLUGZEUG IN DIE KARI-BIK ODER ANDERE SÜDLICHE LÄNDER FLÜCHTEN,ZU EINER WICHTIGEN FREIZEIT- UND AUS-GLEICHSAKTIVITÄT GEWORDEN.

18 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

sie sagten kein wortdie scheidende, die bleibendedie schneeflocke

Page 19: Megafon Nr. 291

megafon Nr. 291, Januar 2006 19SCHWERPUNKT

den sommer speichernrundum in decken gehülltschnee im anzug

weltbewusst einschätzen. Dies ist wohldadurch bedingt, dass sie ihre Sportartin grosser Ruhe, fernab von Zivilisa-tionslärm und viel Rummel ausüben.Dabei wird jedoch oft ausgeblendet,dass auch andere Faktoren, wie zumBeispiel die Anreise, die Ansprüche, diebei mehrtägigen Touren an eine Hüttegestellt werden, das Verhalten im Ge-lände in Bezug auf Störung der Wildtie-re und Beschädigung der Flora, sowieAbfallentsorgung Ausdruck von um-weltbewusstem Verhalten sind.

Der grösste Teil der für die StudieBefragten reist für ihre Touren mit demPrivatwagen an, was wohl auch dasgrösste Problem in Sachen Nichtum-weltbewusstsein darstellt. Die Gründedafür sind die anscheinend schlechtenVerbindungen mit dem öffentlichenVerkehr, die Erleichterung einer Tourmit viel Gepäck, denn das Auto kann alsWarendepot genutzt werden. In SachenAnsprüche an die Hütten sind die Be-dürfnisse unterschiedlich. Die Studiezeigt jedoch, dass viele AlpinistInnenbereit wären, für die Konsumation inden Hütten den doppelten Preis undmehr zu bezahlen, wenn damit Heli-koptertransporte für die Waren durcheine ökologische Alternative (z.B. Maul-esel) ersetzt würden. Viele AlpinistIn-nen wünschen sich ein stärkeres Enga-gement der Alpenvereine in SachenUmweltschutz. Sie erhoffen sich davon,dass dies eine Vorbildfunktion bei derNutzung der Alpen als Freizeitraum ha-ben könnte.

Bei allen Themenbereichen stelltsich heraus, dass Initiative, Informationund Sensibilisierungsarbeit sehr wich-tig sind, um das Bewusstsein von Alpi-nistInnen noch weiter zu schärfen. Esschadet nicht, sich immer wieder zufragen, ob es zum Beispiel notwendigist, an eine SAC-Hütte im Gebirge denAnspruch zu haben, dass eine Wasch-

/Duschgelegenheit innerhalb derschützenden Mauern existiert.

KONKRETE HANDLUNGSANSÄTZE

Fazit der Studie ist es nicht, dieBergwelt zu meiden, weil so oder so je-de Berührung durch den Menschen ei-nen Eingriff in die Natur darstellt. In dieBerge darf und soll gefahren werden,die frischbeschneiten Gebirgsland-schaften sollen genossen werden. Esgibt Möglichkeiten, ökologischen Alpi-nismus zu betreiben.

Mountain Wilderness und der SAC(Schweizer Alpen-Club) erarbeiten zudiesen Themen, oft auch in Zu-sammenarbeit mit andern Organisatio-nen wie der Stiftung LandschaftsschutzSchweiz und Schweizer WanderwegeSAW Broschüren und Informationsma-terial. Mountain Wilderness gibt vier-mal jährlich eine Zeitschrift heraus undorganisiert zum Beispiel Schneeschuh-und Skitouren mit umweltpolitischemAnspruch (siehe Kalender Homepage).

Nachfolgend nun noch stichwortar-tig ein paar wichtige Verhaltensregelnund Forderungen im Zeichen einesökologischen Bergtourismus (ohneVollständigkeitsanspruch): • Anreise zur Tour möglichst mit dem

öffentlichen Verkehr. Es gibt unzäh-lige Skitouren, die durch den öffent-lichen Verkehr sehr gut erschlossensind. Dazu findet man auf der Moun-tain-Wilderness-Homepage Tour-entips nach Gebieten aufgeteilt.

• Forderung an Tourismusvereine, anBahnhöfen Schliessfächer zu instal-lieren oder in Zusammenarbeit mitRestaurants die Möglichkeit von Ge-päckdepots für TouristInnen ohnePrivatwagen zu schaffen.

• Planen der Tour: Respektieren vonbestehenden Wildschon- und weite-ren Schutzgebieten, auf vielen

50 000-er Skitourenkarten sind dieSchutzgebiete eingezeichnet! Pla-nen der Tour auf bestehenden Rou-ten, den Einsatz von motorisiertenHilfsmitteln (wie Helikopter oderMotorschlitten) vermeiden.

• Fauna und Flora: viele Tiere sind inder Dämmerungszeit aktiv; diesevermeiden oder sich möglichst ru-hig verhalten. Hunde nach Möglich-keit zu Hause lassen. Dem Wild soll-te nach Möglichkeit ausgewichenwerden und Futterstellen umgangenwerden. Tiere aus guter Distanz be-obachten und Biwakplätze abseitsvon Tierspuren wählen. Durchque-ren von Waldgebieten möglichst aufWegen oder vorhandenen Routen(Spuren von Vorgängern). Vermeidenvon Abfahrten quer durch den Wald.Aufforstungen und kleinen Jung-wuchs nicht begehen. Nur kurzerAufenthalt im Bereich der Wald-grenze (Lebensraum des Birk-huhns), Routen nicht parallel zurWaldgrenze planen. Im Frühjahrschonen der Grenzbereiche Schnee-decke – Gras (sehr empfindlich).

• Abfall: jeglicher Abfall wird wiederins Tal mitgenommen!Mit diesen Hinweisen beende ich

diesen Artikel in der Hoffnung auf einenschneereichen Winter für umweltge-rechten Bergsport!

> USH <

MOUNTAIN WILDERNESS

setzt sich für umweltgerechten Bergsport ein. Beim Ver-ein sind vier Personen teilzeitlich angestellt. MW finan-ziert sich vorwiegend über Mitgliederbeiträge und Spen-den. Für konkrete Projekte erhält MW Stiftungsgelder,welche für jede Kampagne neu beschafft werden müs

sen. Einen grossen Teil der Arbeit wird von freiwilligenHelferInnen und Vereinsmitgliedern sowie PraktikantIn-nen geleistet. MW bietet zudem zwei Zivildienststellenan. Homepage: www.mountainwilderness.ch

Quellen: Homepage vonMW, diverseBroschürenund Unterlagen vonMW, SAC und andern. Ein besonderer Dankgeht an Jan Gürke, Projektleiter keepwild!bei MW

Page 20: Megafon Nr. 291

WENN ES ZU WENIG SCHNEE HAT

SAISON IST NICHT GLEICH JAHRESZEITIST NICHT GLEICH JAHRESZEIT

Schneearme Winter und das Bedürfnisnach uneingeschränkter Schneesicher-heit haben in den letzten zwanzig Jah-ren zur rasanten Verbreitung vonKunstschnee und dem Einsatz vonSchneekanonen geführt. Waren es an-fangs noch punktuelle Beschneiungenan Problemstandorten wie zum Bei-spiel auf windexponierten Kuppen, wodie Schneedecke rasch ausgedünntwird, ist heute die Flächenbeschneiungweit verbreitet. Die Alpen sollen ihreFunktion als Freizeitpark erfüllen – na-türliche Gegebenheiten werden nichtberücksichtigt, vielmehr gilt es, die Natur freizeittauglich zu machen.

DER KLEINE UNTERSCHIED

Unabhängig vom Kunstschnee tre-ten bei präparierten Pisten häufig Ver-eisungen der Schneedecke am Endedes Winters auf. Dies führt zu einer verringerten Luftdurchlässigkeit des

Schnees. Liegen diese vereistenSchneeschichten unmittelbar an derBodenoberfläche, kommt es zu Sauer-stoffmangel im Boden, was zu Fäulnisführen kann. Kunstschnee ist dichter,nässer und härter als Naturschnee.Dadurch isoliert er den Boden und dieVegetation schlechter. Kunstschneeapert im Frühling später aus und verzö-gert somit die Entwicklung der Vegeta-tion. Durch die beträchtliche zusätzli-che Wasserzufuhr wird der Wasserein-trag durch schmelzenden Kunstschneeim Frühling teils mehr als verdoppelt.Beschneiungswasser wirkt zusätzlichdüngend, da es mehr Nährstoffe ent-hält als der natürliche Schnee. Be-sonders empfindlich sind naturnaheVegetationstypen wie Magerwiesen,Zwergstrauchheiden und Moore. Dieveränderte Nährstoffversorgung kanneinen Verlust der Artenvielfalt zur Folgehaben. Auf intensiv genutzten Weidenund Wiesen spielt der zusätzliche Dün-geeffekt eine geringere Rolle – hiergreift die landwirtschaftliche Nutzungweit stärker ins Artengefüge ein. Mögli-cherweise werden hier gar die Erträgegesteigert.

Seit 1995/96 werden bei der künst-lichen Beschneiung teilweise Zusatz-mittel wie Snowmax, ein Granulat ausBakterien und Proteinen, eingesetzt.Diese dienen als Kristallisationskerneund ermöglichen ein Beschneien beihöheren Temperaturen. In der Schweizhat das BUWAL Ende 1997 die Zusätze

als unbedenklich eingestuft, 1998 hobauch der Kanton Bern das Verbot auf.

Problematisch an der Schneepro-duktion ist weiter der hohe Wasserver-brauch (siehe Kasten): Meist wird dasWasser im Sommer aus natürlichenGewässern entnommen – übrig bleibtdort nur noch eine kleine Restwasser-menge, was die Lebensgrundlage vie-ler Pflanzen und Tiere zerstört.

SCHONT KUNSTSCHNEE DEN BODEN?

Zusätzliches Beschneien garantierteine harte kompakte Schneeschicht.Der Boden ist besser vor Skikanten-schliff, Pistenraupen und Stockeinsatzgeschützt. Generell wird empfohlenerst ab 30 Zentimeter Schneehöhe mitPistenfahrzeugen die Pisten zu präpa-rieren, da es sonst zu Verletzungen derobersten Bodenschicht und der Gras-narbe kommen kann. Durch das Befah-ren mit Pistenfahrzeugen wird derSchnee verdichtet. Dadurch wird dieWärmeleitfähigkeit verändert, was einebis zu drei oder vier Wochen spätereAusaperzeit bedingen kann. Kunst-schnee verstärkt diese Verschiebungzusätzlich. Folgen von spätem Einsatzder schweren Maschinen im Frühling,speziell auf schlecht wasserdurchlässi-gen Böden und Gesteinen, sind die be-kannten braunen, wie frisch gepflügtanmutenden Skipisten.

ES IST WIEDER SOWEIT: IN DEN ZEITUNGENLACHEN UNS DIE SCHNEEKANONEN ENTGEGEN – DIE SKIGEBIETE WERBEN MIT HÜBSCH PRÄPARIER-TEN, PLANIERTEN UND TECHNISCH BESCHNEITENPISTEN. TOURISMUSANBIETER FORDERN EINE LÄNGERE WINTERSAISON UND TOURISTiNNENVERLANGEN EIN SCHNEESICHERES GEBIET.

20 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

allein im winterdurch eine welt voll weissbläst der wind die flocken

Page 21: Megafon Nr. 291

megafon Nr. 291, Januar 2006 21SCHWERPUNKT

Teilweise wird auf den PistenSchneebefestiger eingesetzt. Dies kön-nen Stoffe wie Kochsalz, Kalziumchlo-rid oder Ammoniumsulfat sein. Für eine etwa 30 Stunden wirksameSchneefestigung ist eine Menge not-wendig, die ungefähr der normalenDungdüngung im mittleren Höhenbe-reich der Alpregion entspricht...

BREITE, FLACHE PISTEN

Ein weiterer Eingriff des Skitou-rismus in die Landschaft ist das Planie-ren der Pisten: Snowboard und Car-ving-Ski haben den Trend zu Planienweiter verstärkt, da auf möglichstgleichmässigen Schneeoberflächenweite Schwünge gefahren werden wol-len. Meist werden die planierten Pistenkünstlich begrünt, um möglichstschnell wieder eine schützende Vege-tationsbedeckung zu erreichen. In La-gen oberhalb von 1500 Meter ü.M. gibtes dabei aber Probleme: Die extremenklimatischen Verhältnisse mit einersehr kurzen Vegetationszeit, einer star-ken Einstrahlung der Sonne, sowie dieNährstoffarmut, hohe Geländeneigungund Erosionsgefahr machen die Hoch-lagenbegrünung schwierig. Also wirdoft nicht standortgerechter, schnellwachsender Rasen angesät und derBoden zusätzlich gedüngt. So wurdebeispielsweise ein Teil der Abfahrts-strecke des Lauberhorns bei Wengenim Winter 1972/1973 planiert, Uneben-

heiten und kleinere Hügel entfernt.Nach dem Planieren wurde Rasen an-gesät und der Boden gedüngt. Im er-sten Jahr wuchs das Gras gut, die Jah-re darauf gedieh aber gar nichts mehr.

Die Böden auf planierten Pistenwerden stark bis vollständig abgetra-gen, was die Bodeneigenschaften alsPflanzenstandort, aber auch den Was-serhaushalt, den Oberflächenabflussund damit die Bodenerosion entschei-dend beeinflusst. Vor allem oberhalbder Waldgrenze sind gut entwickelteBöden oft flachgründig und einige tau-send Jahre alt, häufig sogar reliktisch,das heisst, sie sind unter anderen Kli-maverhältnissen entstanden. Ihr Ab-trag ist meist irreversibel.

Ging vor zehn Jahren noch ein Auf-schrei der Entrüstung durch die Me-dien, wenn von Kunstschnee die Redewar, ist die Lenk heuer stolz, schonwieder zu den ersten zu gehören, die,dank Technik und Minustemperaturentrotz Schönwetterphase die Saison er-öffnet haben. Pulver gut dank «be-schneien unter idealsten Bedingun-gen» (und 30 000 m3 Wasser). Dennochgebe es nichts Besseres als Natur-schnee: fällt er bis ins Mittelland, ani-miert dies die Leute zum Skifahren –nicht nur auf dem Gurten.

> RACHEL PICARD <

WIE SCHNEE GEMACHT WIRD

Schneekanonen erzeugen aus Druckluft und WasserKunstschnee. Dazu gibt es verschiedene technische Lösungen. Beim Hochdrucksystem werden Wasser undLuft in einem zentralen Maschinenhaus unter Druck ge-setzt und über erdverlegte Leitungen sowie überSchläuche der Schneekanone zugeleitet. Beim Nieder-drucksystem wird die Luft direkt an der Kanone in Be-wegung gesetzt, was einen elektrischen Anschluss aufder Piste oder einen Generator erfordert. Schneekano-nen können rationell nur bei Lufttemperaturen unterdem Gefrierpunkt (kälter als –2 bis –5 °Celsius) einge-setzt werden, bei einer relativen Luftfeuchtigkeit vonweniger als 80 bis 60 Prozent. Bei wärmeren Tempera-turen (um 0 °Celsius) ist der Schnee sehr nass und so-mit für die Vegetation besonders ungünstig.Die Leistungen der Schneeanlagen variieren zwischen

50 und 2000 kW. Bei 30 Zentimeter hoher Beschneiungresultiert ein Stromverbrauch von 0,5 bis 1,5 kWh prom2. Um beispielsweise das Skigebiet Wengen einenWinter lang zu beschneien sind ungefähr 400 000 kWStrom nötig, was etwa der Hälfte des Stromverbrauchseiner Kunsteisbahn im Mittelland entspricht.Der Wasserbedarf pro Schneekanone liegt in der Grös-senordnung von 20 bis 75 l/s bzw. 70-270 m3/h. Fürdiesen Wasserbedarf werden oft künstliche Staubeckenerrichtet, die im Sommer, wenn der Abfluss in den Al-pen hoch ist, aus den Zuflüssen und während dem Win-ter über Pumpstationen mit Wasser gespiesen werden.In Wengen beispielsweise werden in einem durch-schnittlichen Winter 130 000 bis 150 000 m3 Schneeproduziert. Dazu braucht es 60 000 bis 70 000 m3 Was-ser. Offiziell fasst der Speichersee 35 000 m3 Wasser.

kinder naschen schneesie ballen zwei kugeln undzeichnen den engel

Page 22: Megafon Nr. 291

der schneeim auge das falkender zurück kehrt

SCHNEE BIS POESIE

«KALTGEPRESST» ZWISCHEN BUCHDECKELN

Endlich schneit es! Es ist wirklichSchnee, nicht nur so halbherzigerSchneeregen, den man nur als Schneebezeichnet, weil man der Wettervorher-sage blind vertraut. Nein, jetzt tanzenrichtige, grosse Schneeflocken herab,beginnen, sich aneinander und Schichtfür Schicht an allem festzukleben.Schnee eignet sich wunderbar für lite-rarische Texte: Es ist ein Naturschau-spiel, das immer wieder beobachtetund auf unzählige Arten beschriebenwird.

Schnee evoziert Erinnerungen. Diekindliche Freude erwacht, das Staunenüber das Naturwunder, die Wattebäu-schchen, die sich gleichmütig ihremFall ergeben. Schneeballschlachten,Schlittenfahrten und Schneebauten erinnern an die eigene Begeisterung,die man heute kopfschüttelnd bei Kin-dern zur Kenntnis nimmt, die mit demSchlitten auf dem ersten weissenSchäumchen (das kaum standhält) rum-

rutschen. Erinnerungen an Jahre mitkaum oder mit übermässigem Schnee-fall kehren wieder. Unglaubliche Ereig-nisse, die den Rahmen des «Norma-len» sprengen (Lawinen) und demSchnee gar etwas Novellenhaftes ver-leihen.

Schnee ist in Büchern einerseits Teilder dichten Beschreibung, deren Zieles ist, die Umwelt und die Atmosphäreeiner Handlung möglichst genau zuvermitteln. Andererseits eignet sichSchnee zu Assoziationen: Die frischverschneite Landschaft steht als Sym-bol für Reinheit, Unversehrtheit, Jung-fräulichkeit. Der weisse Schnee hat ei-ne aufhellende, reinigende Wirkung,deren Spannung im Kontrast liegt.

Bremsklotzartig scheint der Schneedie Welt zu verlangsamen, Bewegun-gen zu verringern, Laute sind ge-dämpft, das Licht rar, es wäre an derZeit, Winterschlaf zu halten: Sich in einem Holzhäuschen neben dem zeu-selnden Kaminfeuer wohlig ins Sofakuscheln und ein spannendes Buch(Peter Hoegs «Smilla's Sense ofSnow?») lesen, während es draussenschneit – eine märchenhafte aber auchziemlich platte Vorstellung: Draussendie kalte Welt, drinnen Geborgenheit.Dennoch ergäbe man sich gernemanchmal diesem Stillstand… Odergeht es darum, das natürliche Timeoutals Inspiration für Gedanken und zurseelischen Kräftesammlung zu nut-zen?

Man fühlt sich wie gefangen in die-ser stillen Welt, in der sich selbst dieDramen der Leidenschaft so geräusch-los ereignen, als läge überall dichterSchnee.

Wenn nicht nur atmosphärische Be-schreibung, kann sich Schnee alsmetaphorische Ebene durch einen Textziehen, wie dies in Ernest HemingwaysThe Snows of Kilimanjaro geschieht.Der Schnee steht als ständiges Hinter-grundbild für den Tod, auf den der ver-wundete Protagonist am Fusse des Ki-limandscharo wartet. Zum Schlussentwickelt sich die Analogie Schnee –

Tod zu einer Doppeldeutigkeit: DerSchnee des Kilimandscharo ist nichtnur Zeichen des Todes, sondern ersteht zugleich auch für das ewige Le-ben. Schnee ist nicht einfach nurSchnee. Es schneit nicht, oder ununter-brochen, es stürmt, es entstehen Lawi-nen, Verkehrschaos und Katastrophen– Schnee ist Natur pur. Deswegen istSchnee als literarischer Stoff spannendund vielseitig, er lässt Assoziationenund die Entwicklung von gegensätz-lichen Positionen zu: die Vergänglich-keit und das ewige Leben, die filigraneSchönheit der einzelnen Flocken imGegensatz zur vernichtenden Masse,die verschluckt und erdrückt, was ihrim Weg steht. Der Gegensatz von derkindlichen Verspieltheit zu den Gefüh-len von Abgeschiedenheit und Einsam-keit.

Der noch dichter fallende Schneeerweckte in Ka wieder das Gefühl vonEinsamkeit. (Pamuk).

Die Liste der Titel mit Schnee-Büchern (von Hemingway bis Pilcher)wäre endlos. «Schnee», von Orhan Pa-muk, gehört aber definitiv gelesen, mitoder ohne Kaminfeuer!

> NEELA CHATTERJEE <

IN DEM MOMENT GAB ES EINEN STROMAUSFALL.WÄHREND DIE DRUCKMASCHINE STILLSTAND UNDDIE WERKSTATT IN GEHEIMNISVOLLER DUNKELHEITVERSANK, BEMERKTE KA, WIE SCHÖN DAS WEISSDES DRAUSSEN FALLENDEN SCHNEES WAR. (PAMUK)

22 megafon Nr. 291, Januar 2006

SCHWERPUNKT

Page 23: Megafon Nr. 291

Mit dem «Weissen Rauschen» – so diedeutsche Übersetzung – ist noch weni-ger das lautlose Geräusch gemeint,wenn, wie um diese Jahreszeit üblich,die Schneeflocken still und leise vomHimmel fallen und auf harten Asphalt,weiches Gras oder knisternde Schnee-verwehungen segeln.Der Begriff des Weissen Rauschensstammt ursprünglich aus der Welt derPhysik und ist heute zu einem geläufi-gen Begriff in der Medien- und Compu-terkunst geworden.

Weisses Rauschen ist in der Spra-che der Ingenieur- und Naturwissen-schaften ein physikalisches Rauschenmit konstanter Amplitude im Leis-tungsdichtespektrum S(w) = H. Andersausgedrückt: Weisses Rauschen ver-fügt über eine unendliche Signalener-gie. Es handelt sich dabei um ein reintheoretisches Konstrukt, das in seinerAbsolutheit in der Realität gar nicht exi-stieren kann.

Als Konzept hat sich das WeisseRauschen längst in der Welt der Aku-stik etablieren können. In der Praxisentsteht Weisses Rauschen dann, wennalle Frequenzen des menschlich hör-baren Bereiches – also von etwa 16 Hzbis 20 kHz – mit gleicher Amplitude,d.h. dem gleichen Lautstärkepegel, zu-sammenfallen – gut vergleichbar etwamit dem weissen Licht in der Optik.Vom menschlichen Ohr wird das Weis-se Rauschen als höhenlastiges Zischenin einem stimmlosen «sch» wahrge-nommen. Für die Hörerin oder den Hörer hat dieses Geräusch eine leichtbetäubende Wirkung, und es wird inzwischen von findigen Bauplanernund Architektinnen als akustisches In-strument zur Lärmbekämpfung einge-setzt. Wenn Lärm mit Weissem Rau-schen überlagert wird, empfinde mandiesen als weniger laut und störend.

In der Struktur des Weissen Rau-schens sind alle zur Verfügung stehen-den Informationen enthalten, ohnedass einzelne Informationen darausisoliert wahrgenommen werden kön-nen. Alle Töne, alle Hintergrundgeräu-sche, alle Farbklänge, alle Einzelfor-men verbinden sich zu einem homogenwirkenden Rauschen. Wir kennen diesvom Schneebild im Fernsehen, wennder Empfang gestört ist, oder vom Rau-schen im Radio, wenn wir mit demKnopf zwischen den belegten Frequen-zen hin- und herdrehen.

GERASTERTE BILDELEMENTE

Weisses Rauschen ist ein Phäno-men, welches der Mensch aufgrundder Signalfülle und -dichte sinnlich zufassen gar nicht in der Lage ist. DerVersuch einer konzeptuellen und be-grifflichen Fassbarkeit dieses natur-wissenschaftlichen Phänomens – dasWeisse Rauschen ist eine endloseKleinteiligkeit und eine endlose Vielfalt,alles in einem – ist äussert schwierigund kann glücklicherweise über künst-lerische Approaches (Annäherungen)und Interpretationsmöglichkeiten gutgelingen. Die neuen elektronischenMedien spielen dabei eine zentrale Rol-le. So kann beispielsweise die ästheti-sche Form des Weissen Rauschensmithilfe von Computer nachgerechnetund nachgeformt werden. Ein völligneuer ästhetischer Raum von unend-licher Weite und Breite wird dabei er-schaffen, und es entsteht ein neuarti-ges semantisches Universum, dessenSprache für den Menschen nicht mehrentzifferbar ist und uns in ein zeichen-

haftes Nirgendwo hineinführt. Gleich-zeitig eröffnet dieser Raum Möglichkei-ten, sich dem Thema des Weissen Rau-schens auf assoziative künstlerischeWeise anzunähern: mit Video- oderakustischen Installationen, mit Live-Performances, mit gerasterten Bildele-menten, die sich bis zur Unkenntlich-keit hin auflösen, mit künstlich erzeug-tem Nebel… den Ausdrucksformensind keine Grenzen gesetzt.

Das Weisse Rauschen als eine phy-sikalische Gegebenheit kann unterUmständen auch spirituell interpretiertwerden, wobei sich folgende Fragenplötzlich aufdrängen könnten: Sitzt derunsichtbare und alles in sich fassendeliebe Gott von früher nun ganz unver-hofft im Weissen Rauschen? Oder: Ver-mag die Grosse Göttin ihre ätherischenBotschaften neuerdings ganz simpelüber ein Mischpult verbreiten?

Aber nein. Zu hören und zu sehen isteinfach ein akustisches Kauderwelsch,dem keine erkennbaren Formen undverstehbaren Botschaften mehr zu ent-locken sind. Wir hören weder Töne,noch Worte, noch harmonische Akkor-de, keine Pfadilieder, kein Hundegebell,keinen Autoverkehr, kein Hüsteln, Flu-chen oder Papierrascheln mehr.

Wir hören nur noch ein einzigesRauschen. Und wenn wir dieses Rau-schen tatsächlich auch sehen könnten,würde in unseren Augen ein merkwür-diger, milchiger Nebel erscheinen.Oder es wäre, wie wenn Sonnenstrah-len auf unsere geschlossenen Augenli-der fallen.

Und ein Gefühl warmer Wohligkeitwürde in uns aufsteigen. Vielleicht.

> BRIGITTE MAUERHOFER <

WHITE NOISE

EIN ÄSTHETISCHESMYSTERIUMWER HINTER DEM BEGRIFF «WHITE NOISE» EINERECHTSRADIKAL GEPRÄGTE, BLEICHGESICHTIGE,MUSIKALISCHE GEGENBEWEGUNG ZUM SCHWARZ-AMERIKANISCHEN RAP BEZIEHUNGSWEISE ZU BLACKNOISE VERMUTET, TÄUSCHT SICH.

Literaturtipp: HeikePiehler (Hrsg.) 2005:Weisses Rauschen, 1. Ästhetik-Festival derUniversität Bielefeld,Transcript-Verlag (abEnde Januar 2006 imBuchhandel erhältlich)

megafon Nr. 291, Januar 2006 23SCHWERPUNKT

bell bell sage ichder hund hilft mit

im schnee zu stöbern

Page 24: Megafon Nr. 291

URUGUAY

ES KNIRSCHT IM FORTSCHRITTLICHENREGIERUNGSGEBÄLK

Diesen Freitag werden zum fünften Malin Folge über 1000 Menschen auf dieStrasse gehen, um für die Freilassungvon vier politischen Gefangenen zu de-monstrieren. Verhaftet wurden sie imZusammenhang mit einer Anti-Bush-Demonstration anfangs November,während der eine kleine Gruppe Sach-beschädigungen beging. Der Poli-zeieinsatz kam spät und brutal. Die Ti-telseite der linken Wochenzeitung Bre-cha zeigte einen schiessenden Polizi-sten, dessen Pistole auf ein Ziel inKopfhöhe gerichtet ist. Andere verprü-geln am Boden liegende Demonstran-tInnen mit Schlagstöcken und haltendiese fest, während Zivilisten sie mitFusstritten traktieren. Vier Demon-strantInnen sind nach wie vor in Haftund werden vom Richter wegen um-stürzlerischer Umtriebe angeklagt, aufdie vier bis sechs Jahre Haft stehen.Dies obwohl Verteidigung und Staats-anwaltschaft die Freilassung fordern. Inden 30 Jahren der Militärdiktatur kamdieser Gesetzesparagraph nicht mehrzur Anwendung, was an sich schonschockierend ist. Genauso schockie-rend wie die Tatsache, dass keiner derPolizisten suspendiert, geschweigedenn gefeuert wurde. Und genausoschockierend wie die Aussage des ehe-maligen politischen Gefangenen und

heutigen Senatspräsidenten Huidobro,der sich leider nicht zu blöd war zu be-haupten, den Vieren sei das Prädikat«aufständisch» ja quasi geschenkt ge-worden…

DIE ROSE AUF DEM TISCH

Aber dies sind nicht die einzigen«Kröten», die laut Pépe Mujica – einemanderen ehemaligen politischen Gefan-genen, heute Landwirtschaftsministerund langjähriger Gefährte von Huidobroin der Tupamarobewegung – zu schluk-ken sind. Am Todestag von Ché Gueva-ra, gleichzeitig die Gedenkfeier für dieGefallenen beim Überfall auf die StadtPando durch ein Tupamarokommandoim Jahre 1969, war die spärlich anwe-sende Basis gar nicht begeistert vonden Erklärungen, wieso Uruguay unterder neuen Regierung an den Unitas-Militärmanövern mit US-Beteiligungteilnimmt, nachdem dies vorher stetsheftig abgelehnt worden war. Gerademal zwei Tage Zeit wurde dem Parla-ment für die Abstimmung gelassen undinterne Opposition mit Stimmzwangzum Schweigen gebracht – bis auf denkommunistischen Senator Lorier, derden Saal verliess und eine symbolischeRose auf seinem Tisch zurückliess, undden sozialistischen Abgeordneten Guil-lermo Chifflet, der explizit und mit Be-gründung gegen die Parteidisziplin ver-stiess und dagegen stimmte.

Mit Tränen in den Augen verlasen hi-storische Militante einen offenen Briefan ihre ehemaligen Gefährten bei denTupamaros – Huidobro und Mujica –und fragten diese unter dem Titel «Wie-so zum Teufel haben wir überlebt?»,wieso sie zu Systemverwaltern gewor-den sind, wo die alten Utopien undPrinzipien geblieben seien und wiesoständig «strammgestanden» werde,um ein weiteres Bonmot von Mujica zuzitieren. Prinzipien, die Guillermo Chif-flet anlässlich der Abstimmung überdie Verlängerung des Mandates undVerstärkung der uruguayischen Trup-pen im Rahmen des UNO-Mandates

auf Haiti dazu brachten, öffentlich vonseinem Amt als Abgeordneten zurück-zutreten, um nicht dafür stimmen zumüssen. Dies im Einklang mit den Ver-treterInnen der Basiskomitees im na-tionalen Führungsgremium der Partei,die ebenfalls mehrheitlich gegen die ei-gene Regierung votiert hatten. Chiffleterklärte, dass ihm nur dieser Ausweggeblieben sei, um seinen Prinzipien –und denen, welche die Frente Ampliobis vor kurzem vertreten hat – treu zubleiben und dass er sich nun der inter-nen Debatte widmen werde. Eine wohl-tuende Differenz zu Abgeordneten, diesich bemächtigt fühlen, ihr Mandat beiMeinungsverschiedenheiten einer neu-en oder anderen Partei zukommen zulassen und weiterhin fette Gehälter zukassieren.

REBELLION DEM STRAMMSTEHEN

Chifflet erklärte weiter, dass er auchzurückgetreten sei, da er in der bevor-stehenden Abstimmung über das Inve-stitionsabkommen mit den USA erneutgegen die eigene Regierung hätte stim-men müssen. Auch hier ist das Gemur-mel in der Basis unüberhörbar. In ei-nem offenen Brief fordern Dutzendevon politischen Kadern und Intellek-tuellen aus dem linken Umfeld und derFrente Amplio, diesen Vertrag nicht zuunterzeichnen. Auch die kommunisti-sche Partei, die immerhin über sechsProzent der internen Stimmen auf sichvereinigt, hat den Vertrag bereits öf-fentlich und unwiderruflich abgelehnt,womit die Präsenz der kommunisti-schen Sozialministerin Marina Aris-mendi mittelfristig zur Diskussion ste-hen könnte. Auch in der intern meistg-wählten Liste der Frente Amplio, derMPP – die vorwiegend aus den histori-schen Tupamaros hervorging – scheinteine heftige Diskussion im Gange zusein, die an einem bevorstehendenParteikongress entschieden werdenwird. Vielen Basismitgliedern ist dieKröte Investitionsschutzabkommen mit

GERADE MAL NEUN MONATE IST SIE ALT, UNDSCHON SIEHT SICH DIE FORTSCHRITTLICHE URU-GUAYISCHE REGIERUNG MIT ZAHLREICHEN INTER-NEN PROBLEMEN UND QUERELEN KONFRONTIERT.ZWAR KONNTEN DIE GRUPPIERUNGEN DER REGIE-RUNGSKOALITION IM NOVEMBER 2005 ALLESAMTUNTER DEM DACH DER FRENTE AMPLIO VEREINIGTWERDEN, ABER IN DER PARTEIBASIS WIRD ZUNEH-MENDER UNWILLE ÜBER ENTSCHEIDUNGEN SPÜRBAR,DIE IM GEGENSATZ ZU DEN TRADITIONELLENPOLITISCHEN POSITIONEN STEHEN UND NICHTDISKUTIERT WERDEN.

24 megafon Nr. 291, Januar 2006

INTERNATIONALISTISCHE

Page 25: Megafon Nr. 291

den USA zu gross und sie rebellierenintern dagegen, strammstehen zumüssen. Derweil mischte PräsidentVázquez in der wichtigen sozialisti-schen Partei heftig mit, um ihm nahestehende Personen in die Parteifüh-rung zu hieven und die Gruppe umAussenminister Gargano in die Minder-heit zu versetzen, was ebenfalls ein be-achtliches Konfliktpotential in sichbirgt.

Dennoch, nicht alles ist grau in Uru-guay, wie beispielsweise die ersten Er-folge auf der Suche nach den Restender Verschwundenen und die Anstren-gungen zur Überwindung der Straflo-sigkeit der Verbrechen während der Mi-litärdiktatur zeigen. Aber die realpoliti-schen Zwänge und der ebenso prag-matische wie zentralistische Regie-rungsstil von Tabaré Vázquez wird dieuruguayische Linke und deren ersteRegierung in den kommenden Monatenauf weitere harte Proben stellen, derenAusgang noch nicht absehbar ist.

> BEAT SCHMID, FREIWILLIGERGVOM IN URUGUAY <

POLIZEIGEWALT

WAS TUN, WENN BULLEN PRÜGELN?

Dass menschenverachtende Gewaltnicht nur oben beschriebene Betroffe-ne treffen kann, wissen alle, die schonmal an Aktionen, Demos oder sonstwann mit Gummischrot aus nächsterNähe beschossen, beim Pissen einge-gast, brutal verhaftet und auf Polizeipo-sten oder in Sammelgefängnissenmisshandelt wurden.

Diese Übergriffe (vor allem gegen«Personen mit geringer Beschwerde-macht») wiederholen sich Jahr fürJahr, und das einzige, was sich verän-dert, sind die Gesichter der «Amts-misshandlungs-Fraktion» in der Stadt-polizei, welche häufig in der Drogenein-heit Krokus zu finden sind. Die Mün-gers, Schneiters, Toblers und wie siealle heissen, können in dieser Stadt un-gestraft Leute, die ihnen missfallen(und das sind, wie wir gesehen haben,nicht nur Afrikaner oder Araber…!) be-leidigen, bedrohen, verprügeln undquälen. Konsequenzen müssen siemeistens keine befürchten: ihre Opfererstatten selten Anzeige, da viele auf-grund ihres Aufenthaltsstatus mit ne-gativen Konsequenzen rechnen und/oder kein Vertrauen in Behörden ha-ben. Die Polizeivorgesetzten und -ver-antwortlichen decken seit Jahren rassi-stische und gewalttätige Übergriffe und

verbreiten in den Medien die Mär von«den gewalttätigen Afrikanern», dieman halt von Beginn an härter anfas-sen müsse (oder gerne auch die Märvon «den gewaltbereiten Demonstran-tInnen»). Und vor Gericht (wenn esdenn mal soweit kommt) gelten Aussa-gen von Polizeibeamten (Amtsperso-nen) meist als glaubwürdiger, als dieihrer Opfer (was einen nicht von Anzei-gen abhalten sollte…!) und es gibt auchfür das grösste Arschloch einen Frei-spruch (und für Opfer oder ZeugInneneine Verurteilung wegen Hinderung ei-ner Amtshandlung, Gewalt und Dro-hung gegen Beamte, etc.!!!). Selten malkriegen die Polizeioberen das grosseZittern (bei glasklaren Fällen mit Me-dienecho) und versuchen sich mit ei-nem Vergleich aus der Affäre zu ziehen.

Stellt sich die Frage: Wie kann ichreagieren, wenn ich an eine solche Prü-gelszene heranlaufe? Wären es irgend-welche Dorfhooligans, wär der Fallklar: Dazwischen gehen und davonja-gen. Sind es aber welche in Uniformoder Zivis, wird die Sache wegen demlieben staatlichen Gewaltmonopolschon komplizierter.

Oder um es mit Klaus dem Geigerzu sagen: «Bullen hauen ist verboten,Bullen hauen ist nicht fein – denn dannkommst du vor den Kadi und der lochtdich ein.» Doch die Lage ist nicht ganzso trostlos – auch gegen gewalttätigeÜbergriffe von Prügelcops gibt es einRecht auf Widerstand (sei es als ZeugInoder BetroffeneR). Ähnlich wie gegenNichtpolizistInnen hat mensch dasRecht auf Notwehr/Notwehrhilfe (Art.33 StGB ) oder Notstand/Notstandshilfe(Art. 34 StGB ). Allerdings ist bei Polizei-übergriffen die Schwelle des zu Ertra-genden ein wenig höher als bei «Privat-gewalt».

IN LETZTER ZEIT IST ES WIEDER ÖFTERS VORGE-KOMMEN, DASS DIE BULLEN RUND UM DIE REIT-SCHULE (SCHÜTZENMATTE, BOLLWERK) MENSCHENVERHAFTEN, DIE SIE DER «DROGENSZENE» ZUORD-NEN ODER, ORIGINAL-BULLENSLANG, DIE ALS«SCHEISS-NEGER» UND «SCHEISS-ARABER»BETRACHTET WERDEN. EGAL, OB JEMAND WIRKLICHDOPE VERDEALT ODER NICHT – IN BEIDEN FÄLLENMÜSSEN DIE BETROFFENEN VOM MOMENT DES ERST-KONTAKTS MIT DER POLIZEI MIT BELEIDIGUNGEN,DROHUNGEN, GEWALT UND NEUERDINGS AUCH MITFOLTERÄHNLICHEN «SPIELCHEN» À LA ABU GHRAIBRECHNEN.

megafon Nr. 291, Januar 2006 25INNENLAND

>

Page 26: Megafon Nr. 291

In einem Bundesgerichtsentscheid(BGE 103 IV 73 S. 75) hält das Bundes-gericht fest: Es «(…) kann sich die Fra-ge eines notstandsähnlichen Wider-standes gegen eine Amtshandlung nurstellen, wo diese rechtswidrig ist, dieRechtswidrigkeit offensichtlich zutagetritt und von zur Verfügung stehendenRechtsmitteln von vornherein keinwirklicher Schutz zu erwarten ist.»

Was zum Beispiel bei einer Szene,wo ein Prügel-Kroki einem am BodenLiegenden in den Kopf tritt oder ihnunnötig mit Pfeffer eingast, wohl gege-ben wäre. Also dazwischen gehen unddas Opfer schützen und den Täter da-von abhalten, weiter rechtswidrig Leibund Leben des Opfers zu gefährden.Ob mensch dann die Cops auch daranhindern darf, ihr Opfer mitzunehmen(und damit die Spuren zu verwischenund das Opfer einzuschüchtern) undstatt dessen das Opfer ins Kranken-haus begleiten kann, ist auszuprobie-ren und im schlimmsten Fall von ei-nem Gericht entscheiden zu lassen.

Auch wenn ein Übergriff nicht ver-hinderbar war – mensch kann einemOpfer von Polizeigewalt auch nach-träglich helfen: Begleitung ins Spitalfür ein ärztliches Attest, Hilfe beim Er-innerungsprotokoll schreiben, Sucheeines Anwalts/einer Anwältin, Beglei-tung beim Gang auf die Opferhilfe,Meldung bei Augenauf, Knastgruppe,Antifa, etc. LeserInnenbrief-Schreiben,Polizeivorgesetzte kontaktieren, alsZeugIn aussagen – es gibt viele Mög-lichkeiten.

Zum Schluss noch ein weitererBundesgerichtsentscheid (BGE 98 IV41 S. 45.) zur Vertiefung:

«Rechtswidrig ist somit eine Amts-handlung, wenn die Behörde oder derBeamte zu ihrer Vornahme sachlichoder örtlich unzuständig ist, wenn we-sentliche Formvorschriften nicht be-achtet werden oder wenn bei Ermes-senentscheidungen das Ermessenmissbraucht oder überschritten wird,also beispielsweise wenn der Grund-satz der Verhältnismässigkeit polizei-licher Eingriffe missachtet wird (…).

Gegen solche Amtshandlungen ste-hen dem Betroffenen in erster Linie dieRechtsmittel zur Verfügung. Nur wovon diesen von vorneherein kein wirk-samer Schutz zu erwarten ist, lässtsich – ähnlich wie beim Notstand nachArt. 34 StBG – der gewalttätige Wider-stand rechtfertigen (…). Voraussetzungist aber in jedem Falle, dass die Wider-rechtlichkeit der Amtshandlung offen-sichtlich sei und dass der Widerstandder Bewahrung oder Wiederherstel-lung des rechtmässigen Zustandesdiene. Gebricht es daran oder ist dieWiderrechtlichkeit der Amtshandlungauch bloss zweifelhaft, so fehlt es ander besonderen Ausnahmesituation,die den gewalttätigen Widerstand zurechtfertigen vermag.Diese Rechtslage gilt für jede Art poli-zeilicher Eingriffe.PRÜGELBULLE WIR KRIEGEN DICH – ÜBERGRIFFE RÄCHEN SICH!

> AG AMTS(MISS)HANDLUNG <

26 megafon Nr. 291, Januar 2006

INNENLAND

Page 27: Megafon Nr. 291

ANTI-WEF-DEMOS

NODEMO – LAUTSTARK UND KREATIVGEGEN DAS WEF-JAHRESTREFFEN

21. Januar 2006. Bern ist wie verwan-delt. Nicht mehr die mit Einkaufsta-schen bewaffneten Konsumwütigenprägen die Innenstadt, sondern eineStimmung des kreativen Protests. Vonden Häusern und Strassenlaternenhängen die Fahnen der WEF-GegnerIn-nen, unzählige Gruppen und Einzel-personen verwandeln die Innenstadt in eine Protestbühne. In den Gassen gibtes Info-Stände, Transparente und spa-zieren geführte Plakate, Theater-Per-formances, Lesungen, Musikdarbie-tungen, Umzüge und weitere Aktionen.Aus Lautsprechern und Kofferradiosschallt Radio RaBe und berichtet vonden Aktionen gegen das Weltwirt-schaftsforum (WEF), das sich in derdarauf folgenden Woche in Davos zumStelldichein einfindet. Die Strassen ge-hören dem Protest gegen das WEF undgegen die von ihm und seinen Teilneh-mern geförderte Politik der Profitlogik.Bern, Burgdorf, Chur, Lugano, Luzern,St. Gallen und weitere Städte gehörendem Protest. Der Protest ist überall –so, wie auch die vom WEF und seinenMitgliedern vorangetriebene Politiküberall ihre Auswirkungen zeigt, sei esin Privatisierungen, Liberalisierungen,Auslagerungen, Stellenabbau, ver-schlechterten Arbeitsbedingungenoder in Kriegen um Ressourcen undstrategische Gebiete sowie der Militari-sierung der Gesellschaften.

FAKTISCHES DEMOVERBOT

Die oben beschriebene geplanteProtestform, die in Bern von einembreiten Bündnis vorbereitet wird, ist ei-ne Antwort auf die Repression bei WEF-Protesten in vergangenen Jahren. Tau-sende Demonstrierende, die in denJahren 2001 und 2003 nach Davos rei-sen wollten, wurden von Grosskontin-genten der Polizei aufgehalten und in

Landquart eingekesselt. 2004, als eineAnti-WEF-Demonstration in Chur statt-fand, wurden über tausend sich auf derRückreise Befindende trotz des fried-lichen Verlaufs der Demo in Landquartangehalten, mit Tränengas, Gummi-schrot und Blendschockgranaten zu-sammengetrieben und erst nach Stun-den der Einkesselung und anschlies-sender Fichierung freigelassen.

Nach diesen Ereignissen entschiedsich vor einem Jahr ein neu entstande-nes Anti-WEF-Bündnis, eine Auftaktde-mo abseits des militarisierten Bünd-nerlands zu organisieren. Jedoch wur-de die geplante Demonstration in Bernvon der rot-grünen Regierung verbo-ten, womit klar war, dass vor und wäh-rend des WEF-Jahrestreffens ein fakti-sches Demonstrationsverbot gilt, undzwar nicht nur in der geografischenNähe des Stelldicheins.

Die Antwort des Demonstrations-bündnisses war ein Aufruf zu kreativenAktionen des zivilen Ungehorsams. Am22. Januar 2005 überfluteten tausendevon WEF-GegnerInnen die Stadt undverwandelten Bern in eine einzige Pro-testbühne. Das riesige Polizeiaufgebotund die von Behörden und Medien vor-bereitete Konfrontationsszenarien lies-sen sie ins Leere laufen. Die martia-lisch ausgerüsteten PolizistInnen wur-den zu unfreiwilligen StatistInnen.

RÄUME FÜR PROTEST UNDDISKUSSION SCHAFFEN

Am 21. Januar 2006 will das Bernernodemo-Bündnis auf den breit getra-genen und lustvoll durchgeführten Ak-tionen des vergangenen Jahres aufbau-en. Damit soll deutlich werden, dassdas Weltwirtschaftsforum und seineProfitlogik nach wie vor keine Akzep-tanz finden.

AM SAMSTAG, 21. JANUAR, WIRD IN BERNSINNENSTADT FÜR EINMAL NICHT DEM EINKAUFGEFRÖHNT – STATTDESSEN DEM KREATIVEN PRO-TEST GEGEN DAS WEF, DAS IN DER DARAUF FOL-GENDEN WOCHE STATTFINDET.PROTEST WIDER DIELOGIK DES PROFITS. WIDER DIE POLIZEIREPRES-SION. WIDER EIN FAKTISCHES DEMONSTRATIONS-VERBOT.

megafon Nr. 291, Januar 2006 27INNENLAND

>

Page 28: Megafon Nr. 291

28 megafon Nr. 291, Januar 2006

INNENLAND

PROTESTAKTIONEN GEGEN DAS WEF 06:

Auf 1000 Balkonen soll sie blühen – diefrisch gedruckte Anti-WEF-Fahne kann alsNachfolgerin der Pace-Fahne bestellt wer-den (10 Fr. plus Porto): www.nodemo.ch

Samstag, 7. Januar, ab 12 Uhr: Vorberei-tungsworkshop für den 21. Januar in derReitschule. Es können Demo-Requisiten ge-bastelt werden und Ideen und Mitstreite-rInnen gesucht werden. Infos: www.nodemo.ch

Samstag, 14. Januar: Dance Out WEF, Be-sammlung 13 Uhr beim Bärengraben.Schon zum dritten Mal wird in Bern tanzendgegen das WEF demonstriert. Infos: www.danceoutwef.org

Am Abend: Stop WEF – Tour de Lorraine:10 Bands, 10 Djs, 5 Filme und 1 Infoveran-staltung in 10 Lokalen dies- und jenseitsder Lorraine. Alles für einen gemeinsamenEintritt von 20 Fr. Mit dem Gewinn wird dieKampagne gegen das WEF 06 unterstützt.Infos: www.perspektivennachdavos.ch

Samstag, 21. Januar, 12 bis 16 Uhr: Node-mo in der Berner Innenstadt: Statt einerDemo soll die ganze Innenstadt im Zeichen

des WEF-Protestes stehen. Mit individuel-len und kollektiven, subtilen und lauten Ak-tionen und Meinungsäusserungen wandeltsich die städtische Konsummeile in einegrosse Protestbühne. Macht mit! Infos: www.nodemo.ch

Radio Rabe berichtet Live von diesem Pro-testtag von 13 bis 18 Uhr.

Burgdorf: 12 Uhr, Make your own WEF,Oberstadt

Chur: 13 Uhr, Aktionstag in der Innenstadt Infos: www.dadavos.tk

Lugano: Azione Anti-WEFInfos: www.ecn.org/molino

Luzern: 20 Uhr, «Reclaim the Streets», The-aterplatzInfos: [email protected]

St.Gallen: 17 Uhr, Info-Veranstaltungen undPolit-KonzertInfos: www.aktiv-unzufrieden.ch

Samstag, 28. Januar: Grossdemonstrationin Basel

Der Protest wird aber auch währenddem WEF in Davos sichtbar sein mit di-versen subversiven Aktionen und in Ba-sel ist zudem am 28. Januar eineGrossdemonstration geplant. Ein Be-willigungsgesuch wurde dafür einge-reicht, in der Hoffnung, dass somit dasletztjährige Basler Einkesselungssze-nario vermieden werden kann. Mit denProtesten gegen das WEF 06 sollen al-so wieder Räume geöffnet werden füröffentlichen Protest und Diskussionenüber die Machenschaften von transna-tionalen Konzernen und neoliberalenRegierungen.

> ANTI-WTO-KOORDINATION <

Page 29: Megafon Nr. 291

ORGANISATION OHNE ORGANISATIONEN

DIE SCHWEIZER NEONAZIS ENTDECKENDAS «KAMERADSCHAFTSMODELL»

Wie so vieles in der Schweizer Neona-ziszene wurde auch das Organisations-modell der «Freien Kameradschaften»bei den deutschen «Kameraden» abge-kupfert. Dort grassiert dieses Phäno-men seit Jahren und es ist kein Ende inSicht. Im Jahre 2004 wurde die Zahlsolcher Gruppen in der BRD auf 160 ge-schätzt – Tendenz steigend. Kamerad-schaften zeichnen sich durch das Feh-len von Parteiprogrammen und Ver-einsstatuten aus. Sie sind in der Regelein Zusammenschluss von Gleichge-sinnten aus demselben Bekannten-kreis – die Weiterführung von Bekannt-schaften aus Schulen, Jugendtreffs undSportklubs. Der persönliche, kollegialeKontakt innerhalb der Kameradschaftspielt eine zentrale Rolle. Da Kamerad-schaften auf dem Cliquensystem basie-ren und sich gewöhnlich nicht überre-gional rekrutieren, lassen sich aus deraktuellen Entwicklung auch Trendsüber das Wachstum der ExtremenRechten ablesen:

Kameradschaften schiessen mo-mentan in der Schweiz wie Pilze ausdem Boden und verweisen auf eine vorallem in ländlichen Regionen vermehr-te rechtsextreme Politisierung von Ju-gendlichen.

WENIGER VERBINDLICHKEIT –WENIGER SKRUPEL

Ohne Vereins- oder Parteistruktursind solche Gruppierungen juristischschwer zu fassen und können sich so-mit auch eine aggressivere Propagandaund militantere Aktionen erlauben.Dies ist unter anderem an der erhöhtenGewaltbereitschaft von Kamerad-schaftsmitgliedern abzulesen. So grif-fen im Oktober 2004 mehrere Mitglie-der der Kameradschaft «HelvetischeJugend» in Willisau eine Kundgebunggegen Rassismus mit Raketen, Holzlat-ten und Bierflaschen an. Anschliessen-de Hausdurchsuchungen der Polizeieröffneten einen Einblick in die Waffen-sammlung der im Raum Langenthalbeheimateten «Helvetischen Jugend».Das Arsenal reichte von Hieb- undStichwaffen, über Schrotflinten, Muni-tion und Faustringe bis hin zu Bestand-teilen von Granaten.

DIE KAMERADSCHAFT ÜBERALLES

Aber nicht nur in Bezug auf die hoheGewaltbereitschaft kann die «Helveti-sche Jugend» als ein Paradebeispieldes Kameradschaftsmodells bezeich-net werden. Ihre Aktivitäten decken diegesamte Palette rechtsextremer Frei-zeitbedürfnisse ab – ideologischeSchulungen, Demo-Tourismus im In-und Ausland, Saufen und ab und an aufdie Strasse zum Prügeln. Natürlich be-gehen sie auch den, für rechtsextremeAktivisten obligaten Aufmarsch aufdem Rütli am 1. August gemeinsam.Dieses Jahr präsentierten sich die Mit-glieder der «Helvetischen Jugend»1 amNationalfeiertag einheitlich im Grup-pen-T-Shirt. Zudem zeigen die «HJ»-ler seit neuestem auch im BereichRechts-Rock Engagement: Die neu ge-

gründete «Indiziert»-Crew – eine ArtFangemeinde der rechtsextremenBand «Indiziert» – setzt sich u.a. ausmehreren Mitgliedern der «Helveti-schen Jugend» zusammen. Die Akti-vitäten der Kameradschaft greifen indie verschiedensten Lebensbereicheund ermöglichen damit eine umfassen-de Zementierung der rassistischen undneonazistischen Ideologie seiner Mit-glieder.

BRAUNE VERNETZUNG BELIEBT

Wer nun hofft, dass dieses Organi-sationsmodell zu einer Isolierung derSzene in einzelne Kameradschafts-In-seln führt, der unterschätzt das Phäno-men. Bei der «Helvetischen Jugend»bestehen enge Kontakte und teilweiseauch personelle Überschneidungen mitder rechtsextremen Partei PNOS. Pro-minenter Akteur mit einem solchen«Doppelmandat» ist der PNOS-Stütz-punktleiter Pascal Lüthard. Dass Netz-werkstrukturen zu anderen Kamerad-schaften und rechtsextremen Aktivi-sten bestehen, steht aufgrund ver-schiedenster Teilnahmen der «Helveti-schen Jugend» an Aufmärschen undrechtsextremen Veranstaltungenausser Frage. Ein gemeinsames Flug-blatt-Projekt mit der KameradschaftNAJ (Nationale Aktive Jugend) verweistzudem auch auf eine aktivistische Zu-sammenarbeit zwischen Kamerad-schaften. Allerdings sind diese – imVergleich zu den regionalen Aktionsbü-ros in Deutschland – hier nicht institu-tionalisiert.

> ANTIFA BERN <

SIE NENNEN SICH «KAMERADSCHAFT INNER-SCHWEIZ», «WILLISAUER WIDERSTAND», «KAME-RADSCHAFT BRUGG» ODER «HELVETISCHE JUGEND»UND ZEIGEN DEN ORGANISIERUNGSTREND DERSCHWEIZER NEONAZISZENE AN: DIE VERMEHRTEGRÜNDUNG VON «FREIEN KAMERADSCHAFTEN» BIRGTEINE STRUKTURELLE VERÄNDERUNG DER EXTREMENRECHTEN HIERZULANDE UND VERWEIST AUF DIEVERSTÄRKTE ZELEBRIERUNG EINER BRAUNENLEBENSWELT. NICHT NUR DIE POLITIK SONDERNAUCH DER «SPASSFAKTOR», IN FORM VON SAUFGE-LAGEN, RECHTS-ROCK KONZERTEN UND NAZI-KLA-MOTTEN SOLL IN DIESEM LEBENSENTWURF PLATZFINDEN. UND DAS LÄSST SICH AM EINFACHSTENZUSAMMEN MIT GLEICHGESINNTEN UMSETZEN.

megafon Nr. 291, Januar 2006 29BLICK NACH RECHTS

1 Das Kürzel HJ ver-weist auf die Hitlerju-gend im Nationalsozia-lismus

Page 30: Megafon Nr. 291

30 megafon Nr. 291, Januar 2006

KULTUR ET ALL

GIPI: NACHTAUFNAHMEN

FRAGMENTE VON FAST FILMISCHER QUALITÄT

Ölfarben und Leinwände sind norma-lerweise nicht die üblichen Arbeits-utensilien eines Comixautors. Bei Gipiallerdings schon: Der italienischeKünstler arbeitet noch wie ein klassi-scher Maler. Zumindest für den Kurz-geschichtenband «Nachtaufnahmen»verwendet er ausschliesslich blaue,schwarze und weisse Ölfarben.

Anders die Figuren: Diese zeichneteder Künstler mit scharfem Strich auftransparente Folien. Diese legte er an-schliessend über den Hintergrund. Ge-legentlich kommen gleich mehrereSchichten übereinander, so dass derGesichtsausdruck beim Betrachten zuwechseln scheint. Der Effekt ist ver-blüffend, eindrücklich und widerspie-

gelt die melancholisch-rätselhafteStimmung der Geschichten.

GEZEICHNET STATT GEFILMT

Überhaupt die Geschichten: Es sindzumeist eher Geschichtsfragmente,Erinnerungsfetzen und Gedankengän-ge, an denen uns der Zeichner teilha-ben lässt. Wie in «Oleanderstrasse»beispielsweise, wo das Kind Gipi denTag wieder erlebt, welcher derschlimmsten Nacht seines Lebens vor-ausging. Biografisch und persönlich istauch «Fünf Kurven», eine kurze Storyüber lebensgefährliche Selbstüber-schätzung. Ebenfalls aus der Erinne-rung geschrieben ist «Die Geschichtevon Fratze», die von einem entstelltenund irgendwie heldenhaften Kleinkri-minellen handelt.

Da sind aber auch skizzierte Dreh-bücher wie die Gangsterkurzgeschich-te «Auto im Regen» oder das Drama«Gesichter im Wasser». Bei letztererhat der Zeichner eine Film-Idee man-

gels Produktionsfirma in einer Kurzge-schichte festgehalten. Fiktiv ist auch«Muttererde», welche die Lebensge-schichte eines zynischen Matrosen aufeinem Öltanker erzählt.

REGISSEUR UND ZEICHNER

Allen sechs Geschichten gemein-sam ist ihre fast filmische Qualität: Gipinähert sich dem Geschehen langsamund lässt dem Auge Zeit, durch einZimmer oder über eine Landstrasseschweifen. So erstaunt es nicht, dassder Zeichner auch Kurzfilme dreht. Zu-dem arbeitet der 1963 in Pisa geboreneZeichner als Illustrator, so für die Ta-geszeitung La Reppublicca und für dasitalienische Satiremagazin «Cuore».Mit dem 2003 unter dem Titel «EsternoNotte» erschienenen Band «Nachtauf-nahmen» wurde Gipi nicht nur in Italienschlagartig bekannt. Bereits sind aufdeutsch drei weitere Bände angekün-digt.

> CDK <

NICHT VON UNGEFÄHR NENNT SICH DER BAND«NACHTAUFNAHMEN»: ES SIND DÜSTERE, INSCHWARZ-BLAUEN TÖNEN GEHALTENE GESCHICHTEN,DIE GIPI ERZÄHLT. OBWOHL LÄNGST NICHT ALLEIN DER NACHT SPIELEN, HANDELN SIE ALLE AUFDIE EINE ODER ANDERE ART VON DER DUNKEL-HEIT.

Page 31: Megafon Nr. 291

megafon Nr. 291, Januar 2006 31KULTUR ET ALL

Die Frage: Was würdest Du mitnehmen aufdie einsame Insel? Die Antwort: Ich gehenicht auf die einsame Insel.Drei bis fünf CDs auswählen und darüberschreiben, ist wie diese Frage. Es geht nicht.Liebe LeserInnenschaft, ich wähle die Musikals Thema und teile sie gleich auf in Musikund Anti-Musik. Was uns heute von den«grossen» Plattenfirmen als Musik verkauftwird und uns täglich aus dem Radio entge-genplärrt, ist vielfach Anti-Musik. Gen-Musik.Ist wie Essen im Mc Donald’s und Kaffeetrinken im Starbucks. Vereinzelt gibt es nochSpezialsendungen im Radio, die uns Lecker-bissen offerieren. Die Radiohören schön ma-chen. Man setzt sich hin und hört zu. Nun,wann haben Sie, hast Du zum letzten Malwirklich Musik gehört? Bewusst eine CD, ei-ne Schallplatte aufgelegt? Es erfordert näm-lich Zeit. Es geht nicht einfach schnell,schnell. Und die CD spielt zum dritten Malund immer noch ist etwas Neues zu hören,ein neuer Klang, der das Ohr fasziniert. Ler-nen Musik zu hören braucht ebenfalls Zeit.Für mich bedeutet Musik hören, entführt zuwerden in eine andere Welt, reisen mit derMelodie. Hören, spüren, was mir erzähltwird. Musik hören ist ein Erlebnis, versetztmich an einen anderen Ort. Anti-Musik ist ge-nau das Gegenteil. Sie plätschert daher, istkonform, ruft zu nichts auf, gibt nichts her.Täglich werden wir bombardiert mit irgend-welchem Lärm, zugedeckt mit Tönen. Eslärmt aus den Autos, aus dem Telefon, ausden Modeboutiquen, aus den Mantel- undHandtaschen. Als wäre Ruhe unangenehm,belastend. Nun, das ist sie nicht. Ruhe ist an-genehm und enstpannend. Ruhe schafft denRaum, Neues aufzunehmen, schärft die Sin-ne. Musik ist genauso. Meine Empfehlung,nein, mein Aufruf ist ein Gang in ein Platten-geschäft. Entdeckt die Musik, sucht, lasstnicht locker, wühlt in der grossartigen Weltder Musik. Seid neugierig und nicht einfachbequem. Verwöhnt Euer Ohr mit der Vielfaltvon Klängen und ihr werdet Spass haben, la-chen, weinen, staunen. Gewöhnt Euch nichteinfach an das, was Euch vorgesetzt wird.Entscheidet selber was Ihr hören wollt, lasstnicht andere für Euch entscheiden. VielSpass!

YVONNE MOORE HÖRT MUSIK

PROG

RAM

M1-

3KIN

O4-

6DA

CHST

OCK

7-8

TOJO

9SO

USLE

PONT

10FR

AUEN

RAUM

Page 32: Megafon Nr. 291

42 megafon Nr. 291, Januar 2006

STORY OF HELL

STORY OF HELL - C.A. DIGITALSTE FOLGE(Diese Folge wird ihnen präsentiert von der Cyber-Kommune «Log Out»)

Pünktlich um Mitternacht wird der Schalter gekippt, einneues Zeitalter angeknipst. Im zentralen Stellwerk desinternen Netzes der Burg knallen die Korken, Bildschir-me und Kontrolllampen der den Raum anfüllenden Ap-parate und Steuerungspulte sind bald nur noch durch ei-nen dichten Nebel vom Rauch des Narrenkrauts erkenn-bar, das anwesende Personal befindet sich in einem stim-mungsmässigen Hochdruckgebiet. Es wird beschlossen,aus dem archivierten Material einen wilden Überblicküber das Vergangene zu montieren, der dann im Kinovorgeführt werden soll. All die gespeicherten Signale derSensoren, Mikrophone und Kameras, welche das interneNetzwerk speisen, überlagert, durchmischt, und ergänztmit Archiviertem, das in verschiedenen Medien vondraussen über die Burg berichtet wurde. Eine gerüttelteund geschüttelte Überdosis an Informationen soll dermontierte Zusammenschnitt vermitteln, ein die Sinneverwirrendes Wechselbad, mit stufenlos einstellbaremWellengang und Massagedüsen. Dem Publikum soll amEnde nicht mehr klar sein, wo ihm der Kopf steht, bezie-hungsweise, wessen Kopf, und wo er anfängt, wo er auf-hört.

Schon die Sichtung des Rohmaterials sorgt für weitereHeiterkeit. Das zentrale Stellwerk des internen Netzesbefindet sich in der ehemaligen Archivkammer, aus derall der verwitterte Papierkram entfernt wurde, um einerzeitgemässeren, platzsparenden Form der Informations-speicherung Raum zu bieten: Die Kabelstränge, an derenEnden die Sensoren, Kameras und Mikrophone in denverschiedenen Räumen angeschlossen sind, kommenhier in einer Art Mischpult zusammen, hier befindet sichdie Datenbank mit dem archivierten Material, der Ge-dankengenerator, die Werbetrommel, der Wirklichkeits-kompressor, die Fakten-Waschmaschine und der Wahr-heitsdestillator. Die Belegschaft des Stellwerks kann al-so bei der Zusammenstellung des Materials für die Chro-nik aus dem vollen schöpfen, hier ist alles dokumentiert:Vom Moment an, da die Burg sämtliche Segel gesetzthat, in eine bessere Zukunft aufzubrechen, über die Ex-kursion auf den Roten Planeten, hin zu sämtlichen Burg-festspielen, wichtigen Versammlungen, zur Entstehungdes genauen Wortlauts des Burgregelwerks, zur Einwei-hung der Kinder-Kampfbahn, als es zu gefährlich wurde

für die Kleinen, auf der Strasse zu spielen. Nicht zu ver-gessen alle die kleinen und grossen Geschichten in undum die Burgbelegschaft, Tragödien, Komödien, Roman-zen und Fehden, die sich täglich in den Gemäuern derBurg abspielen.

Der Prozess der Auswahl, des Arrangierens und Verdich-tens der Ausschnitte, welche in die filmische Chronikeingehen sollen, nimmt einige Tage intensiver Arbeit inAnspruch, während welchen sich das Projekt ständigweiterentwickelt. So hat sich ein Teil der Beteiligten dar-an gemacht, ein Theaterstück zu schreiben, welcheswährend der Projektion des nebenan entstehenden Strei-fens vor der Leinwand aufgeführt werden soll. Sogar derChronist, welcher sich vor Jahren in die ewigen Jagd-gründe des «http://www.storyofhell.hell» abgesetzt hat,und seither im Kabelnetz und in den Archivköpfen derBurg herumgeistert, ab und zu in verschiedenster Gestaltin Erscheinung tritt, hat sich eingeschaltet. Er koordi-niert die Entstehung des Drehbuchs und des Theater-Skripts, führt thematisch synchrone Momente und poin-tierte Gegensätzlichkeiten zwischen dem Geschehen aufder Leinwand und auf der Theaterbühne herbei. Irgend-wer hat dann noch die Idee gehabt, das virtuelle Wesenals Erzähler in die Handlung einzubauen, es dem Chro-nisten zu überlassen, aus einem Archivkopf heraus überdie Verstärkeranlage Film und Theater in einem innerenMonolog zu kommentieren. Erste Gerüchte über das ent-stehende Spektakel sind bereits im Umlauf, und so hatsich schon bald die Hausband angemeldet, die das Gan-ze musikalisch untermalen will, gar die Idee eingebrachthat, ein Musical daraus zu machen.

So kommt es, dass sich die Uraufführung dessen, was alsIdee in einer feuchtfröhlichen Nacht im Stellwerk desNetzwerks der Burg begann, wohl verzögern wird, dennnicht nur dessen Produktion wird Zeit in Anspruch neh-men, auch die Budget-Frage muss zuerst geklärt werden.Näheres über den Zeitpunkt, da das Werk zum erstenMal zu sehen und zu hören sein wird, lässt sich im Mo-ment nicht in Erfahrung bringen.

In der nächsten Folge: die nächste Folge.

Page 33: Megafon Nr. 291

JETZT BESTELLEN

MEGABO

MEGAFON

POSTFACH 7611

3001 BERNBr

iefm

arke

Nam

e/Ad

ress

e

(BITTE ANKREUZEN)

<>1

Abo

= 12

Mon

ate

meg

afon

für

min

dest

ens

FR. 54.– PRO JAHR

<>m

egaf

on z

ur P

robe

= 3

Mon

ate

grat

is

<>1

Ges

chen

kabo

= 1

2 M

onat

e an

unt

enst

ehen

de

Adre

sse

(obe

n ei

gene

Adr

esse

ang

eben

):

KONTAKTE

Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule IKuR

Postfach 5053 | 3001 [email protected] www.reitschule.chT 031 306 69 69

[email protected] T 031 306 69 57

[email protected] 031 306 69 61X 031 301 69 61

[email protected] T 031 306 69 65

[email protected] 031 306 69 47

frauenAG [email protected] 031 306 69 68

[email protected] T 031 306 69 63

[email protected] 031 306 69 69

[email protected] 031 306 69 69

[email protected] T 031 306 69 69

[email protected] T 031 306 69 55

[email protected] T 031 306 69 69

Page 34: Megafon Nr. 291