Mehrwertiger Kapitalismus: Multidisziplinäre Beiträge zu Formen des Kapitalismus und seiner...

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Stephan A. Jansen · Eckhard Schröter · Nico Stehr (Hrsg.)

Mehrwertiger Kapitalismus

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zu | schriften der Zeppelin University zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik

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Stephan A. Jansen Eckhard Schröter · Nico Stehr (Hrsg.)

Mehrwertiger KapitalismusMultidisziplinäre Beiträge zu Formen des Kapitalismus und seiner Kapitalien

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1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Frank Engelhardt

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15864-8

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Inhalt

Eckhard Schröter Einleitung: Mehrwertiger Kapitalismus................................................................ 7

Grundwerte des Kapitalismus. Klassische Konzepte und ihre Kritik

Alihan Kabalak und Birger P. Priddat Kapitalismus: Eine Theoriegeschichte bis heute ................................................ 13

Hartmut Rosa Schrankenloses Steigerungsspiel: Die strukturbildende Einheit hinter der Vielfalt der Kapitalismen ..................... 33

Steve Fuller Commodification: A Necessary Evil? ................................................................ 55

Stephan A. Jansen Die Vermessung der unternehmerischen (Um-)Welt. Ein essayistisches Plädoyer für pflegende Peripherien, nachhaltige Haltungen und einen mehrwertigen Kapitalbegriff .............................................................. 69

Gebrauchswerte des Kapitalismus. Aktueller Wandel, Krisen und Reformpotenziale

Tobias Schulze-Cleven, Bartholomew Watson und John Zysman National Economic Adjustment in the Digital Era: Exploring the Role of Social Protection ........................................................... 105

Reinhard Blomert Die Subprime-Krise oder: Wie aus der Immobilienkrise eine handfeste Wirtschaftskrise wird................. 129

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Heike Proff Private-Equity-Gesellschaften – Aussauger oder disziplinierende Akteure des Kapitalismus? ........................... 149

Eckhard Schröter Staaten und Märkte – Privatisierungspolitik in transatlantischer Perspektive ..................................... 165

Mehr-Werte des Kapitalismus: Die Kapitalien der Zukunft und die Verwandlung der Märkte

Nico Stehr und Marian Adolf Konsum zwischen Markt und Moral: Eine soziokulturelle Betrachtung moralisierter Märkte .................................... 195

Annemarie Gronover und Gertraud Koch Zur Übertragbarkeit von Kapitalien. Einsichten aus der Migrationsforschung .......................................................... 219

Jacquelyne Luce Ethics as Capital: Eggs, Research Governance and the Politics of Representation....................... 239

Karen van den Berg „Capitalism doesn’t mean that much to me.“ Die Künstlerin Katya Sander zeigt den verlassenen Ort der Kritik .................. 265

Zu den Autorinnen und Autoren................................................................... 281

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Einleitung: Mehrwertiger Kapitalismus

Eckhard Schröter

Die Wirkungsweise des modernen Kapitalismus, seine Veränderungen und die daraus resultierenden Folgen lassen niemanden unberührt. Dass für das Ver-ständnis dieses Wandels und seiner Konsequenzen eine enggeführte Vorstellung von ökonomischen Rationalitäten und Wirtschaftsmärkten nicht ausreichen kann, gehört zu den Grundeinsichten der sozialwissenschaftlichen Kapitalismusfor-schung. In diesem Band sind daher Beiträge versammelt, die aus multidis-ziplinären Perspektiven ein breites Spektrum relevanter Aspekte aufgreifen, die für die Vielschichtigkeit des Kapitalismus und des Kapitalbegriffs stehen. Den Anfang machen die Grund-Werte, d.h. grundsätzliche Erörterungen zur Ideen-geschichte und zu konzeptionellen Kernfragen, die um die kapitalistische Wachs-tums- und Beschleunigungslogik sowie den Wert- und Kommodifizierungs-begriff kreisen. Im Anschluss greifen die Autoren aktuelle und virulente Themen für eine kritische Auseinandersetzung um den gegenwärtigen Gebrauchs-Wert kapitalistischer Systeme auf: Welche Antworten finden die Wohlfahrtssysteme auf den globalen Wettbewerbsdruck? Gefährden Private Equity-Gesellschaften die gewachsenen Wirtschaftsstrukturen? Wie konnte sich die Kreditblase im Hy-pothekenmarkt der USA bilden? Wie verschieben sich die Rollen zwischen Markt und Staat? Der dritte Abschnitt exploriert – vornehmlich aus soziologi-scher und kulturwissenschaftlicher Sicht – die Chancen für einen Mehr-Wert des Kapitalbegriffs: Welche Einsichten gewinnen wir aus der soziokulturellen Be-trachtung der Märkte? Wie lassen sich Kapitalien im Zuge globaler Mobilität und Migration transferieren und konvertieren? Und wie bildet und nutzt man „ethisches Kapital“, wenn es um Güterabwägungen in der Fortpflanzungsmedi-zin und Stammzellenforschung geht?

In ihrer theoriegeschichtlichen Einführung machen Alihan Kabalak und Birger P. Priddat die uns heute geläufige Form des Kapitalismus vor dem Hin-tergrund seiner Vorgängerformen verständlich. Damit geben die Autoren nicht allein eine Übersicht über die ideengeschichtlichen Entwicklungsphasen dessen, was wir gewohnt sind, als „Wirtschaft“ – d.h. als eigenständige Transaktions-welt, getrennt von Politik und Gesellschaft – zu bezeichnen, sondern auch eine Einführung in die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft. Was sie zur dis-ziplinären Stärke geführt hat, so argumentieren die Autoren, die methodische Stringenz der Mikroökonomie, wird für die gegenwärtigen Herausforderungen

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zur Schwäche, da es zunehmend auf Fragen der institutionellen und kulturellen Einbettung von Märkten ankomme.

Die strukturellen Grundlagen kapitalistischer Wettbewerbsgesellschaften legt Hartmut Rosa in seinem Beitrag aus soziologischer Perspektive dar. Ihm geht es vor allem darum, die Wachstums- und Veränderungszwänge, die der ka-pitalistischen Steigerungslogik eigen sind, als zentrale Triebfedern sozialer Be-schleunigung herauszuarbeiten. Tatsächlich ist Zeit Geld, so dass Zeit kommodi-fiziert wird. Damit verändern sich jedoch nicht nur die Produktionsprozesse und die Unternehmensführung, sondern unser aller Lebensführung – bis hin zu Poli-tik, Bildung und Kultur – wird davon in tiefgreifender Weise beeinflusst.

Den Begriff der Kommodifizierung – insbesondere im Kontext der moder-nen Wissensgesellschaft – greift auch Steve Fuller auf. Er fragt, ob dieser Pro-zess, der – nach Marx’schem Verständnis – jeden Eigenwert durch einen bloßen Preis, den Tauschwert, ersetzt, ein notwendiges Übel sei. Was aus kapitalismus-kritischer Sicht negativ konnotiert sei, könne schließlich auch als individuelle Freiheit des freiwilligen Tausches angesehen werden. Er prüft die Pro-Argu-mente, welche die Kommodifizierung als Förderin von Freiheit und Wissen er-scheinen lassen, stellt ihnen jedoch die übermächtigen negativen Konsequenzen der Kommodifizierung für die Wissensarbeit gegenüber.

Stephan A. Jansen stellt eine zentrale Grundfrage des kapitalistischen Sys-tems in den Mittelpunkt seines Plädoyers für einen mehrwertigen Kapitalismus: Wie ist der Wert eines Unternehmens angemessen und umfassend zu bewerten? Vor allem: Wovon hängt ab, was eine angemessene Bewertung ist und welche wirklich wertvollen Werte gehören zu einer kompletten Einschätzung? Neben dem Human- und dem Kundenkapital wird auch das intellektuelle und soziale Kapital in die Erörterung einbezogen, die jedoch vor allem auf die neu vorge-schlagene Kategorie des Haltungskapitals zusteuert: Die Werthaltungen, Einstel-lungen und sinnhaften Verankerungen der Unternehmensmitglieder bilden selbst einen gewichtigen Teil des Unternehmenswerts.

Das Autorenteam von Tobias Schulze-Cleven, Bartholomew Watson und John Zysman führt uns deutlich die Herausforderungen vor Augen, die für die hochentwickelten demokratischen Industrienationen samt ihren ausgeprägten wohlfahrtsstaatlichen Systemen mit den technologischen und politischen Verän-derungen der digitalen Ära verbunden sind. Der globale Wettbewerbsdruck er-fordert massive Anpassungsleistungen, wobei jedoch zumeist von einer Güter-abwägung zwischen sozialer Sicherung und flexibleren Märkten die Rede ist. Die Autoren beantworten ihre Frage „How wealthy nations can stay wealthy“, indem sie beide Aspekte miteinander verbinden: Für Wettbewerbserfolg ist Fle-xibilität und Anpassungsfähigkeit vonnöten, doch können intelligent geschnei-derte soziale Sicherungssysteme genau dies fördern.

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Die weltweiten Folgen der Immobilienkrise in den USA, die unter dem Jar-gonbegriff „subprime“ für schlechte Risiken bei Hypothekenverträgen bekannt wurde, sind bei weitem noch nicht abzusehen. Und wie kaum eine andere Krise steht sie als Inbegriff für die globalen Risiken und Krisenerscheinungen eines Finanzkapitalismus, der sich von der „Realwirtschaft“ bzw. der Produktion zu-nehmend entfernt. Reinhard Blomert beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den Hintergründen dieser Entwicklungen auf dem US-Hypothekenmarkt und vor al-lem mit den Weiterungen für die globale Wirtschaft, nämlich „wie aus der Im-mobilienkrise eine handfeste Wirtschaftskrise wird“.

Für die neuere wirtschaftspolitische Debatte waren sie selbst ein gefundenes Fressen: die „Heuschrecken“, so der Vorwurf, in ihrer dem globalen Kapitalis-mus angemessenen Erscheinungsform als Private-Equity-Gesellschaften. Heike Proff wendet sich diesem neuen Investoren-Typ zu, erklärt ihr grundlegendes Geschäftsmodell und zeigt anhand konkreter Fallbeispiele die ambivalenten Fol-gen ihres Wirkens auf. Nicht nur „Aussauger“, sondern auch verantwortungsbe-wusste Investoren und „disziplierende Akteure“ können sie sein. Vor allem sind sie jedoch keine schicksalhafte Naturgewalt, sondern eine naheliegende und rati-onale Konsequenz, wenn individuelle und institutionelle Anleger nach über-durchschnittliche Renditen verlangen.

Für Eckhard Schröter stehen die Verquickungen zwischen der kapitalisti-schen Wirtschaftsordnung und den modernen Ausprägungen der Staatlichkeit im Mittelpunkt. Der Blick ist somit auf eine Kernfrage der politischen Ökonomie, dem Verhältnis zwischen Staat und Markt gerichtet, wobei in seinem Beitrag in vergleichender transatlantischer Perspektive die Privatisierungspolitik in Deutschland und den USA analysiert wird. Dabei hebt er vor allem die politisch-kulturellen Prägemerkmale der Entstaatlichungsprogramme hervor und zeigt nicht nur gleichgerichtete Entwicklungen von Staat zu Markt, sondern auch ge-genläufige Trends auf.

Nico Stehr und Marian Adolf kritisieren an der konventionellen Analyse des kapitalistischen Marktgeschehens die einseitige Sicht auf den rational-ökono-mischen Akteur ebenso wie die systematische Überschätzung der Anbieter-Seite zu Lasten der Konsumenten. Ihr Gegenentwurf streicht die Moralisierung der Märkte heraus, die – vorangetrieben durch nachhaltige gesellschaftliche Verän-derungen, ja durch den Erfolg des kapitalistischen Marktes in modernen Wohlstandsgesellschaften selbst – eine neue Konsumentenmacht begründen und eine grundlegende Debatte um die ethischen Grundlagen und Folgen des Markt-handelns erfordert.

Migrationsströme verbinden in zunehmendem Maße unterschiedliche Kul-tur- und Wirtschaftsräume. Da – in Anlehnung an Pierre Bourdieu – nicht nur ökonomisches, sondern insbesondere auch kulturelles und soziales Kapital die

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Chancen der Machtausübung bedingen, stellt sich bei steigender globaler Mobili-tät immer drängender die Frage, bis zu welchem Grade sich unterschiedliche Ka-pitalien untereinander konvertieren und von einem Kulturraum in einen anderen übertragen lassen. Eben diesem Fragenkomplex gehen Annemarie Gronover und Gertraud Koch in ihrem Beitrag „Zur Übertragbarkeit von Kapitalien. Einsichten aus der Migrationsforschung“ nach.

Jacquelyne Luce greift an den Schnittpunkten der reproduktiven Medizin und der Stammzellenforschung zentrale Fragen an das Verständnis von Men-schenrechten und Forschungsregulierung auf. In verschiedener Hinsicht entsteht an diesen Schnittpunkten ein neuer Markt, in dem menschliche Eizellen zur Wa-re werden können. Den damit verbundenen kulturellen, sozialen und politischen Fragen geht die Autorin nach, wobei insbesondere die Bildung von „ethischem Kapital“ in den modernen Lebenswissenschaften betrachtet wird.

Um die Frage „Was ist Kapitalismus?“ dreht sich Katya Sanders gleichna-mige Filminstallation, mit der sich Karen van den Berg in ihrem Beitrag aus-einandersetzt. Dieser ist provokant mit einem Zitat aus Sanders Arbeit über-schrieben: „Capitalism doesn’t mean that much to me“. In ihrer Interpretation stellt van den Berg die politische Dimension dieser Kunstinstallation heraus und sieht den eigentlichen kritischen Stachel im Werk Sanders in dem durchdringen-den Hinweis auf die allgegenwärtige Beliebigkeit, zu der uns auch die ständige Selbstreflexion um unsere eigenen Standpunkte bringt. Damit fordere die Arbeit Katya Sanders von den Betrachtern etwas ein, was als Appell auch diesem Band zuzuschreiben wäre, sich nämlich neue Perspektivierungen zu erschließen, um die Relevanz des Kapitalismusbegriffs zu erschließen (so Karen van den Berg). Die Herausgeber können nur wünschen, dass es diesem Band in ähnlicher Weise gelingen möge, wie es der Arbeit von Katya Sander zugesprochen wurde: „dass ... dieser Appell gelingt, ohne belehrend zu werden.“

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Grundwerte des Kapitalismus. Klassische Konzepte und ihre Kritik

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Kapitalismus: Eine Theoriegeschichte bis heute

Alihan Kabalak und Birger P. Priddat

Kapitalismus ist eine seit dem 19. Jahrhundert dominante Form der Wirtschaft in der Gesellschaft, die sich erst aus dem Kontrast zu ihren Vorgängerformen erklä-ren lässt. Das soll im Folgenden geschehen.

Wirtschaft, als eigenständige Transaktionswelt, ist eine Konstruktion des 18. Jahrhunderts. Zuvor war sie, im Schatten der dominanten aristotelischen Tradition in Europa, in eine Trias mit Politik und Ethik eingebettet. Es gibt bis zum 17./18. Jahrhundert immer wieder Abhandlungen über einzelne ökonomische Tatbestände wie z.B. Techniken und Organisation des Ackerbaus, Steuern, Münzverschlechte-rungen und Geldmengenvariationen, Darlehens- und Kreditbetrachtungen (Wu-cherthematisierungen), Wertbestimmungsfragen bei eigentumsrechtlichen Pro-blemen etc., aber erst die neuzeitliche Naturrechtsphilosophie des 16./17. Jahrhunderts öffnet durch die Unterscheidung von status naturalis und status civi-lis den Zugang zu einer eigenen Beschreibung der Interaktionsmuster der moder-nen Gesellschaft – bei Hobbes und Locke über die Eigentum/Arbeit/Geld-Mechanismen im expliziten Bruch mit der aristotelischen Tradition.

Die aristotelische Tradition dominiert das ökonomische Denken bis in die Neu-zeit – die scholastischen Kommentare variieren das Thema, nuancieren die Kre-dit/Wucherfrage, kommen aber zu keinem eigenständigen Konzept. So bleibt das Muster der aristotelischen ökonomischen Konzeption im strengen Sinne die einzige theoretische Basis. Erst Adam Smith markiert den Wendepunkt zu einer neuen Theo-rie der Wirtschaft, die Ende des 19. Jahrhunderts in ein Effizienz-Allokations-Schema überführt wird, mit vielen Vorarbeiten, z.B. den physiokratischen.

1 Das europäische Basismodell: aristotelische Ökonomik Die aristotelische Politik ist eine Theorie des städtischen Zusammenlebens. Städte sind durch extreme Mischungen von Eigentumsverhältnissen charakterisiert. In-dem Aristoteles die Qualitäten der verschiedenen Verfassungsformen untersucht, untersucht er zugleich die Wirkungen verschiedener Eigentumsverhältnisse für die Qualität des Zusammenlebens: welche Ordnungen sie bilden, welche Stabilität diese Ordnungen haben. Das Eigentum bildet eine zentrale Kategorie: Nur die – meistens adeligen – Eigentümer sind in der Lage, ein Leben für die Politik zu füh-

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ren. Wer für sein Leben arbeiten muss, hat keine Zeit für die Politik. Ihm fehlt die Muße, sich in Gesprächen und Erörterungen Standpunkte und Urteilsfähigkeit zu bilden. Eigentum ist Landeigentum. Die aristotelische Ökonomie ist von einer adeligen, aristokratischen Grundeinstellung getragen. Wer Eigentum hat (und Sklaven, die das eigene Land bearbeiten), ist reich; und nur die Reichen sind fähig zur Politik. Aus dieser Perspektive ist der Handel eine Institution, der die politi-sche Macht der adeligen Immobilienbesitzer durch Reichtum aus Mobilien poten-tiell gefährdet. Händler sind meistens Nicht-Bürger (Metöken, Fremde). Wer han-delt, kauft irgendwo Waren ein, um sie an einem anderen Ort wieder zu ver-kaufen. Beim Handel – meist Fern- und damit Seehandel – gibt es, so Aristoteles, keine natürliche Begrenzung. Diese Unbegrenztheit des Handels stört die Ord-nung der Polis/Stadt. Worin besteht die natürliche Ordnung? Sie besteht darin, dass man – im oikos – etwas produziert oder erwirbt, um es zu gebrauchen. Für das, was man durchschnittlich braucht, gibt es gesellschaftliche Maße und Ge-wohnheiten. Eine solche Ökonomie nennt Aristoteles „natürlich“. Alles, was dar-über hinausgeht, ist tendenziell „unnatürlich“, so vor allem der Handel.

Die Begründung ist keine ökonomische im modernen Sinne, sondern eine metaphysisch-philosophische. Jede Ordnung hat ein Ziel, das Grenzen setzt. Alles Unbegrenzte ist ziellos und stört daher die Ordnung. Das Handeln um des Handelns willen ist unbegrenzt, d.h. keinem endlichen Ziel verpflichtet. Dem Handel fehlt das Maß. Diese Theorie der Ökonomie ist zugleich eine ethische Theorie. Nicht ein Übermaß an „Reichtum“ oder Besitz ist unethisch, sondern seine tugendlose Verwendung. Wer „reich“ ist, hat seinen Reichtum in Aus-übung der Tugend der Freigebigkeit öffentlich zu verwenden (mit der Konse-quenz, dass der Tugendgebildete Mäßigung im Erwerb betreibt, da zwischen Reichtumserwerb und Tugendausbildung Entscheidungskonflikte entstehen, die nur nach der Seite des Erwerbs „innerer“ Güter moralisch einwandfrei zu lösen sind). Die gleiche Argumentation gilt für das Geld. Als Medium des natürlichen Tausches ist Geld ein nützliches Werkzeug. Wenn Geld aber als Kredit vergeben wird, auf den Zins zu zahlen ist, fehlt wieder die natürliche Grenze. Zinszahlun-gen nennt Aristoteles Wucher.

Die Liste der ordnungsgemäßen ökonomischen Aktivitäten lautet: Acker-bau, Handwerk, Handeln im kleinen Maßstab, Krieg. Die Liste der unzulässigen ökonomischen Aktivitäten lautet: Handel im großen Maßstab, Zinsnahme auf Geld (Kredit). Die Generalunterscheidung der Wirtschaft lautet: natürliche ge-genüber unnatürlicher Wirtschaft. Der Grund für diese Art von Analyse lautet: Tausch im kleinen, regionalen und städtischen Umkreis ist Austausch von natür-lichen Überschüssen. Dieser Tauschmarkt lässt die Eigentumsverhältnisse unbe-

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rührt. Die Struktur der Eigentumsverhältnisse ist identisch mit der Ordnung der Polis/der Gesellschaft. Alle Tauschaktionen, die die Eigentumsverhältnisse ver-ändern – ausgenommen sind allein der Reichtum durch Verkauf von Überschüs-sen aus der Agrarproduktion, der als natürlicher Reichtum gilt –, gefährden den Zusammenhalt der Gesellschaft, der als Erhalt der geltenden Eigentumsstruktu-ren verstanden wird. Folglich ist die Analyse der Wirtschaft nur soweit nötig, wie sie die Frage der Stabilität der politischen Ordnung berührt; der Rest be-schränkt sich auf technische und organisatorische Fragen.

2 Die christliche Variante des Basismodells: Caritas-Ökonomik Das aristotelische Modell wird zur europäischen Basiskonzeption der Ökonomie. Im Mittelalter gab es eine Rechtsliteratur, die ökonomische Probleme rechtlich analysierte (insbesondere Preisgerechtigkeitsfragen, Schuld- und Kreditverhält-nisse etc.) und christlich-theologische Kommentare zu Aristoteles. Hier ent-wickelte sich eine Variante, die man Caritas- oder Barmherzigkeitsökonomie nennen kann. Die mittelalterliche caritas-Definition Thomas von Aquins über-nimmt im Grundsatz Aristoteles’ Einschätzung, wandelt sie aber christlich ab: (1) Jeder Christ hat Anspruch auf das Lebensnotwendige (extrema necessitas). (2) Jeder hat aber auch Anspruch auf ein standesgemäßes Auskommen (necessa-rium). (3) Folglich hat jeder das Einkommen, das über das standesgemäß not-wendige hinausgeht (superfluum ‚Überfluss‘), denen zu geben, die das Lebens-notwendige nicht erhalten (caritas).

Die mittelalterliche Gesellschaft in Europa ist eine Ständegesellschaft. Die Anerkennung der gesellschaftlichen Vorbewertung der verschiedenen persön-lichen Stände schließt Gleichverteilung aus. Wer den superfluum (Überfluss) für sich behält, ist der Habsucht (avaritia, pleonexia) zu bezichtigen. Das ist noch ganz aristotelische Lesart. Zum standesgemäßen Auskommen kann, je nach Stand, großer Reichtum zählen.

Die dem mittelalterlichen Caritas-Modell zugrundeliegende Ökonomie muss nicht von vornherein stationär sein; Produktivitätszuwächse kann sie nach ihrer Verteilungsformel (der iustitia distributiva) christlich nutzen, ohne die Idee einer ökonomischen Allokation entwickeln zu müssen, d.h. einer effizienten Zuordnung von Leistungen und Faktoren zum Gesamtergebnis. Die thomasische caritas (und ihre vielen Varianten) beschränkt sich auf eine Distributionsformel, die keine Rückwirkungen auf die Produktivität der Wirtschaft hat oder bewirken will. Der Stand der „Armen“ erhält sein Einkommen aus kontinuierlich/diskontinuierlichen Almosen. Die Steuerung läuft über das aktivierte Gewissen:

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Da die Einhaltung der caritas-Norm das „innere“ Gut, tugendhaft und Christ zu sein, mitproduziert, kann man von einem ethischen Allokationsprozess reden, der die angemessene Zuordnung zwischen „äußeren“ und „inneren“ Gütern zu treffen hat. Diese „ethische Allokation“ unterscheidet sich von der ökonomi-schen durch ihre spezifische Asymmetrie der Handlungskompetenzen: Der pas-siven Handlung des Almosen-Nehmens durch die Armen steht die aktive des ethisch freien Entscheids des Gebens der Reichen gegenüber. Was die Reichen aus „Schuld“ distribuieren sollen, haben die Armen in Dankbarkeit zu nehmen. In diesem Sinne „schulden“ die Reichen den Armen das, was Gott ihnen in sei-ner Gnade geschenkt hat. Caritas ist eine Art Durchreichung des Reichtums als Geschenk Gottes. Wer barmherzig ist, erweist sich der Gnade Gottes als würdig.

Die „protestantische Ethik“ ist – unabhängig von der Debatte über die Reichweite ihres historischen Einflusses – ein Sondermodell dieser ethischen Allokation, die die äußeren Güter mehrt, um die inneren zu erlangen (gleichsam eine asketische Prüfung, trotz Reichtums „arm vor Gott“ zu bleiben). Der erwor-bene Reichtum ist entweder gleichfalls nach dem caritas-Modell zu distribuieren oder – das ist der von M. Weber registrierte Übergang zur modernen Kapital-theorie – durch Investition, die Beschäftigung und Einkommen schafft, an die Armen zu verteilen. Die Armen erscheinen fortan nicht mehr als Almosen-empfänger, sondern als abhängig Beschäftigte, deren Leistungsbereitschaft not-falls durch die Bildungsanstalt des Arbeits-Zucht-Hauses zu fördern sei.

Noch werden die Zinsen auf das investierte Kapital im Himmel ausgezahlt, aber als Nebeneffekt entsteht ein modifiziertes caritas-Modell, das die Verteilung der Almosen nicht mehr von der Tugend der barmherzigen Spender abhängig macht, sondern in ihrem ökonomischen Handeln von selbst mitbesorgt. Die Ar-men werden gegen Lohn beschäftigt und nicht mehr mit Sozialtransfers bedacht. Distribution und Allokation fallen tendenziell zusammen. Die göttlichen Res-sourcen werden nicht mehr unabhängig von der – individuell verschiedenen – Leistungsfähigkeit alloziert. Die andere Folge ist, dass die caritas-Liebe nunmehr vollständig privat wird, nur noch (protestantisch) dem Gewissen folgt, ohne sich gesellschaftlichen Anforderungen stellen zu müssen, die jetzt an das ökonomische System delegiert werden.

3 Die Transformation: Extension und Mobilisierung des Eigentums durch Arbeit: John Locke – Ökonomie anstelle von Ethik

Einen entscheidenden Schritt zur Transformation der Caritas-Ökonomie in die spätere „klassische“ Political Economy leistet John Lockes Arbeit/Eigentum-

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Regel. Der Status beider – der Reichen wie der Armen –wird an ihre Leistungs-fähigkeit gebunden. Folglich wendet sich Locke ausdrücklich gegen die Caritas (charity), wenn sie die Leistungen nicht gerecht berücksichtige (justice-Aspekt). Beide – justice wie charity – sind gottgefällige Handlungen, die aus dem Über-fluss, dem Reichtum, erfolgen; aber charity wird auf den Fall äußerster Not re-duziert. Der Normalfall ist der Lohn als Entgelt für den Fleiß (industry) der Arbeit. Der Überfluss (superfluum, bei Locke overplus) bleibt bestehen, wandelt aber seinen Charakter: Er wird nicht mehr selbstverständlich an Arbeitslose ver-teilt, sondern nach dem strengen Kriterium der Arbeitsleistung. Lockes berühmte Arbeit/Eigentum-Relation lautet: Eigentum wird nur durch Arbeit legitimiert.

Nicht mehr der Mensch als bloßer Christ, sondern nur der, der – als tätiger Christ – arbeitet, hat Ansprüche auf das superfluum. Die menschliche Würde ist kein Maß mehr an und für sich, sondern gebunden an die Kompetenz der Arbeit, die eine doppelte Bedeutung erhält: zum einen als Mit-Arbeit am göttlichen Schöpfungsplan der Vollendung der Erdenherrschaft der mit Vernunft ausge-zeichneten Geschöpfe, zum anderen als tätige Selbsterhaltung durch Arbeit. Da-mit sind neue Maßstäbe aufgestellt: Wer arbeitet, schafft Eigentum. Die Armen erscheinen als Kooperateure, die das superfluum der Reichen, d.h. der Eigen-tümer, mitschaffen, das ihnen aber jetzt als Einkommen für ihre Arbeit zufließt. Die Ökonomie enthält eine produktionstheoretische Basis. Das superfluum ist bei Locke kein Abzug vom Konsum der Reichen, sondern fast ausschließlich Inves-tition in Lohnarbeit. Die Lohninvestition ersetzt das Almosen durch die entgolte-ne Arbeitsleistung. Der Überfluss (superfluum/overplus) ist, im Gegensatz zu Thomas von Aquin, kein Verteilungs-, sondern ein Investitionsfonds. Damit wird die moralische Entscheidung der Reichen, zwischen Standesgemäßheit ihres Konsums und karitativem Almosentransfer das richtige Maß zu finden, in eine ökonomische verwandelt, die die Höhe der Investition in Beschäftigung nach dem erwarteten Gewinn aus der Arbeit bemisst.

Auch der Gebrauch des Geldeigentums aus Gewinnen unterliegt der Eigen-tum/Arbeit-Regel. Das Geld soll nicht als Schatz gehortet (hoarding, idle mo-ney), sondern tätig in Umlauf gebracht werden: durch reale oder Geldinvestition. Im ersten Fall tätigt man den Gebrauch selbst, im zweiten gibt man anderen die Gebrauchsgelegenheit. Folglich muss der Zins sich frei bilden können, damit das Geldangebot die verschiedenen Gewinnchancen bedienen kann, welche weder eine Zinspolitik noch der Geldverleiher überblicken kann.

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4 Der Beginn der Ökonomik als eigenständiges gesellschaftliches System: Adam Smiths Kapitalismus

Smith entwirft nicht nur das Grundmuster moderner Ökonomie – damit ist die aristotelische Basis endgültig aufgegeben –, sondern zieht Konsequenzen aus der Vorarbeit von John Locke und anderen. Das superfluum der mittelalterlichen caritas- oder Barmherzigkeitsökonomie und der overplus Lockes werden zum Profit-Einkommen des Unternehmers. Der Besitzer des Kapitals spart den Teil vom Gewinn, den er nicht konsumiert. Sparen heißt bei Smith Investieren. Was bei Locke unter den Zwischenbegriffen „Arbeit, Eigentum, overplus“ usw. ver-handelt wird, wird bei Smith in Kapital, Lohnarbeit, Profit etc. konkretisiert.

Neu ist Smiths Definition eines „Arbeitsmarktes“, der nicht den Überfluss (overplus bei Locke) unmittelbar in Arbeit umsetzt, sondern zusätzliche Bedin-gungen nennt. Die Nachfrage nach Lohnarbeitern ist abhängig vom investierten Kapital im Verhältnis zur Lohnhöhe. Der Lohn definiert den Lebensstandard der Arbeiter. Hohe Löhne verleiten sie zu vermehrter Kinderproduktion, welche langfristig das Arbeitsangebot erhöht, so dass, bei konstanter Arbeitsnachfrage, die Löhne sinken. Damit reduziert sich die Erhaltungsmöglichkeit größerer Kin-derzeugungen, das Arbeitsangebot geht zurück und langfristig erhöht sich – in einer Wachstumsökonomie – wieder die Nachfrage nach Arbeit, die bei man-gelndem Angebot die Löhne steigen lässt et vice versa.

Smiths Ökonomie ist eine Kapital-Akkumulationsökonomie. Nur wenn der Gewinn aus vergangener Kapitalinvestition reinvestiert wird, steigt die Beschäf-tigungsnachfrage. Smiths Sparen-Investieren-Bedingung ist eine Verhaltens-regel, die zu beschreiben sucht, dass die Tendenz der Kapitaleigner zum Luxus kontraproduktiv ist. Den Kapitaleignern steht es frei, ihren Gewinn ostentativ zu konsumieren oder zu reinvestieren. Aber nur wenn sie investieren, um Gewinne zu machen, können sie ihr Kapital langfristig erhalten. Ostentativer Gegenwarts-konsum (Luxus) begrenzt die Möglichkeiten des Zukunftskonsums. Die Luxus-Frage ist keine moralische mehr, sondern eine ökonomische Frage der effizienten Allokation. Damit ist auch das Gewinnstreben keine eitle Pleonexie/Habsucht, wie die Tradition der Moralphilosophie lehrt, sondern ein „natural interest“, d.h. ein natürliches Verhalten zur Selbsterhaltung des Kapitaleigners, das im Alloka-tionsnexus der arbeitsteiligen Produktion die Miterhaltung der anderen – Kapi-taleigner wie Lohnabhängige – reproduziert. Die Ökonomie heißt bei Smith ein „natural system of liberty“.

Der Fortschritt dieser Sichtweise liegt einzig darin, dass die Gesamt- bzw. Luxus-Nachfrage der Reichen nicht nur die traditionellen Agrarprodukte um-fasst, sondern auch die Industrie- und Manufakturerzeugnisse, inklusive derjeni-

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gen fremder Produktion, die durch den Handel besorgt wird. Damit ist zwar die caritas-Ökonomie aufgehoben, aber die Kapitalwirtschaft noch nicht erfasst. Smith geht innerhalb dieser Linie einen entscheidenden Schritt weiter: Der cari-tative Überschuss (superfluum) dient dem Almosentransfer an die Armen, das Smithsche Sparen der Investition in Beschäftigung, woraus die ehemals Armen ihr Arbeitseinkommen beziehen. Der gravierende Unterschied besteht darin, dass das Sparen, durch die Sparen-Investieren-Bedingung, eine ökonomische Deter-minante darstellt, der keine freie moralische Entscheidung mehr innewohnt. Die Kapitalisten, die ihren Gewinn allein oder hauptsächlich für den (Luxus-) Konsum ausgeben, können nicht weiter investieren. Dadurch entsteht ein Un-gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt. Denn jeder Luxuskonsum ist im Smith-schen Modell ein Investitionsmangel, der sich in sinkender Nachfrage nach Arbeit ausdrückt. Bei einer zunehmenden Tendenz der Reichen zum Luxus nimmt die Beschäftigungssteigerung bzw. die Beschäftigung überhaupt ab, so dass wieder Arme, d.h. Arbeitslose, entstehen.

Smith sah im Wettbewerbsprinzip des Marktes ein Korrektiv gegen den Hang zum Luxus der Reichen bzw. Kapitalisten. Der Wettbewerb erzeugt einen Durchschnittsprofit, der es den Kapitaleignern nicht gestattet, ihrem Hang zum Luxus nachzugehen, da ihre Gewinne auf die Dauer auf einen Durchschnittsprofit aller am Markt Beteiligten sinken werden. Um ihren Konsum zu sichern und um ihr Kapital zu erhalten, müssen sie ständig reinvestieren. Die Marktallokation kor-rigiert von selbst die ihr unterstellten Exzesse (durch eine „invisible hand“). Die Aufhebung der Armut ist jetzt schließlich ein Investitionsproblem geworden, d.h. genauer: ein Problem der Akkumulationsbedingungen des Kapitals. Wir haben es bei der Einführung des „Kapitalismus“, wie dieses System dann im 19. Jahrhun-dert genannt wurde, mit einem Umverteilungssystem zu tun, das die automa-tischen Renten des Adels in leistungsgerechte Profite der Bürger transformierte.

Doch sind in Smiths Ökonomie zwei normative Bedingungen enthalten: 1. die Sparen-Investieren-Bedingung, die verlangt, dass die Kapitaleigner ihren Sparfonds in Investition umsetzen; 2. die Arbeitsangebot=Arbeitsnachfrage-Bedingung, die festlegt, dass die Arbeiter das Arbeitsangebot selbst, durch die Reduktion ihrer Kinderproduktion, steuern. Wenn die Wachstumsrate der (effek-tiven, d.h. unter Außerachtlassung der Kindersterblichkeit) Kindererzeugung un-terhalb der Wachstumsrate der Reichtumserzeugung bleibt, kann es kein Über-angebot an Arbeitskräften geben und folglich steigt der Lohn proportional zum Wachstum des Sozialprodukts.

Während der Kapitalist zwischen dem ökonomischen Risiko, den erwarte-ten Profit nicht zu realisieren, und zwischen dem moralischen Risiko, zu wenig

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zu investieren (d.h. zuviel zu konsumieren bzw. zu verschwenden) steht, sind die Arbeiter bei hoher Kinderzeugung dem „moral hazard“ ausgesetzt, ein Überan-gebot an Arbeitskräften zu produzieren, das den Kapitalakkumulationsmöglich-keiten nicht angemessen ist und folglich die Geldlöhne senkt. Damit werden die Arbeiter zu einer höheren Moral gezwungen, die sie freiwillig nicht auf sich ge-nommen hätten: ihre Fertilitätsrate – aus Eigeninteresse – zu senken, damit die Löhne wieder steigen.

In diesem Sinne ist die Political Economy eine „moral science“, indem sie die älteren Sitten und wirtschaftlichen Verhaltensweisen in neue „moral stan-dards“ überführt, d.h. in eine Verhaltensrationalität, die nicht mehr den ge-schichtlich ausgeprägten Tugenden folgt, sondern den neuen Allokationsbedin-gungen. In der Unterscheidung zwischen „Reichtum“ (wealth) und „Tugend“ (virtue) entscheidet Smith sich für den Reichtum. Im Vergleich zu dem tugend-haften, aber armen Leben der Wilden bzw. des Naturzustandes bietet der zivili-sierte Zustand der „commercial society“ ein wohlhabenderes Leben, das aller-dings auf Kosten der Gerechtigkeit geht: Die Einkommensdifferenzen bleiben bestehen, lösen sich im Wachstumsprozess der später von Smith entwickelten Kapital-Akkumulation auch nicht auf, aber der „wealth of nations“ erhöht sich und lässt alle proportional daran teilhaben. Die Armut im Smithschen System ist mit der Armut der caritas-Ökonomie nicht mehr vergleichbar. „Arm“ und „reich“ bezeichnet jetzt Einkommensniveauunterschiede, nicht mehr die Differenz von Einkommen und Nichteinkommen.

In der Wachstumslösung findet Smiths Ökonomie ihre moralische Rechtfer-tigung für den Prozess der freien Marktallokation: denn erst das effektive Wachstum des „wealth of nations“ erlaubt Verteilungslösungen, die zwar von der caritas-Ökonomie immer beansprucht, aber subeffizient ausgeführt wurden. Am Anspruchsniveau der älteren Moral gemessen ist die Smithsche Ökonomie die Einleitung in jene „moral science“, die nicht nur verspricht, die moralischen Bedürfnisse historisch erstmals zu befriedigen, sondern auch beginnt, sie zu rea-lisieren. Das ist ihre neue Legitimation, die sie aus den alten Spannungen der aristotelischen Skepsis heraushebt. Sie erzeugt fortan ihre eigenen Spannungen, die seit dem 19. Jahrhundert „die soziale Frage“ heißen und durch die Legalisie-rung der Gewerkschaften als Tarifpartner, durch modernes Arbeitsrecht und So-zialpolitik (inklusive sozialer Versicherungen) reguliert wurden.

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5 Kapitalismus als politische Ökonomie Ökonomie, so darf erinnert werden, trat seit dem 18. Jahrhundert als Political Economy auf, d.h. als Theorie der bürgerlichen Emanzipation aus der Hierar-chiebeziehung Adel/Bürger – bezüglich der Eigentumsrechte. Folglich wurden die Akteure als für ihr Eigentum selbständig entscheidungsfähige Individuen konstruiert, d.h. ebenso entscheidungsfähig by rationality, wie der Adel es by authority war. Diese liberale Umordnung der Gesellschaft ersetzte den Vorrang ständischer Grenzen, an denen sich ökonomische Aktivität vormals auszurichten hatte, durch das wirtschaftseigene Kriterium für Handlungsfähigkeit und -auto-risation: die individuelle Kapazität, Produktion und Umsatz von Waren voranzu-treiben. Mit solch einer Umstellung von „primär stratifikatorischer“ zu „primär funktionaler Differenzierung“ (Luhmann 2001) – wenn sie in Reinform stattfin-det – emanzipiert sich nicht nur das leistungsfähige und kapitalbesitzende Indi-viduum (ungeachtet seiner Herkunft), sondern auch der Markt als autonomer Allokationsmechanismus für Leistung und Kapital von der Beherrschung durch marktfremde Kriterien. Die gesellschaftspolitische Implikation des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit einer autonomen – und „total-inkludierenden“ – Markt-logik äußert sich in der Maxime, Ausgeschlossene nicht durch Almosen am Leben, aber ausgeschlossen, zu halten, sondern sie durch Arbeit einzuschließen. Zudem gilt es, den (An-)Forderungen der kapitalistischen Organisationen ent-gegenzukommen, um eine wachsende Nachfrage nach Arbeit sicherzustellen.

Dass sich so die Gesellschaftspolitik – der Staat – an die Marktlogik anpass-te, obwohl die wirtschaftliche Inklusion die Arbeiterschaft am Leben, aber weit-gehend arm – kapitallos – hielt, ließ das Misstrauen aufkeimen, dass sich die Wirtschaft nicht bloß von der Politik emanzipiert, sondern sie zu beherrschen begonnen habe. Solange man mit Arbeit zwar an Geld für Konsumgüter, aber nicht an Kapital für Investition kam, war die Arbeiterschaft zwar in die kapitalis-tische Ökonomie inkludiert; der Zugang zu Kapital war aber immer noch eine Frage der Erbfolge im Elitennetzwerk – und damit politisch gesteuert.

Die bürgerliche oder Political Economy war – als bürgerliche Emanzipati-onsbewegung – natürlich ein Kommunikationszusammenhang (gerade auch we-gen ihrer Novität im 18. Jahrhundert), der bei Smith aber im Markt, d.h. im sys-tem of natural liberty, verschwindet, um desto heftiger im political system wieder aufzutreten. Political Economy ist ein Name für eine Verzweigung der Kommunikationen, zumindest in den Theorien: Auf den Märkten minimalisiert die Kommunikation, weil sie durch Konkurrenzautomatismen übernommen wird, die als einfache Informations- und Signalsysteme arbeiten. Der Code ist übersichtlich und hochstandardisiert und daher äußerst steuerungswirksam und

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ordnungsbildend. Wo die Marktlogik funktioniert, gilt weitere Kommunikation als überflüssig bis schädlich. Der Überschuss an Erörterung und Diskurs, der einer bürgerlichen Gesellschaft eigen ist, wird im parlamentarischen System der zwei Kammern und Oppositionen und Parteien reguliert: im Rahmen einer Kon-zeption politischer Öffentlichkeit. Was der Markt nicht von selbst klärt – und nur das – wird im politischen System hochgradig erörtert und kommuniziert. Folg-lich wird die Wirtschafts-Politik in Marktwirtschaftgesellschaften über market failure begründet: Sie kompensiert, was Märkte nicht sui generis leisten, by communication und öffentlicher Gutsproduktion. Die private Wirtschaft wird um eine staatliche oder öffentliche ergänzt, die dort installiert wird, wo „der Markt“ an seinen eigenen Normen scheitert („Effizienz“ vs. mangelnde Angebotskon-kurrenz, Inklusion aller Leistungsfähigen vs. Arbeitslosigkeit).

Doch täuscht diese Verzweigungskonzeption. Die Kommunikation, die in die Sphäre der Politik verschoben wurde (vgl. die Konzeption der Öffentlichkeit z.B. bei J.St. Mill), blieb in der Sphäre der Märkte weiterhin präsent, wenn auch „juridisch verdeckt“: Die Kommunikationen zeigen sich im Vorfeld z.T. auf-wendiger Besprechungen von Vertragsbildungen bzw. von Regelanwendungen. Contract making kommuniziert in juridischer Semantik, weshalb Ökonomen „nichts hören“. Aber Verträge, vornehmlich solche nicht-standardisierter Art, sind zum Teil extrem aufwendige Kommunikationen und umfassen etliche Run-den; was bei due diligence-Kommunikationen bei Merger-Prozessen selbstver-ständlich ist, gilt ebenso für viele Vertragsverhandlungen im B2B-Bereich. Aber auch Konsumententransaktionen wie Auto-, Haus, Möbelkäufe etc. sind kom-munikationsaufwendig. Es wird übersehen, dass selbst in den scheinbar hoch-standardisierten Transaktionssituationen Kommunikationen mitarbeiten, die die Neutralisation der Märkte gegenüber der Kommunikation neutralisieren: Märkte sind kommunikationsgesteuert; die Inklusion der Märkte in Märkte als Märkte gelingt nur unvollkommen.

Denn die zu wählenden Alternativen auf Märkten sind, bei genauerer Be-trachtung, keine Güter, sondern Transaktionsoptionen. Oder noch anders ausge-drückt: Hinter den Gütern, die man wählt, stehen Besitzer, die man zuerst errei-chen („Zugang“) und dann davon überzeugen muss, dass sie ihre Güter in effektive Transaktionen zu geben bereit sind. Die Subjekt/Objekt-Relation, als die die rational choice scheinbar eingeführt wird, erweist sich als social relation: als Subjekt/Subjekt-Verhandlung über eine Transaktion Ware/Geld oder umge-kehrt. Transaktion ist wesentlich Kommunikation, erst final eine Entscheidung.

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6 Die moderne Ökonomik als Allokations-Effizienz-Modell der Wirtschaft

Wenn man die historische Schule der Ökonomie des 19. Jahrhunderts beiseite lässt – sie war eine spezifisch deutsche Epochenerscheinung der institutionellen Interpretation wirtschaftlicher Entwicklung –, bildet sich Ende des 19. Jahrhun-derts das neue Basismodell moderner Ökonomik heraus: die Gleichgewichtsöko-nomie, gepaart mit der Grenznutzentheorie. Die alte Entwicklungslinie der Öko-nomik (1-4) bricht ab, auch die Smithsche Topik, und wird gegen einen neuen Argumentationstypus eingetauscht, der sich in seinen mathematischen Varianten an naturwissenschaftlichen Theorieidealen des 19. Jahrhunderts orientiert. Auffäl-lig ist die Umstellung der Werttheorie von einer Arbeitswert- und Produktions-kostentheorie auf eine Nutzentheorie der Güterbewertung, die auf einer „Theorie der Bedürfnisse“ basiert (schon früh im 19. Jahrhundert entfaltet, zum Teil durch den Einfluss der utilitaristischen Sozialphilosophie, zum Teil durch epikureische und stoische Einflüsse). Der Wert der Güter war nicht mehr durch Wertimputa-tion, sondern durch marktliche Bewertung definiert: Der Tauschwert wurde durch den Gebrauchswert auf den Märkten ermittelt, mit abnehmendem Grenznutzen bei zunehmender Menge. Bei Carl Menger heißt der Wert konsequent „Bedeu-tung“, bei Jevons „utility“. Die letztere Lesart hat sich durchgesetzt.

Der Wert der Produktion bestimmt sich letztendlich durch zahlungsfähige Nachfrage. Walras, ein Schweizer Ingenieur, entwirft die Wirtschaft als Gleich-gewichtsmodell: Über einen unbestimmten Prozess der Probierung vieler mög-licher Austauschbeziehungen (tâtonnement) entwickelt sich ein Zustand, in dem alle Akteure (Produzenten, Konsumenten bzw. Anbieter, Nachfrager) eine end-gültige Entscheidung darüber getroffen haben, welche Güter sie tauschen, zugleich auch, zu welchen Mengen/Preis-Relationen. Wenn alle Akteure irrever-sibel behaupten können, dass sie diese und keine anderen Tauschrelationen ein-gehen wollen, ist der Markt geklärt und befindet sich im Gleichgewicht. In die-sem Optimum lassen sich für niemanden bessere Tauschrelationen erreichen. Damit ist ein Referenzmaß erlangt, von dem aus suboptimale Zustände beurteilt werden können. Die Ökonomik wird zu einer Wissenschaft der Effizienzanalyse und -beratung der Wirtschaft und der Politik.

Die auffällige Transformation der Theorie ist an Folgendem sichtbar: Sie argumentiert nicht mehr soziologisch-politisch, d.h. nicht mehr in Einkommens-klassen (Lohn, Profit, Rente), sondern, über verschiedene Übergänge, in indivi-duell frei bestimmbaren Nutzenkategorien. Damit öffnet sich die Ökonomie jeder Bewertung: Was im 19. Jahrhundert noch bereichsontologisch „der Wirt-schaft“ zugeschlagen wurde, öffnet sich im 20. Jahrhundert jedem sozialen

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Zustand. Es gibt keine „rein wirtschaftlichen Objekte“ mehr, sondern Ökonomik definiert sich über die Fähigkeit von Akteuren, Bewertungen von beliebigen Ob-jekten und Beziehungen vorzunehmen und sie in Markttransaktionen zu überfüh-ren, d.h. zahlungsfähig zu machen. Die Ökonomik wird zu einer Entscheidungs-logik (was voraussetzt, dass jederzeit Entscheidbarkeiten hergestellt werden können: eine heroische Voraussetzung, die auch durch Risikobewertungen nicht sicherer wird).

Zugleich hat sie sich zu einer Systemtheorie entwickelt. Die Akteure sind Operatoren, die sich durch eindeutige Entscheidungen auszeichnen. Die Ökono-mie wird auf „rational choice“ basiert. Entscheidungen sind finite Wahlakte aus einer gegebenen Menge von Alternativen. Rational werden diese Entscheidungen durch die Zuschreibung, eine der Alternativen sei die beste. Was der „rational actor“ subjektiv als die für ihn „beste Alternative“ bestimmt, definiert, über die Menge aller Akteure, den Gleichgewichtszustand des Systems. Würde nur ein Akteur sagen können, dass er seine Entscheidung bereut und sie revidieren wür-de, wäre kein allgemeines Gleichgewicht erreichbar.

Im Zustand ihrer irreversiblen Entscheidung, diese und keine andere Alterna-tive sei die beste, sind alle Akteure gleich, auch wenn sie völlig verschiedene Transaktionsvolumina bewegen. Das Gleichheitspostulat wird durch ein Pare-tokriterium gesichert, das – in Anlehnung an das neminem ledere des römischen Rechtes – alle diejenigen Änderungen des Systemzustands als suboptimal verwirft (paretoineffizient), die nur einen Akteur schlechter stellen als andere, ganz gleich, wie viele besser gestellt werden. Alle Akteure müssen die Freiheit haben, rational entscheiden zu können – aber auch die Fähigkeit dazu selbst verantworten. Pare-toinsuffizienzen sind der Arbeitsbereich von Wirtschafts- und Ordnungspolitik. Wirtschaftspolitik stellt in diesem Sinne Bedingungen her, die die Effizienz der allgemeinen Gleichgewichte zulassen. Die Norm, die die moderne Ökonomik be-vorzugt, ist Bewertungsfreiheit auf Grundlage informationaler Transparenz. Da-mit ist der Marktzutritt gleich, wenn auch die Resultate hoch different sein kön-nen. Moderne Ökonomik ist zugangsdemokratisch, aber leistungsdifferent.

Die Funktionsweise des Wirtschafts- bzw. Markt-Systems bleibt im Allge-meinen der Walrasischen Vorstellung verpflichtet. Es dient der nachgängigen Koordination längst feststehender subjektiver Nutzenvorstellungen und objekti-ver Produktionsbedingungen. Die Koordination erfolgt sowohl zwischen Ange-bot und Nachfrage, als auch zwischen den Akteuren der beiden Marktseiten und überführt deren Fähigkeiten und Bereitschaften in tatsächliche Transaktionen. Dieses Abstimmungs-System verlangt, weil der Anwendungsbereich seiner Me-chanik offen ist, nicht unerhebliche Vorklärungen durch die Akteure selbst. Sie

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müssen ihre Produktionsmöglichkeiten (Technologie, Ressourcen) schon vorher bestimmt und ihre Nutzenvorstellungen für sich geklärt haben. Sie stellen irgendwie sicher, dass Angebot und Nachfrage mit einem einheitlichen Satz in Frage kommender Güter arbeiten und im Markt nun nur noch die zu handelnden Preise und Mengen zu bestimmen sind.

Trotz der Freiheit der persönlichen Nutzendefinition verlangt der Mecha-nismus „stimmige“ Wertzuschreibungen – d.h. transitive, vollständige, temporär fixierte usw. Präferenzrelationen, die rationales Entscheiden ermöglichen. Das System selbst ist nicht in der Lage, „Rationalität“ und stimmige Präferenzen her-zustellen, und verlangt sie daher als „Input“, um effizient mit ihnen arbeiten zu können. Ansonsten drohen nicht einfach nur „ineffiziente“ Allokationen – wenn die persönlichen Wünsche und die darauf abgestimmten Entscheidungen den formalen Minimalkriterien der Rationalität nicht genügen, lässt sich eine „effi-ziente Allokation“ gar nicht erst bestimmen. Je klarer diese Anforderung effi-zienter Märkte wird, desto mehr avanciert die Sicherstellung der individuellen Marktfähigkeit zur gesellschafts- bzw. kulturpolitischen Norm.

Abgesehen von dieser Rationalitätsforderung, haben wir es – soweit es die moderne Ökonomik des 20. Jahrhunderts betrifft – durchschnittlich mit einem System kulturindifferenter Allokationseffizienzschemata zu tun. Ihre Systemope-ratoren – fälschlich zu homines oeconomici repersonalisiert – sind auf eindeutige ökonomische, d.h. in diesem Sinne effizienzorientierte Interpretationen von Welt festgelegt. Dabei werden andere Weltausschnitte (Politik, Gesellschaft, Moral etc.) als ceteris paribus gegebene Umgebung fixiert oder als spezifische Restrik-tionen in die Allokationseffizienzwelt der Ökonomik implantiert. Moral z.B. wird als Restriktion der Präferenzen der rational actors notiert; sie schränkt die Auswahlmenge der möglichen besten Alternativen ein. Jede Einschränkung kann als Kosten des Abstandes zur potentiellen Optimalität gerechnet werden. Die moderne Ökonomik kann – als neue Metaphysik der Effizienz – jede Norm, Kul-tur, Moral etc. nach dem Maßstab ihrer Nichtgeltung bewerten. Damit ist nicht impliziert, dass eine normen-, kultur- oder moralfreie Welt erstrebenswert ist; aber die Ökonomik kann ihr Kriterium nicht verlassen, von dem aus sie z.B. Mo-ral, aber auch andere kulturelle Muster beurteilt: als Einschränkung potentieller Freiheit und als Kostenursache. In diesem Sinne ist die moderne Ökonomik ex-trem konventionenkritisch, d.h. wegen ihres Effizienzopportunismus konventio-nen-auflösend.

Die moderne institutional economics befragt diese idealisierte Mechanik, indem sie darauf verweist, dass die Durchsetzung effizienter Verträge selbst Transaktionskosten erfordert. Damit wird die Kostenökonomik des gegebenen

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Marktes auf ansonsten als optimal gegeben angenommene soziale (Umwelt-)Bedingungen von Märkten angewandt. Dazu zählen die Kosten des Rechtssys-tems und zivilisatorischer wie kultureller Standards, ohne die es sehr viel auf-wendiger (effizienzgefährdend) – oder gar nicht erst möglich – wäre, die Markt-verträge zu schließen. Märkte sind regeldurchsetzt und institutionenfundiert – erst dann funktionieren sie so, wie das Allokationseffizienzmodell des allgemei-nen Gleichgewichts voraussetzungslos annimmt. Um als rational actor frei ent-scheiden zu können, sind Regelbefolgungen nötig, die spezifische Anreiz-/Sanktionen-Strukturen in Anschlag bringen. Die Freiheit der rational choosers steht unter Bedingungen, die nicht in der Situation abfragbar sind, sondern als kulturelle Ressource von der Ökonomik vorausgesetzt und scheinbar kostenlos angeeignet werden.

Inwieweit die Ökonomik die kulturellen, normativen und moralischen Vor-aussetzungen wirtschaftlichen Handelns nicht nur aneignen und rezipieren, son-dern selber produzieren muss, um die Effizienz ihrer Marktprozesse zu stabilisie-ren, wird eine der nächsten Forschungslinien sein. Es wird dann darum gehen, die Transaktionskosten nicht nur als unvermeidliche Begleitkosten der Markt-transaktionen aufzufassen, sondern als Investitionen (cultural and moral invest-ments), die die Wirtschaft leisten muss, um das social capital zu erhalten, das das reibungslose Funktionieren ihrer Märkte erlaubt.

Die Einbettung in Politik und Ethik, die die abendländische Tradition der Ökonomie seit Aristoteles betonte, ist nicht nur abgebrochen, wenn sie auch als antikapitalistische Skepsis die moderne Ökonomik weiterhin begleitet, sondern invertiert. Die moderne Ökonomik ist eine eigenständige Systemwelt geworden, in Wechselwirkung mit anderen sozialen Systemen, aber ihrer eigenen Dominanz noch unkritisch gegenüberstehend: Erst wenn sie verstehen lernt, dass sie die Kultur verändert und – in den Globalisierungsprozessen – treibt, wird sie, zu-nächst einmal aus genuin ökonomischen Gründen, darauf reflektieren, Kultur zu erhalten oder, wie es ihr modus operandi ist, „auszuwählen“.

Die nächste Epoche der Ökonomie wird über die Analyse der Märkte und der Wirtschafts-, Steuer- sowie Geldpolitik hinaus die Analyse der Produktion von Kulturformen sein, die die Kooperations-, Koordinations- und Kompetitionsmoda-litäten ausbilden, welche die freien Marktbewegungen tragen und wirksam werden lassen. Denn im dem Moment, in dem die Marktwirtschaftsform der Ökonomie nicht mehr in Konkurrenz zu sozialistischen Modellen steht, wird sie die Koopera-tionsformen, die dort angedacht wurden, selbst mit entwickeln müssen.

Was Aristoteles meinte der Ökonomie von außen – politisch, ethisch – als Regulativ setzen zu sollen, wird sie, um ihrer eigenen Stabilisation willen, selbst

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organisieren. Ökonomie ist kein reines Konkurrenzphänomen, sondern instituti-onell und kooperativ durchmischt (wie jedes Unternehmen eine Form von arbeitsteiliger Kooperation darstellt) – als Evolution neuer Handlungsmöglich-keiten. Die Innovationskompetenz ist ein bedeutsamerer Gradmesser der ökono-mischen Entwicklung als ihre Allokationseffizienz.

7 Tausch ist ein Mythos: Kapitalismus revidiert Die methodische Stringenz der mikroökonomischen Gesellschaftstheorie der modernen Ökonomie – eigentlich ihr besonderer Vorzug – wird zum Problem, sobald man den idealtypischen Markt verlässt. Die methodische Beschränkung auf Individualakteure und bilaterale Kontrakte unter Gleichen lässt nur jene (Pro-to-)Sozialstrukturen des arm’s lenght-Marktes zu, die die Ökonomie traditionell beschreibt. Anonyme Anbieter und Nachfrager treffen sich nach Belieben, inspi-zieren die Waren, fragen Zahlungsforderungen und -bereitschaften ab, verglei-chen die Konkurrenz, legen sich schließlich auf einheitliche Transaktionskondi-tionen fest und schließen Kaufverträge.

Allerdings ist schon diese Minimalsoziologie äußerst voraussetzungsreich, was allein die notwendige Absicherung des Eigentums- und Vertragsrechts zeigt. Die in der Ökonomik einsetzende vertragstheoretische Beschreibung wirtschaft-lichen Umgangs erfordert einen Staat mit funktionierendem Rechtsapparat. Es ist aber nicht möglich, diese und andere nichtvertraglichen Bedingungen von Ver-trägen – und damit von Transaktionen – vertragstheoretisch zu begründen. Den-noch versucht die moderne politische Ökonomie, die Einheit (oder Armut) der ökonomischen Methode zu wahren und den Rechtsstaat samt seiner öffentlichen Ordnung kontraktualistisch zu erklären (vgl. die constitutional economics).

Das ist möglicherweise ein theoretischer Konstruktionsfehler, den die Öko-nomie von einer bestimmten Hobbes-Rezeption übernommen hat und seither nicht recht zu beheben verstand (dabei hat Hobbes im „gesellschaftslosen“ Zu-stand, in dem soziale Handlungen, z.B. Verträge, unmöglich sind, nicht umsonst einen Diktator installieren wollen). Dass dieses ohne methodische Revision letzt-lich nicht gelingen kann, zeigt zuletzt das Scheitern der Public Choice von Bu-chanan (1984) und anderen an ihrer ursprünglichen Fragestellung: Der per Ge-sellschaftsvertrag installierte 3rd party-enforcer der juridischen Grundlagen des bargaining müsste wiederum selbst kontrolliert werden (und auch die Verfas-sungswächter, die diesen Staat kontrollieren sollen); eine Produktion öffentlicher Güter per freiwilligem Vertragsschluss scheitert an free riding-Anreizen; eine In-

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ternalisierung „externer Effekte“ durch Vertragsverhandlungen erfordert Eigen-tumsrechte, die selbst nicht durch Verträge definiert sein können usw.

Eine für den Markt angenommene Form der Selbstorganisation, die sich allein auf bilaterale Abmachungen auf Gegenseitigkeit gründet, kann bestimmte Ordnungen hervorbringen und andere eben nicht – vor allem nicht jene Ordnun-gen, die sie voraussetzt. Rechtssystem, Netzwerke und Gemeinschaftsgüter basie-ren auf Ordnungen, die nicht durch Tauschakte oder Transaktionen emergieren. Man kann sich gesetzestreue und anderweitig geeignete Transaktionspartner weder kaufen, noch deren Vertragstreue vertraglich absichern. Man kann schließ-lich auch nicht den Einbrecher oder Wegelagerer dafür bezahlen, dass er einen nicht ausraubt – das Eigentum geht so oder so verloren, ohne dass es eine Gegen-leistung in der Art gibt, die Marktbeziehungen und Eigentumsrecht vorsehen.

Schon die Grundeinheit „Transaktion“ hat mehr zu bieten als die Ökonomie bislang thematisiert. Sie unterscheidet sich – als „Austausch“ von Ware und Geld – nicht nur darin vom Naturaltausch, dass der Güterverkehr erheblich ver-einfacht wird und das Geld als guter Wertmesser und -speicher fungiert. Tausch-geschäfte sind Ergebnis opportuner Umstände, die einmal eintreten können und dann nicht mehr; der Tausch ist eine abgeschlossene soziale Veranstaltung. Geld dagegen etabliert ein System aus fortgesetzten Transaktionen, in das die Akteure gleichsam gezwungen werden, sobald sie Geld annehmen. Sie müssen es ja wie-der in anderen Transaktionen einsetzten, deren Möglichkeit sie im Moment der Annahme (verallgemeinert, unspezifisch) antizipieren müssen.

Markttransaktionen sind Kommunikationsformen, die systematisch auf Dauer ausgelegt sind, wenn auch mit wechselndem Personal. Die Antizipation ihrer sozialen Dauerhaftigkeit macht sie erst möglich. Für das Wirtschaftssystem kommt es ganz wesentlich darauf an, dass die Akteure dem Geld die Transakti-onsfunktion einheitlich (kollektiv) zuschreiben, die es hierdurch erst erhält. Da das Geld nicht verschwindet, wenn es den Besitzer wechselt, drängt es auf stän-dige Wiederverwendung. Diese zukünftige Wiederverwendbarkeit im Umgang mit Dritten muss der Akteur voraussetzen, um das Geld aktuell annehmen zu wollen – damit gründen Transaktionen im Kern nicht auf das Bilateral der aktu-ellen Partner, sondern auf die trilaterale Beziehung der aktuellen und mindestens eines zukünftigen Transaktanden (der Geld akzeptieren wird), selbst wenn dieser nur potentielle Dritte noch unbekannt ist.

Marktökonomie basiert vor allem deshalb nicht auf Tausch, weil das Medi-um Geld die im Tauschbegriff normativ angesteuerte Äquivalenzrelation asym-metrisiert: A tauscht nicht mit B, was nur hieße, den tatsächlichen Prozess zu ignorieren, der darin besteht, dass A von B kauft und B dann gegebenenfalls

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wieder kauft; beide mit Geld. Die Differenz entsteht, weil derjenige, der Geld gegen Gut gibt, „auf dem Gebrauchswert sitzen bleibt“, während derjenige, der ein Gut gegen Geld wechselt, potentiell alle Güter anvisieren kann.

Geld symbolisiert je aktuell die Menge aller möglichen Gebrauchswerte – und potentiell auch die noch gar nicht vorhandenen –, so dass die Menge der Imaginativa größer ist als die Menge faktischen Konsumptiva. Der Options-wert – oder Funktionswert – von Geld ist größer als der Gebrauchswert von Gütern, bei identischer Kaufkraft. Geld ist, ganz funktional, „mehr als ein Gut“.

Das hat entscheidende Bedeutung für die Genesis von Kapitaleinsatz, Inves-tition und Spekulation im entfalteten Kapitalismus; das Geld hat – kraft seiner Optionalität – die Funktion eines Transzendentaloperators, der nächste Wirklich-keiten ansteuert, anstatt sich mit dem, was aktuell angeboten wird, zu begnügen. Es ist zu vermuten, dass wir es nicht mit anthropologischen oder psychologi-schen Annahmen zu tun haben, sondern mit einer transzendental-pragmatischen Autogenesis: Der Kapital/Investitions/Profit-Mechanismus – der seit Adam Smith das „kapitalistische System“ charakterisiert – entfaltet seine Dynamik in einer ihm zugrunde liegenden Struktur des Geldes als asymmetrischer Optionator (vgl. bereits Aristoteles’ Kritik an der Hybris des Handels, die wir nicht mora-lisch, sondern analytisch erinnern). Erst mit gesteigerter Produktivität und Ange-botsvielfalt entfaltet das Geld allerdings seine Wirkung als Kapitaldynamik: erst durch produktive Investition. Transaktionen sind immer Transaktionsketten: forced accumulation of value.

Das Geld, das er in der Transaktion erhalten hat, forciert den Vermögenden zu neuen Transaktionen etc pp. Erst seit man Geld legitim anlegen, investieren, vermehren kann, kann sich die Transaktionsökonomik zum Kapitalismus ausfal-ten. Die eigentumsrechtlichen Sicherungen durch einen modernen Staat seit der Neuzeit sind eine entscheidende Voraussetzung dieses Prozesses. Die Dynamik moderner Märkte hängt mit der Extension politischer und sozialer Freiheiten eng zusammen – insbesondere mit den Freiheiten der Geld- und Kapitalmärkte (bei Smith im 18. Jahrhundert noch wenig thematisiert). Im Transaktionspotential des Geldes sind alle Differenzierungen, Güterangebotsausweitungen, Nachfragemög-lichkeiten, Wertschöpfungen etc. angelegt.

8 Netzwerkeinbettung von Märkten Die Funktionalität des Geldes ist vor allem seiner inhaltlichen Offenheit ge-schuldet, die selbst eine Folge konventionalisierter, aber unbestimmter Zuschrei-bungen ist. Es ist nie ganz klar, was man mit dem Geld wird kaufen können, das

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man in aktuellen Transaktionen entgegennimmt – man vertraut nur darauf, dass man etwas wird kaufen können. Ist das gesetzt, liefert die Unbestimmtheit des zukünftigen Gutes ein zusätzliches (Flexibilitäts-)Argument, das Geld anzuneh-men. Ebenso wenig weiß man, worauf man genau verzichtet, wenn man das Geld für etwas Bestimmtes ausgibt. Der Schatten aller möglichen Zukünfte zeigt sich bereits je aktuell im Medium und zwingt zur Antizipation und Thematisierung weiterer Möglichkeiten.

Diese unabgeschlossenen, erst herzustellenden Alternativenräume kennt die rational choice in ihrer Reinform nicht, da ihre Kalküle endgültige Bewertungen vom Gegebenem zum Zwecke des Wertvergleichs erfordern. Die rationale Wahlhandlung setzt an sicher gegebener Optionalität an, um sie per Selektion in die Realisation einer bestimmten Alternative zu überführen. So werden Un-sicherheit und Unbestimmtheit, d.i. „Kontingenz“, über zwei Stufen beseitigt: i) per Annahme gegebener Alternativen durch das Modell, ii) per Auswahl einer Alternative durch den Akteur. Die Erzeugung und der Erhalt von Kontingenz, ihre funktionale Kanalisation, gehören aber ebenso zur Kommunikation wie ihre Reduktion und Klärung im Einzelfall. Wohl auch deswegen finden in der öko-nomischen Theoriewelt keine anderen Formen der Kommunikation statt als die Verhandlung über bekannte Gegenstände – obwohl sie in der Wirtschaft vielfäl-tig und ständig vorkommen. Die Arena dieser Kommunikationen sind die Netz-werke. Doch das ist eine (wirtschafts-)soziologische Arena. Hier sind fortan Synergien gefragt.

Der weitere Weg wird über die Einordnung genuin ökonomischer in eine Reihe anderer Kommunikationsformen führen. In der Folge wird wohl das, was für ökonomische Kommunikation gehalten wird, zu revidieren sein. Eigentüm-licherweise wurden bislang vor allem Anstrengungen in die umgekehrte Rich-tung unternommen: das „Tausch“-Konzept sollte auf andere soziale Verhältnisse (inklusive der natürlich-sprachlichen Kommunikation) übertragen werden. Dass im ökonomischen Umgang mitunter auch Objekte – Waren oder Zeichenträger für „Geld“ – übertragen werden, ist aber ein Spezifikum, das sich gerade nicht übertragen lässt. Wenn Leistungen Dienstleistungen sind, findet keine Übertra-gung statt, sondern abgestimmte Handlungen (Dienstleistung, Zahlung oder Ge-genleistung). In Transaktionen kommt es nicht auf die „Übergabe“ eines Zei-chenträgers für Geld (Metall, Papier) an – das schlösse z.B. Kartenzahlung aus, – sondern auf die Rekonfiguration der sozialen Zuschreibung von Zahlungsfähig-keit (mit oder ohne Unterstützung durch eine rechtliche Zuschreibung).

Der Public-Choice-Versuch, Staatlichkeit und Rechtlichkeit durch eine Art Tausch von Rechtszugeständnissen, bzw. von Selbstrestriktionen, zu begründen,

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hatte, wie beschrieben, keinen Erfolg (obwohl der Ansatz, Recht durch Vorweg-nahme von Rechtlichkeit zu konstruieren, interessant ist). Ebenso wenig gelingt eine Begründung von „vertrauensvollen Beziehungen in Netzwerken“ durch Tausch von Gefälligkeiten, Redlichkeiten, Ausbeutungsopportunitäten u.Ä., so-bald das Kalkül einsetzt, dass man auch nur so tun könnte, als wäre man tausch-bereit, aber am Ende doch nicht liefert. Das erschwert insbesondere die Fassung kooperativer Produktion über Organisationsgrenzen hinaus. Hier greifen offen-bar auch andere Mechanismen und Beziehungen, mit denen „der Markt“ gekop-pelt oder in die er „eingebettet“ wird.

Im Ergebnis erweist sich gerade die Ausrichtung auf endgültige Klärungen – hier und jetzt – eines Konzeptes „Austausch von Gegebenem“ als hinderlich. Es gibt keinen Grund, warum soziale Beziehungen nicht abbrechen sollten, wenn alles endgültig geklärt werden kann. Dasselbe gilt, wenn Probleme im Sozialen gelöst, aber keine neuen produziert werden (die klassische Annahme einer „na-türlich gegebenen Knappheit“ z.B. ist für moderne Ökonomien kaum geeignet). Im Umkehrschluss müssen die Reproduktionsweisen sozialer Beziehungen auch mit Unklarheiten, Potentialität und Problemgenese arbeiten.

Das erfordert – entgegen der Intuition – offenbar Konzepte für Ökonomie, Staatlichkeit, Netzwerke etc., die jeweils integrieren und differenzieren, stabili-sieren und dynamisieren, komplizieren und vereinfachen, Vergangenheit und Zukunft verarbeiten etc. und nicht jeweils ein Konzept für Integration und ein anderes für Differenzierung (vgl. Kabalak/Priddat, 2007 für konzeptionelle Vor-schläge für Staatlichkeit und Netzwerke).

Die dynamische Ökonomie zeigt, dass soziale Beziehungen einander entge-gengesetzte Prinzipien vereinen können. Das Transaktionskonzept beruht sowohl auf der Lösung eines aktuellen Problems (Geld für diese Leistung), als auch auf der Funktionalität von reproduzierter Unsicherheit (bezüglich Zeit, Ort, Gegen- stand und Partner der nächsten Transaktion – neue Probleme); jeder Abschluss wird zugleich zum Beginn der Suche nach einem neuen Abschluss. So wird im Kapitalismus der ursprüngliche kategoriale Unterschied von „Geld als Mittel“ und „Ware als Zweck“ nicht einfach nur verkehrt („Geld als Selbstzweck“), son-dern vereint in der Gleichzeitigkeit von Geld und Leistung als Mittel und als Zweck – ohne dass das Verhältnis irgendwann zu einer der Seiten aufgelöst wür-de und sich deswegen dynamisch stabilisiert.

Das zeigt, dass auf Unbestimmtheit angelegte Transaktionen von Dynamik leben. In der Re-Investitionslogik des Kapitalismus weitet sich die im Geld ange-legte basale Dynamik – der beständige Warenfluss – jedoch auch erst auf Wachs-tum, dann auf Innovationsdynamik aus. Eine innovative Wirtschaft muss dem-

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nach die Erzeugung neuer Knappheiten sicherstellen können (und sie nicht etwa dem Zufall oder der Natur überlassen). Da der moderne Kapitalismus das ver-langt und die Transaktion als Kommunikationsform ermöglicht, aber alleine nicht versichert, wären auch im Konsumbereich „kapitalistische Mechanismen“ zu orten. Auch hierfür kommen Netzwerkbeziehungen und -kommunikationen in Frage, die sonst im Produktionskontext diskutiert werden.

Denn individuelle Knappheitserlebnisse sind ökonomisch wenig interessant, wenn sie sich nicht in Nachfragepopulationen verbreiten, an die sich Märkte koppeln lassen. Konsummoden verbinden soziale Homogenität mit sozialer Dif-ferenzierung, Aktualität mit Vergänglichkeit usw. und sorgen für jene Dynamik mit Breitenwirkung, die innovative Märkte erst möglich macht. „Kapitalismus“ heißt dann nicht nur eine spezifische Form der Produktion, sondern auch eine be-stimmte Art sozial eingebetteten Konsums – eine kapitalistische Kultur.

Literatur Buchanan, J.M. (1984): Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan. Tübingen.

Kabalak, A./B.P. Priddat (2007): Präferenzen, Netzwerke und Status: komplexe Einbettung von Märkten, präsentiert auf der Konferenz „Die institutionelle Einbettung von Märkten“, 01.-03.02.2007, MPIfG Köln, http://www.mpi-fg-koeln.mpg.de/maerkte-0702/papers/Kabalak-Priddat_Maerkte2007.pdf

Luhmann, N. (2001): Die Gesellschaft der Gesellschaft. (3. Aufl.) Frankfurt/M.

Priddat, B.P. (2002): Theoriegeschichte der Ökonomie. München (UTB).

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Schrankenloses Steigerungsspiel: Die strukturbildende Einheit hinter der Vielfalt der Kapitalismen

Hartmut Rosa

Im System einer kapitalistischen Wirtschaft werden Wachstum und soziale Be-schleunigung zu einem unentrinnbaren, in die materialen Strukturen der Gesell-schaft eingelassenen Sachzwang.1 Durch die Auflösung des traditionellen, mehr oder weniger naturwüchsigen Zusammenhangs von Produktion und Bedürfnis-befriedigung im Zuge der Umstellung des Wirtschaftens auf die Kapitalverwer-tungslogik bzw. die Mehrwertproduktion – d.h. durch die Ablösung der Produk-tion für den (traditionell bestimmten) Bedarf durch die „Produktion für die Produktion“2 – wird eine Dynamik in Gang gesetzt, welche alle Schranken einer bedarfsdeckenden Wirtschaftsform überwindet. Sie lässt die Steigerung von Pro-duktion und Produktivität und mithin das Streben nach Zeitvorsprüngen und Zeiteffizienz zu unausweichlichen Systemimperativen einer sich verselbständi-genden Produktion werden, welche die entsprechenden Bedürfnisse gleichsam mitproduziert. Diese strukturbildende und kulturprägende Steigerungsdynamik des Wirtschaftens liegt, wie ich im Folgenden darlegen möchte, als einheitliches Prinzip nicht nur den vielfältigen historischen und kulturellen Erscheinungsfor-men des Kapitalismus zugrunde, sondern sie ist darüber hinaus auch verantwort-lich für die ‚Phasenwechsel‘ kapitalistischen Produzierens, also etwa für den Übergang vom Frühkapitalismus zum Industriekapitalismus und weiter zum Fordismus und schließlich zum Postfordismus.

Das in der modernen Gesellschaft ‚operative‘ Zeitkonzept wird, wie eine unübersehbare Reihe an zeitsoziologischen Untersuchungen penibel herausgear-beitet hat,3 entscheidend geprägt und geformt durch die den kapitalistischen Pro-duktionsprozess charakterisierende Verdinglichung und Kommodifizierung der 1 Im Folgenden orientiere ich mich eng an Kapitel VIII.2 meines Buches Beschleunigung. Die

Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (Rosa 2005). 2 Reheis (1998: 66ff); vgl. auch Schlote (1996: 63): „Die Umstellung des Zwecks der Ökonomie

von Bedürfnisbefriedigung auf Mehrwertproduktion [d.h. des Zirkulationsprozesses von der Wa-re-Geld-Ware Form auf die Geld – Ware – Mehr Geld Form, H.R.] ist die Grundlage, um die spe-zifisch kapitalistische ‚Ökonomie der Zeit‘ zu verstehen“.

3 Stellvertretend für viele seien hier genannt etwa Thompson (1967), Zoll (1988) Scharf (1988b), Giddens (1995a), Rinderspacher (2000) und insbesondere Postone (1996), für einen Literatur-überblick vgl. ferner Bergmann (1983: 483ff).

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Zeit, d.h. durch ihre Transformation in ein knappes, unter Effizienzgesichtspunk-ten zu bewirtschaftendes Gut, welche dafür verantwortlich ist, dass Zeit als eine lineare, qualitätslose4 und abstrakte Größe erfahren wird. Es ist nun die „Zeit“ selbst, die der kapitalistische Unternehmer seinen Arbeitnehmern abkauft, nicht mehr das Produkt ihrer Arbeit.

Kapitalistisches Wirtschaften beruht dabei in mindestens drei Hinsichten konstitutiv auf dem Erarbeiten und Ausnützen von Zeitvorsprüngen, so dass für diese Wirtschaftsform Marx’ Diktum, dass schließlich alle Ökonomie zu Zeit-ökonomie werde,5 auf eine sehr spezifische Weise gilt, die in Benjamin Frank-lins bekannter Formel „Time is Money“ auf den Punkt gebracht wird: „[W]hen time is money, speed becomes an absolute and unassailable imperative for busi-ness.“6 Folgt man der von Marx vorgeschlagenen Analyse, so bildet, zum ersten, die Arbeitszeit ganz unmittelbar einen entscheidenden, d.h. wertbildenden, Pro-duktionsfaktor, indem Zeit durch Arbeit in Wert verwandelt wird. Insofern der Tauschwert einer Ware bestimmt wird durch die in sie eingegangene (gesell-schaftlich notwendige) Arbeitszeit, lässt sich die Einsparung von Produktionszeit unmittelbar in (relativen) Profit übersetzen: Wer in kürzerer Zeit zu produzieren vermag, also bei der Produktion einer Ware unterhalb der durchschnittlich not-wendigen Arbeitszeit bleibt, erwirtschaftet potenziell höheren Gewinn und stei-gert so den „Mehrwert“ der Arbeit (d.h. das Verhältnis von „notwendiger“ – und damit bezahlter – Arbeit zur „Mehrarbeit“ innerhalb eines Arbeitstages ver-schiebt sich zugunsten der letzteren). Die Steigerung der Produktivität, die sich ja unmittelbar als Mengensteigerung des Outputs pro Zeiteinheit (etwa pro Ar-beitsstunde), mithin also als Beschleunigung, definieren lässt, zeitigt daher Wett- 4 Die „Qualitätslosigkeit“ der Zeit, d.h. die Tatsache, dass im kapitalistischen Produktionsprozess

und Rechnungswesen die Zeit keinerlei „Färbung“ durch die Umstände (durch Feste oder Alltag, Tag oder Nacht, Jugend oder Alter etc.) aufweist (Marx 1972: 271ff) ist hauptverantwortlich da-für, dass sie auch immer wieder als „tote“ Zeit erfahren und bezeichnet worden ist.

5 Marx (1983: 105). 6 Adam (2003: 50), vgl. Postone (1996: 378ff). Die Kommodifizierung der Zeit in der kapitalisti-

schen Moderne und ihre Äquivalenz mit Geld offenbaren sich heute auch in vielen Aspekten des Alltagslebens und der Sprache als Erfahrungstatsachen: Ebenso wie Geld ist Zeit immer knapp, gleichgültig wie viel man hat, und genau wie Geld kann man sie verlieren, investieren, ver-schwenden, sparen, einteilen etc. Und wie zwei Währungen kann man Geld und Zeit nach beiden Richtungen ineinander konvertieren: Wer knapp an Geld ist, muss Zeit investieren: als Babysit-ter, Rasenmäher, Lohnarbeiter, um Geld zu verdienen, oder er muss Zeit aufwenden und zum Beispiel zu Fuß gehen oder von Hand abwaschen oder alte Socken stopfen, um Geld zu sparen. Wer dagegen knapp an Zeit ist, kann Geld investieren, um Zeit zu gewinnen: Er fährt mit dem Taxi, um schneller zu Hause zu sein, beauftragt den Gärtner, die Wäscherei, den Pizzaservice, um Koch-, Wasch- und Gartenarbeitszeit zu sparen. Bekanntlich hat diese freie Konvertierbarkeit jedoch ihre Grenzen dort, wo Zeit nicht mehr nachgefragt wird (Arbeitslosigkeit), und an der Unmöglichkeit, Zeit (zinsbildend) für die Zukunft anzusparen.

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bewerbsvorteile – allerdings nur so lange, bis die Konkurrenz nachgezogen hat und die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auf das neue Maß herunter-drückt, wodurch eine potenziell endlose Beschleunigungsspirale in Gang gesetzt wird.7 Produktionsbeschleunigung – etwa durch Intensivierung bzw. „Verdich-tung“ der Arbeit – wird damit als Folge des Konkurrenzprinzips zu einem Grundelement kapitalistischen Wirtschaftens.

Damit hängt, zum Zweiten, zusammen, dass die Erarbeitung und Ausnüt-zung von Zeitvorsprüngen bei der Einführung neuer Produktionstechnologien oder neuer Produkte von grundlegender Bedeutung für die im Konkurrenzkampf überlebensnotwendige Erwirtschaftung von „Extra-Profiten“ ist, d.h. für die Möglichkeit, Produkte kurzzeitig zu einem deutlich höheren Preis als den Pro-duktionskosten zu verkaufen bzw. sie unter dem Marktwert zu produzieren, be-vor die Konkurrenz ihren Rückstand aufgeholt hat. Die Beschleunigung der In-novationszyklen und des technischen Fortschritts sowie die Verkürzung von Produktlebenszyklen haben hier ihre „systembedingten“ Ursachen.8

Schließlich wird, zum Dritten, die beschleunigte Reproduktion investierten Kapitals aufgrund des Zinsprinzips9 und des „moralischen Verschleißes“10 von Maschinen und Anlagen (d.h. aufgrund der – im Zuge der Beschleunigungs-dynamik stetig wachsenden – Wahrscheinlichkeit, dass Maschinen durch die Entwicklung effizienterer Produktionstechnologien ökonomisch wertlos werden, bevor sie durch Abnutzung unbrauchbar werden) in einem kapitalistischen Wirt-schaftssystem zu einer betriebswirtschaftlichen Notwendigkeit. Je länger es dau-ert, ehe investiertes Kapital reproduziert ist, umso geringer sind die Profite und desto schlechter die Wettbewerbschancen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit möglichst langer, vorzugsweise kontinuierlicher Betriebszeiten von Maschinen. Die kapitalistische Ökonomie der Zeit liefert damit, wie schon Marx bemerkte, eine Erklärung für den paradoxen Zusammenhang zwischen der Einführung zeit-sparender Technologien auf der einen und der nachfolgenden Verknappung von

7 Vgl. Schlote (1996: 67). Produktionsbeschleunigung durch Produktivitätszuwachs erzwingt dann

wiederum Produktionsmengensteigerung, also Wirtschaftswachstum, solange am Ziel der Voll-beschäftigung festgehalten wird (weil mit dem gleichen Quantum an gesellschaftlicher Arbeit mehr produziert werden kann): Beschleunigungsspirale und Wachstumsspirale treiben sich damit gegenseitig voran.

8 Vgl. Garhammer (1999: 79). 9 So attribuiert bereits Marx (1957: 685) dem Kreditwesen die Funktion der „Beschleunigung [...]

der einzelnen Phasen der Zirkulation oder der Warenmetamorphose, weiter der Metamorphose des Kapitals, und damit Beschleunigung des Reproduktionsprozesses überhaupt“. Zum Zusam-menhang von Zinsprinzip und Beschleunigung siehe auch Reheis (1998: 181ff), der hier an die (umstrittenen) Thesen Silvio Gesells anschließt.

10 Marx (1957: 254ff).

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Zeitressourcen und damit der Erhöhung des Lebenstempos auf der anderen Sei-te:11 „Daher das ökonomische Paradoxon, dass das gewaltigste Mittel zur Verkür-zung der Arbeitszeit in das unfehlbarste Mittel umschlägt, alle Lebenszeit des Ar-beiters und seiner Familie in verfügbare Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln“.12 Tatsächlich beobachtet er hier einen produktionstech-nischen „Beschleunigungszirkel“, der darin besteht, dass schnellere Maschinen eine Intensivierung der Arbeit nach sich ziehen, welche zumindest langfristig eine Verkürzung des Arbeitstages erforderlich macht und damit wiederum die Ent-wicklung und Anschaffung schnellerer Maschinen oder Technologien motiviert.

Von entscheidender Bedeutung für den konstitutiven Zusammenhang zwi-schen der kapitalistischen Wirtschaftsform und der Beschleunigungsdynamik der Moderne ist nun der Umstand, dass die der kapitalistischen Ökonomie der Zeit geschuldete Beschleunigung der Produktion notwendig die simultane Beschleuni-gung der Distribution und (zumindest wenn die Möglichkeiten der Erschließung neuer Märkte erschöpft sind) der Konsumtion verlangt, wodurch das dynamisie-rende Element die Produktionssphäre überschreitet. Tatsächlich hängt das Tempo des Kapitalverwertungsprozesses entscheidend von der Geschwindigkeit der Zir-kulation, d.h. vor allem des Transports, der Lagerung, der Verteilung und des Verkaufs von Gütern sowie der Beschaffung von Rohstoffen ab; da hier kein Wert geschaffen, sondern die Realisierung des geschaffenen Mehrwerts verzögert wird, erscheint die Zirkulationszeit nach Marx als „Zeit der Entwertung“13 – der Be-schleunigungszwang wirkt daher mit besonderem Gewicht auch auf sie.

Im Hinblick auf die Genese der modernen Beschleunigungsdynamik von besonderem Interesse ist dabei der Umstand, dass historisch gesehen die durch die Logik der Kapitalverwertung getriebene Beschleunigung nicht in der Produk-tionssphäre, sondern just in der Distributions- bzw. Zirkulationssphäre einsetzte: Transport und Kommunikation beschleunigten sich vom 17. Jahrhundert an spürbar und lange vor den großen technologischen Innovationen, die zur Be-schleunigung der Produktionsprozesse führten.14 Als wesentlicher Grund hierfür gilt, dass sich im 16. und 17. Jahrhundert zuerst im Bereich des Handels, also in der Zirkulationssphäre, Kapital ansammelt und auf Steigerung der Umschlag- 11 Akteure reagieren auf die wahrgenommene Verknappung der Zeitressourcen mit dem Versuch,

die Zahl der Handlungsepisoden pro Zeiteinheit – d.h. ihr Lebenstempo – zu erhöhen. Sie fragen zu diesem Zweck nach effizienteren Beschleunigungstechnologien (Rosa 2005: 135ff und 199ff).

12 Ebd, 257. Für Marx erklärt sich der Widerspruch allerdings auch aus der Verschiebung des Ver-hältnisses zwischen konstantem (Maschinen) und variablem, mehrwertproduzierenden Kapital (Arbeit) zugunsten des ersteren und aus der daraus resultierenden Tendenz fallender Profitraten (vgl. auch Rosa 2005: 614ff).

13 Marx (1957: 458ff). 14 Vgl. etwa Kosellek (2000: 158f).

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geschwindigkeit drängt, weil Subsistenz- und Zunftwesen im Produktionsbereich eine entsprechende Entwicklung zunächst noch verhindern.15 Die Beschleuni-gung von Handel und Transport geht daher historisch der Produktionsbeschleu-nigung, die dann in der industriellen Revolution ihren dramatischen ersten Hö-hepunkt erreicht, voraus. Als kardinaler Akzelerator wirkt dabei natürlich auch die voranschreitende Entwicklung des Geldwesens; eine Entwicklung, die, wie ein Blick auf den rasanten Wandel und die gewaltig angestiegenen Transaktions-geschwindigkeiten an den internationalen Finanzmärkten rasch deutlich macht, bis heute nicht abgeschlossen ist.16

Die Steigerung der Kapital- und Warenumschläge pro Zeiteinheit hat natür-lich als ökonomisch zwingendes Korrelat eine der Steigerung der Produktions-rate entsprechende Erhöhung der Konsumtionsakte pro Zeiteinheit zur Folge, da erst in der Konsumtion der Mehrwert realisiert wird. Die kapitalistische Ökono-mie der Zeit „erzwingt“ daher eine dem Produktionsprozess analoge Steigerung der Konsumintensität und vermag so die als Erhöhung des Lebenstempos defi-nierte Vermehrung der Handlungs- bzw. Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit als ökonomische Notwendigkeit zu dechiffrieren. Volkswirtschaftlich bedeutsam ist dabei, dass das ökonomische Grundproblem einer kapitalistischen Wirtschaft nicht ein (statisches) Verteilungsproblem, sondern die Aufrechterhaltung der be-schleunigten Zirkulation ist. Allerdings vermag diese systemische Notwendigkeit natürlich die entsprechende Steigerung des Lebenstempos auf der Konsumtions-seite handlungstheoretisch nicht zu erklären: Niemand wird aus ökonomischen Gründen zur Steigerung „der Zahl der Akte der Bedürfnisbefriedigung pro Zeit-einheit“17 und damit zu einer Bemessung des Wertes der Freizeit an jener Steige-rungsrate gezwungen. Dass Subjekte in der modernen Gesellschaft zu dieser Wertbestimmung jener Zeit neigen, ist weder anthropologisch vorgegeben18 noch einfach aus ökonomischer Notwendigkeit abzuleiten,19 sondern bedarf zu seiner Erklärung einer Rekonstruktion der kulturellen Grundlagen der für die Moderne charakteristischen individuellen Handlungsorientierungen. Hier ist in-dessen nicht der Ort, eine entsprechende ‚Kulturlogik‘ der Beschleunigung, die für eine Synchronisation systemischer und individueller Temporalhorizonte un-verzichtbar ist, herauszuarbeiten.20

15 Vgl. dazu etwa Richter (1991: 27ff) oder Dohrn-van Rossum (1988). 16 Vgl. dazu schon Marx (1951: 5, Abschnitt, bes. Kap. 27, 436ff) sowie Simmel (1897/1992). 17 Scharf (1988b: 157). 18 Diese Vermutung scheint Staffan Linder (1970: 77ff) zu hegen. 19 Dies legt Günter Scharf (1988b) nahe. 20 Für einen entsprechenden Versuch vgl. ausführlich Rosa (1999: 2005: 279-294).

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Die Herausbildung einer solchen Zeitorientierung ist jedoch in jedem Fall eng verknüpft mit der Internalisierung des Konzepts der linearen und abstrakten Zeit und mit der Übernahme der zeitökonomischen Normen der Arbeitswelt. Denn wie sich zeigen lässt, bilden die Temporalstrukturen über Synchronisati-onserfordernisse und -leistungen den paradigmatischen Ort der Vermittlung zwi-schen systemischen Imperativen und subjektiven Handlungsorientierungen. Dar-aus ergibt sich mit Notwendigkeit, dass die Veränderung der Zeithorizonte in der Ökonomie von einem entsprechenden Wandel in den individuellen temporalen Handlungsorientierungen begleitet wird. Tatsächlich begann der aus der kapita-listischen Ökonomie der Zeit resultierende Zwang zu einem effizienten Umgang mit Zeitressourcen sich im Zuge der Industrialisierung in massiver und flächen-deckender Weise auf Form und Substanz der vorherrschenden Zeitpraktiken, -wahrnehmungen und -orientierungen der arbeitenden Bevölkerung auszuwirken. Diese von harten sozialen Kämpfen begleitete und, wie etwa E.P. Thompson in seinem vielzitierten Essay über Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus herausgearbeitet hat,21 oftmals mit allen Mitteln äußeren Zwangs durchgesetzte Umstellung, welche die subjektiven Dispositionen zur Anpassung an die Be-schleunigungsimperative des Wirtschaftssystems hervorbrachte, schlug sich in einer dreifachen Entkoppelung der industriellen Arbeitszeit vom gewohnten All-tagsleben nieder.

Zum Ersten wurde die Zeit der Lohnarbeit an die Vorgaben der mechani-schen Uhr gebunden und damit von den zuvor zumindest in den gemäßigten Breiten jahrhunderte- wenn nicht jahrtausendelang das soziale Leben strukturie-renden Rhythmen der Natur weitgehend gelöst. Tages- und Jahreszeiten ebenso wie die Wetterverhältnisse spielen für den industriellen Produktionsprozess im Prinzip keine Rolle mehr. In besonders drastischer Form zeigt sich diese Ent-koppelung in der Schichtarbeit. Sie ist, wie Marx im Kapital herausstellt, eine gleichsam natürliche Folge der Tatsache, dass Zeit in der kapitalistischen Öko-

21 Thompson (1967). Gegen Thompson ist eingewandt worden, dass die Herausbildung eines linea-

ren Zeitkonzepts und die Einhaltung von Zeitdisziplin nicht erst in der industriellen Revolution begannen, sondern eine Reihe wichtiger historischer Vorläufer, etwa in den Klöstern, gehabt ha-ben, und dass soziale Zeitorientierungen stets „plural“, komplex und vielschichtig seien, dass es also niemals zu einer einfachen und vollständigen Ablösung zwischen „den“ Zeitorientierungen zweier Epochen kommen könne (Thrift 1988, Glennie/Thrift 1996, Garhammer 1999: 73ff). Da-zu auch Dohrn-van Rossum (1988). Beide Punkte seien hier unbestritten, sie ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass es erst im Gefolge der industriellen Revolution und des institutionellen Re-gimes des Industriezeitalters zu einer rigorosen und flächendeckenden, sozialverbindlichen Eta-blierung der herausgearbeiteten Zeitmuster und -strukturen kam und dass diese unbeschadet aller weiterbestehenden alternativen Zeitorientierungen fortan die temporale Ordnung moderner Ge-sellschaften dominierten.

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nomie qualitätslos bleibt – sie schreitet am Tag und in der Nacht, sommers wie winters linear und im gleichen Takt voran, und stets gilt, dass eine Stunde, in der die Maschinen still stehen und nicht gearbeitet oder aber nicht transportiert oder verkauft wird, eine ökonomisch verlorene Stunde ist. „Arbeit während aller 24 Stunden des Tages anzueignen ist daher der immanente Trieb der kapitalisti-schen Produktion“, schlussfolgerte Marx konsequenterweise.22 Der bis heute voranschreitende, noch immer nicht abgeschlossene Prozess der Auflösung zu-erst der natürlichen, später aber auch der neu entstandenen, kollektiven sozialen Rhythmen nicht nur der Produktion, sondern auch der Zirkulation und der Kon-sumtion (d.h. von Arbeitszeit und Freizeit, Sonntagen und Arbeitstagen, Öff-nungs- und Schließzeiten, Sendezeiten und Sendepausen, kurz: von Verfügbar-keiten und Unverfügbarkeiten) zugunsten einer ‚qualitätslosen‘, verstetigten Simultanzeit hat hier seinen ökonomischen Kern.

2) Zugleich entwickelte sich mit der Industrialisierung eine strikte und na-hezu vollständige zeitliche und räumliche Trennung von Arbeit und Freizeit mit weitreichenden Folgen für die Zeiterfahrung und -planung der Individuen und für die Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft insgesamt. Erst durch die-se Separierung konnten die für die Moderne charakteristischen Institutionen der „Freizeit“ und der dieser entgegengesetzten „Arbeitszeit“ entstehen, die – in sich verändernder Gewichtung – die Lebensführung und den Lebensstil der Subjekte und damit die Formen, in denen diese Alltagszeit, Lebenszeit und historische Zeit in Einklang zu bringen suchen, grundlegend neu strukturierten. Die räumli-che und zeitliche Trennung von Arbeit und privatem Leben hatte dabei auch weitreichende politische Folgen, die sich etwa in der spezifischen Grenzziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten in der Moderne offenbaren.23

3) Schließlich entkoppelte sich die Arbeitszeit vom Arbeitsgegenstand, d.h., sie wurde nach einer abstrakten, durch Kalender und Uhr bestimmten Dauer festgelegt und nicht mehr in Abhängigkeit von den je anstehenden Aufgaben oder Ereignissen (durch welche die Tätigkeiten in traditionalen, insbesondere in agrarisch dominierten Gesellschaften zeitlich strukturiert sind bzw. waren) be-stimmt. Beginn und Ende der Arbeitszeit wurden von nun an durch die Werks-sirenen oder die Stechuhr, nicht mehr durch die Erfordernisse der Arbeitsaufgabe festgelegt. Diese Ersetzung der traditionsbestimmten „Ereigniszeit“, nach der Dauer und Tempo von Tätigkeiten und Ereignissen durch deren natürlich und historisch bestimmten Charakter bzw. ihre durchaus Schwankungen unterworfe-ne „Eigenzeit“ bestimmt werden, durch ein abstraktes, lineares Zeitraster, mittels 22 Marx (1972: 271). 23 Vgl. Giddens (1987: 151).

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dessen nun der zeitliche Rahmen von Tätigkeiten und Ereignissen im Voraus festgelegt wird, stellt eine Voraussetzung für die Planbarkeit und damit für die zeitliche Manipulierbarkeit und mithin die Beschleunigung sozialer Vorgänge dar. Mit ihr wandelte sich der temporale Aufmerksamkeitsfokus von der Auf-gaben- oder Ereignisorientierung hin zu einer abstrakten Zeitorientierung. Die Zeit des Industriekapitalismus, die, wie Giddens zurecht immer wieder hervor-hebt, einerseits durch die Zeitökonomie des Kapitalismus, andererseits aber auch durch die spezifische technische Logik der Industrieproduktion bestimmt wird,24 stellt sich damit als abstrakte, lineare und doch zugleich, wie etwa die Kämpfe um die Arbeitszeit deutlich machen, polarisierte Zeit dar.

Die Durchsetzung jener festen Arbeitszeiten und Zeittakte in den Fabriken war während der industriellen Revolution mit teilweise heftigem Widerstand verbunden, etwa dort, wo Arbeiter die Werksuhren als zentrales Signum dieser Entwicklung zerstörten oder die Montage hartnäckig ‚blau‘ machten und dabei die ganze Sanktionsgewalt des neuen Produktionsregimes zu spüren bekamen.25 Weit wichtiger und wirkungsvoller für die Internalisierung des neuen Zeitkon-zepts als unmittelbarer Zwang waren und sind jedoch all jene Institutionen der modernen Gesellschaft, in denen die entsprechenden Orientierungen und Prakti-ken habituell eingeübt werden, also (neben den Fabriken) die Krankenhäuser, Gefängnisse, Kasernen, Kindergärten und vor allem die Schulen.26 Die Zeit er-weist sich bei näherem Hinsehen geradezu als das Hauptinstrument der insbe-sondere von Michel Foucault analysierten Disziplinargesellschaft der Moderne. Die Befolgung strikter Zeitdisziplin spielt in allen genannten Institutionen, deren Aktivitätsmuster stets durch ein meist sehr starres, abstraktes zeitliches Schema bestimmt werden (man denke etwa an den Zeittakt von Stundenplänen, Fahrplä-nen, Haftstrafen etc.), eine herausragende Rolle und erscheint als ein zentrales Disziplinierungsziel. Uhren stellen dabei Überwachungsinstrumente par excel-lence dar, weil sie die durch Natur oder Gewohnheit bestimmten Eigenrhythmen der Menschen brechen; sie sind auch in diesem Sinne eine Voraussetzung für die Entfesselung der Beschleunigungs- und Wachstumsdynamik der Moderne, was Lewis Mumford zu seiner bekannten Feststellung veranlasste, die Uhr, und nicht etwa die Dampfmaschine, sei die ‚Schlüsselmaschine‘ des Industriezeitalters.27

24 Giddens (1987: 149ff, 1995a: 75ff). 25 Vgl. etwa Scharf (1988a), Negt (1988) Thompson (1967). 26 Vgl. Richter (1991: 40), ferner Treptow (1992: 9ff) und Garhammer (1999: 73ff). 27 Mumford (1934: 14); zum komplexen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des modernen

Zeitbewusstseins und der Geschichte der Einführung und Verbreitung der mechanischen Uhr, der Schlaguhr und schließlich der Präzisionsuhr im Kontext klösterlicher Routine, städtischer Herrschaft und (späterer) Industrialisierung vgl. Dohrn-van-Rossum (1988), LeGoff (1977), Trift (1988).

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Die in die Körper einzuschreibende Zeitdisziplin besteht dabei in erster Linie in der Fähigkeit, das eigene Handeln an einem abstrakten Zeitschema zu orientie-ren, also pünktlich zu sein und je gegebene Bedürfnisse (etwa Schlaf, Hunger oder den Drang, auf die Toilette zu gehen) zugunsten der Vorgaben des festge-legten Zeitschemas zurückzustellen, mithin Bedürfnisbefriedigungen aufzu-schieben, Impulsregungen zu unterdrücken, Höchstleistungen und Erholphasen auf abstrakte Zeitpunkte hin zu konditionieren etc.

Nun soll hier keineswegs behauptet werden, die genannten sozialen Institu-tionen und die in ihnen vermittelten Zeitorientierungen seien ausschließlich – etwa im Sinne einer Basis-Überbau-Beziehung – eine Folge und Nebenwirkung der kapitalistischen Organisation der Wirtschaft. Sie sind ebenso sehr Folgewir-kungen und Erfordernisse der funktionalen Differenzierung (die ohne die Orien-tierung an abstrakten Zeitrastern zur Koordination und Synchronisation von Handlungen nicht denkbar wäre), der politischen Organisation und Rationalität des Nationalstaates und Militärwesens wie auch der spezifisch okzidentalen Kul-tur des Rationalismus. Diese bilden erst im Verbund und nach dem von Weber herausgearbeiteten Muster von „Wahlverwandtschaften“ das charakteristische Geflecht moderner Institutionen.28 Insofern davon auszugehen ist, dass Ideen und Institutionen sich in einem wechselseitigen und interdependenten Anpas-sungsprozess ko-evolutionär entwickeln und verändern, soll hier darauf verzich-tet werden, eine monokausale oder unilineare Priorität der ökonomischen, der sozialstrukturellen oder der kulturellen Entwicklung zu postulieren.29

Als primärer und unmittelbarer Antriebsfaktor in der Dimension der techni-schen (und technologischen) Beschleunigung30 ist die zeitökonomische Konkur-renzlogik des kapitalistischen Wirtschaftens jedoch unbestreitbar – die unent-wegte Beschleunigung von Transport, Kommunikation und Produktion findet in dieser ihre herausragende Ursache, und der von ihr ausgehende Akzelerations-druck beschränkt sich selbstverständlich nicht auf den Bereich technologischer Innovation, sondern erstreckt sich auch auf Entwicklungen in der Arbeitsorgani-sation und, von da aus gleichsam in andere Gesellschaftssphären „ausstrahlend“, in der modernen Verwaltung, der Wissenschaftsentwicklung, der Rechtsanpas-sung etc. Die gewaltigen technischen Revolutionen der Neuzeit stehen letztlich

28 Dazu ausführlich Rosa (2005: Teil 3); vgl. ferner auch Giddens (1995b: 75ff). 29 Vgl. Rosa (2004). 30 Die technische Beschleunigung bildet neben der Beschleunigung des sozialen Wandels und der

Beschleunigung des Lebenstempos eine der drei zentralen, logisch und analytisch voneinander unabhängigen Beschleunigungsdimensionen der modernen Gesellschaft; sie schließt sich mit den beiden anderen Dimensionen zu einem sich selbst antreibenden ‚Beschleunigungszirkel‘ zusam-men (Rosa 2005: 124ff und 243ff).

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im Dienste der Uhr und nicht etwa umgekehrt: Sie ermöglichen (zeitökonomisch effiziente) Beschleunigung. Hinter der die Industriegesellschaft beherrschenden Logik der Technik steht daher die Logik der Uhr, was Paul Virilios These, dass die ‚dromokratische Revolution‘ tiefschürfender und umfassender sei (und früher einsetze) als die industrielle und an der eigentlichen Wiege der Moderne stehe, durchaus Plausibilität verleiht.31

Die Vermutung, dass die Akzelerationsdynamik der Moderne weniger aus ihrem institutionellen Arrangement herauswächst als vielmehr diesem zugrunde liegt, erhärtet sich indessen rasch, wenn wir uns die institutionellen Veränderun-gen der postindustriellen Gegenwartsgesellschaften unter dem Eindruck der „Globalisierung“ vor Augen führen. Hier erweist sich nämlich, dass das klas-sisch-moderne Arbeitszeitregime und mit ihm zumindest zwei der oben heraus-gearbeiteten drei zeitlichen „Entkopplungen“ der industrialisierten Moderne da-bei sind, sich zu (auf den ersten Blick) vorkapitalistisch anmutenden Mustern zurückzuentwickeln.

Die aktuellen Trends zur flexiblen Produktion, zur räumlichen und zeitli-chen Deregulierung der Arbeit und zur „Just in Time“-Fertigung und -Lieferung erodieren, so lautet der Befund der zeitgenössischen Arbeits- und Industriesozio-logie,32 der Tendenz nach das starre Regime der Normalarbeitszeit, führen un-übersehbar Elemente der Aufgaben- oder Ereignisorientierung wieder in die Ar-beitssphäre ein und bewirken allmählich eine neuerliche räumliche und zeitliche Ent-Differenzierung von Arbeit und „Leben“ bzw. Freizeit. Dies gilt insbesonde-re, aber nicht nur, für neue Berufszweige, etwa die Arbeitswelt der so genannten „New Economy“, und für hochqualifizierte Beschäftigte. Immer häufiger ist die ‚Arbeit‘ in der spätmodernen Gesellschaft nicht mehr dann zu Ende, wenn die Uhr auf Fünf zeigt oder der Kalender das Wochenende ankündigt, sondern dann, wenn die gestellte Aufgabe erledigt – und das heißt in der Regel: der Fertigstel-lungstermin eingehalten oder der Projektauftrag33 erfüllt – ist. Daher beginnen inzwischen sogar herkömmliche Fertigungsbetriebe dazu überzugehen, ihre Werks- und Stempeluhren wieder abzuschaffen und selbst auf Anwesenheitskon-trollen zu verzichten. Das Arbeitspensum wird dann nicht mehr durch die Uhr, sondern wieder durch den Gegenstand vorgegeben, d.h., es wird wieder aufga-ben- oder ereignisorientiert definiert, was aus der Sicht der marxistisch inspirier- 31 Vgl. Virilio (1980: 61f). 32 Piore/Sabel (1984), Behr (1999), Voß (1998: 2001). 33 Der verbreitet zu beobachtende Übergang von langfristig routinisierter Arbeit zur „Projektarbeit“

bzw. zu (oftmals in Teams zu erledigenden) Arbeitsprojekten ist dabei nur ein Symptom der Erset-zung einer an abstrakt-starren und extern vorgegebenen Zeitmustern orientierten Arbeit durch kurz- und mittelfristig terminierte, aber in sich relativ autonom und flexibel gestaltbare Tätigkeiten.

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ten Industriesoziologie einer für den Kapitalismus geradezu undenkbaren Revo-lution gleichkommt.34 Diese Umkehrung kapitalistischer Zeitpraktiken ist eben-so auffällig eine scheinbare Rückkehr zu vormodernen Verhältnissen wie die neuerliche räumliche und zeitliche De-Differenzierung der Lebenssphären. In der Spätmoderne wird die Arbeitsstelle tendenziell wieder zu einem Teil der Le-benswelt und umgekehrt; Arbeit wird mit nach Hause genommen oder gleich dort erledigt, lebensweltliche Belange und auch Ansprüche werden wieder in die Arbeitssphäre eingeschleust. Paradigmatisches Beispiel für die erstere Entwick-lung ist die Telearbeit, wenngleich deren Verbreitungsgrad entgegen der wissen-schaftlichen Beachtung, die sie gefunden hat, noch nicht sehr hoch ist.35 Stell-vertretend für die letztere Entwicklung seien die Bemühungen vieler Betriebe genannt, es den Arbeitnehmern zu ermöglichen, ihre Kinder mit zur Arbeitsstelle zu nehmen oder dort kulturellen und sportlichen Bedürfnissen nachzugehen, und so neue Formen betrieblicher „Vergemeinschaftung“ zu fördern.36 Dadurch (ebenso wie durch die gesellschaftliche Aufweichung etwa der Feiertags- und Schließzeitenbestimmungen) wird auch die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit wieder durchlässig und es kommt zu neuartigen Gemengelagen zwi-schen öffentlichen und privaten, arbeitsbezogenen und persönlichen Interessen.37

Diese Entwicklung zeugt von der enormen Veränderungs- und Wandlungs-fähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems, dessen Transformationskapa-zität und Vielgestaltigkeit in der jüngsten Zeit dazu geführt hat, eine einheitliche Entwicklungslogik bzw. die Einheitlichkeit „des“ Kapitalismus überhaupt in

34 Die inzwischen breitangelegte Forschung in diesem Bereich mahnt zwar zurecht zur Vorsicht vor

einer Übergeneralisierung dieses Befundes: Noch dominiert in vielen, vor allem in den hoch-mechanisierten und mit gering qualifiziertem Personal arbeitenden Betrieben, das „klassisch-moderne“ Arbeitszeitregime, das sich im Zuge des Niedergangs der „New Economy“ und der mit ihr aufgestiegenen jungen Managergeneration vorübergehend sogar wieder zu festigen scheint und damit die viel diskutierten „Grenzen der Entgrenzung von Arbeit“ sichtbar macht. Dennoch scheint mir die aufgezeigte Entwicklung in ihrer richtungweisenden Tendenz unbestreitbar.

35 Natürlich sind Telearbeiter nicht die Einzigen, für die diese neu-alte Aufgabenorientierung zu-trifft: Aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten ständiger bedarfsorientierter Erreichbarkeit und räumlicher Unabhängigkeit mittels transportabler Computer und Mobilfunk trennen inzwi-schen nicht mehr nur (Sozial-) Wissenschaftler, sondern etwa auch Immobilienmakler, Program-mierer oder Versicherungsvertreter immer weniger zwischen Arbeitszeit und Freizeit bzw. wech-seln in kurzen und unregelmäßigen Rhythmen weitgehend raum-indifferent zwischen Freizeit und Arbeit hin und her.

36 Vgl. Behr (1999: 145ff) oder Deutschmann (1989). 37 In diesem Zusammenhang steht die aktuelle arbeitssoziologische Diskussion um die spätkapita-

listische „Entgrenzung“ und „Subjektivierung“ der Arbeit; vgl. Voß (1998, 2001), Behr (1999), Schneider/Limmer/Ruckdeschel (2002), Döhl/Kratzer/Moldaschl/Sauer (2001) und Moldaschl/ Sauer (2000).

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Frage zu stellen.38 Dieser Zweifel ist jedoch meines Erachtens nur die Folge einer einseitigen analytischen Beschäftigung mit ihm.39 Der Versuch, die geschichtli-che Bedeutung dieser Produktionsweise und ihre Relevanz für die Lebens- und Gesellschaftsform der Moderne zu bestimmen, kann grundsätzlich zwei Richtun-gen nehmen. In der die bisherige sozialwissenschaftliche und politische Kapita-lismus-Diskussion zumeist dominierenden Variante richtet sich der Blick auf die sozialen Trennungen, Spaltungen und Widersprüche, welche mit dieser Wirt-schaftsform einhergehen, insbesondere auf diejenigen zwischen Klassen und Schichten oder zwischen entwickelteren und ‚rückständigeren‘ Nationen.40

Die andere, bisher eher vernachlässigte Analyserichtung konzentriert sich dagegen auf jene formativen Elemente, welche die moderne Lebens- und Gesell-schaftsform und ihre Dynamik jenseits der und über die Klassengrenzen hinweg bestimmen. Die Notwendigkeit einer erneuten sozialwissenschaftlichen Aus-einandersetzung mit dem Kapitalismus vor allem aus dieser letzteren Perspektive scheint mir mit Blick auf die hier diskutierten Entwicklungen auf der Hand zu liegen, denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es weit mehr als die Klassen-gegensätze und die damit verbundenen gesellschaftlichen Widersprüche die der kapitalistischen Wirtschaft inhärenten Wachstums- und Beschleunigungszwänge und -versprechen sind, welche die Lebens- und Gesellschaftsform der Moderne in einer sich stetig verschärfenden Weise prägen. Es sind diese beiden in der ka-pitalistischen Zeitökonomie zusammenlaufenden Steigerungsprinzipien, welche sich über alle geschichtlichen Transformationsprozesse des Kapitalismus hinweg durchhalten. Sie bleiben kulturprägend und strukturbildend für liberalkapitalisti- 38 Vgl. Elmar Altvaters Aufsatz für die Zeitschrift Erwägen, Wissen, Ethik (Altvater 2002) und die

dort abgedruckten Diskussionsbeiträge dazu. 39 Zum Folgenden vgl. Rosa (2002). 40 In diese Kategorie fallen auch die vieldiskutierten Arbeiten von Michael Hardt und Antonio

Negri (2001, 2004), deren analytische (oder „ontologische“) Basis die Unterscheidung bzw. der „Grundwiderspruch“ zwischen „Empire“ und „Multitude“ bildet. Hardt und Negris Festhalten an der Definition eines Proletariats als potenziell revolutionärer oppositioneller Klasse macht jedoch zugleich die kategoriale Unzulänglichkeit ihres Ansatzes für die Deutung der spätmodernen Ge-sellschaftswirklichkeit deutlich. „[A]ll of [the] diverse forms of labor are in some way subject to capitalist discipline and capitalist relations of production. This fact of being within capital and sustaining capital is what defines the proletariat as a class“, schreiben Hardt und Negri (2001: 53) und demonstrieren damit unfreiwillig, dass dieses „Proletariat“ keine Klasse bildet, sondern die Lebensverhältnisse aller handelnden Subjekte in den entwickelten Gesellschaften beschreibt. Denn auf wen sollte diese Definition nicht zutreffen? Insofern mehr oder minder alle Subjekte in modernen Gesellschaften den weit in die Subjektivitätsformen und das Körperverhältnis hinein-reichenden Zwängen des Kapitals unterworfen sind, sind Widerstandspotenziale keineswegs in erster Linie entlang der Klassenkonfliktlinien oder in der „Arbeiterklasse“ zu suchen, wie Hardt und Negri nahelegen, sondern eher in den auf individuelle und politische Selbstbestimmung ge-richteten Traditionen dieser Gesellschaften zu finden.

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sche Gesellschaften auch dann, wenn sich Klassengegensätze verflüchtigen, Pro-duktionsmitteleigner und Proletarier nicht mehr zu unterscheiden sind und ein ‚revolutionäres Subjekt‘ nirgends mehr auszumachen ist, und sie üben einen enormen Einfluss darauf aus, welche Lebensformen und gesellschaftlichen Pro-jekte denkbar und realisierbar werden.41

Was daher den beschriebenen spätmodernen Entwicklungen unverändert zugrunde liegt und sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Produkti-onsformen des Kapitalismus hindurchzieht, ist die Geltung zeitökonomischer Imperative: Reformen und Veränderungen standen und stehen stets unter dem Diktat der Zeiteffizienz, und es ist insbesondere die Logik der Beschleunigung, welche sich durch die und hinter der vielbestaunten Flexibilität und Variations-fähigkeit des Kapitalismus unvermindert Bahn bricht – wenngleich diese Logik in unterschiedlichen historischen, geographischen und kulturellen Kontexten zu unterschiedlichen Arrangements führt, also etwa „rheinische“, „angelsächsische“ und „asiatische“ Spielarten des Kapitalismus hervorbringt.42 Was diese Spiel-arten verbindet, ist ihre Unterordnung unter die Gesetze der kapitalistischen Zeit-ökonomie, wenngleich dabei zu vermuten steht, dass ihre Kalkulationshorizonte in der zeitlichen Extension durchaus variieren. So gilt der angelsächsische Kapi-talismus als an kurzfristigen, das rheinische Modell dagegen als an langfristigen Effizienzsteigerungen orientiert.43 Sollte sich dabei, wie immer wieder postuliert wird, im Zuge der „Globalisierung“ das erstere Modell in der Tat weltweit durchsetzen, käme dies in temporaler Perspektive gewissermaßen einer Verkür-zung des Beschleunigungshorizontes gleich.

Von hieraus eröffnet sich ein verblüffender Blick auf die Entwicklungs-dynamik kapitalistischer Systeme: In Analogie zu Marx’ Bestimmung des ge-schichtlichen Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen drängt sich nämlich der Eindruck auf, die Steigerung der Geschwindigkeit bzw. die Zunahme der Beschleunigungskräfte sei das eigentlich treibende Moment der (kapitalistischen) Geschichte. Denn der Beschleunigungsdruck bringt stets aufs Neue Zeitpraktiken und -institutionen hervor, welche die Akzelerationsdynamik 41 Ebendiese zweite Variante scheint denn auch in der neueren neo-marxistischen Forschung im an-

gelsächsischen Bereich, etwa in den Arbeiten David Harveys (1999), Fredric Jamesons (1998) oder auch Moishe Postones (1996), die Oberhand zu gewinnen.

42 William Scheuermans Kritik an meiner Identifizierung „des“ Kapitalismus als einem der Haupt-antriebsmotoren der sozialen Beschleunigung, sie lasse unklar, welche Erscheinungsform des Kapitalismus ich im Auge hätte (Scheuerman 2003: 42), trifft daher ins Leere: Das Argument lautet gerade, die Dynamisierungswirkung sei das ihre Erscheinungsformen verbindende Charak-teristikum dieser Wirtschaftsweise.

43 So etwa Sennett (1998); siehe dazu auch Garhammers vergleichende Untersuchung (1999) sowie Streeck/Höpner (2003).

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eine Zeitlang weiter zu steigern vermögen, ehe sie selbst an ihre Geschwindig-keitsgrenzen stoßen, d.h. zu Beschleunigungshemmnissen werden und daher schließlich von den durch sie selbst erzeugten Beschleunigungskräften „über-wunden“ werden.

Die Institutionalisierung der formalen, streng linearen, abstrakten Zeit im Zeitalter der Industrialisierung und die damit einhergehende strikte raumzeitliche Trennung von Arbeit und „Leben“ erscheinen aus dieser Perspektive gleichsam als ‚Hebel‘ für die Ingangsetzung eines Prozesses ungeahnter Beschleunigung, zuerst der Produktion und Zirkulation und schließlich des gesamten gesellschaft-lichen Lebens. Die Entfaltung der Beschleunigungspotenziale beruhte dabei just auf der Entlastung der ausdifferenzierten Arbeitssphäre von lebensweltlichen Be-langen: Durch deren strikte Exklusion wurde die Schließung der „Poren der Ar-beitszeit“ erst möglich; innerhalb der Arbeitssphäre konnte sich damit die zeit-ökonomische Rationalität ungehindert und vollständig durchsetzen. Fordismus und Taylorismus und die Arbeit der REFA und der MTM-Ingenieure optimierten die Zeiteffizienz in einer Weise, wie sie nur unter den Bedingungen eines „Sys-tems bezahlter Indifferenz“44 möglich ist, d.h. in einer von allen lebenswelt-lichen, privaten und subjektiven Bezügen „gereinigten“ Arbeitswelt. Auf der an-deren Seite hatte diese strikte Funktions- und Sphärentrennung für die arbeitenden Subjekte den Vorteil, die Privatsphäre bzw. die „Lebenswelt“ in Habermas’ Sinne von ökonomischen Ansprüchen und (instrumentell-strategi-schen Rationalisierungs-) Erfordernissen zu entlasten.45 Konsequenterweise galt der ökonomische Kampf zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der von diesem Arbeitszeitregime geprägten, industrialisierten „klassischen“ Moderne zunächst vorwiegend der Frage, wie viel Gewicht den jeweiligen Sphären zu-kommen solle, also der Länge der Arbeitszeit.46

Im späten 20. Jahrhundert erwiesen sich indessen die Beschleunigungsmög-lichkeiten des fordistisch-tayloristischen Regimes als erschöpft und ausgereizt,

44 So Behr (1999: 44) in Anlehnung an Luhmann. 45 Habermas (1981: 471). 46 Die Intensivierung der Arbeit stellt dann bereits die zweite Stufe der Entfaltung der kapitalisti-

schen Beschleunigungslogik dar: Wie schon Marx (1972: 245ff, 279ff und 425ff) historisch-akribisch herausarbeitete, beschleunigte der Kapitalismus die Kapitalakkumulation im 18. und frühen 19. Jahrhundert zunächst durch die Extensivierung der Arbeit, d.h. durch die Verlänge-rung des Arbeitstages auf bis zu 14, 16 und im Extremfall noch mehr Stunden. Diese Form der Produktionsbeschleunigung stieß jedoch rasch an ihre Grenzen – sie führte zum Verlust der Re-produktionsfähigkeit und ließ den eigentlichen, bezahlten Arbeitsprozess ineffizient werden. Darauf reagierte dieses Wirtschaftssystem mit einer ersten Transformation, die zugleich eine Verkürzung der Arbeitszeit (und damit ausreichend Konsum- und Qualifikationszeit) und öko-nomische Beschleunigung durch Intensivierung der Arbeit zeitigte.

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das mit ihm verbundene institutionelle Arbeitsregime mutierte gleichsam vom zeitökonomischen „Beschleuniger“ zum „Bremser“.47

Erzielte das Arbeitsregime der klassischen Moderne eine Intensivierung (und damit Produktivitätssteigerung oder Beschleunigung) der Arbeit durch den Ausschluss potenziell retardierender subjektiver Sinnfragen und entschleunigen-der lebensweltlicher Zeitpraktiken, so zeichnet sich nun eine Situation ab, in der die ökonomische Dynamik nur noch durch den umgekehrten Prozess einer Re-Subjektivierung der Arbeit und einer „Kolonialisierung“ lebensweltlicher Kom-petenzen und Ressourcen, durch die Aufhebung der Sphärentrennung möglich ist: Arbeit lässt sich heute intensivieren, indem Unternehmen gezielt die Ein-schleusung subjektiver Motivationsenergien und Fähigkeiten fördern und dabei auf die „Eigenzeiten“, die individuellen Rhythmen und die raum-zeitlichen Be-dürfnisse der Subjekte Rücksicht nehmen. Wenn beispielsweise nicht mehr die Betriebsuhr das Erbringen von Arbeitsleistungen reguliert, sondern der Fertig-stellungstermin, eröffnen sich einerseits für die Subjekte neue Gestaltungsspiel-räume, andererseits für die Arbeitgeber jedoch neue Leistungssteigerungs- und damit Beschleunigungschancen. Es ist offensichtlich, dass ein Arbeits(zeit)-regime, das „die Gleichgültigkeit gegen individuelle Rhythmen des Leistungs-vermögens über den Tag, über die Woche, über das Jahr und über das Arbeits-leben ein[schließt]“ und nicht danach fragt, „ob der Mensch gerade Kummer oder eine Erkältung hat“ und „im Prinzip in jeder Stunde die gleiche Anstren-gung“ erfordert und darüber hinaus auch völlig indifferent gegenüber den nicht-ökonomischen Motivationspotenzialen von Arbeitenden bleibt, Intensivierungs-möglichkeiten verschenkt gegenüber einem System, das sich auf eine „Rah-mensteuerung“ beschränkt und die Subjektivierung und Entgrenzung der Arbeit erlaubt und damit die Leistungsverausgabung selbst dynamisiert.48

Zeitökonomische Vorteile ergeben sich für die Unternehmer darüber hinaus aus der Möglichkeit, mittels der vielfältigen Flexibilisierungen der Arbeitszeit, etwa durch individuell gestaltete Arbeitsverträge mit zunehmend kürzeren Lauf-zeiten, durch Arbeitsaufträge „nach Bedarf und auf Abruf“, Zeitarbeitsverhält-nisse etc., ökonomisch ineffiziente Leer- und Fehlzeiten zu eliminieren und auf die effizienteren Formen der gegenüber rasch wechselnden Bedarfslagen reakti-onsfähigen „Just in Time-Produktion“ umzustellen.49 Während – so lässt sich dies deuten – zuerst die moderne Arbeitswelt vor der tradierten Lebenswelt ge-

47 So postuliert etwa Gert Günter Voß (1998: 1; vgl. 2001) einen „tiefgreifenden Strukturwandel“

der Arbeitswelt in allen ihren Dimensionen entlang der hier angedeuteten Entwicklungslinien. 48 Die Zitate sind von Garhammer (1999: 74); vgl. zu dieser These auch Behr (1999: 171). 49 Vgl. dazu ausführlich Garhammer (1999) und Grotheer/Struck (2003).

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schützt werden musste, um ihr Zeitregime etablieren zu können und soziale Be-schleunigung durch Rationalisierung innerhalb ihrer Grenzen zu ermöglichen, ist inzwischen die dabei entwickelte Zeitorientierung und Zeitdisziplin so weit in die alltägliche Lebensführung und die Institutionen auch der Lebenswelt eingedrun-gen, dass nun die gleichsam „umgekehrte Kolonialisierung“ möglich wird: Das Ethos der protestantischen Ethik und ihre Rationalisierungslogik haben auch in der Lebenswelt und in der Freizeitkultur so tiefe Wurzeln geschlagen, dass sie durch diese Ent-Differenzierung nicht mehr gefährdet werden können. Letztere bewirkt vielmehr, dass nun auch die noch bestehenden lebensweltlichen Entschleunigungspotenziale und -oasen zugunsten einer weiteren Beschleunigung von Produktion, Distribution und Konsumtion, und damit des Kapitalverwer-tungsprozesses, erodiert werden können. So konstatiert Gert Günter Voß als Er-gebnis eines Forschungsprojekts zum Wandel der Lebensführung Beschäftigter:

Verallgemeinernd kann [...] festgehalten werden: je ausgeprägter die Entgrenzung von Arbeitsverhältnissen und damit der Zwang zur aktiven Restrukturierung der eigenen Ar-beit ist, um so stärker wächst die Notwendigkeit, den gesamten Alltag gezielt auf die be-ruflichen Anforderungen auszurichten und effizient durchzuorganisieren. [...] Weber hatte eine solche Entwicklung bei bestimmten Gruppierungen [...] registriert und his-torisch verallgemeinert. [...] Nicht ahnen konnte er jedoch [...], dass das ‚bürokratische‘ Ideal der Rationalisierung von Organisationen und Lebensführung möglicherweise ein-mal historisch an Grenzen stoßen würde und in eine neue, auf systematischen Ent-grenzungen beruhende, flexible Form transformiert werden könnte. Genau das scheint sich im Moment zu vollziehen (Voß 1998: 25ff).50

Diese Entgrenzung von Arbeit und Leben zeigt sich auch darin, dass viele Tätig-keiten etwa im Bereich der Weiterbildung, des Opportunitätsstrukturen sichern-den „Networking“ oder der Arbeitsmarktbeobachtung sich gar nicht mehr ein-deutig der Arbeit oder der Freizeit zuordnen lassen: Wer sich abends mit Arbeitskollegen zum Kegeln trifft, dabei aber wichtige Informationen gewinnt, wer sich ehrenamtlich engagiert oder privat weiterbildet, um seine Beschäfti-gungschancen zu erhöhen, wer sich in der Freizeit mit der Lektüre der neuesten Entwicklungen in der Computertechnologie beschäftigt, für die er oder sie sich sowohl privat als auch beruflich interessiert, wer in psychophysischen Well-nesskuren versucht, seine Leistungsfähigkeit und Lebensfreude zu erhöhen, ist stets zugleich privat und beruflich engagiert. Der „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß) ist in allen Belangen seiner Lebensführung auch an Fragen der ökonomi-schen Verwertbarkeit interessiert, er steht auch und gerade aus ökonomischen Gründen in allen Lebensbereichen auf den „rutschenden Abhängen“, die nach

50 Vgl. auch Voß (1990) sowie Sennett (1998).

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Marx und nach Weber die Situation des kapitalistischen Unternehmers kenn-zeichnen: Wenn er nicht hinaufsteigt, so steigt er hinab.51

Angesichts dieser sich im Zuge der gegenwärtigen Transformationen er-gebenden spätmodernen Vermischung von Zeit- und Aufgabenorientierung bzw. von abstrakt-linearer Zeit und Ereigniszeit sowie von Arbeitszeit und Freizeit hat eine Reihe von Zeitsoziologen vorgeschlagen, die Zeitstrukturen der Gegen-wartsgesellschaften mit Hilfe des Konzepts der „Multitemporalität“ zu deuten, das ein situationsflexibles Hin- und Herwechseln zwischen planbarer, linearer und ereignisoffener, ‚verzeitlichter‘ Zeit meint und die neugewonnenen Gestal-tungsspielräume und Zeitsouveränitäten der Subjekte betont. „Am fruchtbarsten [...] ist es, wenn man flexibel zwischen den Welten [...] der Ereigniszeit und der Uhrzeit hin- und herspringt, wie es die Situation gerade erfordert.“52 Es erscheint mir jedoch höchst fraglich, ob dieses Zeitkonzept das spätmoderne „entgrenzte“ Arbeitsarrangement zutreffend charakterisiert. Die zeitökonomischen Imperative kapitalistischen Wirtschaftens beziehen sich weiterhin ausschließlich auf die li-neare, durch Kalender und Uhr bestimmte Zeit, und ebendiese ist auch überall dort ausschlaggebend, wo in und zwischen funktional ausdifferenzierten Syste-men ausgedehnte Interaktionsketten koordiniert und synchronisiert werden müs-sen. Wenn Unternehmen (und zunehmend auch öffentliche Einrichtungen) die Arbeitszeit nicht mehr abstrakt vorschreiben, sondern den Arbeitnehmern oder (Schein-) Selbständigen nur noch Liefer-, Produktions- und Abgabefristen set-zen, so treffen hier lineare Zeit und Ereigniszeit in höchst prekärer Weise aufein-ander: Ohne den stabilen Rahmen kollektiver Zeitinstitutionen und ökonomisch entlasteter „Freizeiten“ soll letztlich eine ökonomische Zeiteffizienz erreicht werden, die noch über der Effizienz des alten regulierten, inflexiblen, linearen Zeitregimes liegt. Daher scheint es mir angebrachter, zumindest im Hinblick auf die sich abzeichnenden neuen Arbeitszeitarrangements von einer ‚Kolonialisie-

51 Die Metapher der „rutschenden Abhänge“ ist eine Leitmetapher meiner Analyse der Auswirkun-

gen des beschleunigten sozialen Wandels (Rosa 2005: 176ff). Tatsächlich kennzeichnet Weber dieses Prinzip als unvermeidliche Folge von (ökonomischen) Rationalisierungsprozessen (1991: 57). Richard Sennett wiederum urteilt in seinem Essay über die Kultur des neuen „Turbo-Kapitalismus“, dass eben dieses Gefühl, jeder Stillstand bedeute unvermeidlich Rückschritt, letzt-lich zu einem auch ökonomisch irrationalen Hyper-Aktivismus führe (1998: 99ff). Die damit verknüpfte Haltung identifizieren interessanterweise auch Robinson und Godbey in ihrer Zeit-budgetanalyse (1999: 45) als einen dominanten Trend der Lebensführung: „From such a perspec-tive, the line between free time and work is largely irrelevant – to do nothing is to be nothing, and both work and free-time activity are important in defining who we are. It is little wonder that the preparation of résumés has become a science and that such résumés now often include informati-on about people’s free-time activities as well as their work activities.“

52 Levine (1999: 141, 283ff), ebenso Geißler (1999: 168ff).

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rung der Ereigniszeit durch die lineare Zeit‘ – und der Zeitautonomie durch die -heteronomie – zu sprechen, und diese Form der Kolonialisierung führt, wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, zu ‚hochsituativen Zeitpraktiken‘, nicht nur auf der mikrosozialen Ebene individueller Lebensführung, sondern ebenso im makrosozialen Bereich politischer Steuerung und Gestaltung, ja sogar noch auf dem Feld wirtschaftlicher Strategie selbst.53

Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass sich in der kapita-lismuskritischen Industrie- und Arbeitssoziologie inzwischen bereits eine Art Sehnsucht nach der klassisch-modernen, ‚institutionalisiert-linearen‘ Zeit konsta-tieren lässt, die doch zuvor (aus den gleichen kapitalismuskritischen Motiven heraus) als ‚tote‘, abstrakte, entfremdete und ‚zerstörte‘ Zeit kritisiert wurde.54 In dieser Verkehrung offenbart sich anschaulich, was als Leithypothese der vorste-henden Überlegungen diente, dass nämlich die zeitökonomische Dynamik der kapitalistischen Beschleunigung je nach den Erfordernissen ihrer weiteren Ent-faltung die Institutionen und Handlungsweisen und mit ihnen die Zeitorientie-rungen und Subjektivitätsformen, derer sie bedarf, selbst zu schaffen und wieder zu vernichten versteht. Beschleunigung und Wachstum aber sind in dieser kapi-talistischen Steigerungslogik auch auf der systemischen Makroebene so unmit-telbar miteinander verwoben, dass das „Tempo der Wirtschaft“ an ihren Wachs-tumsraten gemessen zu werden pflegt und Rezessionen als ökonomische Verlangsamung interpretiert werden. Die darin begründete hohe Entwicklungs- und Veränderungsgeschwindigkeit der ökonomisch-technischen Gesellschafts-sphäre wirft indessen dramatische Folgeprobleme für alle anderen Sozialberei-che – für Politik, Erziehung und Bildung, für die kulturelle Reproduktion, selbst für das Rechtssystem und natürlich erst recht für die Ökosysteme – auf. Eine ka-pitalistische Moderne ohne (ins Unabsehbare gesteigerte) Beschleunigungs-zwänge ist jedoch undenkbar. Soziale Entschleunigung ist nur um den Preis einer anti-kapitalistischen Revolution zu haben.

53 So bezeichnen etwa Piore und Sable (1984) die zeitgenössische wirtschaftliche Strategie der fle-

xiblen Spezialisierung als „eine Strategie der permanenten Innovation: eine Anpassung an den dauernden Wandel anstelle des Versuchs, ihn beherrschen zu wollen“ (hier zitiert nach Sennett 1998: 64; vgl. auch Backhaus und Gruner 1998 sowie Hörning, Ahrens und Gerhard 1997; dazu ausführlich Rosa 2005: Teil 4).

54 So etwa bei Sennett (1998) und Garhammer (1999), vgl. auch Rinderspacher (2000).

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Commodification: A Necessary Evil?

Steve Fuller

Critiques of capitalism come in two kinds. One kind attacks capitalism in prac-tice. It is associated with Joseph Schumpeter, who targeted the monopolisation of capital for stifling the entrepreneurial spirit, the very soul of capitalism. The other critique is older and goes deeper, attacking capitalism in principle. It is as-sociated with Karl Marx, who targeted the commodification of labour for alienat-ing us from our common humanity. Whereas Schumpeter was worried about capitalism’s practical tendency to concentrate wealth and thereby arrest the economy’s natural dynamism, Marx objected to capitalism’s principled tendency to evaporate the solid core of our “species being” through the price mechanism. Both critiques retain their power today, though to a large extent, they cut against each other. I shall explore this point here from the commodification side. I take seriously – but ultimately reject – the neo-liberal proposition that commodifica-tion is merely an institutionalised extension of natural liberty. However, this does not deny either the good or the bad consequences that have resulted from this process, both of which are connected, as Marx originally thought, to the kind of person that commodification makes us become.

1 Commodification as the Friend of Liberty and the Enemy of Racism? In the Marxist tradition, commodification is the process by which the use value of things is replaced by their exchange value. In principle, everything is up for sale. Worth is reduced to price, to recall a distinction central to Kantian ethics. While I do not believe that we should reject this critique out of hand, I want to begin with the conceptual obstacles that our neo-liberal times place in the way of accepting it. In particular, complaints about commodification have come to appear old-fashioned, reflecting a mystified view of human activity that ideally resists all ef-forts at comparative evaluation. If nothing else, the great advantage of demanding a price for everything is that it forces us to consider explicitly the cost we are will-ing to bear for the benefit we would like to receive. After all, is there an activity so inherently valuable that any improvements, let alone a radical transformation, if not outright replacement, would always violate what is worth preserving about the activity? It would seem that to complain about the alienation of labour today is to risk sounding like an enemy of efficiency and, worse, a rent-seeking protector

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of guild privileges. The decline in the political power of organized labour over the past three decades speaks to this now widespread perception.

From the neo-liberal standpoint, starting with Böhm-Bawerk’s original cri-tique of labour theory of value and continuing to Ludwig Mises and Friedrich Hayek, what Marx called “commodification” was simply a metaphysically prejudiced way of talking about something rather positive, namely, the basic freedom to exchange my own activities and products for those of others in order to satisfy my wants as I see fit. On this view, there is no principled difference whether I satisfy my hunger for bread by working a certain amount of time or paying a certain amount of money for it or, for that matter, financing a surgical procedure that inhibits my hunger altogether. All of these transactions, if agreed freely by the traders concerned, constitute valid exchanges. Indeed, as Nozick (1974) notoriously advised, if in doubt, turn to the terms entitled by the original contract: Any outcome permitted by a freely negotiated contract is legitimate. To be sure, at the end of a sufficiently long sequence of exchanges negotiated by such contracts, the traders may have been transformed beyond all recognition, so as to have “sold their souls” – at least in the eyes of some. However, that pros-pect by itself causes no problems for the neo-liberal, who differs from the Marx-ist in holding a resolutely anti-essentialist view of humanity.

This point raises an interesting presupposition of commodification, which has equally interesting consequences. As Randall Collins (1999: 206f) has ob-served, capitalism broke with earlier forms of political economy in its principled refusal to treat people as outright property, say, through marriage or slave mar-kets. Of course, this did not prevent people from engaging in transactions that severely disadvantaged them, even to the point of compromising their effective freedom. But all of these transactions presupposed, however unrealistically, a distinction between the trading agent and whatever goods or services she might wish to sell: In capitalism, everything potentially has a price except oneself. This moment of “transcendental subjectivity”, as Kant might say, casts a new, albeit unflattering, light on the increasing insistence of the intellectual property rights of native peoples (Brown 2003). Such ‘indigenisation’ of knowledge assumes an intimacy between modes of knowing and being that recalls pre-capitalist, if not racialised, forms of identity.

Take the case of transnational agribusinesses that contract with Indian peas-ants to gain access to their traditional knowledge of the land, which the firms then treat as raw material to convert into patentable life-forms, teachable skills and commercial products. Most accounts of this instance of commodification are critical (e.g. Gupta 2007). Even though the peasants might enjoy short-term windfalls from the transactions, they are presented as having sold their birthright and compromised their political position in the wider society where they must

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continue to live. However, this negative appraisal of commodification makes two interrelated and problematic assumptions.

The first is that the natives are spontaneously inclined to share their knowl-edge, on the basis of which claims to intellectual property for techniques used to extract the relevant knowledge are largely exaggerated. The second is that the preservation and extension of indigenous knowledge requires promoting the wel-fare of the people who are currently the main possessors of that knowledge. These two assumptions are interconnected when the appropriation of indigenous knowledge is treated as a potential restriction, if not violation, of human rights. However, it is possible to grant that the human rights of indigenous peoples should be protected and that the integrity of the knowledge traditionally pos-sessed by such peoples should be maintained, yet also hold that these are matters best handled as two separate legal issues. Contra the defenders of indigenous knowledge, knowing and being are not identical, and hence knowledge policy is not reducible to identity politics.

Put bluntly, indigenous peoples deserve to be respected as human beings even if they are not best placed to continue the forms of knowledge native to them. For example, the future of a minority language may be in safer hands at a world-class university linguistics department specifically dedicated to its preser-vation than in the last remaining community of native speakers who are forever tempted to abandon the language for the sorts of social and economic reasons they share with majority language users. Similarly, the harvesting of DNA from near-extinct biological species may provide a more secure route to species sur-vival than the much more costly and less certain maintenance of living species members in their natural ecologies. This point is evaded by presuming that the indigenous impulse to share knowledge amounts to making it universally avail-able. However, such spontaneous impulses are not sufficient to constitute an ac-tive policy of universalisation, just as the sheer removal of restrictions to knowl-edge access does not ipso facto turn knowledge into a public good. Contrary to those still in the sway of the Scottish Enlightenment, freedom and benevolence cannot make up for a lack of incentive and material resources. Whatever their ul-timate motives, commercial firms and scientific disciplines are well designed to globalize knowledge in a way well-meaning indigenous peoples are not.

Behind the neo-liberal resistance to the prerogatives of indigenous knowl-edge lies a more general point about human evolution, namely, the fundamen-tally contingent character of the specific assortment of genes that enables a rela-tively enclosed population to survive in a given region over a long period, during which they may develop distinctive forms of knowledge as part of what Richard Dawkins (1982) calls their “extended phenotype” (aka culture). This is not only a theoretical point about population biology but it also reflects the fact that indige-

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nous peoples can successfully transfer both their knowledge and their genes to other humans in other places: They can commodify their “biocapital”. In short, defenders of indigenous knowledge fail to recognize the degree of “positive ra-cism” embedded in their claims to intellectual property. As we shall now see, re-gardless of whether one believes that the laws of nature are fixed or known, an implication of knowledge’s universality is its resistance to all proprietary restric-tions. If progress in the law in the modern era has been marked by the removal of hereditary privilege, then the prospect of indigenous intellectual property rights may constitute the final challenge that needs to be overcome.

2 Commodification as the Friend of Knowledge and the Enemy of Power? Through the neo-liberal lens, then, commodification appears as a mechanism by which the integrity of knowledge is not compromised but, on the contrary, ac-tively maintained. An interesting argument to this effect was made by the US le-gal theorist Edmund Kitch (1981), partly to justify five centuries of judicial precedent in the Anglo-American common law tradition to favour of the free mo-bility of labour, even when the employer had invested heavily in the labourer’s training. In effect, it undermined the rationale for such investments by making it easy for workers to take what they have learned to another employer. That the old employer might suffer competitively from her local secrets being divulged to the new one has failed to sway judges in most cases. On the contrary, judges have been more interested in ensuring the overall competitiveness of the market, which means removing bottlenecks in the transmission of knowledge, especially of the sort that would maintain the advantage currently enjoyed by one competitor.

Moreover, judicial reasoning ran afoul of a distinction drawn in human capital theory in economics, namely, between general and specific human capi-tal, for which Gary Becker (1964) had won the 1992 Nobel Prize in Economics. The former refers to knowledge that is of use to the worker regardless of the firm that employs her services, the latter to knowledge that has value only in the con-text of a specific firm. The difference between the knowledge imparted in an academic degree course and on-the-job training captures the spirit of Becker’s distinction. More abstractly, human capital in its general and specific forms cor-responds, respectively, to the distinction between “knowledge” and “informa-tion”, as clarified by the Shannon-Weaver theory of communication, according to which it is in the nature of information to resolve the uncertainty that its re-ceiver experiences about a decision she must take. On this definition, what is in-formative for one receiver – in this case, a firm – may not be so for another if the two receivers possess different background knowledge and action contexts.

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Thus, information can be easily subject to a proprietary regime, once spe-cific receivers are targeted for whom possession of the information would clarify their action context. For everyone else, the same information would offer little or no specific advantage vis-à-vis potential competitors. However, judges realize that the public’s interest in the protection of markets pertains primarily not to the interests of particular traders but to the overall dynamism in the system of ex-change – that is, the ability for information to circulate freely so as to enable agents to be as informed as possible when making choices in line with their re-spective interests. While we have seen that this concern inclines judges to re-move blockages resulting from the knowledge-hording attempts of employers, it equally inclines judges to allow employers to undermine the attempts by individ-ual workers to gain power within a firm by commissioning “knowledge engi-neering” projects that involve the construction of “expert systems” that attempt to make explicit, however imperfectly, workers’ so-called tacit knowledge.

Kitch traces the wisdom of these equilibrating moves to a realization that knowledge lacks some of the basic qualities that would enable its literal treatment as property. In particular, knowledge is not really “divisible”: The fact that you know something does not exclude me from knowing it. All that happens in that case is that the value of your knowledge diminishes because you lose whatever advantage you held over me in my prior state of ignorance. In effect, knowledge is a pure “positional good” in Hirsch’s (1976) sense, the value of which is tied ex-clusively to its scarcity. In that respect, the burgeoning field of “knowledge man-agement” is in the business of maintaining the scarcity of knowledge, upholding its value as “information” in the sense noted above (Fuller 2002).

Kitch characterises the negative consequences of knowledge as a positional good in terms of its “self-protective” character: Whatever positional advantage a solitary knower might have is dissipated as more people come to know the same thing. Thus, the “power” that philosophers from Plato and Bacon onward have associated with knowledge pertains only to the fact that at first it is possessed only by the few. Kitch justifies this phenomenon solely on empirical grounds, noting the difficulty in maintaining trade secrets, both at the level of business practice and formal legislation. In the latter case, the key feature of intellectual property legislation is the time limits placed on the rights bestowed to the prop-erty-holder. Any incentive to invention putatively provided by the prospect of property rights must ultimately recognize the necessarily artificial restrictions they pose to the free flow of knowledge.

Finally, Kitch leaves open the possibility of a more philosophically princi-pled reason for knowledge’s so-called self-protectiveness. One such reason might be that the metaphysics presupposed by the very idea of intellectual prop-erty is wrong. Patent law is an outgrowth of the 18th century Enlightenment

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view that, courtesy of Newtonian mechanics, science had nearly completed hu-man comprehension of nature. In this frame of mind, it made sense to speak of fixed – and known – “laws of nature” that were an intellectual legacy of all hu-man beings, as equal products of the same divine creator. Thus, intellectual property would be a temporary right based on a demonstrated ability to work over a determinate part of that commons so as to benefit oneself in the short term but everyone in the long term. This line of thought, famously enshrined in Arti-cle 1, Section 8 of the US Constitution, assumes easy analogical transfers be-tween “conceptual space” and “physical space”. Thus, an application of the laws of nature is like the application of labour to a plot of land. In this context, a prop-erty right is meant to provide an incentive for perhaps otherwise lazy people not simply to live off the work of others.

However, the analogy between conceptual and physical space does not make sense if the laws of nature are still thought to be up for grabs. It suggests that the fundamental principles that were originally used to assign a patent to an invention may be later shown false. Taking such fallibility seriously, as is rou-tinely done in science and technology studies, casts doubt on the very need to create a specially regulated domain of “intellectual property” beyond the ordi-nary regulation of market transactions. The arguments for a distinct category of intellectual property would then have to be restricted to the purported socio-economic benefits of innovation, regardless of the epistemic security of the prin-ciples on which it might be based. To be sure, these revised arguments might work, but they would be no different from the arguments the state uses to justify financial incentives for any risky private investments.

Notwithstanding the lip service that continues to be paid to Newton-style “laws of nature”, intellectual property legislation has adapted to their fallible character. I refer here to the increasing willingness of judges to follow the prece-dent set by the US Supreme Court in Diamond v. Chakrabarty (1980) to grant patents for biological species (and later mathematical proofs), typically on the basis of some unique codification that permits the species to be created (or the proof to be demonstrated). Such “codification” requires a specially equipped laboratory (or computer) through which the patented object can be presented as the product of a step-by-step process. It matters that the species (or proof) can be reliably produced by this process, not that it represents or instantiates one or more laws of nature. Indeed, the state of our knowledge of such laws is irrelevant for purposes of making the legal point about property rights per se. Thus, it does not matter whether the oil-eating bacterium at dispute in Diamond was geneti-cally engineered from a species that arose as a result of Darwinian natural selec-tion or divinely inspired intelligent design, as long as the bacterium successfully removes oil spills.

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3 Motivating the Marxist Critique: The Market from Teacher to Tyrant We have seen that the neo-liberal account of commodification drives a wedge between knowledge and property sufficiently deep to obviate the need for a dis-tinct legal category of intellectual property. So far, so good. Nevertheless, we should not turn too quickly away from the Marxist critique. At the very least, we should understand how it came about, which might give us a clue as to its con-tinuing relevance. To understand how the commodification of alienated labour became the basis for a profound critique of capitalism, we need to look at the spirit in which the “free market” was first proposed in the 18th century as a panacea for a variety of problems associated with the emergence of the nation-state, a social formation that forced unprecedented numbers of previously unre-lated people to see themselves as sharing a common fate, which over the next two centuries was elaborated as “civic duty” and “cultural identity”. The sense of discipline required sublimated instinctive loyalties and passionate impulses into a refined conception of “self-interest” that could be rationally ascertained and cal-culated from an impartial standpoint (Hirschman 1977).

To be sure, there were sceptics that any such fundamental transformation of human nature was possible. Most notable of such sceptics was the Anglo-Dutch physician Bernard Mandeville, who regarded the project of instilling good motives – moral instruction – as little more than psychic quackery peddled by the priestly classes. His legacy to the discussion is the 1714 satirical poem and commentary, The Fable of the Bees, which coined the phrase much beloved by free market theorists, “Private vices make for public benefits” (Mandeville 1970). However, in its day, Mandeville’s Fable was meant as a contribution to the literature Voltaire later immortalised in the novella Candide – what may be called “anti-theodicy”, that is, a perverse understanding of divine justice that un-dermines ordinary human comprehension.

And Mandeville’s understanding was especially perverse. He was driven to verse in response to parliamentary complaints that a politician was promoting war for personal reasons, as if the value of his actions could be determined by their motives. Mandeville found this critique at once naïve and hypocritical (Runciman 2008: chap. 2). Of course, people act out of self-interest, but, so ar-gued Mandeville, the point of good government is to get them to channel this selfishness into acts that ultimately benefit everyone. Here it is worth recalling Mandeville’s original expression of this sentiment: “Private vices by the dextrous management of a skillful politician may be turned into public benefits.” The interesting point here is that the only thing “invisible” about this “invisible hand” is that people remain as self-interested as ever but they are forced to behave in ways that does good for others. This view, now routinely discussed in terms of “incentivization”, caused great offence in its day because it suggested

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that the most efficient way to get people to do good is not by getting them to want to do good but simply by structuring the environment so that their most likely actions turn out to be good.

Such was the context in which the “free market” was first socially constructed. To appreciate the controversial nature of Mandeville’s perspective, we may liken it to the work of today’s “knowledge engineer” who specialises in the design of “expert systems” and “smart environments” (Norman 1993; Fuller 2002: chap. 3). The knowledge engineer deals with the various biases, prejudices, liabilities and deficiencies in our cognitive powers that regularly compromise our judgement not by proposing rigorous training in formal logic and statistical inference to correct our faults but by capitalising on the predictability of our errors. This enables her to design systems and environments that complement and compensate for those deficiencies, rendering the overall result of our decisions positive. However, the knowledge engineer is under no illusions that her schemes will alter our basic dispositions. While progress may be made in the construction of markets as smart environments, resulting in ever greater productivity, the human organism itself remains fundamentally unchanged, still tainted by a secular cognitive version of original sin.

Despite their mutual differences, Adam Smith and the Marquis de Condorcet were agreed in wanting to reinterpret the significance of free markets to overturn Mandeville’s relatively gloomy prognosis for human improvement (Rothschild 2001). Their strategies moved in opposing directions – Smith retreating from Mandeville’s nascent institutionalism, Condorcet pushing it to the limit.

For his part, Smith de-emphasized Mandeville’s institution-building implications, stressing a much more literal, “naturalistic” reading of Mandeville’s apiary allegory. Thus, Smith left the impression that the removal of the monopoly privileges that the state bestowed on specific producers would enable the “Private vices make for public benefits” principle to emerge as a spontaneously self-organizing process, as everyone reverts to their natural tendency to do whatever they can to survive, which includes producing the sorts of things that make them attractive trading partners. A biological version of this view would resurface in the late 19th century among anarchists and communists, notably Prince Piotr Kropotkin, who wished to derive scientific support for the their political views from the symbiotic aspects of Spencer’s and Darwin’s theories of evolution. Although rarely acknowledged as such, perhaps the latest legacy of this trajectory from Mandeville’s original account of the unsociably social hive is W.D. Hamilton’s applications of game theory to capture the “recip-rocally altruistic” behaviour of organisms as they sustain a common gene pool, the basis of Richard Dawkins’ image of the “selfish gene”.

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In contrast, Condorcet amplified Mandeville’s institutionalism into a full-blown theory of social engineering that used markets as essentially an educa-tional device to enable the emergence of reason through the gradual sublimation of the passions (Fuller 2006). Condorcet’s scenario for the educative function of markets can be rationally reconstructed as follows. Before free markets, state-protected producers act like vain gods, and their captive consumers act like base animals: Producers give what they want in a “struggle for recognition”, while consumers take what they are given in a “struggle for survival”. Producers are thus governed by aesthetic self-expression (“avidity”), consumers by carnal self-gratification (“avarice”). However, neither state approximates the rationality ex-hibited by utility maximisation, which requires the capacity to discriminate from among alternatives. This requires a proliferation of producers, which entails competition among products from which consumers must then select under cog-nitive, temporal and fiscal resource constraints. This mutual disciplining removes both producer pretensions and consumer inertia, resulting in fully rational hu-mans, at least in the sense of utility maximizers.

So, why are we not basking in the afterglow of Condorcet’s educative markets? In a sense, producers and consumers did come to think of themselves in Condor-cetian terms. They realized that they were disciplining each other but they wanted the disciplining process to yield a profit beyond the intrinsic benefit of the process. Thus, consumption and production came to be treated as second-order processes. The mar-ket became “theorised” or “functionalised”, subject to “semantic ascent” or under-went “self-observation”, depending on whether one favours the jargon of analytic philosophy or systems theory. In short, producers aimed not to produce products but to reproduce demand in consumers, which their products then satisfy to varying de-grees on a regular basis. It follows that knowledge itself enters as a third-order proc-ess that increases both the effectiveness of producers to reproduce demand and con-sumers to satisfy it by heightening powers of discrimination all round. In short, all traders become more sophisticated in the “economy of signs”, the sense in which Max Weber’s great rival, Werner Sombart, first used “capitalism” in the title of a book in 1902 (Grundmann/Stehr 2001). The phenomenon was marked by a shift in the locus of market activity from manufacturing to advertising (or, in Thorstein Ve-blen’s terms, “industry” to “business”). Thus, wealth comes more from the posses-sion of knowledge (of how to discriminate goods) than from the goods themselves, whose value waxes and wanes in trade. This development forces consumers to be-come educated in reading the signs needed to navigate through the multiple levels of choice in the marketplace. In effect, consumers assume personal responsibility – and generate corresponding forms of knowledge and accounting (from Ralph Nader’s Consumer Reports to on-line tutorials and webblogs) – that in the past would have been provided for them through state-based licensing and regulation of markets.

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The historical logic of the above developments may be formally represented in the following scheme:

Levels of Commodification

- 1st Order: The ideal market: Producers and consumers trade goods, with char-acter transformation as a possible unintended benefit, as traders become more sensitive to their own and each other’s capacities and needs. (18th century) - 2nd Order: Industrial capitalism: Producers and consumers trade what the goods stand for, with a growth in the supply and demand of goods as an intended benefit. (early 19th century) - 3rd Order: Semiotic capitalism: Producers and consumers trade signs of what the goods stand for, with a growth in the need for trading competence as an unin-tended benefit. (late 19th to early 20th century)

We now face a situation in which knowledge does not merely accelerate com-modification but is itself subject to commodification: - 4th Order: Epistemic capitalism: Producers and consumers trade what compe-tence stands for, with a growth in the supply and demand for knowledge goods as an unintended harm. (late 20th to early 21st century)

4 The Final Verdict: Commodification Is Still Evil Even If Necessary A subtle shift occurs between Marx’s die Ware and its English translation, com-modity, itself based on the French la commodité (Borgmann 2006). The original German die Ware focuses on the idea of a thing whose value is negotiated as a price (as opposed to something whose value is intrinsic and hence non-negotiable, or Wert, as in Max Weber’s Wertrationalität), whereas the Latin root of the English translation focuses on the conceptual space that needs to be made for something to enter the market that would otherwise not be there.

The shift in semantic focus is subtle but significant. Austrian economists like Mises and Hayek who remain close to the spirit of the classical tradition stress the fluctuating nature of prices as literally whatever the particular traders happen to negotiate (Steele 1992). From that standpoint, the value of a commod-ity is inherently indeterminate, as its price is determined from transaction to transaction. A social constructivist would be quite comfortable with this concep-tualisation. However, once Latinised as commodity, Ware comes to stand for a determinate place in the thinking of both buyers and sellers. Take a clear case of something that shifted from a non-market to a market existence: (clean) water. Whereas the original German stresses that the price of water depends on what ac-

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tual traders decide, the Latinised English draws attention to the stable niche that water occupies as a locus of trade: Suppliers regularly make money from water, as consumers budget water among the other goods they require to lead a satisfac-tory existence.

The shift in emphasis raises an interesting conceptual – and political – ques-tion: Which feature of commodification is worse? Is it that something previously treated as intrinsically valuable is now subject to the vicissitudes of the market-place? Or, is it that something previously taken for granted about one’s life-world is now regularly problematised? In other words, does the evil of commodi-fied water lie mainly in what it does to water or what it does to those who now “need” water? Of course, commodification involves both transformations, but the difference in emphasis matters. At a conceptual level, one notes the differ-ence between the inconstancy of price and the constancy of need – neither of which obtained before water was brought into the marketplace. But the political implications arguably matter more. How are states likely to respond to the com-modification of water: Will they retrieve it from the market and convert it into a public good – that is, free at the point of delivery – by a taxation on wealth ac-cording to the principle of “Each according to his ability, to each according to his need”? Or rather, will they stabilise the price of water to affordable levels so that (virtually) everyone can purchase the amount they need? Certainly in these neo-liberal times – if not all times – the latter is politically more plausible. Notice that this political solution seems to express a greater concern for the variability of water prices than the very fact that people are being forced to pay for it.

The starkness of this contrast is not so evident if one focuses mainly on goods like education that did not have a taken-for-granted status in people’s lives until they were explicitly made into public goods. I raise this point because many, especially in the Marcusean strand of Neo-Marxism (e.g. Borgmann 2006), operate with the historically misleading assumption that “in the begin-ning” there were public goods like education, which over time, through the in-exorable march of capitalism, have become commodified. Strictly speaking, wa-ter was not a public good before the rise of capitalism. But it was not a commodity either. Those are not the only alternatives. Just because water has been always a part of our natural existence, it does not follow that societies have felt collectively responsible – let alone implemented the relevant irrigation and sewage systems – for ensuring that everyone in a given region has adequate ac-cess to this necessary substance.

What historians and anthropologists used to call our “primitive” or “subsis-tent” state consisted precisely of people spending most of their days locating the stuff they needed to maintain their existence. People literally lived to find water, which they did sufficiently well to spend 30 or 40 years alive. To call this state

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“primitive communism” may be to romanticize the brute fact that everyone was subject to a common fate. Once primitive life is suitably demystified, the com-modification of water appears as a progressive development, since it meant that the substance could be regularly supplied at a price, freeing up time for people to do other things. Of course, as Marx would quickly point out, that time would be spent doing things that would enable one to purchase the water! From a global evolutionary perspective, it has been argued that even today the commodification of water would represent a step in the right direction for most parts of the world (Seabright 2004: 123-136). In particular, it would help to remove the ideological stigma of “handouts” relating to redistribution that has impeded agreement on water as a public good worldwide.

The idea of water as a public good involves further considerations of effi-ciency based on economies of scale and long-term socio-economic projections, specifically, the multiplier effect to the general welfare of a region if everyone has ample access to free clean water. In that respect, public goods are just as “manufactured” as commodities, reflecting a sensibility that presupposes, not opposes, capitalism. Indeed, the welfare state was always sold as a means of in-creasing society’s productivity by allowing more people to work and spend the fruits of their labours.

But in the end, there is no denying that, given the spiralling senses of mar-ket reflexivity over the past 250 years, commodification has resulted in two complementary harms, each associated with the two major European linguistic renderings of what in English is called commodity, both of which contributed to Marx’s original conceptualisation:

- Harm to the producer: The value of the labour expended to produce a good is reduced to the value that the good can fetch in the market, which reflects more the good’s relative advantage vis-à-vis rival goods in satisfying a common want or need than its intrinsic “frontloaded” qualities. Thus, the good’s use value shifts along with the competitive field, rendering it potentially replaceable, and in that sense “useless”, even though it may continue satisfying the original want or need (in German: die Ware). - Harm to the consumer: A good is reified as something that satisfies a standing want or need. The good thus occupies – or perhaps more precisely “symbol-ises” – a fixed place in the consumer’s moral economy, regardless of whether the corresponding use value is genuinely sustained. In effect, consumer choice is re-duced to which of a field of competitors satisfies something the consumer ex-pects to have provided (in French: la commodité).

By way of conclusion, it is worth spelling out how these complementary harms are exemplified in academic life in today’s neo-liberal knowledge society:

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Commodification: A Necessary Evil? 67

Harm to Knowledge Producer Integrity People are paid according to the efficiency of their knowledge products, i.e. the capacity to accomplish the most with the least. Consequence: Specific forms of knowledge are made more disposable (open question is the general form that defines the market within which specific forms must compete). Examples: 1. Contract-based teachers and researchers replace tenured academics. 2. Automated technology replaces both explicit reasoning and tacit knowledge. 3. Summaries and syntheses replace original works. 4. Short-term product cycles replace long-term significance even in academic settings.

Harm to Knowledge Consumer Integrity People are forced to purchase knowledge products as part of their overall sur-vival strategy. Consequence: General forms of knowledge are made less disposable (open ques-tion is what specific form will satisfy the need/want represented by the general form). Examples: 1. More academic certification is required for comparable levels of employment. 2. The socio-cognitive division of labour implies an increasing alienation of per-sonal decision-making to experts. 3. More gadgets are needed to mediate an ever changing life-world. 4. The increasing reach of intellectual property law introduces tolls and rents as ad hoc costs to knowledge acquisition.

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68 Steve Fuller

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Die Vermessung der unternehmerischen (Um-)Welt. Ein essayistisches Plädoyer für pflegende Peripherien, nachhaltige Haltungen und einen mehrwertigen Kapitalbegriff

Stephan A. Jansen

1 Einleitung „Was sehen Sie eigentlich, wenn Sie ein Unternehmen kaufen?“ Diese Frage stellte der Kunsthistoriker Michael Bockemühl den Teilnehmern eines Kongres-ses zu Unternehmensfusionen und -übernahmen am 18. November 1999. Die Teilnehmer – sämtlich aus der M&A-Profession, von Wirtschaftsprüfern, Bera-tern über Investmentbanker bis hin zu Vorständen – versuchten es redlich. Den-noch blieb die Frage nach einigen Versuchen der Gegenfrage wie „Cash Flows?“, „Umsatz?“, „Bilanzen?“, „Kunden?“, „Produkte?“ eher unbeantwor-tet – zumindest für einen Kunsthistoriker.

Ausgangspunkt der folgenden Analyse ist im engeren und gleichzeitig dop-pelten Sinne die Frage nach der Wertschätzung von Unternehmen. Die die Öko-nomie immer bewegende Frage nach den Werten, die geschaffen und erhalten werden, soll hier weitergehende Anregungen dazu bekommen, was wir sehen, wenn wir ein Unternehmen sehen bzw. es bewerten.

Zwei Annahmen sollen vorangestellt werden: 1. Bewertungsanlässe sind ver-schieden und damit auch die Ergebnisse, die mit verschiedenen Bewertungsver-fahren ermittelt werden.1 Beispielsweise sind Unternehmenszusammenschlüsse besondere Anlässe zur Unternehmensbewertung, auch weil es sich zumeist um eine relative, d.h. interorganisationale Bewertung handelt. Hier wird das vom Kunsthistoriker eingeforderte „Sehen“ durch die sogenannte due diligence in be-sonderer Form praktiziert – durch eine Investigation mit gebotener Sorgfalt. Dass der Kunsthistoriker in einer Einführung über ein solches Thema nicht etwa fehl am Platze ist, sondern vielmehr im Zentrum steht, soll anhand einer Einschätzung von einem der Hauptvertreter der Unternehmensbewertung, Tom Copeland, deut-lich werden: Er gab freimütig zu, dass Unternehmensbewertung mehr eine Kunst als eine Wissenschaft sei.2 Und um was es bei Kunst geht, soll hier mit Joseph

1 Vgl. zu einem Überblick Jansen (2008). 2 Vgl. Copeland/Koller/Murrin (2000: 293). Copeland war übrigens als Referent ebenfalls am obi-

gen Kongress beteiligt.

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Beuys beantwortet werden: „Kunst = Kapital“.3 Um die Entwicklung und Ausdif-ferenzierung des Kapitalbegriffes als Beobachtungsformel für organisationale Werte soll es zusammenfassend in diesem kleinen Essay gehen.

Während die Betriebswirtschaftslehre noch immer zwischen Shareholder- und Stakeholder-Kapitalismus oszilliert und dabei immer die Maximierung bzw. die Optimierung des Unternehmenswertes in den Vordergrund stellt, soll im Fol-genden anhand von vier Fragen eine Vermessung der unternehmerischen (Um-) Welt versucht werden, die auch deutlich macht, dass diese oszillierende Unter-scheidung zwischen Share- und Stakeholdern sich in Zukunft vermutlich immer weniger durchhalten lassen wird.

(1) Die erste naheliegende Ausgangsfrage lautet: In welcher unternehmeri-schen Welt leben wir eigentlich? Die Antworten können nicht eindeutig sein – im Gegenteil.

(2) Nach dieser gesellschaftlichen Erstvermessung wird die Frage nach der Überlebensfähigkeit von Unternehmen unter diesen spezifischen Bedingungen gestellt: Wie alt werden eigentlich Unternehmen heute?

(3) Auf der Basis dieser makroökonomischen Analysen soll mit der dritten Frage eine mikroökonomische Analyse stehen: Was machen langlebige Unter-nehmen anders? Und welche Kapitalien werden hier unterscheidbar im Hinblick auf die Langlebigkeit?

(4) Eine abschließende Frage bezieht sich auf eine besondere Kapitalkate-gorie: die hier als Haltungskapital (oder: Attitude Capital) einer Organisation vorgeschlagene Kapitalkategorie. Was für realökonomische Auswirkungen erge-ben sich aus der Haltung eines Unternehmens?

2 In welcher unternehmerischen Welt leben wir eigentlich? Unternehmen agieren in einem „age of paradox“ wie es der irische Management-philosoph Charles Handy bereits 1994 beschrieb.4 Paradoxien haben die unange-nehme Eigenschaft, dass sie einen besonderen Widerspruch zweier Aussagen kennzeichnen, bei dem die eine Aussage die andere bedingt und gleichzeitig aus-schließt. Wenn Ihnen also beispielsweise ein Kreter sagt, dass alle Kreter lügen, …

Handy schrieb damit eine bereits seit 1946 bestehende Forschungslinie in der Verwaltungswissenschaft fort, die der Nobelpreisträger Herbert Simon be-gründete.5 Er benannte das Problem der Verwaltungswissenschaft, dem Vorläu-

3 Vgl. Beuys 1992. 4 Vgl. Handy (1994). 5 Simon (1946: 52).

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Die Vermessung der unternehmerischen (Um-)Welt 71

fer unserer heutigen BWL, indem er aufzeigte, dass sie nicht mehr als wider-sprüchliche Sprichwörter hervorgebracht habe.6

Im Folgenden stehen in aller Kürze 12 ausgewählte Paradoxien, die für eine erste essayistische Vermessung eine gewisse Komplexität der unternehmerischen Welt bereitstellen sollten:

(1) Das Glokalisierungs-Paradoxon In einer sich globalisierenden, ausdifferenzierenden marktlichen wie kulturellen Welt wird es immer zentraler, lokale Besonderheiten von Güter-, Arbeits- und Absatzmärkten zu berücksichtigen. Die einbahnstraßengleiche Internationalisierung war eine Vorübung. (2) Das Goldfisch-Paradoxon des schweren Angelns in vollen Teichen. In einem von der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) statistisch belegten und von McKinsey so bezeichneten „war for talents“ zeichnet sich ein weltweiter Wettbewerb um die besten Köpfe der von dem US-Politologen Richard Florida als kreative Klasse bezeichneten Bildungs- bzw. Leis-tungselite ab – bei zeitgleich stattfindenden Massenentlassungen in mittlerweile zumeist fünfstelligen Größenordnungen. Die von den Unternehmen zu angelnden Goldfische schwimmen in übervollen Teichen, wobei sich der Anteil der Goldfische am Gesamtfischaufkommen im Teich durch die heutigen demographischen und bil-dungsökonomischen Realitäten morgen noch einmal deutlich verringern wird. (3) Das Employability-Paradoxon der Personalentwicklung Mitarbeiter werden illoyal, weil sie auf die Loyalität des Arbeitgebers nur noch bei Naivität setzen können, aber nicht bei Restrukturierungen, Fusionen oder Outsourcing. In der Personalarbeit wird für die Wiederherstellung von Loyalität unter anderem die Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit (employability) als wichtig angesehen; das bedeutet, die Mitarbeiter so gut weiterzuqualifizieren, dass sie jederzeit zum Wettbewerber wechseln könnten und deswegen bei ihrem ursprünglichen Arbeitgeber bleiben. (4) Das Wohlstandsparadoxon der Demographie Die Bevölkerungsstatistiken sind seit Jahren stabil: Gerade die Familien in wohlhabenden Ländern, die sich Kinder leisten können, können sich Kinder nicht leisten, da die Opportunitätskosten zu hoch sind, d.h. ausfallende Karrieren und Gehälter.7 Damit wird die Nutzung von Talentreserven aus sog. bildungsfer-nen Schichten sowie die Integration von Familien mit Migrationshintergrund nicht nur eine soziale, sondern auch eine ökonomische Verantwortung.

6 Vgl. dazu auch Littmann/Jansen (2000). Oszillodox beschreibt als Kunstwort den Umgang mit

Paradoxien, der logisch nicht im Auflösen, sondern nur konstruktiv im Oszillieren erfolgen kann. 7 Zu den Zahlen vgl. z.B. Herwig Birg, vor allem in den Beiträgen in Jansen/Priddat/Stehr (2006).

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(5) Das Governance-Paradoxon der Hierarchie Große Organisationen werden als kaum mehr steuerbar erlebt. Es zeigt sich, dass in Organisationen zunehmend marktliche Steuerungselemente eingeführt wer-den, wie Verrechnungspreise, spezifische Anreizsysteme, interne Arbeits- und Finanzmärkte oder eben die Profitcenter-Strukturen. Die überlastete Hierarchie verzichtet so – durch hierarchische Entscheidung – zunehmend auf die Steue-rungsmöglichkeiten der Hierarchie, um überhaupt wieder eine Steuerung der Or-ganisation zu ermöglichen. In der Folge geht es um hierarchisierende Heterar-chien, also sich durch Kunden- oder Kompetenzerfordernis temporär hierarchi-sierende Nachbarschaftsordnungen. (6) Das Coopetition-Paradoxon Die Spieltheoretiker wissen es schon länger: Kooperationsspiele zwischen Konkur-renten zahlen sich am Ende des sich wiederholenden Spiels aus.8 Der härteste – und nicht der schwächste – Wettbewerber ist der beste Kooperationspartner, z.B. bei Standardentwicklung, bei Markterschließungen oder bei Forschung & Entwicklung. (7) Das Brausetabletten-Paradoxon der Fertigungstiefe Unternehmen sind wie Brausetabletten. Sie lösen sich zunehmend auf, um da-durch stabil zu bleiben. Die Theorie der Firma von Ronald Coase hat eine Trans-aktionskosten- und Institutionenökonomie angeregt, die das Grenzmanagement zwischen Organisation und Markt beschreibt.9 Durch ein exzessives Outsourcing an den Rändern der Kernkompetenz werden Organisationen hochverletzlich, um so im Wettbewerb bestehen zu können. (8) Das Portersche-Hybrid-Paradoxon der Strategieentwicklung Michael E. Porter, einer der renommiertesten Strategiedenker aus Harvard, hat bei Strategie-Entscheidungen Wettbewerbsvorteile entweder bei der Kostenfüh-rerschaft oder bei der Differenzierung erkannt.10 Um den – natürlich ebenfalls paradoxen – Kunden zu befriedigen, sind die Porterschen Wettbewerbsstrategien zu hybridisieren, d.h. wir brauchen eine Kostenführerschaft in der Differenzie-rungsstrategie bzw. eine Differenzierung in der Kostenführerschaft. (9) Das Routine-Paradoxon der Innovation Unternehmen müssen Innovationen routinisieren.11 Innovationen verlieren die Schumpetersche Anmutung einer „schöpferischen Zerstörung“, also einer unter-nehmerischen Überraschung. Sie sind vielmehr zu zwingend notwendigen Rou-

8 Vgl. Axelrod (1988) und Brandenburger/Nalebuff (1995: 57). 9 Coase (1937: 396) und nachfolgend z.B. Williamson (1994: 269). 10 Porter (1986). 11 de Vries (1997: 79).

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tineprozessen geworden – in der Entwicklung und im Vertrieb. Firmen wie die Brainstore AG im schweizerischen Biel sprechen von Ideenmaschinen und arbei-ten bereits seit 12 Jahren erfolgreich damit.12 (10) Das Kannibalisierungs-Paradoxon der Innovation Es gibt nur eine wirklich gute Konkurrenz für die eigenen Produkte: man selbst. Diese virale Innovationsspirale führt zu erheblich verkürzten Produktlebenszyk-len und stellt Betriebswirte vor das Problem der unmöglichen Amortisation von Investitionen. Deswegen werden kommunikative Innovationen für nahezu Iden-tisches geleistet. Produktinnovationen sind zumeist Inszenierungsinnovationen von Altem – aus Kostengründen. (11) Das Pisa-Paradoxon der Bildung Wir leben in einer Wissensgesellschaft mit ausgesprochen komplexen Heraus-forderungen im Arbeitsalltag. Und nun haben wir ein Wissensproblem vor allem in Schulen und Hochschulen. Genau jetzt wird deutlich, dass Pisa doch in Paris sitzt, denn von dort aus werden die Schul-Studien der OECD erhoben. Die Bil-dungsinvestitionen in Deutschland, einem Land, das nahezu ausschließlich vom Rohstoff Wissen abhängt, sind mit die niedrigsten im Vergleich der OECD-Mitgliedsstaaten.13 (12) Das Kommunikationsparadoxon der Paradoxien Abschließend müssen diese aufgeführten Paradoxien und die Positionierungen darin in einer Kommunikationsstrategie für Kunden, Mitarbeiter, Gewerkschafts-führer, Analysten, Kirchenvertreter, Umweltschützer, Journalisten und viele an-dere gleichsam eingebunden werden.

Aber gute Manager sind genau solche Paradoxiekünstler. Sie sind Oszillations-agenten in einer Gemengelage des „Sowohl-als-auchs“. Es geht um das Unterneh-men und das Überleben und weniger um das Übernehmen. Übernommen haben sich in den vergangenen Jahren ja auch einige, was uns zur nächsten Frage führt.

Die erste – natürlich sehr grobe und feuilletonistisch bleibende – Vermes-sung der Welt ist angedeutet. Wie aber können Unternehmen diese Paradoxien überleben und wie wahrscheinlich ist dies?

12 Schnetzler (2006). 13 Jansen/Göbel (2005: 94ff) sowie Jansen/Dahlmann/Göbel (2004: 66ff).

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3 Wie alt werden eigentlich Unternehmen? Und warum nicht älter? Makro- und mikroökonomische Analysen

Das Wirtschaftsunternehmen ist historisch betrachtet ein wahrer Newcomer in der Welt der Institutionen. In der westlichen Welt schauen wir auf eine empirisch feststellbare Phase von gerade einmal 500 Jahren zurück, in denen Wirtschafts-organisationen im heutigen Verständnis bestehen. Und noch einmal 70 Jahre ist es her, dass die Wirtschaftswissenschaft selbst einen einigermaßen brauchbaren Erklärungsansatz dafür entwickelt hat, warum es überhaupt Unternehmen gibt. Ronald Coase hat für seine Idee der kostengünstigeren Internalisierung von Markttransaktionen auch gleich den Nobelpreis erhalten.14

Die Kindersterblichkeit ist hoch: Jeder fünfte Unternehmer gibt in den ers-ten fünf Jahren auf. Mehr als ein Drittel der neuen Unternehmen wird nicht älter als vier Jahre. Die durchschnittliche Lebenswartung von Unternehmen liegt zwi-schen 40 und 50 Jahren, wie eine interne Studie der Royal Dutch/Shell Group er-gab.15 Ein Drittel der Fortune 500 Unternehmen aus dem Jahr 1970 waren 1983 verschwunden. Eine Studie der Amsterdamer Stratix Gruppe aus dem Jahr 1996 belegt hingegen eine sich dynamisierende Todessucht von Unternehmen: Die durchschnittliche Lebensdauer aller europäischen und japanischen Unternehmen betrug nur noch 12,5 Jahre!

Dennoch gibt es sie, die Methusaleme unter den Firmen: Unternehmen, die mehr als 500 Jahre alt sind. So kann z.B. der schwedische Stora-Konzern auf eine über 700jährige Geschichte zurückblicken. Erstmals im Jahre 1288 als Kup-fermine erwähnt, entwickelte er sich ungeachtet aller politischen und gesell-schaftlichen Veränderungen zu einem heute weltweit tätigen Unternehmen im Holz-, Papier- und Chemiesektor und bewahrte dabei seine Unternehmensidenti-tät. Ein anderes Beispiel ist die japanische Sumitomo-Gruppe, die ihren Ur-sprung im Jahre 1590 in einer Kupferschmelze hatte und heute ein globaler Mischkonzern ist. Als deutsches Beispiel könnte die Molkerei Weihenstephan angegeben werden, die im Jahr 1021 in dem Kloster am Weihenstephaner Berg in Freising ihren Ursprung findet.

Der Niederländer Arie de Geus, 38 Jahre lang Leiter der Strategischen Pla-nung bei Shell, der den Begriff der „Lernenden Organisation“ entscheidend ge-prägt hat, bewies, dass es eine Kluft zwischen der durchschnittlichen Lebenser-wartung und dem maximal realisierbaren Alter gibt. Eine Kluft, hervorgerufen durch die Tatsache, dass sich viele Unternehmen bis heute nicht so schnell ver-ändern, wie es ihnen eine sich ununterbrochen wandelnde Umwelt eigentlich ab-

14 Coase, aaO. 15 de Geus (1997).

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fordert. „Übertragen auf die menschliche Entwicklung befinden sich die Unter-nehmen noch auf der Stufe des Neandertalers“, resümierte de Geus denn auch anlässlich der Jahrestagung der American Society for Training and Development (ASTD) im Frühjahr 2004.

De Geus verfolgt die These, dass die Unternehmen durch hausgemachte Probleme vorzeitig versterben, während die „natürliche Lebenszeit“ wohl bei 200 bis 300 Jahren anzusetzen sei. Kirchen, Universitäten und Armeen haben dem wohl nicht oft etwas voraus, aber hier zumindest einiges dahinter – gemes-sen an organisationalen Lebensjahren. In der Royal Dutch/Shell Group-Analyse aus dem Jahr 1983, die 1997 erstmals überarbeitet in Auszügen veröffentlicht wurde, sind zusammenfassend folgende fünf Schlüsselfaktoren für die Lebens-verlängerung zu finden:16

(1) Umweltsensibilität als Ausdruck der Lern- und Anpassungsfähigkeit des Un-ternehmens.

(2) Bereitschaft zur radikalen Veränderung des Kerngeschäftes. (3) Hohe Kohäsion und Identität zur Bildung einer Gemeinschaft. (4) Toleranz und Dezentralisierung für ein ökologisches Bewusstsein, um kon-

struktive Beziehungen in der eigenen Organisation aufzubauen sowie mit an-deren Organisationen.

(5) Vorsichtige Finanzierung zur Selbstbestimmung über Wachstum und Ent-wicklung des Unternehmens.

Abbildung 1: Schlüsselfaktoren für organisationale Lebensverlängerung

Die ersten drei Punkte überraschen nicht wirklich, passen sie doch auch in alle Managementmoden der letzten Jahrzehnte. Der letzte Punkt der vorsichtigen Finanzierung macht indes stutzig. Die Shell-Forscher fanden heraus, dass die Kapitalrendite und Maximierung des Unternehmenswertes allenfalls ein „Sym-ptom, aber kein Beweis oder entscheidender Faktor für die Gesundheit des Un-ternehmens“ ist. Auch eine Analyse der zwei Stanford-Professoren James C. Collins und Jerry I. Porras aus dem Jahr 1994 mit insgesamt 700 Vorstandsvor-sitzenden von führenden US-Unternehmen bestätigte diese These: Visionäre Un-ternehmen legen weniger Gewicht auf die Maximierung des Aktionärskapitals.17

16 de Geus, aaO. 17 Collins/Porras (1994).

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4 Welche Werte sind eigentlich wertvoll? Kapitale Einschätzungen

„Profits – like oxygen – are necessary for life, but you don’t live to breathe!“ So kann man Arie de Geus’ Analyse zusammenfassen. Aber unsere Bilder der Profi-te und des Kapitals sind gewöhnlich andere.

Dies ist vor allem dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu ver-danken, der als Entgegnung auf einen schleichenden Reduktionismus für die Wiedereinführung des Kapitalbegriffes in der theoretischen Beschreibung von Gesellschaft plädierte:18 „Als vis insita ist Kapital eine Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt; gleichzeitig ist Kapital – als lex insita – auch grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt.“19 Es war auch Bourdieu, der verschiedene Kapitalformen ausdifferenzierte: öko-nomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital. Diese Kapitalformen wurden in der Folge von verschiedenen Autoren weiter ausgearbeitet.

Im Folgenden wird eine eigene Idealtypologie der Kapitalien von Unter-nehmen vorgeschlagen, deren wesentliches Element es ist, die Interdependenz sowie die Bezüge zum Marktkapital des Unternehmens herauszustellen. Das market capital ist dabei ein Residualwert und kein Steuerungswert. Im market capital werden alle verfügbaren dezentralen Informationen zentral eingepreist – über die Börse oder im Zuge eines Verkaufs durch den faktischen Verkehrswert.

4.1 Humankapital Die Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. hat den Begriff des Humankapitals zum Unwort des Jahres 2004 gewählt. Mit diesem Wort würden nicht nur Ar-beitskräfte in Unternehmen, sondern Menschen an sich „zu nur noch ökonomisch interessanten Größen“, begründete das sechsköpfige Gremium die Entscheidung. Die Entscheidung überraschte nicht nur Ökonomen, die bereits seit den 1960er Jahren mehr als fünf Nobelpreise für die Humankapitaltheorie verbuchen konnten, insbesondere angeregt durch Gary S. Becker.20 Auch viele Nichtökonomen zeig-ten sich von dem Zeitpunkt und dem offenkundigen Missverständnis überrascht.

Es können in der Kritik moralische Aufladungen vermutet werden, die sich vor allem auf eine Bewertung des Menschen in monetären, geldlichen Einheiten konzentrieren und Ausflüge bis hin zum Vergleich mit der Sklavenwirtschaft un-ternehmen. Hier scheint jedoch ein wahrhaft kapitaler Fehler vorzuliegen: Das

18 Vgl. für eine instruktive Kurzfassung z.B. Bourdieu (1990). 19 Ebd. 183, Hervorhebung im Original. 20 Vgl. z.B. Becker (1993).

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Human Capital ist gerade ein Ansatz, der den Blick von der Kostenseite der Ge-winn- und Verlustrechnung auf die Aktivseite der Bilanz imaginiert.

Angesichts des heute dominierenden Fixkostenfaktors Personal wird eine solche Umwertung gerade im Sinne der Kritiker notwendig. Der Mensch wird so zum entscheidenden Aktivum, zum Aktivposten einer Organisation. Die Kritiken haben indes zwei Anregungen für die weitere Arbeit geliefert: Zum einen wird die Humankapitalbewertung immer weiter ausgearbeitet21 – und berechtigter-weise auch kritisiert22 – und zum anderen wird die volks-, betriebs- und indivi-duelle Bildungsinvestitionsrechnung akzentuiert, denn hier wird eine dringliche Dimension des Humankapitals sichtbar, wie auch einer der Hauptbegründer der Humankapitaltheorie, Theodore Schultz, ausführt.23 An der Zeppelin Universität ist in Kooperation mit dem Lisbon Council ein europäisch vergleichender Hu-man Capital Index entstanden, der zeigt, dass in Deutschland eine vergleichswei-se höhere Investition erfolgt – bei vergleichsweise niedrigerer Nutzung.24

Abbildung 2: Human Capital Index im europäischen Vergleich

21 Siehe Scholz/Stein/Bechtel (2004). Vgl. auch die Aktivitäten des Human Capital Club e.V. unter

URL http://www.humancapitalreport.eu [Stand: 15.02.2007]. 22 Vgl. z.B. Nöcker (2007). 23 Schultz (1992). 24 Ederer (2006: 3).

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Vor dem Hintergrund der eingangs zitierten demographischen Entwicklungen wird die Humankapitaltheorie und -praxis – auch im Hinblick auf die internatio-nale Bildungssystemforschung – nicht an Bedeutung verlieren.

4.2 Kundenkapital Eine weitere, vor dem Hintergrund der eigentlichen Unvermeidlichkeit erstaun-liche Wiederentdeckung ist das Schlagwort der Kundenorientierung. In der Tat erinnert man sich gerade in Käufermärkten –die Verkäufermärkte finden sich wohl nur noch in Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre – gern wieder an den Störenfried der alten Tage: den Kunden. Das customer capital ist eine wesent-liche Größe bei der Bewertung von Unternehmen – eine flüchtige dazu. Die Un-tersuchungen über die Fluchttendenzen und deren ökonomische Folgen sind zahlreich:25 Unternehmen verlieren im Durchschnitt 50 % ihrer Kunden inner-halb von fünf Jahren. Unternehmen verdienen an einem Kunden, der dies bereits seit 14 Jahren ist, ca. 85 % mehr als an einem, der erst seit 10 Jahren Kunde ist. Und: Kunden wechseln in 75 % der Fälle aufgrund der als schlecht wahrgenom-menen Servicequalität und nur in 25 % aufgrund der als unzureichend wahrge-nommenen Produktqualität zum Wettbewerb.

Es gehört zu den Binsenweisheiten des Unternehmertums, aber im Zuge des Kapitalmarktkapitalismus droht es dennoch vergessen zu werden: Das Geld wird beim Kunden verdient, und der Kapitalmarkt verdient Geld mit dem Handel der Erwartungen über das, was die Unternehmen beim Kunden verdienen.

4.3 Intellektuelles Kapital Der Wissensanteil eines Produkts steigt empirisch exponentiell an. Tom Peters, sicherlich einer der erfolgreichsten Managementphilosophen, zählte nach:26 Nur 6 % der IBM-Mitarbeiter arbeiteten Mitte der 1990er Jahre in Fabriken. Nur 8,5 % der Kosten einer 700-US-Dollar-Kamera entfallen auf das Material. Bei ABB entfallen nur 3 % der Gesamtauftragsbearbeitungszeit auf die Produktion. Je stärker aber die Wissensmanagement-Initiativen im Scheitern beobachtet wer-den, desto höher ist der Wunsch, das Intellectual Capital zu bilanzieren. Der Ur-sprung dieser Bemühungen ist in Japan zu suchen: Hiroyuki Itami veröffentlichte 1980 als erster zum Intellectual Capital.27 Dann folgte eine Vielzahl von wis-sens- und lernbasierten Management-Moden, deren Einheit wohl in den Gründen

25 Vgl. zu den Zahlen Littmann/Jansen 2000: 321ff). 26 Peters (1994: 13). 27 Itami (1987).

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des Scheiterns liegt: Es wurde die Analyse von Prinzipien der Wissenslogistik anstelle der Analyse von Prinzipien der Wissensgenese vorgenommen. Insbe-sondere Thomas Stewart und auch Patrick H. Sullivan prägten die Diskussion zum Intellectual Capital in den 1990er Jahren.28 Unternehmen wie Skandia AFS, die mit Hilfe ihres entwickelten „Skandia Navigator“ ihrem Jahresabschluss einen Intellectual Capital Report als Supplement beifügten, blieben trotz einer ungewöhnlichen medialen Rezeption – auch bedingt durch den Corporate Direc-tor of Intellectual Capital, Leif Edvinsson29 – Exoten. Es wird aber noch ab-strakter werden. Als Bewertungsmaßstab von Unternehmen formuliert Bill Gates wie folgt: Es ist das Wissen, das die Mitarbeiter in den nächsten Jahren erlangen könnten, um daraus wettbewerbsfähige Produkte zu entwickeln.

4.4 Sozialkapital Eine weitere, in der Ökonomie noch weitgehend unberücksichtigte Kapitaldimen-sion könnte mit einem Relationship Value umschrieben werden. Die Sozialkapital-analyse geht auf die konfliktanalytische Betrachtung des Soziologen Pierre Bour-dieu und später auf die vertrauensfokussierte Lesart des amerikanischen Politik-wissenschaftlers Robert D. Putnam zurück. Das Sozialkapital wird bei Bourdieu als Gesamtheit „der aktuellen und potentiellen Ressourcen [verstanden], die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind.“30

Im Gegensatz zur Humankapitaltheorie bezieht sich das soziale Kapital nicht auf individuelle natürliche Personen an sich, sondern auf die Beziehungen zwischen ihnen. Der Umfang des Sozialkapitals hängt von der Netzwerkgröße ab, also von den Beziehungen, die mobilisiert werden können, sowie von der Ausgangsausstattung der anderen Kapitalien. Das Beziehungskapital fließt im Hinblick auf direkte Netzwerke sowie indirekte, also dahinterstehende Bezie-hungsoptionen, ein. Damit kann auch der sogenannte Stakeholder Value-Ansatz einbezogen werden. Grundsätzlich kann das Sozialkapital als Multiplikations-möglichkeit für die anderen Kapitalien interpretiert werden, also als Logistikka-pital. Anders formuliert wäre Sozialkapital auch als spezifische Währung für Be-ziehungen zur beidseitigen Effizienzsteigerung zu verstehen. Während Bourdieu in der theoretischen Ausarbeitung noch weitgehend skizzenhaft blieb, formuliert Putnam drei Unterscheidungen, anhand derer Sozialkapital messbar wird.31 Die-

28 Stewart (1997), Sullivan (2001: bes. 238–244). 29 Vgl. Edvinsson/Malone (1997). 30 Bourdieu, aaO: 190. 31 Vgl. z.B. Putnam (1993).

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se werden im folgenden netzwerktheoretisch kontextualisiert: (1) Vertical vs. ho-rizontal: Hier werden die Netzwerkbeziehungen hinsichtlich der Richtung kate-gorisiert. (2) Strong vs. weak ties: In Anlehnung an die von dem Stanford-Soziologen Mark Granovetter angestoßene Diskussion wird die Stärke der Be-ziehungen gemessen. Während starke Beziehungen eine Solidarität innerhalb des Netzwerkes schaffen, sind sie in Umfeldern, in denen Innovation notwendig ist, nicht entsprechend funktional wie schwache Verbindungen von heterogenen Netzwerkteilnehmern – wie Granovetter in einer Reihe von Analysen zeigte.32 (3) Bridging vs. bonding: Diese Unterscheidung operiert ergänzend zu der Mes-sung der Stärke von Beziehungen mit der Art der Verbindung: bridging ties bringen heterogene Mitglieder zusammen, wohingegen bonding ties mehr oder weniger homogene Partner verlinken. Damit wird mit dem Sozialkapital auf Netzwerke und deren Beziehungen innerhalb und zwischen ihnen sowie auf die Regeln der Steuerung fokussiert. Insbesondere der Aspekt der Steuerung ist al-lerdings sehr sorgsam zu betrachten, da sich aus interorganisationalen bzw. marktlichen Netzwerken keineswegs steuerungsoptimistische Aussagen ableiten lassen.33 Sozialkapital ist damit eine Übersetzungshilfe für Ökonomen, um As-pekte von Reputation, Vertrauen und zugeschriebener Mitgliedschaft kommuni-kabel zu machen. Eine zeitgleich aufgekommene Variante dieser Überlegungen zum Sozialkapital fand in dem Begriff des Stakeholder-Kapitalismus einen Aus-druck.34 Ökonomisch entscheidend sind die Investitionen für den Aufbau von Sozialkapital. Beziehungen müssten – wie von Tom Peters vorgeschlagen – fol-gerichtig mit einem Return on Investment in Relationships (ROIR) gemessen werden, um den Grad der Effektivität beziehungsbildender Investitionen in Netzwerkprozessen einschätzbar zu machen.35

Insbesondere mit dem Konzept der schwachen Verbindungen von Mark Granovetter und dem der strukturellen Löcher von Ronald Burt36 liegen zwei Vorschläge vor, die den Wert von Unternehmen über das Beziehungskapital argumentieren helfen:

Granovetter weist auf die Stärke der schwachen Verbindungen hin, da die Wertigkeit von Beziehungen, die nur selten aktualisiert werden, aufgrund von erweiterten Zugangsmöglichkeiten und nicht-redundanter Beziehung höher sind. Fazit: Enge Freundschaften sind ökonomisch betrachtet Fehlallokationen, wäh-

32 Vgl. Granovetter (1973: 1360). 33 Vgl. zu dieser Diskussion des Netzwerkmanagements ausführlich Littmann/Jansen (2000:

Kap. III). 34 Vgl. Freeman (1984). 35 Vgl. Peters (1993: 495). 36 Burt (1992).

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rend oberflächliche, lose Verbindungen in heterogenen Netzwerken effiziente Investitionen darstellen. Schwache Verbindungen sind die beste Garantie für das Erkennen von schwachen Signalen, also kontinuierliche Frühwarnung vor dis-kontinuierlichen Entwicklungen.37

Die Idee der strukturellen Löcher von Ronald Burt zielt auf einen Puffer ab, der sich zwischen nicht-redundanten Beziehungen ergibt: „A structural hole is a relationship of nonredundancy between two contacts. The hole is a buffer, like an insulator in an electric circuit. As a result of the hole between them, the two contacts provide network benefits that are to some degree additive rather than overlapping.“38 Damit liegt eine Theorie vor, die sich der Diskontinuität von Strukturen verschreibt. Strukturelle Löcher sind ein komplementäres Konzept zu den Granovetterschen schwachen Verbindungen.39 Während Granovetter die Stärke der schwachen Verbindung belegt, will Burt auf die Stärke der strukturel-len Löcher zwischen den Unverbundenen hinweisen.

A B

C

D

E

Cluster A´

Cluster B´

Cluster C´

Abbildung 3: Schwache Verbindungen und strukturelle Löcher im Vergleich40 Während die schwachen Verbindungen von A zu B und zu C die Argumente von Granovetter hinsichtlich Zugang – zu den dahinterstehenden Beziehungsclustern B’ und C’ – und fehlender Informationsredundanz illustrieren, hebt Burt auf die

37 Ansoff (1976). 38 Burt (1992: 18). 39 Vgl. Granovetter (1976) sowie die Verbindung bei Burt (1992: 25ff). 40 Modifizierte Darstellung nach Burt (1992: 27).

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drei strukturellen Löcher ab, die sich in dieser Konstellation ergeben: (1) Löcher in den Beziehungen zwischen dem hinter B stehenden Cluster B´ zu den Bezie-hungen zu dem hinter A stehenden Cluster A´, (2) Löcher in den Beziehungen zwischen dem hinter C stehenden Cluster C´ zu den Beziehungen zu dem hinter A stehenden Cluster A´ und (3) zwischen Clustern von B und C.

Während Granovetter die Brücken über den Klüften analysiert, ist Burt auf der Suche nach den zu überbrückenden Klüften. Nach Burts Analyse ist weniger die Kohäsion interessant als vielmehr die Mittlerfunktionen zwischen unverbun-denen Partnern. Burts Analyse geht davon aus, dass wenig miteinander verfloch-tene Netzwerke mit strukturellen Löchern die individuelle Mobilität fördern, weil sie den Akteuren den Zugang zu diversifizierter Information ermöglichen und über die Löcher Improvisationen notwendig machen, an die keine Zentrale den-ken konnte. Die strukturellen Löcher sind somit eine immer wieder neu zu über-brückende Ressource. Strukturelle Löcher schaffen unternehmerische Opportuni-täten und eine ungeahnte Reichhaltigkeit an Informations- und Kontrollvorteilen. Was Unternehmer für ihre Produkte und die Märkte wissen, ist nun zum struktu-rellen Generalismus erwachsen: der Mut zur Lücke, das Erkennen von überbrück-baren und ertragreichen Klüften, Peripherien auf dem Weg in das Zentrum.

4.5 Weitere Kapitalkategorien: Marken, Strukturen, Organisationen und Kulturen

Der Kapitalbegriff als erfolgreiche, eher programmatische als berechenbare Übersetzungshilfe von vermeintlich weichen in vermeintlich harte Kategorien hat Konjunktur. Wir berechnen heute Markenkapitalien (Brand Equity),41 viel-fach unscharf vom Intellectual Capital zu trennende Strukturkapitalien (Structu-ral Capital)42 bzw. Organisationskapitalien (Organizational Capital)43. All diese Kapitalbegriffe lassen sich kategorial nicht sauber unterscheiden und entspre-chend hierarchisieren.

Eine weitere nicht organisationale, sondern personell verstandene Kapital-form soll hier mit Bourdieus Analyse des Kulturellen Kapitals herausgestellt wer-den, das er in drei Formen differenziert: „(1.) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, (2.) in objekti-viertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, In-strumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken,

41 Vgl. z.B. Aaker (1991). 42 Vgl. z.B. Edvinsson/Malone (1997). 43 Vgl. zu einer MIT-Studie Brynjolfsson/Hitt/Yang (2000).

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Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben, und schließlich (3.) in institutionalisiertem Zustand, einer Form von Objektivation“.44

Eine wesentliche Unterscheidung stellt dabei die Übertragbarkeit der kultu-rellen Kapitalien dar. Ist das inkorporierte kulturelle Kapital noch körpergebun-den im Besitz einer Person und damit als nicht kurzfristig verschenkbarer, kauf- oder tauschbarer „Habitus“ zu verstehen, so ist dies bei den objektivierten kultu-rellen Artefakten gerade gegeben. Das immaterielle Wissen um die „feinen Un-terschiede“ von Gesellschaften („Distinktionswerte“) kann sich gänzlich ohne Ausbildungs- und Erziehungsmaßnahmen inkorporieren.45 Das objektivierte kul-turelle Kapital kann unmittelbar durch seine materielle Beschaffenheit übertra-gen werden. Die institutionalisierte Form des kulturellen Kapitals erfolgt durch Objektivation, d.h. durch eine Entkoppelung des inkorporierten Kapitals von den „biologischen Grenzen“ des Körpers, z.B. durch die Verleihung von signalfähi-gen Titeln, die Autodidaktentum einerseits und schulische Sanktionierungen mit rechtlicher Garantie andererseits zu unterscheiden hilft. Titel sind objektivierte Belege des kulturellen Kapitals für inkorporiertes kulturelles Kapital.

Das organisatorische Kulturkapital ist vergleichbar schwer zu definieren. Der hier vorgeschlagene Kulturbegriff für Organisationen zielt auf ein Verständ-nis von Kultur als Portfolio von Semantiken und Codierungen ab, das als „The-menvorrat“ für interne und externe Kommunikationszwecke aufbewahrt wird, mit der Funktion zwischen Differenzzonen und Indifferenzzonen zu unterschei-den, also zwischen passenden und unpassenden, wichtigen und unwichtigen so-wie akzeptablen und inakzeptablen Themen sowie deren korrektem oder unkor-rektem Gebrauch. Nach Niklas Luhmann ist dieser Themenvorrat kein notwendig „normativer Sinngehalt, wohl aber eine Sinnfestlegung (Redukti-on)“.46 Kultur kann somit als eine Erfindung der sich modernisierenden Gesell-schaft – mit einigen Vorläufern aus dem 17. Jahrhundert – seit der zweiten Hälf-te des 18. Jahrhunderts verstanden werden, die als ein soziales Gedächtnis, also als ein Filter von Vergessen und Erinnern, wirkt.47 Wenn wir so über Kulturka-pital reden, dann müssen wir unmittelbar von Gleichheit auf Vergleichbarkeit umstellen und die Semantik der Kultur dynamisieren. Das Gedächtnis als kultu-relles Kapital schafft somit die vergessliche wie die erinnernde Infrastruktur für diese Vergleichbarkeiten. Es ist aber auch ein eher unbemerkter Abschied von jeglichen Einheitsfantasien, Identitätskonzepten und Gleichmacherei. Die Quali-

44 Bourdieu, aaO, 185. 45 Vgl. Bourdieu (1987). 46 Zum systemtheoretischen Kulturverständnis vgl. Luhmann (1984: 224f). 47 Vgl. Luhmann (1997: 586-594).

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tät des Gedächtnisses legt aber den Fokus weniger auf Konservierendes, wie es andere Kultursemantiken nahelegen, sondern dient als Infrastruktur zur Selektion von Sinn, also zur Selektion der Differenz von Aktualität und Potentialität. Es wirkt als ein Immunsystem, das sich gegen zu eindeutige Vergangenheiten wie auch zu bestimmte Zukünfte immunisiert. So bleiben Vergangenheiten disponi-bel erinnerbar (wenn nicht gar retrograd erfindbar) bzw. vergessbar und Zukünf-te zukünftig – beides über den Modus der Selektion zwischen Redundanz und Varietät von Informationen. Die Selektion wird über die Funktionen von den das Erinnern anmahnenden Werten (Nachhaltigkeit) und die aktualisierenden Inte-ressen (Varietät) vermittelt.48 Das soziale Gedächtnis immunisiert sich für zu-künftige Kommunikationen über die Operation der Kommunikation. Ein solches soziales Gedächtnis kann nur innerhalb von Grenzen immunisieren – d.h. für Gruppen, Organisationen, Funktionssysteme oder Gesellschaftssysteme. Dies sind Grenzen, die durch die Immunisierung mit erzeugt werden. Kulturkapital ist in diesem Zusammenhang die paradoxe Fähigkeit der Irritierbarkeit zum Aushal-ten von Widersprüchen durch Selbstkorrektur.

Kulturkapital kann aber auch in die Beuyssche Gleichung münden: Kunst = Kapital. Kunst als Umwelt der Unternehmung kann in Unternehmen – sei es durch Theater, bildende Kunst, Musik oder Tanz – Bilder über das Unternehmen erzeugen, nie aber über die Kunst selbst. Investitionen in Kunst würden dann eine Diversität von Bildern und über unterschiedliche Medien vermittelte Selbst-beschreibungen der Unternehmung ermöglichen, die in Selbstüberraschung und Selbstrelativierung münden. Der Organisationstheoretiker Karl E. Weick wird dramatischer: „Eine der Hauptursachen für das Scheitern von Organisationen ist ein Mangel an Bildern bezüglich dessen, was vor sich geht, ein Mangel an Zeit, die der Produktion solcher Bilder gewidmet wird, und ein Mangel an Vielfältig-keit im Handeln zur Bewältigung veränderter Bedingungen. Eine Organisation, die sich selbst in ständig neuen Bildern betrachtet, Bildern, die durchsetzt sind von verschiedenartigen Fertigkeiten und Empfindsamkeiten, ist dadurch ausge-rüstet, mit veränderten Umgebungen fertigzuwerden, sobald sie auftauchen.“49

4.6 Zusammenfassung der Kapitalformen und Ausblick Viele weitere Kategorisierungsüberlegungen sind denkbar. Allen unterschiedli-chen Kapitalbegriffen ist jedoch gemein, dass sie keine rechenbaren Größen zei-gen können und müssen, um ihre Funktion zu entfalten. Sie sind allesamt Ten- 48 Vgl. am Beispiel des Gedächtnisses der Politik das Wechselspiel von Werten und Interessen bei

Luhmann (2000: 182ff). 49 Weick (1995a: 331ff).

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denzkonzepte, deren Funktion in der Beobachtungsorientierung und Übersetzung von Nichtökonomen für Ökonomen liegt.

Diese Kapitalien lauern an ganz bestimmten Stellen in den Organisationen: an Grenzstellen. Grenzstellen sind genau diese peripheren Zentren. Damit sind Grenzstellen etwa als Vorstandsvorsitzende vorstellbar, die mit dem 25-jährigen Aktienanalysten und Medienvertretern zusammensitzt; als Finanzvorstand, der bei den Banken die Grenzen auslotet; als Einkaufschefin, die die Lieferanten betreut; als Controlling-Leiterin, deren Planung die operativen Bereiche einbezieht oder als Projektleiterin für ein gemeinsames Forschungsvorhaben mit einem Kunden; aber auch als Gefängniswärter, Krankenschwestern, Versicherungsvertreter und nicht zu vergessen: Pförtner.

Diese Grenzstellen sind aber in der Metaphorik noch schillernder und klassi-sches Roman-Material: Der Flüchtling wie der Fluchhelfer, der Siedler, der Söldner, der Schmuggler, der Nomade, der Vagabund und der Spion.50 Waren dies in politi-schen und territorialen Hinsichten noch die verachteten (und damit immer auch be-wundernswerten) Grenzverletzer, so wundern wir uns heute über deren Umwertung zu einer unabdingbaren Notwendigkeit für Organisationen. Grenzverletzer im Sinne Eva Horns sind dann auch „Testfälle der Ordnung, die in ihrem partiellen Scheitern wesentliche Elemente ihres Funktionierens offenbaren“.51 Grenzverletzer können als Produzenten von Sozial- und Kulturkapitalien vermutet werden, denn auf der Grenze liegt die Notwendigkeit der Innovation und Immunisierung. Damit haben Grenzstel-len als polykontexturale Adressen eine Janusqualität. Der römische Gott des Beginns und des Endes, der Bewacher aller Türen und Tore, hat bekanntermaßen zwei Ge-sichter, mit denen er das Leben auf der Grenze beobachtet. Eines schaut nach innen und eines nach außen und so ist er auch von beiden Seiten adressierbar. Nach einer geflügelten Redewendung der Antike, nach der der Dieb der beste Torhüter ist, hat Hermes seine Besetzung gefunden. Er ist im Olymp mit den Händlern und in der Un-terwelt mit den Dieben. Hermes ist ein Grenzwächter durch Grenzüberschreitung. Er oszilliert zwischen Himmel und Erde, Tag und Nacht, Leben und Tod und zwischen Legalität und Illegalität. Howard Aldrich und Diane Herker haben auf die Bedeutung dieser janus- und hermesgleichen boundary spanning roles hingewiesen.52 Diese Grenzüberspanner leisten einen essentiellen Beitrag zur organisationalen Selbstbe-schreibung durch die Beschreibung ihrer Umwelt und sind Adressen für Kommuni-kationen, die es der Umwelt erleichtern sollen, das System beschreibbar zu machen.

50 Vgl. die präzisen porträtierenden Beobachtungen dieser so bezeichneten territorialen „Grenzver-

letzer“ in Horn (2002). 51 So in der Einleitung von Stefan Kaufmann, Ulrich Bröckling und Eva Horn in Horn (2002). 52 Aldrich/Herker (1977: 217-230).

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Unabhängig von allen legitimen Berechnungsversuchen sollte die Metapher des Kapitals jedoch nicht mit eindeutigen Zuordnungen verwechselt werden. Der Kapitalbegriff hat sich metaphorisch wie substantiell in die Gesellschaft einge-fräst, doch es gibt nun reichhaltigere Reaktionsformen als die beiden gut einge-übten antikapitalistischen wie neoliberalen Reflexe: Es geht nicht mehr primär um monetäres Kapital und seine Kritik, es geht um eine Ausdifferenzierung der Kapitalien und damit auch ihrer Kritiken.

Im abschließenden Teil soll eine weitere Kapitalkategorie vorgeschlagen und diskutiert werden. Ein Kapital, welches die Paradoxie einer kohäsiven Diffe-renzierung zu leisten vermag: das attitude capital.

Abbildung 4: Differenzierte Kapitalbegriffe

5 Haltungskapital. Über den homo sentimentales

Es ließen sich zwei Zugänge zum Haltungskapital finden: Der erste ginge über die Negation, also über Haltungsschäden. Der zweite führte über die Position des Sentimentalen, also des Gefühlvollen. Während der erste Zugang durch die Ana-lyse von „verwahrlosten Unternehmen“ – z.B. durch Korruption, Unverbindlich-keit gegenüber Mitarbeitern und Kunden und Illoyalität – tatsächlich Aufschluss über den Wert eines Haltungskapitals geben kann, wird beim zweiten Zugang die Gefahr des Esoterik- bzw. Ideologieverdachtes offenkundig.

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Es war kein geringerer als Adam Smith, der mit seiner Theory of Moral Sentiments bereits Mitte des 18. Jahrhunderts die Verbindung zwischen Gefühlen und Wirtschaft aufgearbeitet hat.53 Webers protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Marx’ ökonomisch-philosophische Manuskripte, die Durk-heimsche Solidaritätstheorie und im weitesten Sinne auch Simmels emotionale Beschreibungen von Großstädten bewegen immer wieder das gleiche Thema: Emotionen. Ein Thema, das nach einer so erfolgreichen Durchdringung des kapi-talistischen Systems auch aktuell keine Ruhe lässt. „Gefühle“ – neurobiologisch oder verhaltenswissenschaftlich – werden vermutlich die Paradigmenbeschrei-bung der aktuellen Entwicklung aus Sicht der ökonomischen Dogmengeschichte in 100 Jahren prägen. Es geht um die „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ wie Eva Illouz, Dozentin für Soziologie und Anthropologie an der Hebräischen Uni-versität Jerusalem, ihre drei Frankfurter Vorlesungen überschrieb.54

Hier soll der Versuch unternommen werden, komplementär zu den gezeig-ten Kapitalien organisationale Haltung als eine besondere, distinkte Kapitalform einzuführen – die beobachtbaren Negationen und Positionen beachtend. Die These dahinter ist, dass Organisationen im engeren Sinne nachhaltiger agieren, d.h. organisationale Lebenszeit verlängern, wenn eine Haltung im Unternehmen für alle Anspruchsgruppen gleichermaßen spürbar ist. Haltung ist ein besonderes Gefühl der Bestimmtheit, der Entschiedenheit; ein Gefühl mit der Qualität einer ökonomischen Relevanz, wie hier gezeigt werden soll. Das Konzept der Haltung verhält sich zum Konzept der Motivation in spezifischer Weise: Haltung moti-viert – aber nicht instrumentell.

Haltung soll hier als eine Klammer konzeptionalisiert werden, deren vielfäl-tige Dimensionen zunächst folgende Aspekte umfassen: Sinn, Stolz, Reputation, Achtsamkeit und Verantwortlichkeit. In den folgenden Abschnitten werden be-stehende theoretische und empirische Analysen skizzenhaft diskutiert und der weitere Forschungsbedarf aufgezeigt.

5.1 Sinn: Haltung für Zukunft Sinn ist das entscheidende Prinzip für zukunftsfähige Organisationen. Sinn wird systemtheoretisch verstanden als die Einheit der Differenz von Aktualität und Potentialität, d.h. alles, was aktuell eine sinnvolle Differenz zur Vergangenheit macht, muss aktuell Verweisungen auf anderen Möglichkeiten produzieren.55 Es

53 Smith (1790). 54 Illouz (2006). 55 Als Einstieg in die Auseinandersetzung mit dem systemtheoretischen Sinnbegriff vgl. Luhmann

(1984: 92–147) und Luhmann (1997: 44ff).

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sind dabei Sach-, Sozial- und Zeitdimensionen des Sinns zu unterscheiden. Diese formale Definition des Sinns wird in der amerikanischen Organisationsforschung pragmatisch gewendet: Den Aspekt des sensemaking hat der einflussreiche Or-ganisationstheoretiker Karl E. Weick in den letzten Jahren ausgearbeitet.56 Der Sinn des unternehmerischen Wirkens muss diesem Konzept zufolge durch inten-sive Kommunikation für jeden Mitarbeiter spürbar und erfahrbar sein, daraus entsteht eine Haltung: „Taken together, these properties suggest that increased skills at sensemaking should occur when people are socialized to make do, be re-silient, treat constraints as self-imposed, strive for plausibility, keep showing up, use retrospect to get a sense of direction, and articulate descriptions that ener-gize. These are micro-level actions. They are small actions, but they are small ac-tions with large consequences.“57

Fakt ist jedoch, dass insbesondere in Großorganisationen – nach einer un-veröffentlichten Studie der Financial Times – die meisten Mitarbeiter nicht mehr dazu in der Lage sind, jenseits der betriebswirtschaftlichen Invarianz der Ge-winnmaximierung den eigentlichen Sinn ihres Unternehmens in Form einer kon-kreten Unternehmensstrategie wiederzugeben. Wer die Potentialität des eigenen Handelns nicht erkennt, also die möglichen Anschlüsse an das Heutige, dem droht im engeren Verständnis eine Sinnkrise.

Gründe für die Sinnerosion sind vielfältig: 1. Die zunehmende Arbeitstei-lung und Fragmentierung von Wertschöpfungsnetzwerken. 2. Die stärkere Kapi-talmarktfokussierung, die z.T. als Ohnmacht empfunden wird und die den Sinn des Unternehmens auf die Wertmaximierung fokussiert. 3. Die sich fortsetzende Tendenz zur sinkenden Verweildauer der Vorstände in Unternehmen und zu den damit undeutlichen bzw. sich schnell ändernden Unternehmensstrategien, so die Ergebnisse der Beratung Booz.Allen & Hamilton: Während CEOs im Jahr 1995 weltweit noch durchschnittlich 9,5 Jahre blieben, gingen sie 2004 bereits nach 6,6 Jahren. Immer schneller werden Topmanager heute bei unbefriedigender Per-formance abgelöst. Dabei lastet auf den Führungskräften in Europa sogar noch ein größerer Druck als auf ihren US-Kollegen, kurzfristig gute Ergebnisse zu lie-fern. Europäische Manager können der Studie zufolge nur 2,5 Jahre mit der Nachsicht ihrer Aufsichtsräte rechnen – CEOs in Nordamerika müssen dagegen erst nach 5,2 Jahren ihre Position zur Verfügung stellen. Weltweit wird der Rücktritt bei schlechter Leistung durchschnittlich nach 4,5 Jahren erzwungen. In Deutschland haben die Vorstandsvorsitzenden noch weniger Zeit, nachhaltige

56 Weick (1995a); aktuell Weick/Sutcliffe/Obstfeld (2005: 409). 57 Weick, aaO, 409, 419.

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Ergebnisse zu zeigen und entsprechend eine sinnvolle Strategie für die Mitarbei-ter zu entwickeln und zu kommunizieren.58

Sinnerosion ist ein ernstzunehmendes ökonomisches Problem, wie zahlrei-che Studien aus der Psychiatrie belegen: In Europa sind einer Studie der Weltge-sundheitsorganisation und dem internationalen Arbeitsamt zufolge derzeit gut 37 Millionen Menschen beschäftigungsbedingt depressiv. Als Gründe werden ange-geben: Zwang zur ständigen Erreichbarkeit durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, ausuferndes Sitzungsmanagement und hohe Über-stundenanzahl. Insbesondere Unternehmensfusionen erzeugen depressive Wan-derdünen: Kunden, Mitarbeiter und Zulieferer wechseln ihre Heimat. Im Zehn-jahresvergleich ist ein Anstieg der Krankheitsfehltage aufgrund von psychischer Störungen um 62,5 % zu erkennen. Der Anstieg psychisch bedingter Kranken-hausaufenthalte stieg im gleichen Zeitraum um 40,3 %. Dabei ist die Arbeitsun-fähigkeit bei psychischen Erkrankungen mit 35,5 Tagen durchschnittlich doppelt so lang wie bei allen anderen Krankheiten. Die psychische Gesundheit in Orga-nisationen ist nicht nur betriebswirtschaftlich relevant: Allein in den USA betrug im Jahr 1992 nach Angaben von Spektrum der Wissenschaft der volkswirtschaft-liche Verlust durch depressive Arbeitnehmer mehr als 43 Mrd. Dollar.

5.2 Stolz: Spiralisierte Haltung Stolz in und auf Organisationen ist ein vergleichsweise schwach erforschtes Thema. Eine Studie mit 439 US-amerikanischen Arbeitnehmern von namhaften Unternehmen konnte zeigen, dass Mitarbeiter eine Doppelrolle spielen:59 Zum einen werden sie in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen durch den Ruf ih-res Unternehmens geprägt, d.h. dass der wahrgenommene gute Ruf eines Unter-nehmens den Stolz und die Verbundenheit der Mitarbeiter gegenüber ihrem Ar-beitgeber steigert. Zum anderen sind es dann aber neben den Kunden auch die Mitarbeiter selbst sowie ihre Freunde und Familien, die den Ruf produzieren („Perpetuum Mobile-Effekt“). Diese Spiraleffekte sind allerdings ebenso abwärts denkbar: So sind Mitarbeiter von Unternehmen, die entweder durch schnell be-obachtbare und weitreichende Service-Probleme oder durch Korruptionsskandale auffällig werden, häufigen kommunikativen Zumutungen im Professionellen und vor allem Privaten ausgesetzt, d.h. Befragungen oder Erzählungen von An-spruchsgruppen erlebter Geschichten, die über die Zeit zu einer Erosion auch der eigenen Haltung führen können. 58 URL: http://www.boozallen.de/presse/pressemitteilungen/archiv/archiv-detail/4054496 [Stand:

15.02.2007]. 59 Vgl. Informationen zur Studie von Helms in Personalwirtschaft 11/2006.

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5.3 Reputation: Zugeschriebene Haltung Corporate Reputation ist im Vergleich zu Stolz ein etablierteres Forschungs- und Anwendungsthema.60 Vermutlich wird es in der rein betriebswirtschaftlichen Forschung überschätzt, da Reputation attributionstheoretisch eine Zuschreibung von externen Anspruchsgruppen ist und somit kein vom Unternehmen kausal manageriables, steuerbares Konzept darstellen kann. Reputation ist somit die be-obachtete und zugeschriebene Haltung eines Unternehmens. Die Effekte der Re-putation auf verschiedene Märkte sind indes unzweifelhaft, so z.B. im Hinblick auf Finanzmärkte mit „empirical support for both directions of the relationship between corporate reputation and financial performance: corporate reputation in-fluences financial performance and vice versa“61. Interessanterweise zeigen sich in anderen Märkten vergleichbare Reputationseffekte, aber mit geringerer Domi-nanz der finanziellen Performance: so auch auf dem Markt für potentielle Ko-operationspartner, d.h. Strategische Allianzen oder Joint Ventures.62 „[F]irm reputation counts. It is an important resource and is capable of attracting other resources in the form of an alliance partner. The better a firm’s reputation, the more likely it is to be targeted for joint venture activity.“63 Reputation erfordert direkte Kosten im Zuge einer faktischen Qualitätsverbesserung sowie indirekte Kosten durch die Öffentlichkeitsarbeitsabteilungen, also durch die Signalisierung der besseren Qualität. Wenngleich zumeist noch univariate Reputationssignale analysiert werden, scheinen multidimensionale Signalkonzepte bei der Wahr-nehmung von Reputation hilfreicher: Dabei sind z.B. Produktqualität und -innovation, Managementintegrität oder finanzielle Stabilität denkbar.

Zwei Ergebnisse sind in der Analyse von Dollinger, Golden und Saxton (1997) auffällig: (1) Bei Verschlechterung eines der Signale gibt es keine unmit-telbare Beeinflussung der Gesamtreputation (compensating reputation). (2) Im Hinblick auf die Allianzpartner zeigte sich, dass eine Hierarchisierung bei den Reputationssignalen erkannt werden konnte: 1. Produktqualität und -innovation, 2. Management-Integrität und erst 3. eine finanzielle Stabilität.64 Damit besteht eine Gegenposition zu vielen Studien, die auf den Fortune-Datensample aufset-zen und belegen wollen, dass die finanziellen Signale die Wahrnehmung der Re-putation am stärksten beeinflussen.

Auch für Arbeitsmärkte sind ähnliche Reputationseffekte zu finden: Eine Vielzahl von Studien sind dazu unternommen worden; allen gemein ist das we- 60 Vgl. z.B. den Fortune Corporate Reputation Index und die Kritik: Fryxell/Wang (1994: 1ff). 61 Sabate/Puente (2003: 161). 62 Dollinger/Golden/Saxton (1997: 127). 63 Ebd. 136. 64 Ebd. 138.

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nig überraschende Ergebnis, dass die Reputation eines Unternehmens eine Stei-gerung der Attraktionskraft für Arbeitnehmer darstellt.65 Mitarbeiter sind dabei die wichtigsten Boschafter des guten Rufs. Daher werden in vielen Unternehmen mittlerweile Schulungen angeboten, die Mitarbeiter für rufschädigende Tenden-zen sensibilisieren und im Umgang damit trainieren. Ein weiteres Forschungs-feld bezieht sich auf die Abhängigkeit der Attraktivität eines Arbeitgebers von Arbeitsmärkten und der Corporate Social Performance.66 Führen wir dies in ökonomische Bewertungen zurück, dann lässt sich zeigen, dass Reputation und Unternehmenswert in einer positiven Wechselbeziehung stehen.67 Auf der einen Seite wirkt sich der Unternehmenswert nahezu unmittelbar auf die Reputation des Unternehmens aus. Auf der anderen Seite rentieren sich Investitionen im Zu-ge von reputationsbildenden Maßnahmen zwar, aber sie benötigen einen länge-ren Zeitraum, um sich positiv auf den Unternehmenswert auswirken zu können.

Wenn man die Ergebnisse der unterschiedlichen Studien vergleicht, dann lässt sich vermuten, dass die Gesamtreputation von Unternehmen eher durch Innovati-ons- und Kommunikationsfähigkeiten beeinflusst wird als durch die finanzwirt-schaftliche Leistungsfähigkeit. Drei weitere Effekte zeigen sich vergleichsweise stabil: Unternehmensgröße, Groß- bzw. Mehrheitsgesellschafter sowie reputierli-che Branchen haben einen positiven Einfluss auf die Unternehmensreputation und sind weitgehend gegen größere Reputationsschwankungen geschützt.

5.4 Achtsamkeit: Achtung ist dynamische Haltung! Haltung ist nicht stabil. Haltung reproduziert sich durch Dynamik. Aber wie un-terscheidet man zwischen notwendigen und modischen Dynamiken? Eine Res-source für Haltung ist Achtsamkeit, wie der Organisationstheoretiker Karl E. Weick die Fähigkeit beschreibt, das Unerwartete zu managen.68 Weick nennt Organisationen mit zwingender Achtsamkeit High Reliability Organizations (HRO) – in der Tradition eines Forschungsumfeldes der High Reliability Theory der University of California, Berkeley. Statt auf Benchmarking mit den Konzer-nen zu setzen, sollten sich die Beobachtungen nicht über den Zaun zum Nach-barn in der Industrie richten, sondern auf ungewöhnlich zuverlässige, also exoti-sche Organisationen wie z.B. Atomkraftwerke, Flugzeugträger, Feuerwehrmann-schaften, Verkehrsüberwachungsstände, Notaufnahmen in Krankenhäusern, Stromnetzbetreiber oder Geiselbefreiungsteams. Folgt man der Analyse von

65 Vgl. z.B. Chauvin/Guthrie (1994: 543) und die dort angeführten Studien. 66 Turban/Greening (1997: 658). 67 Schwalbach (2000). 68 Weick/Sutcliffe (2003).

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Weick und Sutcliffe, dann lassen sich für diese HROs folgende fünf Eigenschaf-ten beschreiben:

(1) Konzentration auf Fehler („Fehlerkultur“)

� Keine kritischen Erfolgsfaktorenanalysen oder „zero defect management“

(2) Abneigung gegen vereinfachende Interpretationen („Skepsis als Tugend“) � Keine Konsensorientierung

(3) Sensibilität für betriebliche Abläufe („schwache Signale“) � Keine Fixierung auf Umsetzung der gewählten Strategie

(4) Streben nach Flexibilität („Improvisationsfähigkeit und Phantasie“) � Keine Stabilitätshoffnung

(5) Respekt vor fachlichem Wissen und Können („roving leadership“) � Keine Hierarchiegläubigkeit

Abbildung 5: Eigenschaften von High Reliability Organizations Das Zusammenspiel dieser fünf Verhaltensmuster erzeugt die Voraussetzung für eine kollektive Produktion der Achtsamkeit. Ultrastabilität und Zuverlässigkeit wird durch die Haltung einer erwartbaren Freude auf das Überraschende er-zeugt – nicht durch programmierte Stabilität. Achtsamkeit heißt dann nichts an-deres als die Erhöhung der Irritationsfähigkeit einer Organisation.

5.5 Verantwortlichkeit: Einhalten von Versprechungen Verantwortlichkeit von Unternehmen ist ein sich– unabhängig von Konjunkturen – erstaunlich stabilisierendes Konzept. Das prominente Schlagwort Corporate Social Responsibility (CSR) erlebt nach Angaben von Google Trends seit 2004 hinsichtlich der Abfragen eine Seitwärtsbewegung auf hohem Niveau. Dies ist für ein Konzept mit dem Geruch einer vergänglichen Mode ungewöhnlich. Die Herkunftsländer der Abfragen haben sich indes verschoben, nun sind vor allem die südostasiatischen und afrikanischen Länder führend. Unabhängig davon wird unverändert viel zu dem Thema publiziert,69 ohne die substantiellen Schwächen auszumerzen – empirische Studien zur Messbarkeit und zur Verbindung mit dem Geschäftssystem.

Die Europäische Kommission hat im Juli 2001 das so genannte Grünbuch Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unterneh-men veröffentlicht.70 Damit wurde eine gemeinsame Diskussionsgrundlage für

69 Für aktuelle Managementbücher vgl. z.B. Gazdar/Habisch/Kirchhoff (2006) oder Kotler/Lee (2005). 70 Europäische Kommission (2001). URL: http://europa.eu.int/comm/employment_social/soc-dial/

csr/greenpaper_de.pdf [Stand: 01.03.2008].

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europäische Unternehmen geschaffen. Die Kommission definierte dabei CSR als „ein Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren“. Damit werden zwei Dimensionen der CSR unterscheidbar: Die interne Ausrichtung umfasst die Themen „Management der Humanressourcen“, „Arbeitsschutz“, „Anpassung an den Wandel“ und „verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen“. In der exter-nen Ausrichtung werden der Umgang mit „lokalen Gemeinschaften“, die „Zu-sammenarbeit mit Geschäftspartnern, Zulieferern und Verbrauchern“, die „Men-schenrechte“ und der „globale Umweltschutz“ aufgeführt.

Unternehmen haben nach diesem Konzept weitreichende Verantwortlichkei-ten gegenüber ihren kulturellen, ökologischen und sozialen Umwelten, Verant-wortlichkeiten, auf die sie von Anspruchsgruppen – vom Kunden über Attac, Greenpeace oder Gewerkschaften bis hin zum Kapitalmarkt – beobachtet werden.

Die grundsätzliche Ausrichtung der Unternehmen auf ihre Anspruchsgrup-pen ist in einer empirischen Analyse von deutschen Großunternehmen in den be-fragten Unternehmen sehr präsent und wird von über der Hälfte der Befragten als äußerst wichtig erachtet.71 Es zeigt sich, dass die verschiedenen Einflusspotenzi-ale von Stakeholdern unterschiedlich bewertet und auf ihre Chancen und Risiken hin analysiert werden. Die verschiedenen Anspruchsgruppen sehen bei den posi-tiven und negativen Einflüssen verschiedene Rangfolgen: „Besonders deutlich wird dies bei der Einschätzung der Eigenkapitalgeber. Diese besitzen nach Ein-schätzung der Befragten einen weitaus größeren positiven als negativen Einfluss, während z.B. den Nichtregierungsorganisationen ein potentiell stärkerer negati-ver Einfluss zugeschrieben wird.“72 Im Zuge der weiteren Verbreitung hat sich CSR als Dachmarke für vielfältige, auch zuvor bereits bestehende Instrumente etabliert. Die Verbreitung und der Einsatz dieser Instrumente ist – nach Eigenan-gabe der Unternehmen – durchgängig sehr hoch. Vor allem im Management der Humanressourcen geben sich die Unternehmen sehr aktiv. In der Zusammenar-beit mit Geschäftspartnern, Zulieferern und Verbrauchern sind ebenfalls hohe Werte zu finden.

Deutlich weniger verbreitet sind Maßnahmen zur Unterstützung spezifi-scher Belegschaftsgruppen, wie z.B. spezielle Personalentwicklungsprogramme für ältere Mitarbeiter oder Kinderbetreuungsangebote für Eltern. Initiativen zur Einhaltung von Sozialstandards, die über das gesetzliche Maß hinausgehen, sind nicht in allen Unternehmen zu finden.

71 Zink/Liebrich/Steimle (2005). 72 Ebd. 11.

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94 Stephan A. Jansen

In einer am Lehrstuhl für „Strategische Organisation & Finanzierung“ der Zeppelin Universität im Rahmen einer Abschlussarbeit erstellten Studie werden vor allem die Förderprogramme im Rahmen von z.B. Sozial-, Kultur-, Umwelt- oder Bildungssponsoring sowie die Institutionalisierungs- und Leitungsaspekte von CSR analysiert.73 Bereits in der Vorphase zeigt sich, dass die Förderschwer-punkte keinen Zusammenhang mit dem Geschäftsmodell aufweisen, dafür aber die biographischen Hintergründe der Leitungen einen deutlichen Einfluss haben. Sollten sich diese Ergebnisse bestätigen, dann könnte dies in der Tat eine kriti-sche Analyse der Beweggründe zur Folge haben.

Grundsätzlich ist CSR nahezu zu einem Synonym für Haltung geworden, wenngleich hier eine grundsätzliche Frage entsteht: Marketing oder Haltung? Erste Studien zeigen sehr deutlich, dass in bestimmten Branchen Sozialmarke-ting wirtschaftlich betrachtet erfolgreicher ist als andere Marketinginstrumente: So ist beispielsweise die Pharmabranche aufgrund der spezifischen Kundenstruk-tur der Ärzteschaft für Sozialmarketing besonders ansprechbar.

Dennoch wird international deutlich, dass sich die CSR-Berichte aufgrund der unterschiedlichen Regulierungen noch sehr weitreichend unterscheiden. Die begonnene Professionalisierung der Arbeit in Deutschland wird sich deutlich fortsetzen. Zwei Belege: Unter dem Dach der European Coalition for Corporate Justice (ECCJ) als Initiative von 16 europäischen Organisationen hat sich eine deutsche Initiative – mit einem Koordinationskreis von Germanwatch, Green-peace, Global Policy Forum, WEED, ver.di und der Verbraucher-Initiative – etabliert. Die Initiative mit dem Namen Corporate Accountability – Netzwerk für Unternehmensverantwortung fordert u.a. Rechenschafts- und Publizitätspflichten für Unternehmen zu den Themen Umwelt, Soziales und Menschenrechte, eine Verknüpfung der Vergabe öffentlicher Aufträge mit gesellschaftlichen Anforde-rungen oder Stärkung der Produktverantwortung und Förderung zukunftsfähiger Konsum- und Produktionsformen.

Die CSR-Berichte werden sich stärker am international anerkannten Leit-faden für nachhaltige Berichterstattung der Global Reporting Initiative (GRI)74 orientieren müssen. Dieser GRI-Leitfaden enthält das Ergebnis einer kontinuier-lichen internationalen Diskussion unter Beteiligung vieler verschiedener An-spruchsgruppen, darunter internationale Wirtschaftsunternehmen, Nichtregie-rungsorganisationen, Berater, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Verbände. GRI hat es sich zum Ziel gesetzt, sowohl Standards in der Berichterstattung als auch allgemein gültige und branchenspezifische Kennzahlen zu entwickeln. Eini-

73 Siehe eine Kurzfassung der Ergebnisse in Manière/Jansen (2008). 74 Vgl. URL http://www.globalreporting.org [Stand: 23.02.2007].

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ge Unternehmen erkennen diesen Leitfaden als wichtige Orientierungshilfe an und verstehen die GRI zumindest als informelle Referenz für den CSR-Bericht.

Eine weitere Dimension der Verantwortlichkeit sei an dieser Stelle nur an-gedeutet: die Verantwortlichkeit der Mitarbeiter gegenüber ihrem Arbeitgeber. Das Beratungshaus Gallup führte empirische Erhebungen zur Mitarbeiterzufrie-denheit durch. In den vergangenen drei Jahren befragte Gallup im Rahmen der Mitarbeiterengagement-Beratungstätigkeit nach eigenen Angaben weltweit mehr als 3,4 Millionen Arbeitnehmer. Im internationalen Vergleich stellen sich die Er-gebnisse wie folgt dar:75

engagierte

Mitarbeiter unengagierte

Mitarbeiter aktiv unengagierte

Mitarbeiter 76

USA * 30 % 54 % 16 % Chile 25 % 62 % 13 % Kanada * 24 % 60 % 16 % Israel ** 20 % 65 % 15 % Großbritannien * 17 % 63 % 20 % Deutschland ** 15 % 69 % 16 % Japan * 9 % 72 % 19 % Frankreich * 9 % 63 % 28 % Singapur * 6 % 76 % 17 %

* Daten aus dem Jahr 2001** Daten aus dem Jahr 2002

Tabelle 1: Erhebungen zur Mitarbeiterzufriedenheit (nach Gallup)

Folgt man dieser Analyse, dann verspüren 84 % der Arbeitnehmer in Deutsch-land keine echte Verpflichtung ihrer Arbeit gegenüber, wobei 15 % von ihnen „aktiv unengagiert“ sind. Der gesamtwirtschaftliche Schaden durch die Gruppe der „unengagierten“ und „aktiv unengagierten“ Mitarbeiter – aufgrund schwa-cher Mitarbeiterbindung, hoher Fehlzeiten und niedriger Produktivität – sum-mierte sich im Jahr 2001 nach zugegebenermaßen sehr groben Schätzungen auf einen Betrag zwischen 436,4 und 442,9 Milliarden Mark jährlich. Diese Größen-ordnung entsprach fast dem gesamten Bundeshaushalt des Jahres 2001. Der wichtigste Grund für das fehlende Engagement derart vieler Mitarbeiter ist der Studie zufolge schlechtes Management. Arbeitnehmer wüssten nicht, was von

75 Gallup GmbH, 2001, Engagement am Arbeitsplatz in Deutschland auf unverändert niedrigem

Niveau, http://www.gallup.de/Mitarbeiterzufriedenheit_10-09-02.htm [Stand: 21.02.2007]. 76 „Aktiv unengagierte“ Mitarbeiter sind verstimmt und zeigen ihre negative Einstellung zu ihrer

Arbeit und ihrem Arbeitgeber oftmals auf „aggressive“ Weise.

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96 Stephan A. Jansen

ihnen erwartet würde, sie glaubten, dass ihre Vorgesetzten sich nicht für sie als Menschen interessieren, dass sie eine Position ausfüllen, die ihnen nicht liegt, und dass ihre Meinungen und Ansichten im Unternehmen kaum Gehör finden.

5.6 Bedingung: Authentizität der Inszenierung Wenn wir es zunächst zu einer ersten Bestimmung von Haltung bei diesen fünf Kategorien belassen wollen, dann zeigen die ersten Umrisse einer Theorie der Hal-tung, dass, abstrakt formuliert, die drei Prinzipien der Rekursion (wechselseitige Stabilisierung von Haltungsproduktion und Zuschreibung), der Nachhaltigkeit (langfristige Investitionslogik) und der authentischen Inszenierung (Kommunikati-on als Haltungsproduktion zweiter Ordnung) greifen müssen. Während die ersten beiden Prinzipien bereits beschrieben wurden, sollen hier abschließend die neuen Logiken des dritten Prinzips der authentischen Inszenierung stehen, die gleichzeitig die dramatische Relevanzproduktion des Haltungskapitals verdeutlichen sollen.

In nahezu allen Studien besteht Einigkeit darüber, dass die Kommunikation des Sinns, des Stolzes, der Reputation, der Achtsamkeit und der Verantwortlich-keit ebenso zentral ist wie die Kommunikationsobjekte selbst. Hierbei wird in der Regel davon ausgegangen, dass die Kommunikation von dem betreffenden Unternehmen vorgenommen oder zumindest angeregt wird.

Durch das Internet – und das, was heute umgangssprachlich als Web 2.0 be-zeichnet wird, sich aber auch in der ersten Internet-Welle Mitte der 1990er Jahre bereits gezeigt hat – wird eine grundsätzliche Entwicklung unterstützt: die Rele-vanz von sozialen Netzwerken und deren Nutzung für die Validierung von Ent-scheidungen.77 Neben der theoretischen Netzwerkanalyse wird mit dem Begriff des Sozialen Netzwerks auch eine Weiterentwicklung der Peer-to-Peer-Kommunikation adressiert78, die einen durchaus radikalen Umbruch auch der Unternehmenskommunikation erzwingt.

Die Radikalität der Umstellung liegt wiederum in der Haltung der Bericht-erstattung: Es wird von einer eher journalistischen wie auch wissenschaftlichen Objektivität auf die Authentizität von unmittelbar Beteiligten umgestellt.

Unternehmen müssen eine Inszenierungskompetenz für die Kommunikation der gelebten Haltung erlernen, deren erste Anforderung die Authentizität ist. 77 Vgl. für eine frühe Analyse Wassermann/Faust (1994). 78 Dazu zählen Internetplattformen, die nutzergenerierte Inhalte aller Art kostenlos bereitstellen.

Neben Software (z.B. Linux.org), Photos (z.B. Flickr.com), Videos (z.B. YouTube.com), enzy-klopädisch anmutendem Wissen (z.B. Wikipedia.org) und Kontakten sind hier insbesondere Inte-raktions- oder Freundschaftsplattformen zu nennen wie MySpace.com, Xing.com, Lokalisten.de oder Plattformen, die sich an bestimmte Zielgruppen wie Studierende oder Schüler wenden (z.B. StudiVZ.de, Unister.com).

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Während früher nur die Mitarbeiter – hinter vorgehaltener Hand – über die Diffe-renz von kommunizierten und gelebten Unternehmensleitlinien gesprochen ha-ben, kommt nun eine neue Transparenz ins Spiel. Hatten bisher die massenmedi-alen Systeme eine gewisse kollektive Deutungshoheit, so ergeben sich nun schwer zu beobachtende Konkurrenzen.

Dies hat zwei Konsequenzen: Auch hier gilt die Achtsamkeit, denn die Blogs, Community-Boards und Sozialen Netzwerke müssen darauf beobachtet werden, ob reputationsschädliche Informationen im Umlauf sind. Dies sind Beobachtungen dritter Ordnung, also die Beobachtung von Beobachtern auf solchen Portalen, die wiederum Unternehmen auf der Basis von Beobachtungen beobachten. Z.T. wer-den sogar eigene Kunden- bzw. Stakeholder-Portale für bestimmte Unternehmen aufgebaut, so wie damals eine Seite der Flamed Ford Owner Association für dieje-nigen Autobesitzer, deren Fahrzeug beim Tanken durch einen Konstruktionsfehler abbrannte, oder eine kritische, mittlerweile eingestellte Seite zum Handelsunter-nehmen Walmart (ihatewalmart.com), welche Problembereiche vom Service über die Produktionspraxen der Eigenmarken bis hin zur Kühllogistik detailreich auf-zeigte. Auf der anderen Seite zeigt sich bei bestimmten Produkten bzw. Dienstleis-tungen, dass die potentiellen Interessenten auf den sogenannten second opinion-approach setzen, d.h. auf eine Zweiteinschätzung (z.T. sogar von Unbekannten).79 Dies stellt wiederum eine Möglichkeit dar, diese neuen Technologien für eigene Zwecke einzusetzen. Blogs z.B. können dafür genutzt werden, Mitarbeiter für ih-ren Arbeitgeber sprechen zu lassen. Die Gefahr ist umso kleiner, je deutlicher dies vom Arbeitgeber begrüßt wird. Bei den angeführten aktiv Unengagierten kann dies hingegen zu einer Rufschädigung führen. Dafür bedarf es einer blogging policy, in der einige wenige Regeln zum Umgang und zur Nutzung von Blogs aufgestellt sind, einschließlich der Regelung, wann Eigeninitiative gefördert wird. Am Bei-spiel der Universitäten, die sicherlich an dieser Stelle Vorreiter sind, wird dies deutlich: Schüler und Studierende informieren sich über Auswahlverfahren (uni-protokolle.de), bewerten Professoren (myprof.de) oder informieren sich wechsel-seitig über Interna (StudiVZ.de). Auch hier geraten zunehmend Unternehmen ins Visier, indem Praktika sehr genau bewertet werden und Empfehlungen für oder gegen bestimmte Unternehmen ausgesprochen werden.

Authentizität ist subjektiv, aber in der heutigen Medienrezeption deswegen nicht mehr disqualifiziert, sondern vielmehr eine noch ungewohnte Kategorie, die Unternehmen zu enormen Wachstumssprüngen verhelfen kann sowie zu einem schnellen Absturz.

79 Dies ist insbesondere bei der medizinischen Kommunikation zu beobachten, wo die Tendenz be-

steht, eine Zweitdiagnose durch einen anderen Arzt einzuholen.

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98 Stephan A. Jansen

6 Fazit Die Ausgangsfrage war die, was man sieht, wenn man ein Unternehmen bewer-tet, und welche Wertschätzung durch die Erweiterung von mehrwertigen Kapita-lien erfolgt. Es wurden mit dem Human- und dem Kundenkapital sowie dem in-tellektuellen und sozialen Kapital erste Erweiterungen vorgenommen und anhand des hier vorgeschlagenen Haltungskapitals eine Ergänzung der relevan-ten Kapitalien diskutiert.

Welches dieser mehrwertigen Kapitalkonzepte nun für ein spezifisches Un-ternehmen und für welche Anspruchsgruppe zentral ist, lässt sich nicht eindeutig bzw. einseitig beantworten, weil Unternehmen für jede Zielgruppe eine andere „Maschine der Wunschproduktion“ darstellen:

(1) Finanzanalysten, Aktionäre und viele Unternehmensführer sehen Unter-nehmen als Gewinnerzielungsmaschinen. (2) Wirtschaftswissenschaftler sehen Unternehmen darüber hinaus auch als Produkt- und Dienstleistungsentwicklungs- und -vertriebsmaschinen. (3) Politiker hingegen sehen in Unternehmen Arbeitsplatz- und Steuergenerie-rungsmaschinen. (4) Mit einem Blick auf die Zeppelin-Geschichte können Unternehmen aber auch als dream machine, also als „Traummaschinen“, verstanden werden80.

Als Fazit ließe sich die Einschätzung gewinnen, dass in dieser paradoxen unter-nehmerischen Welt alle Kapitalien eines Unternehmens gleichzeitig in das Kal-kül gezogen werden müssen – aus strikt ökonomischen und nicht etwas mora-lisch-ethischen Gründen!

Die Forschungsbedarfe könnten nun in der exakten Messung dieser Kapita-lien vermutet werden. Sie werden tentative und tendenziöse, also vorläufige, aber entscheidungsleitende Konzepte bleiben und sich der letzten Errechnung ver-schließen. Dies gilt insbesondere bei dem hier vorgestellten Haltungskapital, denn in einer paradoxen Welt geht es mehr um die Nachhaltigkeit und Lebens-erhaltung – und weniger um reine Buchhaltung.

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Gebrauchswerte des Kapitalismus. Aktueller Wandel, Krisen und Reformpotenziale

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National Economic Adjustment in the Digital Era: Exploring the Role of Social Protection

Tobias Schulze-Cleven, Bartholomew C. Watson, and John Zysman

The dynamics of the world economy are shifting as the mechanisms for increas-ing productivity and generating economic growth evolve in today’s digital era. The world’s rich democracies face new challenges in sustaining their prosperity. How should the wealthy nations adapt? Ever since the conservative/neo-liberal revival in the 1980s, there has been a trend to think of successful adjustment in terms of a choice between social protection and market flexibility. In this chap-ter, we recast this all too common framing and emphasize that market flexibility and competitive advantage can be developed through well-designed social poli-cies. Providing appropriate mechanisms of social protection remains an impor-tant task through which states can facilitate market adjustment.

We will advance this argument in three steps. The first section situates the dynamics and choices of today’s digital era by tracing the evolution of historical production paradigms, highlighting for each the relationships between technology, business problems, and the resulting domestic and international politics. The sec-ond section then delineates the newly emerging digital production paradigm and elaborates the theory of value creation underpinning it. Having thus clarified the new challenges facing companies, the third section addresses the state’s changing role in the digital economy. We will discuss the purposes and practical operations of different social protection mechanisms and invoke the Danish experience to demonstrate how social protections can facilitate the social and labor market flexi-bility required for successful adaptation to today’s environment. A conclusion situ-ates our argument within the wider context of the European reform process.

1 Evolving Models of Production and Competition Every historical era of value creation involves a) distinct business problems, b) a changing role for international factors in the dynamics of national economies, and c) new patterns of state involvement in the economy. The next section will

An earlier version of this chapter was published as “How Wealthy Nations Can Stay Wealthy: Inno-vation and Adaptability in a Digital Era”, New Political Economy 12 (4), 2007, pp. 451-75.

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106 Tobias Schulze-Cleven, Bartholomew C. Watson, and John Zysman

describe these shifting aspects in the phases leading up to the digital era. During this discussion, keep in mind that these three aspects are not independent, but ac-tively move and shape each other in an ongoing process. Another issue, the rela-tionship between technology and the production of goods/services, will serve as a guide to shifts between the different periods in this chronology.

1.1 American Dominance: Fordism Fordism, as it came to be called, was “capitalism in one country” until the early 1970s. In the United States, it combined mass production with Keynesian de-mand management. Mass production, epitomized by Henry Ford and his Model T, was the first 20th century production revolution, though its roots lie earlier in the 19th century. In this system, large-scale manufacturing implied rigidity. Fixed costs in the production line and design were high; consequently, changes in products or reductions in volume were difficult and expensive. Important fea-tures included a) the separation of conception from execution – managers de-signed systems, which were operated by workers in rigidly defined roles that we-re matched to machine functions; b) the “push” of products through these systems and into the market; c) large-scale integrated corporations, whose size and market dominance reflected mass manufactures’ economies of scale.1 While the scale of mass production created scale efficiency advantages, the rigidity of the production system created both technical and political problems.

Drops in demand were difficult to absorb for companies structured accord-ing to Fordist principles, leaving the national economy rigid as well. An initial downturn in demand could cumulate into sharper economic downturns. Booms and busts implied worker dislocations. Public policies to cushion both the eco-nomic and political dislocations associated with mass unemployment became the national economic policy counterpart to corporate business cycle management. Domestic demand management policies, associated with the label of Keynesian-ism, were born. They were expanded in the Bretton Woods era, when an interna-tional fixed exchange-rate regime, as well as rates of economic growth higher than those for long-term interest, made them highly efficacious.

1.2 Challenges from Lean Production and Flexible Specialization During the 1980s, challenges to American manufacturing came from two direc-tions. The more important challenge was the interconnected set of Japanese pro-duction innovations, loosely called flexible volume production or lean produc- 1 For a review of Fordist principles, see Womack et al. (1991).

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tion.2 The Japanese lean production system seemed to allow for rapid market re-sponses by providing both the flexibility to adjust output in existing lines as well as to introduce new products.3 If the political story of Fordism highlights national strategies for demand management, the Japanese story of lean production high-lights the role of a “developmental” state and the interaction among the markets and producers of the advanced countries in international competition.4 The Japa-nese state actively promoted domestic development with closed markets at home, while “free-riding” on the international system to use exports for stabilizing the domestic economy. The combination of an open international system with intense but controlled competition behind managed trade borders at home proved decisive for the emergence of the innovative and distinctive Japanese system.5

At about the same time, the second challenge to the classical American mass production model came from Europe under labels such as diversified qual-ity production and flexible specialization.6 Typified by the “Third Italy” and Germany’s Baden-Württemberg, reformed versions of pre-industrial craft pro-duction survived and prospered in the late 20th century. The particular political economies of the two countries gave rise to distinctive patterns of company and community strategies. Deploying flexible machinery and relying on skilled workforces rather than on paying low wages, firms in these countries often com-peted in global markets on the basis of quality rather than price and on their abil-ity to produce short runs of semi-custom goods. Flexible regional networks and cooperative within-firm structures allowed them to more effectively adapt to the radical uncertainties and discontinuities of global market competition than larger, more rigidly organized companies.

Distinct from the vertical or hierarchical connections that are crucial for the successes of Japanese companies, the emphases in these European production

2 See Coriat (1990) and Jaikumar (2005). 3 See Tyson/Zysman (1989). 4 The distinctive features of the Japanese lean production system were a logical outcome of the dy-

namics of Japanese domestic competition during the rapid growth years, and this system was firmly in place by the time of the first oil shock in the early 1970s. For example, Japan’s automo-bile and electronics firms burst onto world markets in the 1970s and consolidated into powerful conglomerates in the 1980s. The innovators were the core auto and electronics firms who, in a hierarchical manner, dominated tiers of suppliers and subsystem assemblers; the production inno-vation was the orchestration and reorganization of the assembly and component development pro-cess. The core Japanese assembly companies of the lean variety have been less vertically inte-grated than their American counterparts. Rather, they have been at the center of vertical Keiretsus.

5 The argument is simple: The relationships of production and development in the Japanese produc-tion system are so delicate that measures to steady and smooth the expansion of demand in sectors such as autos proved very important for the success of the production innovations; see Tate (1995).

6 See Streeck (1991) and Hirst/Zeitlin (1997).

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models are on the horizontal connections within the community (or region) and among peers. For instance, the flexible specialization model hinges on local in-stitutions, such as chambers of commerce, vocational training systems and public research facilities, which permit the continuous combination and recombination of local activities. Thus, the two innovative challenges to American production dominance each featured distinct roles for policy and the state.

1.3 American Comeback: Wintelism and Cross National Production Networks Developments in the 1990s can be best characterized by the emergence of Win-telism and cross-national production networks.7 The term Wintelism (derived from Microsoft’s computer operating system Windows and Intel’s chipsets) re-flects the sudden rise in importance of constituent elements and components in defining the terms of competition in the markets for final products. This trans-lated into a strategic shift in competition away from the vertical control of pro-duction by final assemblers. Cross-national production networks was the label first applied to the consequent disintegration of industries’ value chains into con-stituent functions that can be contracted out to independent producers anywhere in the world, accelerating the global division of labor. The networks permit firms to weave together the constituent elements of the value chain into new produc-tion systems that facilitate diverse points of innovation. They also turned large segments of complex manufacturing into commodities available in the market.

Wintelism emerged as a strategic response by American producers to the Japanese production challenge during the 1980s and involved both new terms of competition and a new model of production. Politically, the Wintelist era was marked by domestic deregulation and American-led international agreements that created an ever more open international trading system. After American markets had shifted competition and market leverage toward component makers, these initially domestic phenomena eventually reshaped the electronics industry worldwide. The arrival of ever more extensive and dispersed networks of in-vestment, trade, and production was the first step in the evolution of complex global production networks and supply chain management.

1.4 “Globalization with Borders” and the Arrival of Digitized Services The classic version of the globalization story stresses how the internationaliza-tion of business – enabled by lower “transaction costs” associated with techno-logical changes – has severely constrained active government policy. In contrast, 7 See Borrus/Zysman (1997).

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the evolution of production paradigms sketched out above suggests a different take on globalization. Each production model’s power in international competi-tion rested on its national basis and/or explicit government action. From this van-tage, globalization is a story of national innovations played out on a larger stage. A sequence of new competitors, new and often unexpected loci of innovation and production, bring new processes, products and business models to the inter-national marketplace. The globalization phenomenon is one in which borders remain important.

The latest phase in the evolution of production models has been the digital era. What is new about the digital era in the 21st century is the range of activities eligible for reshuffling in the international marketplace. Now the reshuffling ex-tends to services, which have long been deeply rooted in social processes. Mov-ing service tasks might run into stronger social constraints than was the case for many manufacturing processes. However, it may also technically be easier to move services offshore today than it was for manufacturing twenty years ago.

As was true in earlier periods, dramatic marketplace developments are gen-erated inside firms and in (inter)national systems of innovation and competition. If Microsoft’s Windows product was a champion of Wintelism, Google’s online services may be an early champion of the digital era. One important question that emerges is about the degree of the geographic stickiness of production or ser-vices. Can all activities be placed anywhere? In developing a framework for an-swering these questions, we will define the key components of value creation in the new digital era.8

2 Value Creation in the Digital Era The digital era is associated with a new set of distinctive tools, tools for thought. These tools amplify brainpower by manipulating, organizing, transmitting, and storing information in the way the technologies of the Industrial Revolution am-plified muscle power.9 The tool set consists of the hardware that executes the processing instructions and the software, i.e. the written programs defining the procedures and rules, that guides the hardware equipment’s information process-ing. In addition, it includes the data networks that interlink the processing nodes, and the network of networks, which creates a digital community and society. This tool set facilitates 1) the ever further modularization and unbundling of cor-

8 For an earlier (less compressed) development of these issues, see Zysman (2006). 9 See Cohen et al. (2000: 7-8). The tool set rests on a conception of information as something that

can be expressed in binary form, open to subsequent manipulation, see Shannon (1993).

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porate activity as well as 2) the algorithmic revolution of services. In combina-tion with the increasing knowledge requirements of the digital era, these shifts call for changes in corporate strategies, the forms of work organization, and ul-timately, public policies.

2.1 Modularization and Unbundling: Products, Commodities, and Differentiated Assets

We begin our inquiry into the changing logic of value creation by pondering the three familiar notions of products, commodities, and differentiated assets. A product, whether object or service, is an item that can be bought and sold in the market. A commodity is a good or service that is exchanged in competitive mar-kets with little advantage to any particular buyer or seller. A product becomes a commodity when it is generally available from a number of suppliers on com-mon terms in the market. Finally, a differentiated asset creates the basis for a premium price, a distinctive sales advantage, or a cost advantage in production and distribution.

As increasing modularization is unbundling activities and locations in a powerful way, an ever higher share of economic activity is being commodi-tized.10 In addition to production that can be purchased in the marketplace through contract manufacturers or outsourcers, even R&D and other former in-ternal competitive differentiators are increasingly becoming commodities. With the explosion in scientific knowledge during the last few decades, firms cannot be at the cutting edge of all the many technological developments that affect them. Instead, firms must become technology integrators who look outside of their boundaries.11 Firms are increasingly buying R&D from universities and start-ups, or they are sourcing it from joint product development projects and technology development outposts.

Extreme versions of this unbundling of corporate activities can be seen in radically new production systems, such as open source software development. Open source as a principle of organization hinges on distinct approaches to the mobilization and coordination of work, replicable rules of participation and gain rather than the often-assumed vague voluntarism. It rests on foundations that turn notions of property from ones of controlling the use of an object, or an objecti-fied body of code/knowledge, into controlling the processes of distribution.12

10 On “unbundling”, see Baldwin (2006). 11 Disruptive technologies, which are capable of supporting newcomer entry into the market, are of-

ten difficult to develop in-house by established companies, see Christensen (1997). 12 See Weber (2004).

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Moreover, the modularization of products and the unbundling of activities create an array of product markets. Each subsystem, module, task, or component suddenly becomes a potential product in inter-firm and international trade.13 Each modularized component of a product or unbundled function is a point of entry; and each point of entry creates an opportunity to mobilize resources, build competitive advantage and generate defendable market positions. As new com-petitors from diverse locales enter markets, and more goods and services become commodities, competition in product markets intensifies. The pace of change and innovation accelerates. This produces a constant reshuffling of what is produced within the corporation, what is outsourced, and where production, services and distribution functions are located.

Firms have to decide and continuously reassess questions such as which ele-ments of production and development are effectively high-end commodities, which technologies are strategic assets best acquired, procured on an exclusive basis or developed in-house, and how to move to capture distinctive technologi-cal assets.14 The commodification of a whole array of products and components squeezes profits in many domains, generates market uncertainty and constantly shifts the character and terms of business competition. The result is an urgent and constant drive by firms to find the “sweet spot” – the defensible point at which they can capture distinctive advantage and profit – in the value chain and in the market.

Corporate strategists increasingly break with the conventional view of mar-ket competition within sectors – defined market segments with understandable sets of competitors, terms of market entry and competition. As the borders of old sectors are dissolving, corporate strategists have instead started to talk of broader “value domains”. Take, for instance, the array of digital functions that can be embedded in a small bloc of electronics encased in plastic. This bloc can be a PDA, a phone, a camera, a music device, or a television. Each category repre-sents an alternative slicing of the “value domain”, for which products, including their functionality and design, have to be defined. Value domains are where companies must now seek to create differentiated assets. In turn, companies such 13 See Bresnitz (2007). 14 Generally, there are at least three circumstances in which in-house control of a particular activity

can be a strategic advantage: First, if the in-house control of the activity provides advantage in cost, timing of goods to market, quality, or of distribution that cannot be obtained by outsourced production; second, if knowledge about existing processes is required to develop a “next genera-tion” of this activity, or put differently, if in-house production mastery may be required for rapid product innovation; third, if critical intellectual property about the activity itself is so tightly woven into the value of a firm’s product that commodity outsourcing is tantamount to transferring knowl-edge to competitors.

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as camera-producer Canon, phone-maker Nokia and the computer-design house Apple have become direct competitors. But how does one capture a value domain?

Digital tools enable companies to turn commodities into differentiated products, facilitating new segmentation strategies that target smaller and more unique markets than ever before. Credit card companies or loyalty programs col-lect detailed information about customers in a variety of forms; modeling and da-tabase management software give companies new ways to identify who will pay how much for what. In turn, companies can better match their offerings to the demand functions of smaller groups of consumers, creating products for which people are willing to pay premium prices.

Once new market segments are defined, digital tools can also help firms create functional variety in products. An early example was the insurance indus-try, which moved from using computers exclusively for back office operations to employing them in the creation of customized products for particular consum-ers.15 Another example are printers. The difference between many higher-speed (higher-price) printers and their slower (lower-price) brethren is in the software that tells the printer how to operate.16 Finally, even highly standard products can be easily given extra functions, such as a coffee maker that automatically turns on at a particular time in the morning. At the same time, classical differentiation strategies such as branding and design will remain critical.

At the end of this section, we also need to mention how online sales and digi-tally-rooted supply-chain management qualitatively alter the links between a firm, its customers, and its suppliers. The market success of Dell’s strategy to sell cus-tomized computers directly to consumers demonstrates how innovative links be-tween sales and production can create dramatic advantage.17 As development and production processes are woven together to speed up the time to market and im-prove design choices, the lines between production, design, and development blur. Crucially, this shift applies not only to physical products but to traditional service industries as well. For example, retail trade has recently been transformed as digital tools have allowed firms to offer new services. Over the past ten years, the industry leader in “lean-retailing”, Wal-Mart, has built a global empire by efficiently apply-ing digital tools throughout its organization to connect suppliers to customers in new ways. Through Wal-Mart’s Retail Link system, suppliers now know what cus-tomers are purchasing in near real-time, giving them considerable advantages in quickly responding to (and anticipating) changing consumer demands.

15 See Baran (1986). 16 See Shapiro/Varian (1998). 17 See Fields (2003) and Kenney/Mayer (2002).

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2.2 The Algorithmic Transformation of Services While modularization is one significant feature of the digital era, the “algo-rithmic transformation” of services is another major shift. Service activities are changed when they can be converted into formalizable and computable pro-cesses, often with clearly defined rules (algorithms) for their execution. Re-positioning themselves around the provision of digitally-enabled services be-comes part of companies’ search both for the defensible position in the value chain and for the capabilities to sustain this position through innovation. When transformed digitally, services become central to companies’ strategic responses to commodified production. Many product companies, which had embedded ser-vices in their product offerings, have shifted to offering services with hardware embedded. The most prominent example of this trend is certainly IBM; however, even iPod-producer Apple has steadily expanded its music download service.

Moreover, the distinction between services and products increasingly blurs in the digital era. For instance, consider accounting, which is a personal service when provided by accountants. However, if you create a digital accounting pro-gram, put it on a CD, box it, call it Quicken, and allow its unlimited use by the purchaser, then you have a product. If you put the program on the Internet for ac-cess, with support for use on a fee basis, then you are likely offering a service.18

The most important change in the algorithmic transformation of services is thus not the growth in or the increased value of activities we label as services. Rather, it is the transformation of service activities, their unbundling into mod-ules and increasing tradability, which alters how these activities are conducted and how value is created. Once considered an economic sinkhole, services are increasingly seen as a source of growth and productivity.

The consequences of this services transformation are pervasive. At the firm and industry level, business processes – from finance and accounting through customer support – are altered when they can be treated as matters of informa-tion and data management. This reorganization of service provision represents a new division of labor within the firm. As old tasks are outsourced or automated, workers need to take on new tasks and develop new skills.

18 Alternatively, consider pharmaceuticals. If NextGenPharma sells a drug to be dispensed by a doc-

tor or sold in a pharmacy, it is producing a product. With gene mapping and molecular analysis, we are moving toward the possibility of a service model of therapies adapted to particular physiolo-gies. If NextGenPharma really is a database company with a store of detailed molecular-level drug information and genome functionality, it could sell an online service to customize drugs or therapy.

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2.3 Knowledge and Organization in the Digital Economy Finally, the third distinctive feature of the digital era relates to the nature of knowledge and information. Knowledge, particularly theoretical knowledge, has been recognized as an essential element of the contemporary economy. Beyond being valuable as an expression of information, the digitization of knowledge opens boundless possibilities for the application of digital tools for thought. In digital form, information can be codified, stored, searched, transmitted, and used to control the operations of physical processes.19 We can put the catalogue of the Library of Congress onto a single digital memory stick and transmit it around the globe. The complex relationships on which engines operate or planes fly can be stated as algorithms, represented in digital form. However, the flood of data made possible by these tools can drown the recipient. How do we know in an avalanche of facts and stated relationships which ones we should care about? Oddly, the same “tools for thought” make it easier to create meaningful informa-tion and generate knowledge from the flood of digital data.

Whether it is stored digitally or embedded in equipment, codified knowledge requires context in order to be useful. In the digital era, this necessitates experi-ments with knowledge management to force open the fundamental question of what knowledge is. According to Nielsen and Nielsen, knowledge unfolds in the iterative processes between tacit and codified forms, and optimizing knowledge in organizations is essentially an issue of optimizing these iterative processes.20

There are organizational implications of this particular take on the nature of knowledge. Internally, the models of corporate work organization required for the effective exploitation of knowledge might not be the same as those required for the most efficient set-up of manufacturing processes. In the 1980s, the Japa-nese innovations of flexible volume production that used lean, just-in-time tech-niques created a distinctive production advantage and rocked market competi-tion. Is there a similar revolution afoot now? Lorenz and Valeyre claim to have identified a new “learning” model of corporate organization that significantly departs from traditional craft organization, Taylorist organization and lean pro-duction systems. In particular, they see this distinctive organizational form emerging in Northern Europe, principally in the Nordic countries.21

19 See Cohen et al. (2000). 20 See Nielsen/ Nielsen (2006). 21 See Lorenz/Valeyre (2004). For an elaboration of how the authors’ findings relate to the political

economy literature, see Schulze-Cleven (2006).

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2.4 Implications for Public Policy-Making in the Digital Era Every era contains a certain level of uncertainty and risk. What is distinctive about the digital era is the pervasive and continuous uncertainty that arises from new and established players using evolving technological tools to create and rap-idly obliterate opportunities for producing unique value. As a result, we need to fundamentally rethink how firms organize their activities, how international markets work, and what governments can do to promote growth and create sus-tainable advantage.

What are the public policies that might support companies’ growth and pro-ductivity? The tasks for governments are certainly not easy ones. In support of corporate adaptation to the digital era, countries need to be able to both sustain individual and collective learning processes and implement the business, social and technological innovations generated by these processes. Traditional public policies from the industrial era will need to be continued, such as providing edu-cation for a skilled workforce, promoting centers of technology development and supporting market rule through the requisite institutional infrastructure. In a digi-tal world, however, what may be most important is sustaining a balance between flexibility and social protection, two concepts that many observers mistakenly view as being at odds with each other. Public policies cannot only help compa-nies in placing their bets, through appropriate social protections they can also en-courage societies to let companies do so.

3 Leveraging Social Protection for National Adjustment There is widespread agreement that high labor market flexibility is essential for allowing economies to adjust. In today’s global and rapidly changing market-place, companies have to frequently recast themselves with respect to an array of fundamental issues, including which markets to address, which products to pro-duce and how to produce them. Frequent reorganizations and workforce adjust-ments are part of companies’ attempts to meet these challenges, but these pro-cesses can have detrimental consequences for the communities involved. What is the best way to achieve flexibility?

Based on the simplest economic models, the popular conservative position assumes that public social protections act as rigidities that hinder the efficient functioning of markets. Indeed, by virtue of posing a choice between protection and adaptation, conservative reasoning has to come out against social protection. According to the conservative position, cutting welfare state programs and re-ducing the perceived monopoly power of trade unions are the only ways to in-

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crease a nation’s social and labor market flexibility in preparation for meeting new challenges. Such simplifications and false dichotomies are misleading.

This framing became popular after the Reagan Revolution and Margaret Thatcher’s success in “getting Britain back to work” during the 1980s, but it should be rejected in the face of a fuller set of empirical evidence. Other coun-tries’ experiences show that there is another way, one that is not only more equi-table but – importantly – also delivers unique benefits for societies and compa-nies. Social protections can support a nation’s competitiveness by facilitating both corporate experimentation and frequent re-organization.22 Moreover, these benefits do not accrue to societies without developed social protection systems.

In this section, we will explicate this argument in detail. First, we will re-view the essential role that social protections have historically played for the ef-ficient functioning of labor markets, facilitating structural change and supporting companies’ production strategies. Subsequently, we will invoke a particular con-figuration of social protections in one rich democracy, Denmark, to demonstrate how they continue to encourage the population to be open to change, promote individual skill acquisition and facilitate innovations in social organization. In a final step, we will acknowledge that national social protection systems are not created equal, and that many will need to be reformed to facilitate economic changes as successfully as the Danish arrangements have done.

3.1 Social Protection and Market Performance Given labor’s social, personal and physical embeddedness, there exists no “perfect” non-intermediated labor market. Commodity labor has unique features, which in-clude 1) a perverse, backward-bending supply curve, 2) a high “differentiation” based on peoples’ varied skills, and 3) an active collaboration required by sellers of labor.23 These properties reduce the relevance of simple, parsimonious and institu-tion-free economic models to help us understand labor market adjustment.24

22 For a useful definition of “competitiveness”, see Cohen et al. (1984: 2). The authors build their ar-

gument around a definition of a location’s competitiveness as “the degree to which it can, under free and fair market conditions, produce goods and services that meet the test of international mar-kets while simultaneously expanding the real incomes of its citizens.”

23 First, for standard commodities, prices and quantity are positively correlated. This is not the case at both ends of the supply spectrum for the labor supply function, which tend to display the oppo-site relationship; higher wage offerings can induce workers to choose more leisure, while the lowering of wages can prompt workers to extend their work hours to reach the income level nec-essary for a particular living-standard. Second, with workers’ skill levels diverging greatly, na-tional labor markets will always be segmented into much smaller markets for labor with compa-rable skill profiles. Third, to employ workers productively, employers are dependent on the

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A long lineage of political economy research has emphasized that real-world markets are always socially and politically embedded.25 Indeed, according to political economy scholars, efficient market functioning crucially depends on appropriate institutional intermediation. In turn, these scholars have included in-stitutions and social forces in their analyses, a tradition we follow here. Thus, rather than calling for removing the rigidities of social protections as conserva-tives do, we focus on the real policy challenge: to find the most “flexible rigidi-ties” that can supply the best balance between flexibility and protection.26

We will briefly review how non-market elements such as social protections and collective action by workers increase the efficiency of labor markets and ulti-mately provide for the legitimacy of market-rule. First, as for all markets, labor allo-cation needs rules and limits to sustain continued competition, as unfettered compe-tition may destroy the market through participants’ opportunistic trading behavior. This is the reason why, for instance, financial markets are heavily regulated. Sec-ond, workers have much higher incentives to invest in skills that are specific to firms or to particular economic sectors when they have access to unemployment in-surance, reducing the risks associated with such skill investments.27

The dimension of how workers are induced to accept the market as an authori-tative allocation device may be even more important. Karl Polanyi famously argued that the establishment of a viable labor market required more than merely attaching a wage rate to labor.28 In what he referred to as a “second movement”, he described the need for governments to introduce mechanisms that shelter workers from the so-cial dislocations associated with market rule, such as losing one’s economic and so-cial security. The creation of such mechanisms (the equivalent of today’s social in-surance systems), he argued, has induced workers to accept market rule itself.

History has amply demonstrated the importance of social protections in re-ducing the conflict between the effects of market rule and the social and physical needs of workers. Only during industrialization were the early capitalists able to ensure workers’ active collaboration through promoting ruinous Hobbesian com-petition between workers.29 Soon thereafter, the limits of such strategies became

repeated and active collaboration of their workers, for both the build-up of firm-specific skills and even for simple task fulfillment, see Streeck (2005).

24 See Solow (1990). 25 See Granovetter (1985). 26 See Dore (1986). 27 See Estevez-Abe et al. 2001. 28 See Polanyi (1944). 29 Using the peculiar shape of the labor supply curve as well as the specificity and short-term in-

elasticity of workers’ human capital for their advantage, employers could determine the terms of the employment relationship, waiting until workers had accepted their demands.

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clear in the social upheavals that ensued. Workers’ revolts have been frequent in Europe, and the Great Depression put equal pressure on successive US govern-ments to remedy the situation.

Importantly, welfare is only one of the mechanisms of social compensation that can be used to help societies reorganize their economies in support of suc-cessful adaptation to new competitive conditions. The system of agricultural pro-tections of the “Common Agricultural Policy”, maintained by the European Un-ion to this day, might be expensive to the consumer, but it has also performed an important role in facilitating sectoral change away from agriculture by promoting social peace. For example, France, a country in which agriculture was the econ-omy’s largest sector after the Second World War, has since become an industrial powerhouse and is increasingly dominated by competitive services. Social pro-tections have facilitated the social transformations associated with each succes-sive phase of economic development and modernization.

Over time, social protections have facilitated the successes of quite different production paradigms. For example, in the 1960s, the success of Fordist mass production required counter-cyclical Keynesian fiscal policy to offset the sys-temic political and production rigidity flowing from Taylorist forms of industrial organization. Later, the interplay between production and protection was quite different for the production paradigm of diversified quality production that was key to the success of German industry in the 1980s. In Germany, union rights and workers’ social protections functioned as “beneficial constraints” on manag-ers’ actions.30 Managers had to devise corporate strategies that were not only competitive in the market, but also allowed them to get workers’ support and cope with high labor costs. Given these constraints, many German companies chose production strategies that emphasized their products’ quality and could thus evade price competition. This gave an advantage to German companies over their US counterparts in weathering the Japanese challenge of the time.

During the last two decades, the global competitive environment has radi-cally changed. Today’s firms face a much higher level of continuous uncertainty than was the case in previous eras. At the same time, the historical lesson – that social protections can facilitate the workings of the market – continues to hold. This time around, social protection programs can again play a role in supporting companies’ and countries’ competitiveness. To demonstrate this, we will present and analyze the social protections that have facilitated economic growth in Den-mark over the past two decades.

30 See Streeck (1997).

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3.2 “Flexicurity” and Danish Success During the last few years, Danish social protection and labor market institutions have become widely recognized as supporting a system of “flexicurity”, i.e. one that combines the promotion of labor market flexibility with the provision of so-cial security. Denmark has successfully leveraged this system to support socio-economic innovations that have made Denmark the best place in the world to conduct business over the next five years (according to the Economist Intelli-gence Unit) and placed it third in terms of growth competitiveness in 2007 (ac-cording to the World Economic Forum).31 In our view, Denmark has success-fully updated the flexible specialization model for the digital era.

Denmark’s high degree of labor market and social flexibility can be tracked on a variety of measures. First, job mobility is very high, with Danish levels matching those of the United States and Britain; the median Danish job tenure in 1995 was a relatively short 4.4 years, compared to 4.2 years in the US, 5.0 years in the UK, 7.8 years in Sweden and 10.7 years in Germany.32 Every year, an av-erage of 10 percent of total jobs is created or destroyed, and roughly one third of the entire labor force is newly recruited or dismissed. At the same time, Den-mark’s labor market participation is among the highest, and long-term unem-ployment among the lowest, in Europe.33 Finally, the Danish population displays a strong general acceptance of change. When asked if globalization was a threat or an opportunity, the Danish population was the most open to globalization in Europe. Among Danes, 77 percent saw globalization as an opportunity versus only 16 percent that saw it as a threat. This contrasts with results in Britain and Germany, where the numbers were 45 versus 38 percent and 34 versus 59 per-cent respectively.34

There is no doubt that Denmark’s social protection system plays a key role in sustaining these outcomes, particularly if we acknowledge the integration of Den-mark’s training system into its structures of social protection.35 Denmark has a unique system of “protected mobility”.36 In contrast to many other European coun-tries, Denmark grants little protection against unemployment. Instead, the country offers social protection in a different way, by providing protection during unem-ployment and promoting chances for workers to increase their employability.

31 See Economist Intelligence Unit (2005) and World Economic Forum (2007). 32 See Estevez-Abe et al. (2001). 33 In 2004, the share of long-term (more than 12 months) of total unemployment in Denmark was

half the level of the EU 15 (22.6 percent compared with 42.4 percent); see Bredgaard et al. (2006). 34 See Eurobarometer (2006). 35 See Kristensen (2006). 36 See Auer (2005).

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More precisely, the Danish system supplies generous unemployment bene-fits, which are administered through active case management and tied to training opportunities. When unemployed, workers with low incomes receive up to 90 percent of their former wages and skilled workers get about 60 percent of former wages. The high replacement rate enables individuals to search for the most suit-able job instead of merely taking the first opportunity that comes along. For those individuals who do not find new employment within a limited period, unemploy-ment benefits become conditional upon the recipient participating in training measures. Thus, not only does the Danish welfare state support losers of eco-nomic change, it rearms them with the skills needed to return to the market and successfully find new employment. This is increasingly vital as an ever-growing premium is placed on workers’ skill level in today’s fast-paced environment.

Danish training measures for the unemployed are organizationally tied to-gether with the continuing training for the currently employed, which safeguards the programs’ quality. The important role of training as an “active” and “capac-ity-building” social policy is widely recognized in Denmark. It is an instrument used so intensively that Denmark is the undisputed leader in the provision of worker training in the OECD and the European Union. Danish workers spend more time in training and skill formation programs than any other European workers. For instance, in 2003, participation rates in training and lifelong-learning activities in Denmark were about twice the average of the EU 25 in 2003, 80 versus 42 percent for the population aged 25-64, and 41 versus 14 per-cent among the unemployed.37

The Danish workforce excels in continuously improving its skills, in con-trast to other countries, where education is often provided almost exclusively at the beginning of workers’ narrowly-circumscribed careers. Additionally, life-long-learning activities are available to the entire Danish population, which combines the promotion of competitiveness with the encouragement of social cohesion. In other countries, continuing training activities are largely targeted to those workers who have already attained a high level of education. Finally, the Danish training system seems to excel in teaching the skills needed by compa-nies in today’s era, such as the ability to independently acquire more knowledge, to engage in complex interpersonal communication and to autonomously develop solutions to challenges encountered on the job.38

These outcomes flow from the training programs’ structure and their financial basis. In addition to funding programs for the unemployed, the state assumes a high

37 See Bredgaard (2006). 38 A review of future skill needs is provided by Levy/Murnane (2004).

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share of the costs for the training courses for currently employed workers. More-over, Danish companies have a lot of leeway to shape training programs to meet their local needs. For example, companies can give input to have local schools teach unemployed workers those skills that are actually short in the production process. In a few instances, companies have even asked schools to help them with the imple-mentation of new models of work organization on the shop floor.

Danish companies have both a high degree of freedom in employing, de-ploying and adjusting their labor forces, as well as ready access to a pool of workers with up-to-date skills and a general willingness to learn more. In com-parison to their foreign competitors, Danish firms can grant workers more auton-omy, leaving them with more discretion for decision-making unconstrained by hierarchical supervision systems.39 This provides the basis for effective decen-tralized knowledge management and organizational flexibility within firms. By facilitating close collaborations between companies’ customers, production workers, and engineers, Danish company organization has enabled continuous experimentation in support of incremental product and process innovation. The success of Danish companies in playing “global games”, be it as independent op-erators in niche markets or as valuable subsidiaries of multinational corporations, underlines Danish companies’ competitive advantages.40

With such positive results, Denmark clearly demonstrates the viability of combining economic modernization with strong social protections. The Danish system has successfully allowed for Schumpeterian processes of creative de-struction, which are so central to achieving economic growth and improving productivity in today’s economic environment. Importantly, Denmark’s per-formance is likely to continue, with a recent report predicting that the country will receive net gains from future offshore outsourcing on the basis of its impres-sive re-employment rates for workers whose original jobs will be off-shored.41

3.3 Comparative Perspectives on Social Protection Arguably, at this stage, few other countries come close to Denmark’s inclusive system of protected mobility. Rather than providing “protection for change”, many countries’ social protection systems are still oriented toward offering “pro-tection from change”. Integrated into national economies in different ways, and resting on distinct political compromises, countries’ social protection systems differ along many dimensions, such as who is protected, at what level and 39 See Dobbin/Boychuk (1999). 40 See Kristensen/Zeitlin (2004). 41 See Fremtidens Vækst Taenketanken (2004).

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through which mechanisms.42 For example, in Continental European countries such as Germany and France, social protection systems remain structured to pro-tect full-time male job-holders (insiders) with strict employment protection rules and to shield the self-employed from competition. Female, older, part-time and temporary workers (outsiders) tend to remain unemployed or relegated to less secure, second-tier jobs with little chance of re-integration into the mainstream of the national workforce. Arguably, by locking workers into specific types of ac-tivities, these “Continental” systems of social protection hinder necessary social adjustments. Such institutions of social protection lend legitimacy to conserva-tives’ critiques of the welfare state, but they are not the only and especially not the most appropriate forms of social protection in today’s global economy.

The incentives in social protection systems such as Germany’s need to be re-aligned to support the flexibility and learning that the new times demand. In par-ticular, rather than simply providing workers with protection against losing a spe-cific job, systems need to be reoriented to deliver true employment protection that facilitates workers’ re-training and re-entry into the labor market. This will not be an easy process, and policy-makers will not be able to simply adopt Danish insti-tutions, but they can borrow ideas and strategies from the country’s successes.

Let us briefly look at Japan and France to highlight how this learning and borrowing might be done: In Japan, social protections are often embedded in pri-vate employment structures. Consequently, firm failure is “socially too expen-sive”, leading to continued bank financing to prop up troubled companies. Achieving flexibility in the Japanese context would require unwinding the nexus of company, finance and social protection institutions, and replacing it with a system of social protections that would be independently provided and available for all Japanese workers. In France, social protections are embedded in the de-fense of particular social and employment arrangements. Apart from the formal system of government-financed social protections, the economy abounds with an array of “acquired rights” that embed privileges in particular jobs, from taxi and café licenses to workers being given guarantees about job locations.43 These job protections hinder market entry by new firms and workers. At the same time, they do little to prepare workers for competition in the event of deregulation. A reform of the French system that would expand social-investment forms of pro-tection, such as training policies, could encourage the population to become more open to change.

42 For the classic scholarly treatment of different welfare regimes, see Esping-Andersen (1990). 43 See Cahuc/Kramarz (2004).

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Most likely, reforms will not always have the desired effects. For example, in Spain, the level of social protection and employment security has long greatly diverged between labor market insiders and a large number of outsiders. In 1984, the government tried to make it easier for firms to lay off workers to redress this imbalance. Paradoxically, these reforms ended up increasing labor market seg-mentation by reinforcing the bargaining power and wages of insiders, while con-centrating economic insecurities among a rising number of temporary workers.44

Predictable difficulties in adjusting social protection systems should not, however, be used as an excuse for not attempting to rise to the challenge. As re-cent success stories in the Netherlands and Sweden indicate, a considerable pay-off might materialize upon finding a better balance between flexibility and pro-tection. In the Netherlands, extensive reforms of the disability pension scheme and employment regulation have increased the labor market participation rate from 52 percent in 1983 to 66 percent in 1996. Among women, the rate in-creased 28 percentage points in 15 years, reaching almost 63 percent in 1998.45 Weathering macro-economic imbalances along the way, Sweden has demon-strated that a large welfare state is compatible with a highly competitive econ-omy that retains micro-economic incentives. Denmark, too, is a good example that reforms can succeed. The country went through a deep institutional crisis in the 1980s, and many features of the “active” labor market policy outlined above were only introduced during the 1990s.

Finally, the Danish case also proves that labor unions and workers are not automatic supporters of lay-off protections, but can instead accept their relative absence when offered offsetting alternative social provisions. Danish labor un-ions, organizing 80 percent of the national workforce, actively support the coun-try’s labor market regime and extol the regime’s benefits to their members. Dan-ish workers feel more secure in their jobs than workers in other European countries, and they report very high satisfaction with the conditions at their workplaces. For instance, in a survey that sought to establish the 100 best work-places in Europe, Denmark got by far the best scores relative to its population size and scored near the top in absolute terms.46

44 See Watson (2006). 45 See Hemerijck/Visser (2001). 46 See http://www.greatplacetowork-europe.com/best/list-eu.htm for a complete listing of the top 100

firms as well as the methodology used to determine them.

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4 Conclusion and Outlook for Europe In this paper, we made two arguments. First, we argued that the competitive en-vironment has changed in the digital era. Countries and companies face an ever more volatile competitive marketplace. They have to maneuver in a competitive environment, in which the “sweet spots” for corporate success are constantly changing as companies’ internal functions become products, products become commodities, and the sources of differentiation for products and processes are constantly evolving. The new “formula” for corporate success requires a social capacity for flexibility and adaptation. Second, we claimed that well-designed social protections can facilitate labor market flexibility and support adjustment to the digital era. As our discussion of Denmark indicates, and as Dutch and Swed-ish developments corroborate, some Continental European countries’ much-reported dilemma of providing “welfare without work” is only one possible out-come in high-protection environments.47 Providing appropriate social protec-tions remains a central task of the state in the digital era.

As we have tried to demonstrate, the organizational structure of social pro-tections strongly shapes their effects. The Danish case points to a particularly positive relationship between few employment protection rules, generous unem-ployment benefits and active labor market policy as a potential guide for policy across Europe. But the precise policies – and particularly the politics of reaching a good balance between social protection and flexibility – are likely to be differ-ent for each country. The crucial point is that European countries should look to their social protection systems as assets for future competitiveness rather than as burdens of the past.48

On the production side, finding a new balance between social protection and flexibility in the digital era may be critical in creating distinctly European alter-natives to Wintelism, which was deeply rooted in the American experience. If di-versified quality production and flexible specialization represented viable alter-natives to Fordist mass production in the industrial age, there might well be similar corollaries in the age of digital services. There certainly exists more than one way to use innovations in corporate organization, such as modularization and the outsourcing of tasks. As we have argued, digital tools are not a panacea, but rather must be applied in ways compatible with a particular social and insti-tutional context in order to be effective. This holds particularly true in services, which are inherently rooted in social processes. Uniquely European strands of digitally-enabled services ranging from internet start-ups to lean retailing can be

47 See Scharpf (2001) and Esping-Andersen (1996). 48 See also Goul Andersen (2007).

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a reality. Moreover, high levels of social protection may be the key to unlocking new possibilities that remain closed in the American context.

Political entrepreneurship will be required to identify traditional strengths and push the necessary changes. In recent years, the European Commission has been active in this direction, organizing a series of events on the theme of “flexicurity” under the aegis of the European Employment Strategy. Embracing social policies that promote employability and activation, a reasonably coherent political vision for a “European Social Model” may be emerging. While reforms will be necessary, the debate about how European nations can get to such an out-come is now actively engaged. More than simply a theoretical or academic de-bate, it is now rooted in ongoing policy processes.

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Die Subprime-Krise oder: Wie aus der Immobilienkrise eine handfeste Wirtschaftskrise wird

Reinhard Blomert

„Die Wissenschaft der Ökonomie ist deshalb oft trübe, weil sie versucht, universalistisch zu sein“ (Walter Bagehot1).

„Housing prices will collapse, stocks will fall – maybe down be-low the trough of 2002. A major recession will begin. China will have a hard landing. And the combination of China and the United States – both in economic trouble – will drag the entire world into a slump. There, that’s enough reasons to worry for us“ (Gary Shilling, amerikanischer Ökonom, 20072).

1 Der amerikanische Hypothekenmarkt Am 8.Oktober 2005 berichtete die New York Times, dass in den USA eine neue „Industrie“ der Häusermakler aus dem Boden geschossen sei, von denen einige bereits zu großem Reichtum gelangt seien (Bailey 2005). Die Zahl der Häuser-makler – eine Funktion, die es vor 25 Jahren praktisch nicht gegeben habe – sei jetzt auf 400.000 angewachsen, und diese arbeiteten in mehr als 50.000 Firmen. Die amerikanische Notenbank hatte nach dem Platzen der New Economy 2001 die Zinsen drastisch gesenkt, um eine drohende Rezession zu verhindern; zwi-schen 2001 und 2003 gingen die Zinsen der Notenbank bis auf 1% hinunter. Doch das billige Geld floss nicht in Produktionsanlagen, sondern in den Immobi-lienmarkt und diente einer bereits hypertroph expandierten Finanzbranche dazu, sich neu zu formieren.

Es bedurfte geringer Ausstattung, um Hypothekenmakler zu werden – ein Rechner, ein Telefon, ein Faxgerät, eine staatliche Lizenz zum Geldverleih und Geld für ein paar Monate Miete. Die staatlichen Lizenzen waren leicht zu be-kommen, und da mit jedem Abschluss eines Umschuldungsvertrages rasch 1000 Dollar verdient werden konnten, entwickelte sich bald nach dem Ende der New Economy eine andere „neue Ökonomie“: Wie Pilze schossen die Maklerbüros und Hypothekenbanken aus dem Boden; sieben von zehn Hypothekenverträgen

1 Vgl. Genovese (1962: vii). 2 Shilling (2007, o.S.).

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gingen bereits auf ihr Konto, und sie bezogen 33 Milliarden Dollar aus einem geschätzten Hypothekenmarkt von 2,8 Billionen Dollar.

Mit der Verdrängung der amerikanischen Sparkassen, die zuvor im Hypo-thekengeschäft engagiert waren, bekam das neue Gewerbe der Hypothekenmak-ler einen starken Aufschwung. Auch kleine Spieler haben hier Chancen, weil von der Natur des Geschäfts her kaum Steigerungseffekte durch Rationalisierungen möglich sind. Die Hypothekenschuldner müssen individuell angelockt, aufge-sucht und vom Angebot der Umschuldung überzeugt werden; jede Umschuldung muss durch eine einfache, aber zeitaufwendige Prozedur ausgehandelt werden. Es ist hauptsächlich ein Klinkenputzergeschäft, bei dem es um Vertreterqualitä-ten geht und bei dem Aufmerksamkeit für jedes Detail des Vertrags verlangt wird. Eine staatliche Aufsicht über die Geschäfte dieser „middlemen“ (deren Re-putation in der Geschichte der USA ebenso zwiespältig ist wie in Deutschland)3 ist praktisch nicht vorhanden. Einige unter ihnen versuchten auch ansatzweise, dieses Geschäft durch Radio- und Fernsehsendungen zu rationalisieren. In ent-sprechenden Werbesendungen wurden Telefonnummern angegeben, über die die Geschäfte abgewickelt werden konnten. Die New York Times berichtet von dem Ehepaar Ray Vinson und Deanna Daughhetee, das 25 Millionen US-$ auf Radio-werbung verwendete und mit seiner Firma American Equity Mortgage in rund 40 Filialen immerhin 28 Millionen US-$ Jahresumsatz erreichte.

Anders als in Deutschland, wo Hypothekenverträge beide Seiten langfristig binden, werden in den USA kurzfristige Änderungen der Darlehenszinsen durch entsprechende Klauseln vereinfacht. Verbraucherschützer hatten schon von An-fang an die sogenannte „AMR-Formel“ kritisiert – die „adjustable mortgage ra-tes“, die es Hypothekenbanken erlauben, die Zinsen, die gewöhnlich etwa bei 7% liegen, nach einiger Zeit auf 11% heraufzusetzen. Makler haben zudem Hausbesitzer vielfach dazu überredet, den Wert ihrer Häuser zu hoch anzugeben, um höhere Kredite vergeben zu können und damit auch höhere Provisionen zu erhalten. Damit setzte sich eine spiralförmige Bewegung in Gang – aus Immobi-lien wurden Anlagen, aus Hausbesitzern wurden dank der Überzeugungsarbeit der Hypothekenmakler kleine Investoren, aus einem normalen Immobilienmarkt wurde ein künstlicher Wachstumsmarkt, der Illusionen über eine „robuste ameri-kanische Konjunktur“ nährte. Im Vertrauen auf den steigenden Wert ihrer Häu-ser nahmen Immobilienbesitzer in hohem Maße auch Konsumentenkredite auf. Niedrige Zinsen der Zentralbank, eigentlich dazu gedacht, eine Rezession nach dem Krach der New Economy zu verhindern, sind nicht in Rohstoffe und Ar-

3 Der Klassiker William van Antwerp empfiehlt mit diesem Argument die amerikanische Börse, an

der es eine „wissenschaftliche“ Preisfindung gebe; vgl. van Antwerp (1913: 18f).

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Die Subprime-Krise 131

beitslöhne zur Produktion von Konsumgütern geflossen, sondern in die Finanz-branche, und haben dazu beigetragen, dass eine Kreditblase entstanden ist. Was führte zu dieser Fehlallokation?

2 Der Subprime-Markt Da das Geschäft fast zum Selbstläufer wurde, nahmen die Makler immer größere Risiken in Kauf. Eine neue Käuferschicht unterhalb des amerikanischen Mit-telstandes wurde erschlossen, die man banktechnisch zum Subprime-Bereich zählte, weil sie geringeres Einkommen hatte und ihre Kreditwürdigkeit daher niedriger eingestuft wurde. Im Rausch der Entdeckung eines neuen Marktes wurden die Kriterien bei der Kreditvergabe immer weiter gesenkt. Die Doku-mentationspflichten wurden reduziert; man verlangte nur noch mündliche Bestä-tigungen dafür, dass der Käufer monatliche Einkünfte hatte, um die Raten zahlen zu können. In den vergangenen Jahren, so berichtet der Marktanalyst Robert Froehlich im März 2007, sei es in den USA zu einem regelrechten Kollaps der Kriterien bei der Vergabe von Hypotheken an Hauskäufer gekommen.4 Die Ge-bühren für Makler, die auf dem normalen Hypothekenmarkt bei 1% liegen, wur-den auf dem unkontrollierten Subprime-Markt mit Risikoaufschlägen versehen und erreichten oft mehr als 5%. Der Subprime-Markt galt als eine gelungene Marktinnovation, die als echt amerikanische Errungenschaft gefeiert wurde: Auch arme Schichten sollten am amerikanischen Traum teilhaben. Die Makler entdeckten plötzlich ihr Herz für die Wünsche der Armen und deren Recht auf Beglückung durch Teilhabe am amerikanischen Erfolg. Damit stellten sie die eigene Arbeit in das philanthropische Licht des Edelmuts, während es ihnen hauptsächlich um die Erfüllung der Vorgaben ging. Das jedenfalls geht aus den Beispielen hervor, über die in den Zeitungen berichtet wurde. Der Rentner Richard Kuck aus Idaho z.B. hatte für sein Haus ein Darlehen von 250.000 US-$ mit einer Laufzeit von 30 Jahren erhalten. Der Bankberater habe ihm den Kredit geradezu aufgedrängt, berichtete Kuck, denn er musste sein Planziel für den Mo-nat erfüllen. Angesichts des Alters von 82 Jahren war die Laufzeit relativ lang, aber die „unbürokratische Kreditvergabe“, die inzwischen üblich geworden war, verlangte weder den Nachweis von Rücklagen, noch irgendwelche Hinweise auf das Alter der Darlehensnehmer. Die Makler selbst standen unter Erfolgsdruck und mussten bestimmte Planzahlen aufweisen. Der Erdbeerpflücker Alberto Ramirez hatte ein Haus für 750.000 US-$ gekauft, obwohl er keine Rücklagen hatte. Seine Jahreseinnahmen lagen bei 14.000 US-$, zur Rückzahlung konnte 4 Siehe Handelsblatt vom 14. März 2007, „Krise bei New Century spitzt sich zu“.

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dieser Verdienst niemals ausreichen. Die erwartete Preissteigerung, mit der Ramirez die Hypothek hätte abbezahlen sollen, blieb aus. Und als der Markttrend sich umkehrte, musste er das Haus mit Verlust verkaufen. Das Haus war weg, und es blieb ihm die Differenz – nicht als Gewinn, sondern als Schulden zusätz-lich zu den restlichen vertraglichen Darlehenszahlungen, die er niemals würde abbezahlen können.

Ein anderer Fall, über den im Wall Street Journal berichtet wurde, ist der der 27-jährigen Haushälterin Naira Costa (Karp 2008). Sie war Mitglied der evange-lischen Glaubensgemeinschaft „Botschaft des Friedens“ in San Francisco. Als sie mit ihrem Mann darüber nachdachte, ein Haus zu kaufen, bot ihnen der Diakon der Gemeinde, Soario Santos, ein brasilianischer Landsmann, das nötige Geld dafür an. Denn Santos arbeitete nur abends und am Wochenende für die Gemeinde, unter der Woche war er ein ganz weltlicher Kreditvermittler. In seinem Büro arbeiteten auch noch andere Kirchendiener, die ihre Schäfchen regelmäßig zum Hauskauf animier-ten. Im Oktober 2005 fand das Ehepaar ein passendes Haus für 688.000 US-$ und unterschrieb den Hypothekenvertrag. Sie ahnten nicht, dass sie tatsächlich zwei Darlehen beantragt hatten: eine Primärhypothek über 570.400 US-$ und ein soge-nanntes „Huckepack-Darlehen“ über 142.600 US-$. Die erste Vario-Hypothek hatte einen Anfangszinssatz von 7,15% auf zwei Jahre, danach war eine „Anpassung“ bis zu 13,65% möglich. Beide Kredite enthielten zudem noch Abschlussraten von ins-gesamt fast 500.000 US-$. Costa las das Kleingedruckte nicht, und als der Kredit-geber die ersten Rechnungen schickte, eine über 3.600 US-$ und eine über fast 1.400 US-$, geriet sie „in Panik“: Das entsprach fast den gesamten Monatseinkünf-ten des Ehepaares! Der Geldvermittler und Glaubensbruder Santos, den sie um Hil-fe bat, war für sie nicht zu sprechen. Knapp drei Wochen nach dem Einzug räumte das Ehepaar sein Haus – ohne irgendwelche Zahlungen zu leisten. Es folgte die Zwangsversteigerung. Als Santos um seine Provision bangen musste, rief er an und drohte mit der Einwandererbehörde. Costa und ihr Mann schalteten einen Anwalt ein, der dann Einsicht in die Unterlagen des Kreditgebers, der WMC Mortgage Corp., erhielt. Es stellte sich heraus, dass die Angaben „getürkt“ waren. Danach war die brasilianische Haushälterin eine „US-Person“ mit einem Monatseinkommen von 12.500 US-$ – sechsmal soviel, wie sie tatsächlich verdiente. Ein gefälschter Kon-toauszug vom 19. Juli 2005 zeigte ein Guthaben von 50.180,33 US-$, während auf Costas Originalauszug tatsächlich nur 42,22 US-$ ausgewiesen waren. Die WCM Mortgage Corporation gehört zum Elektroriesen General-Electric. Dem Wall Street Journal gegenüber gab sich WCM verschlossen und ließ lediglich erklären, sie habe die Geschäftsbeziehungen zu den Vermittlern Anfang 2006 abgebrochen. Es habe Bedenken bezüglich der Qualität der Kreditanträge gegeben.

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Es lässt sich allgemein festhalten: Herr und Frau „Subprime“ lebten an der unteren Existenzgrenze und hatten wenig Spielraum für Zinssteigerungen. Als nach Ablauf der zwei Jahre die Erhöhung („Anpassung“) der Zinsen eingefordert wurde, war der erwartete Aufschwung noch immer nicht bei ihnen angekommen. Die Benzinpreise, die Strom- und Gaspreise, die Arztkosten waren gestiegen, und die Löhne waren im Verhältnis zur Inflation sogar gesunken. Eine Darle-hensrate von 1.000 US-$ stieg nun auf 1.400 US-$, eine Summe, die sie nicht aufbringen konnten. Da die Hauspreise ab Mitte 2007 zu fallen begannen, gab es auch keine Aussicht auf Refinanzierung durch eine neue Hypothek auf den ge-stiegenen Wert.

Mehr als 2,28 Billionen US-$ sollte die als „Anpassung“ bezeichnete Er-höhung der vertraglichen Darlehenszinsen den Besitzern der Hypothekenpapiere bis 2009 einbringen. Doch die Zunahme der Zwangsverkäufe zeigt, dass diese Hoffnungen sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erfüllen werden. Inzwi-schen rechnet man mit zwei Millionen Familien, die nicht nur ihr Haus zwangs-versteigern müssen, sondern auch auf den Schulden sitzen bleiben.

3 Wie in der Wall Street innovative Pakete geschnürt wurden Die Makler sind jedoch nur eine Art Saugstutzen an den Endpunkten eines Kapital-sammelnetzwerkes, das aus Maklern, Hypothekenbanken, Wall Street Fonds, Hedge Fonds und anderen Steuerfluchtunternehmen besteht. Die Darlehen wurden von den Hypothekenbanken vergeben, darunter prominente Namen wie New Centu-ry oder Countrywide, die inzwischen nach chapter 11 ihren Bankrott erklärt haben.

Wall Street-Banken interessierten sich für diesen Sektor, da sie stets auf der Suche nach Vermögensanlagen sind. So strebten Bear Stearns, Lehman Brothers, Merrill Lynch, Goldman Sachs, J.P. Morgan, Deutsche Bank, die schweizerische UBS und die Credit Suisse mit sogenannten Zweckgesellschaften in diesen neu-en Markt. Die Zweckgesellschaften kauften den Hypothekenbanken die Dar-lehensverträge ab, „verbrieften“ sie und handelten mit ihnen als angeblich siche-ren Papieren (ABS, „asset-backed securities“, vermögensgesicherte Wertpapiere), die hohe Erträge insbesondere in der zweiten Phase bringen sollten. Die Papiere wurden in Tranchen gestückelt und verkauft (emittiert). Wenn es zutrifft, dass die letzten Tranchen den Löwenanteil einer Emission ausmachen, dann dürfen wir vom Immobilienmarkt noch größere Überraschungen erwarten.

Der Hypothekenmarkt brachte eine enorme Ausweitung der Kreditschöp-fung, die durch den Einsatz dieser Papiere ermöglicht wurde. Da Banken für je-den Kredit, den sie ausgeben, nur einen Eigenmittelanteil von unter zehn Prozent

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benötigen, kann jede Einlage durch weitere Kreditvergabe die Geldmenge um ein Vielfaches erhöhen. Für ein Papier im Wert von 200 US-$, das bei einer Bank liegt, kann die Bank 180 US-$ Kredite vergeben, falls diese 180 US-$ wie-der auf ihren Konten landen, weitere 162 US-$, und falls diese erneut auf ihren Konten eingehen, wiederum 145,8 US-$ und so weiter. Kapital war im Überfluss vorhanden, und die Suche nach neuen lukrativen Anlagen ließ die Ideen spru-deln, vom Options- und Futures-Markt bis zum Markt für Zertifikate. Die Preise für reale Geld- und Wertanlagen stiegen, eine Inflation der Anlagewerte („asset-inflation“) war die unvermeidliche Folge.

Die aktivsten waren die Hedge Fonds, die ohne staatliche Kontrolle und mit dem Wohlwollen und der Unterstützung der Banken auf den Finanzmärkten frei agieren konnten. Auch ihre Haupttätigkeit, gesunde, aber unterbewertete Unter-nehmen auszusuchen, sie aufzukaufen und mit ihren Methoden in kurzer Zeit profitabel zu machen, baute auf der Liquidität des Marktes auf, denn sie arbeite-ten bei den Übernahmen stets mit sogenannten „Überbrückungskrediten“, die ihnen die Banken gerne einräumten.

Solange der Hypothekenmarkt von steigenden Immobilienpreisen gekenn-zeichnet ist und die Zinsen niedrig bleiben, läuft diese Maschinerie rund. Der Markt für ABS und die darauf beruhenden kurzfristigen Kredite (CPs) wuchs und erreichte in den Jahren 2005 und 2006 jeweils ein Volumen von 900 Milli-arden US-$. Insbesondere die Überbrückungskredite, die die Banken den Hedge Fonds für ihre Übernahmen gewährten, beruhten auf ABS. Doch seit Beginn der Krise sinken die ABS-Werte, und der Handel setzte zeitweilig aus. Ohne eine Wertpapierbasis aber lassen sich keine kurzfristigen Kredite vergeben, mit der Folge, dass die Banken Überbrückungskredite für die Hedge Fonds nicht mehr finanzieren. „Es geht nichts mehr“, beschrieb der Analyst Robert Polenberg von Standard & Poors die Lage auf den Märkten für riskante Übernahmefinanzierun-gen. „Dabei handelt es sich vor allem um kreditfinanzierte Buy Outs, mit denen Private Equity Gesellschaften in vergangenen Jahren den Markt für Fusionen und Übernahmen bestimmt hatten. Zur Finanzierung der Deals wurde den über-nommenen Firmen in der Regel ein Schuldenberg aufgeladen. Banken garantier-ten die Finanzierung mit leichtsinnigen Zusagen und sitzen jetzt auf einem Kre-ditberg“.5 Amerikanische Banken wie die Citibank, Merrill Lynch und JP Morgan Chase konnten Übernahmefinanzierungen im Wert von 43 Milliarden US-$ nicht verkaufen und befürchten angesichts der wachsenden Gefahr von Zahlungsausfällen, einen erheblichen Teil davon abschreiben zu müssen. Ein ganzer Geschäftszweig der Finanzbranche lahmt oder fällt ganz weg. 5 Thorsten Riecke „Nichts geht mehr“im Handelsblatt vom 13. Februar 2008.

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Die Subprime-Krise 135

Die Finanzbranche hat in den letzten Jahren immer wieder neue Begriffe er-funden, die solide klingen sollen. Besonders auffällig ist dabei die Anlehnung an die Produktionswirtschaft: Man spricht nicht mehr von Verträgen, sondern von „Finanzprodukten“ und manchmal auch von der „Finanzindustrie“. Soll damit betont werden, dass die Finanzbranche so solide ist wie die Industrie? Heute ist dieses vermeintlich sichere Fundament, das in manchen Köpfen den Glauben aufkommen ließ, dass man mit Krediten Schulden bezahlen und dabei noch ge-winnen könne, zerbrochen.

4 Das Aufbrechen der Kreditblase Als der Hypothekenmarkt zum blühenden „neuen Markt“ wurde, erklärte Präsi-dent George W. Bush dies als deutliches Zeichen für die Segnungen der Deregu-lierung in einer „Eigentümergesellschaft“ und erklärte den Juni zum „Monat des Hausbesitzes“. Doch gerade der Juni wurde zum Monat, in dem der Traum vom eigenen Haus zum Alptraum werden sollte.

Die britische Hongkong-Shanghai-Banking-Corporation (HSBC) gab im Februar 2007 Gewinnwarnungen ab: Die neu akquirierte US-Tochter Household hatte Probleme, weil ihre Subprime-Kundschaft nicht mehr zahlen konnte. Im Mai hielt der demokratische Senator Christopher Dodd eine Anhörung im Finanzausschuss des Senats, bei der Abmachungen mit den Vertretern der Hypo-thekenbanken zur Vermeidung von Zwangsverkäufen besprochen wurden – der amerikanische Traum vom Eigenheim sollte nicht zerbrechen. Doch es war schon zu spät. Im Juni 2007 mehrten sich kritische Stimmen, die vor einer Krise auf dem Hypothekenmarkt warnten. Als die Notenbanken begannen, die Zins-schraube wieder anzuziehen, beschleunigte dies den Prozess: Die Rechnungen der Hypothekenbanken gingen nicht mehr auf, das Geschäft mit den Umschul-dungen war vorbei, und das Kartenhaus begann zusammenzubrechen. Immer mehr Kreditnehmer konnten nicht bezahlen, aber die Zwangsvollstreckungen brachten wegen der gesunkenen Hauspreise die Pfandwerte nicht mehr ein. Eine Reihe von Hypothekenbanken und Fonds fallierten. Bear Stearns musste im Sommer 2007 zwei Hedge Fonds schließen, die mit Kreditforderungen aus dem Immobilienbereich eingebrochen waren. Der Druck der Finanzbranche auf die amerikanische Notenbank, die Zinsen wieder zu senken, um das Tempo der Zusammenbrüche zu drosseln, nahm zu.

Auch in Deutschland begann man aufmerksam zu werden, als die Düssel-dorfer Industrie Kredit-Bank (IKB), deren Rekordgewinn am 31. März 2007 noch bei 263 Millionen € vor Steuern gelegen hatte, Ende Juli 2007 in eine

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„Schieflage“ geriet. In einer Krisensitzung des Bundesfinanzministers und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) am 29. Juli sprach der BaFin-Präsident, Jochen Sanio, von der „schlimmsten Finanzkrise seit 1931“. Der amerikanische „Rhineland“-Fonds der IKB hatte 17,5 Milliarden € in zweit-klassige Immobilienwerte gesteckt, die notleidend geworden waren. Die staat-liche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) gewährte der IKB, an der sie 38% hielt, eine Bürgschaft von 8,1 Milliarden €, um die Bank vor der Pleite zu retten. Inzwischen hat man festgestellt, dass diese Kreditlinie nicht ausreicht, und es gibt weitere Aktivitäten zur Rettung, um den Bankrott der Bank zu vermeiden, der als Menetekel angesehen würde. Kurz darauf fiel die Sachsen-LB auf, die mit demselben Geschäftsmodell operiert hatte und nun ebenfalls in die Falle geraten war. Das bot der Landesbank Baden-Württemberg die einzigartige Gelegenheit, sich nach Osten auszudehnen und in einer dramatischen Blitzaktion am letzten Augustwochenende die Sachsen-LB zu übernehmen. Der deutsche Immobilien-markt ist nicht gefährdet, weil er anders strukturiert ist als der amerikanische,6 doch eine Reihe von Banken hatten sich auf dem amerikanischen Markt enga-giert und gerieten nun in Schwierigkeiten.

In England, wo die Hypothekenmärkte in amerikanischer Weise aufgebla-sen waren, führte die Zahlungsunfähigkeit eines Teils ihrer Klientel zusammen mit dem Vertrauenseinbruch innerhalb der Bankenwelt selbst fast zur Zahlungs-unfähigkeit der britischen Hypothekenbank Northern Rock. Eine Bankenpanik, wie sie Großbritannien seit fünf Generationen nicht mehr gekannt hatte, setzte ein. Internetleitungen brachen zusammen, und mehrere tausend Kunden standen drei Tage lang vor den Türen der Bank, um persönlich ihre Einlagen abzuheben. Erst durch Notkredite der Bank von England, die eine Ausweitung der Panik be-fürchtete, konnte die wachsende Unruhe eingedämmt werden.

Im November sprach der Chef der Deutschen Bank bereits von einer dro-henden Rezession, und die Bank of America bestätigte die Erwartung einer Ab-kühlung des Marktes für Übernahmen.

Kredite für verbriefte Wertpapiere (ABS) und kurzfristige Kredite (CP-Anleihen) wurden nicht mehr gehandelt, durch die Vermischung verschiedener Qualitäten – man hatte Hypothekenschuldner mit hoher und niedriger Bonität zusammengespannt – fehlte es bei den ABS-Papieren an der erforderlichen

6 Es gibt strengere Dokumentationspflichten, Banklizenzen sind nicht so einfach zu erlangen, Hy-

pothekenverträge können nicht ohne weiteres aufgekündigt werden und machen für beide Seiten langfristige Berechnungen möglich. Die britische Finanzbranche hat dies beklagt und den europä-ischen Wettbewerbskommissar darauf angesetzt, die „bürokratischen Hürden“ in Kontinentaleu-ropa abzubauen. Das Vorhaben, das auf dem Kontinent auf starken Widerstand stieß, wurde nach dem Ausbruch der Immobilienkrise erst einmal gestoppt.

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Sicherheit und Transparenz: Niemand weiß mehr genau zu sagen, mit welchem Qualitätssegment eine Bank mit dem Hypothekenmarkt verbunden ist. Kredite zu bekommen wird schwieriger. Im Dezember verkündeten die Zentralbanken der USA, Großbritanniens, Kanadas und der Schweiz eine Liquiditätshilfe von 50 Milliarden Pfund für die Finanzmärkte an, um den Banken die nötigen Geld-mittel für ihre täglichen Operationen zur Verfügung zu stellen.

Nicht nur die Hypothekenbanken sind betroffen, auch die großen Wall Street-Banken und ihre prominentesten europäischen Mitspieler in der Finanzbranche mussten im dritten und vierten Quartal 2007 Verluste in Höhe von etwa 130 Milli-arden US-$ bekanntgeben. Niemand glaubt, dass die Krise damit bereits beendet ist, und man rechnet mit weiteren Verlusten in Höhe von 265 Milliarden US-$ für das Jahr 2008. Köpfe rollten: Chuck Prince von der Citigroup z.B. verlor seinen Chefposten nach einem Verlust von 5,9 Milliarden US-$, und Stan O’Neal bei Merrill Lynch nach einem Verlust von 8 Milliarden US-$. Drei Banken lagen mit ihren Verlusten im zweistelligen Milliardenbereich, die Citibank mit 24,6 Milliar-den US-$, Merrill Lynch mit 23,5 Milliarden US-$, und die Schweizer UBS mit 18,4 Milliarden US-$. Die übrigen lagen im einstelligen Bereich: Morgan Stanley verlor 9,4 Milliarden US-$, Bank of America 5,3 Milliarden US-$, Credit Suisse 4,7 Milliarden US-$, die französische Société Générale 3,6 Milliarden US-$, die beiden englischen Banken Barclay’s und die Hongkong-Shanghai-Banking Corpo-ration verloren beide je 3,4 Milliarden US-$, die Deutsche Bank 3,2 Milliarden US-$, die JP Morgan Chase Bank 2,9 Milliarden US-$ und die Royal Bank of Scotland 2,5 Milliarden US-$. Nur mit arabischem Kapital konnten Citigroup, Me-rill Lynch und Morgan Stanley vor der Schließung gerettet werden, und die größte Schweizer Bank, die UBS, war darauf angewiesen, dass eine asiatische Bank ihr eine Wandelanleihe (die später in Aktien umgetauscht werden muss) mit dem enormen Zinssatz von mehr als 9% abkaufte, um das Eigenkapitalminimum erfül-len zu können. Dass sich Schweizer Banker im Parlament von Singapur den Fra-gen nach ihren Sicherheiten stellen mussten, deutet auf eine gewaltige Umkehrung der Machtverhältnisse hin. Die Rolle Asiens ändert sich zugleich mit der Rolle der USA. Der Statusverlust der USA ist nicht mehr zu verdecken, militärische Aben-teuer werden es nicht leichter machen, ihre neue Rolle zu durchschauen.

5 Innovation oder Kriminalität? Die Mühlen der Justiz Am 6. Dezember 2007 berichtet das Handelsblatt, dass der New Yorker Staats-anwalt Andrew Cuomo gegen mehrere Investmentbanken Ermittlungen aufge-nommen hat, die im Verdacht stehen, „äußerst riskante Schuldtitel an Investoren

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in aller Welt weiterverkauft zu haben, obwohl ihnen die dubiosen Praktiken bei der Vergabe von Baudarlehen an Schuldner mit einer geringen Bonität bekannt gewesen seien“. Dabei geht es um die Praxis der Verbriefungen von Hypothe-kenverträgen, der sich Merrill Lynch, Bear Stearns und ebenso die Deutsche Bank schuldig gemacht haben sollen.

Tatsächlich wurden viele der notleidenden Hypotheken von den großen In-vestmentbanken aufgekauft, verbrieft und an Investoren rund um den Globus weitergereicht. Der Vorwurf lautet, die Risiken wieder besseres Wissen ver-schwiegen zu haben. Seit Monaten stehen auch die Ratingagenturen in der Kri-tik, weil sie viel zu spät auf die Risiken der von ihnen benoteten Kreditderivate hingewiesen hätten. Das Zusammenspiel von Banken und Ratingagenturen ist notwendig, denn die Banken bewerten die verbrieften Finanzverträge (Kredit-derivate) zwar selbst, doch ihre Bewertungen sind vom Kunden nicht von Wer-bung zu unterscheiden. Hier sollen die Ratingagenturen als unabhängige Instanz den Investoren ein objektives Urteil abliefern. Doch Objektivität und Unabhän-gigkeit sind auf den Finanzmärkten schwer zu bekommen, denn auch die Rating-agenturen sind Teil der Finanzwelt, und ihre Urteile beruhen selbst nicht zuletzt auf Angaben der Banken. Ihre Rolle wird inzwischen ebenfalls von der SEC und vom US-Kongress überprüft.

6 Die falsche Rechnung Die Realwirtschaft der Produktionsbetriebe war durch die Umkehrung der Machtverhältnisse zugunsten der Börsen seit den 1980er Jahren immer mehr in die Hand der Börsianer geraten; aus dem fordistischen Industriekapitalismus war der Finanzkapitalismus geworden. Durch den Druck der Börse wurden die Manager mit dem „shareholder value“ gezwungen, Werte für die Aktionäre zu schaffen, wodurch zugleich die stakeholder an Einfluss verloren, also die Arbei-ter, die Kommunen, die Zulieferer und die Umwelt. Die Löhne wurden gedrückt und hielten mit der Inflation nicht Schritt, und der einfache Amerikaner war nicht mehr so reich, wie ihm vorgegaukelt wurde oder wie er sich im Lichte sei-nes Lebensideals gerne gesehen hätte. Die Hypothekenmakler und die Börsen machten daraus ein Geschäft; der Wunsch nach einem bestimmten Lebensstan-dard ließ sich in ein Schuldverhältnis ummünzen, das gute Erträge brachte und von finanzmarktfreundlichen Rahmenbedingungen gestützt wurde. Wohin floss das Geld, das die US-Bürger als Schulden aufnahmen? Während das Geld in frü-heren Zeiten in die Ausgaben von Unternehmen oder in privaten Konsum floss, um es wiederum für Waren und Warenproduktion auszugeben, so floss es in den

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1990er Jahren zunehmend in die Finanzmärkte. Das zog eine kategoriale Verän-derung in der Preisbildung der Produktionsfaktoren nach sich; die Finanzmärkte zweigten immer mehr Geld aus diesem Kreislauf für ihren eigenen Apparat ab, und die Distribution der Einkommensströme veränderte sich zu Gunsten einer neuen Schicht, einer sich global fühlenden Finanzaristokratie mit ihrem Umfeld an Beratern und Anwälten. Es veränderte sich auch das Gesicht der Gesellschaft, die sich nicht nur durch wachsende Ungleichheit auszeichnete, sondern auch durch eine Spaltung der Märkte in Massenmärkte mit groß angelegten Einkaufs-anlagen, in denen Discounter und Filialisten expandierten, und die weniger sichtbaren Luxusmärkte sowie durch eine Ghettoisierung der Wohnviertel – nicht nur der Armen, sondern auch der Reichen, die sich in gated communities zurückzogen. Die stärker segregierte plutokratische Schicht kreierte dabei einen neuen Lebensstil, den „sogenannten Mogulstil“ – ein exzessives Konsumieren nach der Art imperialer Firmendirektoren, das jedoch nicht auf öffentliche Zur-schaustellung ausgerichtet ist, sondern sich in abgeschotteten Lebensräumen ab-spielt. Mitglieder dieser Schicht suchen sich gegenseitig durch immer höheren Aufwand zu übertrumpfen, sei es bei der Ausstattung ihrer Apartments oder bei der Gestaltung ihrer Feste, die sie von Eventmanagern auf abgelegenen Schlös-sern in Irland oder Frankreich oder in abgelegenen Luxushotels auf Sardinien ausrichten lassen. Teure Kunstwerke werden nicht im Foyer einer Bank oder als Leihgabe in öffentlichen Museen aufgehängt, sondern in den Büros der oberen Etagen. Die Investmentbanker, Fondsmanager sowie ihre Anwälte und Berater bilden heute bereits eine sich stark nach außen abgrenzende Schicht, die eine separierte Eigenwelt bewohnt.7

Während das verarbeitende Gewerbe in den USA seit 2000 mehr als drei Millionen Stellen verlor, wurden 40% aller neuen Stellen im Immobiliensektor geschaffen. Dazu kamen weitere Stellen im Gesundheitsbereich und im Bereich der persönlichen Dienstleistung, also von der Krankenschwester über den Ein-kaufswagenschieber im Supermarkt bis zum Hoteldiener. Die Verbindung zwi-schen Kreditwachstum und Einkommenswachstum löste sich allmählich auf; das Konsumbudget der unteren und mittleren Einkommensklassen nahm mit den Ein-kommensverlusten immer mehr ab, was dazu führte, dass diese Schichten zur Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards auf billigere Importwaren angewiesen waren. Immer mehr amerikanische Dollars gelangten nach Asien, weil amerikani- 7 Jason Epstein (2002) beschreibt diesen Mogulstil, in dem er nichts anderes als Snobismus sieht:

Er sei flamboyanter und teurer als der Hollywood-Stil. Der Unterschied liegt darin, dass die Pro-minenz vom Film und aus der Rockmusikszene ihr Publikum beeindrucken will, während die imperialen Manager sich nur gegenseitig beeindrucken wollen. Robert Frank, Journalist des Wall Street Journal, hat in Frank (2007) ähnliche Beobachtungen zusammengetragen.

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sche Firmen dort billiger für den amerikanischen Markt fertigen lassen können. Im Handel mit dem Ausland haben die USA inzwischen über eine Billion US-$ Schulden erwirtschaftet. Merkwürdigerweise wurde das Handelsbilanzdefizit von den Ökonomen vernachlässigt. Rein rechnerisch ist es zwar ausgeglichen, da es von Kapitalimporten begleitet ist: Die Importe in die USA generieren einen Dol-larexport in die Staaten, die Waren und Dienstleistungen nach den USA ausfüh-ren. Da diese Länder keine Dollarbinnenwährung haben, müssen die Warenexpor-teure mit ihren Dollars entweder amerikanische Waren kaufen, oder die einge-nommenen Dollars bei ihren Notenbanken eintauschen. Die USA verfügen seit längerer Zeit nicht mehr über ausreichend wettbewerbsfähige Waren, die Waren-tauschgeschäfte ermöglichen würden, sodass die Importdollars zunehmend in Direktinvestitionen, Krediten an amerikanische Kreditnehmer oder Wertpapieren angelegt werden. Dabei folgen die privaten Zuflüsse den Renditeerwartungen, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre insbesondere im Bereich der New Econo-my und in den vergangenen Jahren hauptsächlich im Immobilienbereich und im Bereich der Immobilienwertpapiere lagen. Wenn die Händler ihre aus dem Außenhandel gewonnenen Dollars bei ihren Notenbanken eintauschen, entstehen dort Währungsreserven, die in der Regel in amerikanischen Wertpapieren oder Schatzbriefen angelegt werden. Inzwischen gehen eine Reihe von Notenbanken der Exportnationen auch zu einer aktiven Bewirtschaftung ihrer Devisen über und legen sie nicht mehr passiv in Schatzbriefen an, sondern in US-Kapitalanlagen, etwa in Häfen und anderen Infrastruktureinrichtungen des Transportgewerbes oder, seit Beginn der Krise, in Investmentbankaktien. Dabei sind die Exportnatio-nen aus mindestens zwei Gründen daran interessiert, dass der Dollar stabil bleibt: Zum einen bleibt dadurch der Wert ihrer wachsenden Währungsreserven erhalten, zum anderen stört jede Aufwertung der Landeswährung gegenüber dem Dollar die Handelsströme und damit ihr exportgetriebenes Wachstum.

Die USA sind mit 75% aller Leistungsbilanzdefizite der weitaus größte Schuldner der Welt, während sie nur 28% der Weltproduktion liefern.8 Die USA sind die Wachstumslokomotive der Weltwirtschaft, weil sie die wachsenden Warenmassen der Exportnationen aufnehmen. Dennoch halten sich die Kosten, die für die Gewinne der ausländischen Kapitalanleger bezahlt werden müssen, mit den Einnahmen der Amerikaner aus ihren eigenen Auslandsanlagen die Waage, weil die Anlagen der Amerikaner im Ausland – Direktinvestitionen mul-tinationaler Gesellschaften, Bankgeschäfte, Hedge Fonds-Beteiligungen – eine höhere Rendite erzielen als die Staatsanleihen und Kredite, die die Ausländer in

8 World Bank, World Economic Indicators 2007, nach Priewe (2008).

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den USA platzieren.9 Die amerikanischen Auslandsinvestitionen erzielen in dem untersuchten Zeitraum stets eine höhere Rendite als die in den USA angelegten Auslandskapitale; der Abstand belief sich nach Angaben von Zinn (2006) im Durchschnitt auf 5,4%, mindestens aber auf 3,2%. Ein Grund für die höhere Kapitalverwertung liegt in den günstigeren Kreditzinsen für US-Kapital, die ja, wie gezeigt wurde, zur Entstehung der Blase führten. Tatsächlich mussten die USA bislang noch keine Kredite aufnehmen, um die Zinsen für das in den USA angelegte Kapital zu bezahlen. Die amerikanische Dienstleistungsbilanz wies bisher aufgrund der günstigeren Konditionen für die amerikanische Kapitalver-wertung im Ausland Überschüsse auf, die sich im Jahr 2004 auf 36 Milliarden US-$ beliefen (ebd.). Solange die Auslandseinsätze amerikanischen Kapitals noch große Gewinne einbrachten, entstanden den USA also noch keine Sonder-kosten für ihre Verschuldung an ausländische Geldgeber.

Diese Situation ändert sich derzeit mit den steigenden Zinsen, dem Ein-bruch der Geschäftsfelder der Hedge Fonds und dem Abflauen des Interesses an amerikanischen Direktanlagen. Goldman Sachs, JP Morgan, Merill Lynch und Bear Stearns mussten bereits einige ihrer Fonds einfrieren. Die Fonds-Industrie bekommt nahezu nirgends mehr Überbrückungskredite von den Banken, mit de-nen sie die Übernahmen finanzieren. Das Ende des Booms in diesem Sektor, das zentrale Geschäftsfeld der Investmentbaken und Hedge Fonds, könnte damit an-gebrochen sein.

Aber auch die Rolle der USA als „consumer of last resort“ steht in Frage: Nicht nur Home Depot, die größte Baumarktkette der USA, ist eingeknickt, auch WalMart, der größte Einzelhändler der Welt, hat bereits seine Gewinnprognose für dieses Jahr gesenkt. Das Nettoergebnis ging im ersten Quartal 2007 um 15% zurück.10

Das Geld sitzt bei den Amerikanern nicht mehr so locker, das Gefühl, über ein im Wert wachsendes Haus zu verfügen, ist verflogen; die Kredite sind teurer und Konsumenteninsolvenzen nehmen zu. Damit aber kommt der zweite Teil der

9 „Die USA saugen einen großen Teil der globalen Ersparnisse an, sind zugleich aber auch der

größte globale Investor. Zwischen 1982 und 2004 stiegen die Auslandsinvestitionen der USA von 961 Mrd. US-$ auf 9973 Mrd. bzw. 9.97 Billionen an. Davon entfielen im Jahr 2004 knapp 39% auf Direktinvestitionen, 25% auf Beteiligungen an Kapitalgesellschaften und die restlichen 36% auf Portfolioinvestitionen und Kreditvergabe. Das in den USA angelegte Auslandskapital stieg zwar weit stärker; von 725 Mrd. US-$ 1982 auf 12515 Mrd. bzw. 12.5 Billionen US-$ im Jahr 2004, aber es wurde mit erheblich niedrigeren Renditen entgolten als die US-Auslandsinvestitio-nen. Die amerikanischen Direktinvestitionen überziehen die Weltwirtschaft mit einem eng-maschigen Netz, in das andere, ausländische Unternehmen als Abnehmer und Zulieferanten ein-bezogen sind. Daraus ergeben sich erhebliche Abhängigkeiten der relativ kleineren Kapitale.“ Zinn (2006: 29-30).

10 Vgl. Handelsblatt vom 15. August 2007.

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Prognose des Ökonomen Shilling zum Tragen: Einbußen im Export bedeuten sin-kende Gewinne von westlichen Firmen, die in Asien fertigen lassen, und damit Ar-beitslosigkeit in China. Die chinesische Regierung hat daher mit einer Umorientie-rung begonnen, um Märkte für höherwertige Produkte zu beliefern. Sie kürzt die Subventionen für die Exportindustrie und fördert gleichzeitig die höherwertigen Industrien – China will nicht länger die Werkbank der Welt für Billigproduktion sein. Arbeitslöhne steigen seit Beginn des Jahres, und die Fertigung der Waren für die großen westlichen Kaufhausketten, von WalMart bis zu Carrefour und Tchibo, wird teurer. Alan G. Hassenfeld, Chef von Hasbro, einem der größten Spielzeug-hersteller der Welt, spricht von einem Sturmwind, der den Firmen entgegenbläst: „Wir haben gleichzeitig höhere Arbeitskosten und Arbeitskräfteknappheit, höhere Plastikpreise und müssen zugleich mehr Umwelttests machen“.11 Durch den Fall des Dollars stiegen die Preise für die in China gefertigten Konsumgüter in den USA zwischen 2,5 und 7,5% und wurde die Inflation in die USA importiert.

Die Amerikaner haben an den siegreichen amerikanischen Kapitalismus ge-glaubt und in diesem Glauben mehr ausgegeben, als sie hatten. Seit Juli 2007 ist die Sparrate der US-Bürger negativ. Den starken Anstieg der Immobilienwerte haben die Amerikaner genutzt, um auf Pump zu leben: Nach Berechnungen der US-Notenbank geht etwa die Hälfte der mit Hypotheken gesicherten Darlehen in den Konsum. Das billige Öl hat die Globalisierung der Konkurrenz befördert, die billigen chinesischen Arbeitskräfte haben die Arbeitslöhne auch in den USA sin-ken lassen und damit zugleich die Kaufkraft der amerikanischen Arbeiter zu-rückgestutzt. Das Abschmelzen des Mittelstandes und die Senkung der Löhne bei den Arbeitnehmern haben das klassische Dilemma der kapitalistischen Krise geschaffen, die schon von Fourier als „crise pléthorique“, als Krise des Überflus-ses, beschrieben worden war – Warenüberfluss auf der einen Seite und konsum-schwache Arbeitnehmer auf der anderen.

Mit dem Glaubensbekenntnis der Globalisierung wurden einfache Zusam-menhänge ausgeblendet, und die moderne Makroökonomie machte billige Waren für Verbraucher zum Kriterium des Wirtschaftens. Mit den Abschreibungen an den Börsen reduziert sich die Kapitalbasis der USA, der Dollar verliert an Wert. Der größte Exportposten der amerikanischen Handelsbilanz ist die Film- und Musikindustrie, in der amerikanischen Industrie ist es hauptsächlich die Rüs-tungsindustrie und die an sie angeschlossenen Industrien, die noch wettbewerbs-fähig sind.12 Alte, ehemals starke Industrien wie die Automobilindustrie sind

11 Vgl. Barboza (2008). 12 Sie haben auch zum Anwachsen des militärisch-industriellen Komplexes in Asien beigetragen,

vgl. Feffer (2008).

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vom Weltmarktniveau weit entfernt; ihre Gewinne machten sie zuletzt haupt-sächlich im Bereich Kredite für die Autofinanzierung. Die Manager hatten sich mehr mit dem Frisieren der Bilanzen und den Kämpfen um ihre Aktienpakete befasst als mit der Entwicklung der Betriebe.13 Immer mehr Energie und Talent wird in den Finanzsektor und in Sektoren verlagert, die hauptsächlich von Mili-täraufträgen abhängig sind – die Faktorpreise spiegeln diese Entwicklung wider.

Die Wachstums- und Arbeitsreserven sind ausgeschöpft, wenn Männer bis zu drei Jobs ausüben, wenn Frauen arbeiten gehen und die Kinder neben der Schule noch Geld verdienen. Hier ist keine zusätzliche Wachstums- und Ein-nahmequelle mehr zu erkennen, und der Einbruch des Konsumentenkredits ent-hüllt nur umso krasser die Wahrheit über die Umverteilung von unten nach oben, über ein verarmendes Volk, dem gleichzeitig ein barocker Reichtum der pluto-kratischen Oberschicht gegenübersteht.

Die amerikanische Notenbank deutete die Lage auf ihre Art, indem sie die Attraktivität der USA für Kapitalanlagen betonte und dies als Ausdruck der Kre-ditwürdigkeit und Solidität beschrieb (Bernanke 2007). Asiaten und Araber lie-ben die USA als sicheren Hafen für ihre Ersparnisse. An den gewaltigen Un-gleichgewichten sind also, nach Ansicht von Bernanke (2007), einerseits die Asiaten schuld, die ihre Währungen künstlich niedrig halten, und andererseits die arabischen Staaten, die die Ölpreise anheben. Die Vertreter der sogenannten Bretton Woods II-These halten diese Situation sogar für stabil (vgl. Dooley u.a. 2003). Doch sie verkehren Ursache und Wirkung, denn der enorme Anstieg der Devisenreserven Chinas war eine Folge der Kapitalzuflüsse aus ausländischen Direktinvestitionen. Andere Ökonomen wie Maurice Obstfeld oder Lester Thu-row hatten deshalb schon länger vor dem erwartbaren Ende der amerikanischen Konsumkonjunktur gewarnt. Thurow schlug 2003 nichts weniger als eine neue Weltwirtschaftsordnung vor, um die Welt vor einer „harten Landung“ zu bewah-ren. Der einzige Weg zu einer „sanften“ Landung liegt nach Thurow (2004) dar-in, dass Länder mit Handelsüberschüssen ihre Binnenkonjunktur ankurbeln, um mit höheren Einkommen Importe aus den USA zu ermöglichen, die das US-Handelsdefizit abbauen helfen. Denn wenn die Korrektur dieser Ungleichge-wichte dadurch zustande kommt, dass die USA ihre Importnachfrage reduzieren, „würde das globale BIP zusammen mit dem amerikanischen Handelsdefizit schrumpfen“ (Thurow 2004: 320). Tatsächlich zeigen sich in den Exportnationen bereits geringe Anzeichen für eine Stärkung der Gewerkschaften, ohne dass al-lerdings von einem generellen Trend zur Anhebung der Löhne ausgegangen

13 Vgl. zur Kritik des Managements Mintzberg (2005), besprochen in Die Zeit 13/2005, „Die Füh-

rungskrise“.

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144 Reinhard Blomert

werden kann. Diese Lösung, die von einem langsamen Ausbalancieren des beste-henden Ungleichgewichts durch Änderung der Handelsströme ausgeht, scheint jedoch eher unwahrscheinlich, da sie eine nicht zu erwartende Konversion der bisherigen Überzeugungen der politischen und wirtschaftlichen Eliten voraussetzt – statt Senkung nunmehr Anhebung der Löhne und Gehälter, statt Senkung nun-mehr Steigerung des Konsums und Senkung der Sparneigung. Es gelte daher, „Krisenpläne für den Fall eines sinkenden Dollarkurses auszuarbeiten“ (Thurow 2004: 321): Der IWF, und mit ihm die OECD und die ökonomischen Beratergre-mien der Regierungen, müssten ihre traditionellen Empfehlungen zur Einschrän-kung der Staatsbudgets aufgeben und ein neues Modell für den Umgang mit De-visenkursen durchsetzen – eine Umkehr zu keynesianischen Rezepten.

Dazu ist es, bislang zumindest, nicht gekommen. Tatsächlich aber ist bereits ein starker Rückgang der amerikanischen Nachfrage zu beobachten: Es beginnt eine deflationäre Phase, die Kredite sind teurer geworden, Konsumenteninsol-venzen nehmen zu, und die Wirtschaftsdynamik entschleunigt sich. Die Bau-tätigkeit geht zurück, die Autobranche produziert weniger, bei der Kreditkarten-branche häufen sich die Verschuldungsfälle. Im Außenverhältnis rutschte der Dollar langsam, aber stetig ab, die Nachfrage nach amerikanischen Kapitalanla-gen sinkt, und das Kapital sucht sich in Europa gewinnträchtige Anlagen mit der Folge, dass der Euro steigt und eine Inflation der Anlagepreise in Europa zu spü-ren ist. Der Ölpreis, der in Dollar notiert ist, steigt, weil die Ölförderländer nicht bereit sind, niedrigere Einnahmen durch den fallenden Dollar zu akzeptieren.

7 Die Angst vor der Rezession Die Natur des Wirtschaftskreislaufs in demokratischen Staaten lässt sich nicht auf Dauer ausblenden, keine Schicht kann sich von der Realwirtschaft auf Dauer isolieren.

Nach dem Lehrbuch können die Amerikaner weniger im Ausland einkaufen, wenn die amerikanischen Dollars an Wert verlieren. Nach einer Phase der Rezes-sion, die sich länger hinziehen und zu einer Depression auswachsen kann, werden sie wieder mehr im eigenen Lande produzieren; die Löhne werden wieder steigen und es wird wieder mehr gespart. Aber Gesellschaften funktionieren nicht nach einfachen ökonomischen Rezepten. Wenn Illusionen zerplatzen, geraten Nationen in Stress. Und nirgends ist die Angst der Führungsschicht vor einer Depression größer als in den USA. Erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten mahn-te der amerikanische Finanzminister Hank Poulson die Hypothekenbanken, die Möglichkeit der Erhöhung der Hypothekenzinsen („Anpassung“ nach der AMR-

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Die Subprime-Krise 145

Klausel) nicht zu nutzen, um eine Zunahme von unbezahlbar werdenden Haus-krediten zu verhindern. Aus Angst vor einer Rezession hatte der Notenbankchef Greenspan 2001 einen historisch einmalig niedrigen Diskontsatz festgelegt. In seiner Hilflosigkeit suchte sein Nachfolger Ben Bernanke es ihm gleichzutun und senkte am 22. Januar 2008 die Zinsen wieder. Doch die Maßnahme verpuffte einen Tag später an der Börse. Damit ließen sich die Probleme nicht mehr lösen, die dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes zugrunde liegen.

Die Globalisierung, die nach dem Ende des Kalten Krieges die Vision der Atlantic Charta vollenden sollte, könnte ihre Basis verlieren – der US-Dollar ist als Weltwährungsmaßstab zunehmend gefährdet, wenn die Währungsreserven in Dollar schrumpfen und mit dem Euro eine Alternative zum Dollar aufkommt. Die amerikanische Dominanz ist durch die Hierarchie der Weltfinanzarchitektur nicht mehr gesichert, der Automatismus der ökonomischen Bindung an die Wirt-schaft der USA löst sich langsam auf. Wenn die Ölstaaten sich eines Tages vom US-Dollar verabschieden und Öl in Euro oder Renminbi fakturieren, verschwin-det auch der Glaube an die Globalisierung als friedlich-liberaler Weltentwurf (vgl. Priewe 2008). Als die westlichen Führer in den 1980er Jahren das Ende des Kommunismus ankündigten, war ihnen nicht klar, dass damit ihre größten poten-tiellen Rivalen von der Kette gelassen wurden: In Russland erlebten wir eine bil-derbuchhafte kapitalistische Urakkumulation, in der eine Clique von Freunden der damals regierenden Jelzin-Familie das Volksvermögen unter sich aufteilte. Auch China hat heute, obwohl dort die kommunistische Partei die Zügel noch sichtbar in der Hand hält, schon mehr Milliardäre als die USA. Werden sich die-se Länder zu kapitalistischen Konkurrenten entwickeln, wie manche Ökonomen glauben? Oder werden sie, wie die meisten Entwicklungsländer, lediglich in die Hände einer korrupten binnenländischen militärisch abgesicherten Oberschicht fallen und damit nicht über die Funktion von Rohstofflieferenten und Werkbän-ken hinausgelangen?

Ronald Reagan hatte den kapitalistischen Zoo mit der Devise „Freihandel und Kapitalmobilität“ dereguliert, Clinton stülpte dieser Politik den Begriff „Globalisierung“ über. Die Entfesselung der Marktkräfte aber gleicht der De-regulierung des kapitalistischen Zoos: Wer die Löwen und Tiger befreit, muss mit dem Dschungel des Krieges aller gegen alle rechnen. Nun müssen die ameri-kanischen Politiker sehen, wie sie die Wölfe, Tiger und Löwen wieder einfan-gen, ohne in Krieg und Bürgerkrieg zu versinken.

Die USA sind zugleich ein moralisches System, das auf einer starken Mittel-schicht beruht, die sich auf ihre zivilisatorische Mission in der Welt beruft. Das Vertrauen in die Zukunft aber sinkt: Können die USA den ökonomischen Ab-

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schwung, dem ein politischer folgen wird, aufhalten? Unser neobarockes Zeital-ter, in der eine immer reicher und mächtiger werdende Geldaristokratie einer zu-nehmend abrutschenden Mittelschicht und einer immer größer werdenden ver-armten Unterschicht gegenübersteht, geht zu Ende, ohne dass sich schon eine neue Form zeigt. Notwendig scheint die Restitution einer starken staatstragenden zivilen Mittelschicht, die als Motor und Entwicklungslabor der Gesellschaft und als Klebeband der sich arbeitsteilig immer mehr aufteilenden Gesellschaft fun-giert und zugleich als politischer Puffer, der die Vermittlung zwischen den beiden extremen Schichten mithilfe einer moralischen Legitimation und einer ethischen Weltdeutung bewerkstelligen kann. Je mehr diese Mittelschicht abschmilzt und je mehr die Oberschicht den von der Mittelschicht gelieferten Konsens durch wag-halsige Gefährdungen aufs Spiel setzt, desto größer wird die daraus erwachsende Gefahr der Freisetzung zerstörerischer Kräfte für die Gesamtgesellschaft. Dann droht die Auflösung der principia media der Gesellschaft, die Karl Mannheim be-schrieben hat, und der Erwartungshorizont der Menschen verändert sich – aus einer zivilisierten Gesellschaft, in der lange Handlungsketten und langfristiges Denken vorherrschen, wird eine instabile Gesellschaft, in der der dünne Firnis der Zivilisation immer häufiger aufbricht: „Man rechnet nicht etwa nur mit Schwan-kungen in der Kaufkraft des Geldes, sondern mit einem völligen Zusammenbruch der Währung. Man rechnet nicht nur mit einem Kabinettswechsel, sondern auch mit der Möglichkeit, daß eine nichtparlamentarische Regierungsform zustande kommt oder daß sich überhaupt keine Staatsmacht durchsetzen kann oder schließ-lich, daß die neue Staatsmacht eine neue Einstellung zur Gewalt und zum Einsatz propagandistischer Mittel mitbringt. Man muß auch damit rechnen, daß nicht nur einzelne Menschen unzuverlässig und unehrlich werden, sondern daß in einem ganzen Bereich menschlicher Beziehungen, etwa im Bereich der Wirtschaft oder im Privatleben die frühere Zuverlässigkeit und Ehrenhaftigkeit, auf der man nor-malerweise aufbauen konnte, plötzlich nicht mehr da ist, weil Krieg, Revolution und fast an den Bürgerkrieg heranreichende Auflösungsprozesse den gesellschaft-lichen Rahmen zerstören, auf dem das frühere Verhalten letzten Endes gegründet war“ (Mannheim 1958: 212f).

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tober.

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Die Subprime-Krise 147

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Private Equity-Gesellschaften – Aussauger oder disziplinierende Akteure des Kapitalismus?

Heike Proff

Seit 2005 beherrschen Private Equity-Gesellschaften die öffentliche Diskussion. Diese bis dahin unbekannten Akteure des Kapitalismus beteiligen sich an Unter-nehmen, die bei geeigneten Restrukturierungsmaßnahmen Wertsteigerungs-potenziale und einen Wiederverkauf mit hohen Gewinnen versprechen.

„Heuschrecken“ nannte sie der frühere SPD-Chef Franz Müntefering. Er meinte damit die Texas Pacific Group (TPG), die die Grohe AG in Hemer, einen Anbieter von Sanitäranlagen in seinem sauerländischen Wahlkreis gekauft hatte und zur Erhöhung des Wiederverkaufspreises zu restrukturieren begann. Dabei wurden auch Werke geschlossen, Teile der Produktion ins Ausland verlagert und das Unternehmen zur Finanzierung des Kaufpreises stark verschuldet. Die IG-Metall hob deshalb die Private Equity-Gesellschaften im Frühjahr 2005 als „Aussauger“ auf den Titel ihres Monatsmagazins.

Es gibt Beispiele von Unternehmen, die durch Private Equity-Gesellschaften tatsächlich ausgepresst und nahezu in den Ruin getrieben wurden. Andere Unter-nehmen, die in das Portfolio aufgenommen wurden (Portfoliounternehmen), ste-hen dagegen heute sehr gut da.

In diesem Beitrag wird deshalb der Einfluss der Private Equity-Gesell-schaften auf den Unternehmenssektor untersucht (Abschnitt 4). Dazu wird zu-nächst das Geschäftsmodell von Private Equity-Gesellschaften kurz vorgestellt (Abschnitt 1) und dann deren Strategien bezogen auf Portfoliounternehmen un-tersucht (Abschnitt 2). Anschließend wird beispielhaft das Private Equity-Engagement bei den deutschen Unternehmen Grohe und Kiekert, Hersteller von Türschlössern für die Automobilindustrie, vorgestellt (Abschnitt 3).

1 Das Geschäftsmodell von Private Equity-Gesellschaften Private Equity bedeutet privates Beteiligungskapital. Private Equity-Gesell-schaften sind Beteiligungsgesellschaften, die Portfoliounternehmen Eigenkapital zur Verfügung stellen im Austausch für Kapitalanteile an diesen Unternehmen, die es ihnen erlauben, mittelfristig an der Leistung der Unternehmen teilzuhaben (vgl. z.B. Ernst/Häcker 2007: 57). Private Equity-Finanzierung bezeichnet ent-

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150 Heike Proff

sprechend die Finanzierung von Unternehmen mit Eigenkapital, das von außer-halb der organisierten Kapitalmärkte, v.a. der Börsen, kommt. Kapitalgeber der Private Equity-Gesellschaften waren 2005 in Deutschland vor allem (zu 37%) Pensionsfonds, d.h. versicherungsähnliche, rechtlich selbständige Versorgungs-einrichtungen, die den Arbeitnehmern seiner Trägerunternehmen Leistungen der betrieblichen Altersversorgung gewähren. So hat das California Public Employ-ees’ Retirement System (CalPERS), der größte öffentliche Pensionsfonds in den USA, über 11 Mrd. US-Dollar Kapital in Private Equity investiert. Daneben in-vestierten v.a. Dachfonds, d.h. Investmentfonds, die das Geld der Anteilseigner ausschließlich in Anteilen an Investmentfonds anlegen, Kreditinstitute und Ver-sicherungen. Private Equity-Gesellschaften erhalten auch öffentliches Kapital von Gebietskörperschaften und von Universitäten wie z.B. der Harvard Universi-ty. 2005 beschäftigten die Unternehmen, die durch Private Equity-Gesellschaften übernommen wurden oder in die sie investiert hatten, in Deutschland rund 800.000 Mitarbeiter (vgl. Ernst/Häcker 2007).

Private Equity-Gesellschaften haben ein relativ einfaches Geschäftsmodell (vgl. Abb. 1): Sie legen das Kapital der Kapitalgeber in verschiedenen Fonds mit jeweils mehreren Portfoliounternehmen an. Die Fonds werden von einer „Ma-nagement Company“ innerhalb der Private Equity-Gesellschaft geführt, die mög-liche attraktive Investitionsobjekte zur Minimierung der Risiken einer Kapital-beteilung eingehend prüft. Nur so können Private Equity-Gesellschaften Renditen von durchschnittlich 20 bis 30% pro Jahr erzielen.

Private Equity-Gesellschaften

Private Equity Manager / Management Company

Management

Fonds

Geld-geber 1

Geld-geber 2

Investitions-kapital Akquisition

AkquisitionInvestitions-kapital

Portfolio-unternehmen

1

Portfolio-unternehmen

2

Ø Rendite 20 – 30 % p.a.

Abb. 1: Das Geschäftsmodell der Private Equity-Gesellschaften,

Quelle: nach Ernst/Häcker (2007: 57)

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Private Equity-Gesellschaften 151

2 Strategien der Private Equity-Gesellschaften als aktive Investoren Private Equity-Gesellschaften sind sehr verschwiegen, um bei den häufig bör-sennotierten Investitionsobjekten keine spekulativen Kursentwicklungen zu pro-vozieren. Sie verfolgen jedoch alle Prinzipien des „aktiven Eigentums“, d.h. sie sind Einfluss nehmende Investoren (vgl. Schoppen 2007).

Weil alle in der Planung berücksichtigten Wertsteigerungspotenziale in der Regel schon im Kaufpreis berücksichtigt sind, können Private Equity-Gesellschaften zusätzliche Wertsteigerungen und damit hohe Renditen für ihre Fonds nur erreichen, wenn sie Strategien als aktive Investoren entwickeln. Dabei haben sie grundsätzlich vier strategische Möglichkeiten: � Wertsteigerung durch Korrektur inkonsistenter Strategien in den Portfolio-

unternehmen (Abschnitt 2.1), � Wertsteigerung durch operative Restrukturierung von Portfoliounternehmen

(Abschnitt 2.2), � Wertsteigerung durch Veränderung der Finanzstruktur der Portfoliounter-

nehmen (Abschnitt 2.3) und � Wertsteigerung durch sofortige Weiterveräußerung der Portfoliounterneh-

men (Abschnitt 2.4).

2.2 Wertsteigerung durch Korrektur inkonsistenter Strategien in den Portfoliounternehmen

Portfoliounternehmen bieten für Private Equity-Gesellschaften Wertsteigerungs-potenziale, wenn sie inkonsistente Strategien aufweisen, d.h. wenn Konflikte zwischen den angestrebten Unternehmensvorteilen einzelner Geschäftsbereiche bzw. des Gesamtunternehmens (interne Inkonsistenz) und/oder eine unzurei-chende Abstimmung mit der Umfelddynamik (externe Inkonsistenz) die Unter-nehmensgewinne verringern.

Interne Konsistenz ist erreicht, wenn das Streben nach einem Unterneh-mensvorteil den Erfolg aller anderen Unternehmensvorteile erhöht oder zumin-dest nicht vermindert (vgl. Milgrom/Roberts 1990: 513, 515). Entsprechend betont Rumelt (1980: 360): „the strategy must not present mutually inconsistent goals and policies“. Interne Konsistenz entspricht damit der Vorstellung eines „internen Fit“ bzw. einer „Passung der organisatorischen Fähigkeiten bzw. Un-ternehmensvorteile“ untereinander (Näther 1993: 90). Interne Konsistenz in einem Geschäftsbereich ist z.B. zwischen Vorteilen niedriger Kosten (v.a. Skalenvortei-len) und Differenzierungsvorteilen wie Werbung, Image oder überlegene Pro-duktqualität gegeben, nicht aber zwischen diesen Vorteilen und dem Vorteil der Produktinnovationsfähigkeit. Dies lässt sich damit begründen, dass niedrige Kos-

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152 Heike Proff

ten bzw. die Strategie der Kostenführerschaft sowie Differenzierungsvorteile bzw. die Differenzierungsstrategie einer Effizienzorientierung folgen, die Pro-duktinnovationsfähigkeit aber einer Flexibilitätsorientierung. Zwischen Effi-zienz- und Flexibilitätsorientierung besteht (zumindest teilweise) ein Konflikt (vgl. Wolfensteiner 1995), weil Unternehmen nicht gleichzeitig Effizienz und Flexibilität maximieren können (vgl. Mette 1999: 47). Dieser Konflikt lässt sich anhand von Opportunitätskosten begründen. Flexibilität verursacht Kosten z.B. durch quantitative und qualitative Kapazitätsreserven oder durch Planung und Überwachung von Anpassungsprozessen. Solche sog. Ereignispuffer („organiza-tional slacks“) verhindern eine effizienzorientierte Produktion entsprechend der Minimalkostenkombination, d.h. dem Punkt, in dem „slack is zero“ (Cyert/ March 1963: 37). Ähnlich besteht auf der Gesamtunternehmensebene von diver-sifizierten Unternehmen mit mehreren Geschäftsbereichen ein Konflikt zwischen einer effizienzorientierten Strategie der Aufgabenzentralisierung durch Zusam-menlegung von Produktions-, Logistik- und Vertriebsaktivitäten mehrerer Ge-schäftsbereiche und einem flexibilitätsorientierten Kompetenztransfer zwischen den Geschäftsbereichen, wie z.B. durch Nutzung von Kompetenzen z.B. der Mi-niaturisierung oder der Mikroelektronik in Produktion, Logistik und Vertrieb (vgl. Proff 2002).

Externe Konsistenz bedeutet Vermeidung von Konflikten zwischen den in einem Geschäftsbereich oder Gesamtunternehmen angestrebten Unternehmens-vorteilen und den Steuerungsprinzipien (Zentralisierung oder Dezentralisierung) der Geschäftsbereiche. Dabei wird die Dynamik des Umfeldes, d. h. die Häufig-keit und Stärke von Veränderungen, berücksichtigt (vgl. z. B. Sanchez 1997). Entsprechend der Definition von interner Konsistenz ist externe Konsistenz dann erreicht, wenn das Streben nach einem Unternehmensvorteil den Erfolg der Steuerungsprinzipien nicht vermindert. Externe Konsistenz entspricht der Vor-stellung eines „externen Fit der entwickelten Fähigkeiten zu den Gegebenheiten im (Um)feld“ (Näther 1993: 90).

In einem weitgehend stabilen Umfeld, wie z.B. in der Automobilindustrie, in der chemischen Industrie und im Maschinenbau, sind effizienzorientierte Stra-tegien der Kostenführerschaft oder/und der Differenzierung im Geschäftsbereich sowie eine Strategie der Aufgabenzentralisierung auf der Gesamtunternehmens-ebene extern konsistent. In einem dynamischen Umfeld wie der Pharma-, Elekt-ronik- und Biotech-Industrie sind flexibilitätsorientierte Strategien der Produkt-innovationsfähigkeit im Geschäftsbereich und des Kompetenztransfers auf der Gesamtunternehmensebene extern konsistent (vgl. Proff 2002).

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Private Equity-Gesellschaften 153

Es kann theoretisch und empirisch gezeigt werden, dass Konsistenz positiv mit dem Gewinn (Return on Equity = ROE) korreliert (vgl. ebd.: 281). Daraus folgt unmittelbar, dass Unternehmen mit fehlender Konsistenz ein Wertsteige-rungspotenzial bieten, das Private Equity-Gesellschaften zu realisieren ver-suchen, indem sie Unternehmen von einem niedrigeren Konsistenzniveau in Ut1 auf ein höheres Konsistenzniveau in Ut2 heben (vgl. Abb. 2).

So passt z.B. das effizienzorientierte Streben nach Skalenvorteilen oder einer überlegenen Produktqualität im Geschäftsbereich Gabelstapler (weitgehend sta-biles Umfeld) nicht zu einer flexibilitätsorientierten Produktinnovationsstrategie z.B. bei Industriegasen (dynamisches Umfeld). Die Linde AG war deshalb für Private Equity-Gesellschaften sehr attraktiv, als diese beiden inkonsistenten Ge-schäftsbereiche zu ihr gehörten.

In der Korrektur inkonsistenter Strategien liegt ein gewaltiger Hebel für Private Equity-Gesellschaften, weil aus einem Euro zusätzlicher Gewinn über einen Multiplikator zwischen 5 und 10 Euro zusätzlicher Wert geschaffen wer-den kann (vgl. Ernst/Häcker 2007).

Abb. 2: Auswirkungen konsistenter Strategien auf den Unternehmenserfolg,

Quelle: Eigener Entwurf in Anlehnung an Proff (2002: 281)

Return on Equity

* Gemessen als Übereinstimmung des gewählten Wettbewerbsvorteils

Konsistenz

Erhöhung des Unternehmenswertes

U t1

Ut2

Erhöhung der Konsistenz durch Private Equity Gesellschaften

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154 Heike Proff

2.3 Wertsteigerung durch operative Restrukturierung von Portfoliounternehmen

Selbst konsistente Portfoliounternehmen bieten für Private Equity-Gesellschaften Wertsteigerungspotenziale, wenn � die operativen Prozesse im Inland ineffizient sind oder/und � die Fertigungstiefe zu hoch ist und keine kostenminimale Verteilung der Wert-

schöpfung im internationalen Wettbewerb angestrebt wird (vgl. Proff 2007). Private Equity-Gesellschaften können deshalb als aktive Investoren eine interna-tional kostenminimale Verteilung der Wertschöpfung vorantreiben, die kompara-tive (Lohn)kostenvorteile in Niedriglohnländern und Spezialisierungsvorteile der Lieferanten konsequent zu nutzen sucht (vgl. Proff 2007a in Anlehnung an Grossman/Helpman 2002 und Robinson/Kalakota 2005 sowie Abb. 3).

Bei einer Verlagerung von Beschaffung oder Produktion insbesondere in Niedriglohnländer erhöht sich allerdings das Risiko von Einbußen im Differen-zierungspotenzial, d.h. in Qualität und Image. Deshalb besteht die Herausforde-rung darin, eine Kostenreduzierung zu erreichen, ohne Differenzierungsvorteile zu verlieren (vgl. Proff 2007).

Produktions -verlagerung

( „ transfer“)

Auslagerung („offshore outsourcing “)

an neue Lieferantenin weit entfernten L ändern

Prozess-optimierung

( „ lean transformation “ )

Auslagerung („onshore outsourcing “)

an traditionelleLieferanten

v.a. im Inland

komparativerKostenvorteil

hoch

gering

Spezialisierungsvorteil

hoch gering

kostenminimale Verteilung der Wertsch ö pfung im internationalen Wettbewerb

Abb. 3: Kostenminimale Verteilung der Wertschöpfung im internationalen Wettbewerb,

Quelle: Proff (2007: 10)

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Private Equity-Gesellschaften 155

Wertsteigernde Strategien einer kostenminimalen Verteilung der Wertschöpfung im internationalen Wettbewerb sind � eine Prozessoptimierung („lean transformation“) im Inland, � eine Produktionsverlagerung („transfer“) ins Ausland � eine Auslagerung an traditionelle Lieferanten v.a. im Inland („onshore out-

sourcing“) oder � eine Auslagerung an neue Lieferanten in weit entfernten Ländern („offshore

outsourcing“) Eine Kostensenkung ohne Differenzierungsverlust ist möglich durch Prozessop-timierung („lean transformation“). Sie zielt auf Produktivitätssteigerungen bei verringerten Lagerbeständen, verkürzten Durchlaufzeiten und einer reduzierten Kapitalbindung. Eine gängige Strategie von Finanzinvestoren besteht darin, mehrere (komplementäre) Unternehmen einer Branche zu übernehmen, zusam-menzufassen und die Verbundunternehmen unter einer gemeinsamen Strategie neu aufzustellen. Über diese sogenannte Buy & Build-Strategy lassen sich Syn-ergieeffekte, beispielsweise durch eine verstärkte Einkaufs- oder Vertriebsmacht oder niedrigere Verwaltungskosten, realisieren und eine bessere Marktposition erreichen (Reimers 2004: 47 ff.; Ernst/Häcker 2007: 57 ff.).

Zusätzliche Kostenvorteile können durch die Verlagerung der Produktion einfacher Tätigkeiten ins Ausland („transfer“) erreicht werden. Hierbei ist aller-dings zu bedenken, dass die Produktionsstandorte oftmals nicht einfach ge-schlossen werden können und es dadurch zu Überkapazitäten kommen kann. Zu-dem dauert der Produktionsanlauf im Ausland bei vielen Produkten sehr lange, bei Automobilen z.B. 48 Monate, Investitionsmittel werden dann in großem Um-fang gebunden (vgl. z.B. Simon u.a. 2006).

Deshalb werden eher die globalen Beschaffungsstrategien von Komponen-ten und Entwicklungsleistungen neu definiert und die Relation von Eigenleistung und Fremdleistung verändert. Durch Auslagerung von wertschöpfenden Aktivi-täten an neue spezialisierte Lieferanten im fernen Ausland und an traditionelle Zulieferer im Inland und im nahen Ausland kann das Portfoliounternehmen von spezialisierten Lieferanten profitieren und sich stärker auf Kernkompetenzen konzentrieren.

Die Auslagerung von wertschöpfenden Aktivitäten an spezialisierte Liefe-ranten in weit entfernten Ländern, insbesondere in Niedriglohnländern („offshore outsourcing“), kann hohe Transaktionskosten durch Qualitätsmängel der lokalen Lieferanten und durch ungewollten Knowhow-Abfluss mit sich bringen. Die Auslagerung von wertschöpfenden Aktivitäten an spezialisierte Lieferanten im Inland und im nahen Ausland („onshore outsourcing“) setzt eine transaktionskos-

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156 Heike Proff

tenminimale Modularisierung voraus, die den ungewollten Kompetenzabfluss an die traditionellen Zulieferer begrenzt (vgl. Proff 2008).

2.4 Wertsteigerung durch Veränderung der Finanzstruktur der Portfoliounternehmen

Außer durch Erhöhung der Konsistenz und durch Restrukturierung des aufge-kauften Unternehmens können Private Equity-Gesellschaften die Rendite der Portfoliounternehmen auch durch eine Optimierung der Finanzierung des Unter-nehmens erhöhen (vgl. Abb. 4).

Der Finanzinvestor strebt im Rahmen der Beteiligung eine möglichst hohe Fremdfinanzierungsquote (Fremdkapital zu Eigenkapital) an. Dieses Optimie-rungskalkül nutzt die unterschiedliche Höhe von Eigen- und Fremdkapitalkosten. Bei einem festen, vom Verschuldungsgrad unabhängigen Fremdkapitalzins i nimmt die Eigenkapitalrendite rEK mit steigender Verschuldung zu, solange die Gesamtkapitalrendite der Investition größer ist als der für das Fremdkapital zu zahlende Zinssatz. Dieser Zusammenhang wird als positiver „Leverage-Effekt“ bezeichnet (vgl. Bühner 1990: 151 f. oder Brebeck/Bredy 2005: 377, 391 ff.).

r

EigenkapitalFremdkapital

EK

i

r

i

rEK

r

i

r EKr

i

Gesamtkapitalrendite

FremdkapitalzinssatzEigenkapitalrendite

Abb. 4: Positiver „Leverage-Effekt“,

Quelle: Proff/Haberle (2008 in Anlehnung an Perridon/Steiner 1997: 480)

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Private Equity-Gesellschaften 157

Bereits vor Aufgabe der Beteiligung kann sich der Finanzinvestor eine hohe Sonderdividende ausschütten lassen, finanziert aus liquiden Mitteln oder durch Fremdkapital. Diese als Rekapitalisierung bezeichnete Strategie trägt zur Er-höhung der Rendite der Private Equity-Gesellschaft bei (Clausen 2003: 109).

2.5 Wertsteigerung durch sofortige Weiterveräußerung der Portfoliounternehmen

Eine Wertsteigerung ist schließlich auch durch die Nutzung der Arbitrage mög-lich, die sich ergibt, wenn eine Private Equity-Gesellschaft ein Unternehmen er-wirbt, das ein anderer Kaufinteressent auch gerne gekauft hätte, und wenn sie das Unternehmen an diesen mit einem Aufschlag weiterveräußert (vgl. Arbeitskreis „Finanzierung“ der Schmalenbach Gesellschaft für Betriebswirtschaft. e.V. 2006).

Im Folgenden soll nun für zwei Unternehmen mit ungenutzten Wertsteige-rungspotenzialen gezeigt werden, wie unterschiedlich Private Equity-Gesell-schaften als aktive Investoren agieren und wie unterschiedlich ihnen die verfolg-ten Strategien gelingen.

3 Das Private Equity-Engagement bei den deutschen Unternehmen Grohe und Kiekert

Das Unternehmen Grohe aus dem sauerländischen Hemer entwickelt, produziert und vertreibt Sanitär- und Küchenarmaturen, Brausen sowie Installations- und Spülsysteme für den privaten und gewerblichen Bereich. Grohe ist heute der füh-rende Hersteller für Sanitärtechnik mit einem Umsatz von knapp 1 Mrd. Euro (vgl. Haberle/Proff 2008). Kiekert aus dem rheinischen Heiligenhaus ist mit ca. 500 Mio Euro Umsatz einer der weltgrößten Hersteller von Türschlössern für die Automobilindustrie.

Im Mai 1999 wurde bekannt gegeben, dass die Grohe Inhaberfamilien und die Mehrheitsgesellschafter Grohe und Rost, die zu diesem Zeitpunkt 100 Pro-zent der Stammaktien und 28,8 Prozent der Vorzugsaktien hielten, eine Veräuße-rung ihrer Aktienpakete anstrebten. Es seien private Gründe, die in keinem Zu-sammenhang mit der aktuellen Entwicklung des Unternehmens stünden (o.V. 1999). Credit Suisse organisierte eine Auktion mit rund 60 Interessenten, darun-ter strategische Interessenten und Finanzinvestoren. In der Endphase der Auktion waren außer der englischen Private Equity-Gesellschaft BC Partners nur der Fi-nanzinvestor Kohlberg Kravis Roberts & Co. (KKR) und der US-amerikanische Sanitärhersteller Kohler im Bieterverfahren übrig geblieben. Den Zuschlag er-hielt BC Partners. Im ersten Schritt übernahm der Investor die Mehrheitsanteile

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der Familien Grohe und Rost, im zweiten Schritt wurde Grohe im Jahr 2000 vollständig von der Börse genommen (sog. „Delisting“), nachdem die Inhaber der restlichen Aktien im Streubesitz ein freiwilliges Übernahmeangebot akzep-tiert hatten. Dieser Vorgang war bis dahin die erste Public-to-Private-Transaktion eines im MDAX geführten Unternehmens in Deutschland. Der Ak-tienrückkauf wurde auf dem Wege eines Leveraged Buyouts vollzogen, d.h. die Unternehmensübernahme wurde zu einem hohen Anteil über Kredite und hoch-verzinsliche Anleihen fremdfinanziert (Strategie der Wertsteigerung durch Ver-änderung der Finanzstruktur).

Bei Kiekert vollzog sich eine ähnliche Entwicklung. Die Eigentümer Ster-zenbach und Rau hatten das Unternehmen 1988 über einen Management Buyout gekauft und an die Börse gebracht. Da es aufgrund des schlechten Aktienkurses Probleme der Finanzierung von Investitionen im Ausland gab, suchte Kiekert nach einem starken Partner (vgl. Voss 2000). Die englische Private Equity-Gesellschaft Schroder Ventures Europe (heute Permira) kaufte schließlich im Jahr 2000 68% des Kapitals von Kiekert für 530 Mio Euro, wovon lediglich 100 Mio. Euro Eigenkapital waren. 430 Mio. Euro wurden über Fremdkapital finan-ziert und Kiekert als Schulden aufgebürdet (ebenfalls Strategie der Wertsteige-rung durch Veränderung der Finanzstruktur). Das wie Grohe im MDAX notierte Unternehmen wurde drei Jahre später ebenfalls von der Börse genommen („De-listing“). Der Alteigentümer und ehemalige Vorstandsvorsitzende Hans Werner Sterzenbach behielt 32% der Anteile (vgl. Koenen/Herz 2006).

BC Partners leiteten bei Grohe zunächst eine Restrukturierung und Moder-nisierung ein (Strategie der Wertsteigerung durch operative Restrukturierung). Mit durchschnittlich 40 Mio. Euro Investitionen pro Jahr (vgl. Storn 2005) wur-den die Produktions- und Vertriebsstrukturen reorganisiert und internationali-siert. Mit Unterstützung einer großen Unternehmensberatung wurde für alle Standorte eine „internationale Fertigungsstrategie“ entworfen, um die Komplexi-tät in den Werken zu verringern, eine Konzentration auf Kernkompetenzen zu forcieren und die Fertigungstiefe am jeweiligen Standort zu optimieren (Grohe 2003: 52). Im Zuge der Optimierung der Logistik wurden 2001 die Logistikzent-ren in Hemer und Porta Westfalica zusammengelegt (Grohe 2001: 31). Im Be-reich der Beschaffung zielten die Maßnahmen auf eine Optimierung und Redu-zierung der Zahl der Lieferanten, auf kürzere Beschaffungszeiten und insgesamt geringere Prozesskosten. Dezentrale Einheiten wurden stärker an die zentrale Beschaffung angebunden.

Am 29. Mai 2004 wurde Grohe weiterverkauft an die Private Equity-Gesellschaft Texas Pacific Group (TPG) und die Schweizer Großbank Credit Suisse

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First Boston Private Equity (CSFB). Zusätzlich zum Kaufpreis in Höhe von 825 Mio. Euro übernahm das Konsortium den Schuldenbestand von Grohe, so dass sich das Transaktionsvolumen auf insgesamt 1,5 Mrd. Euro belief (o.V. 2005a). TPG und CSFB brachten zu gleichen Teilen insgesamt 400 Mio. Euro in die Transaktion ein (Die Zeit vom 09.06.2005). Ebenso wie bei BC Partners wurde diese Transaktion größtenteils über Fremdkapital finanziert; der Eigenkapitalanteil belief sich nur auf rund 30 Prozent (Strategie der Wertsteigerung durch Verände-rung der Finanzstruktur, o.V. 2006). Seit 2004 wurden im Inland und im Ausland jährlich etwa 60 Mio. Euro investiert (Fortsetzung der Strategie der operativen Re-organisation). Die Fertigung komplexer Produkte wurde auf Deutschland konzent-riert und gleichzeitig die Flexibilität erhöht. Der Personalbestand in den deutschen Werken wurde um 30 Prozent von 2.953 auf 2.062 Beschäftigte reduziert (Grohe 2006: 8). Davon war in erster Linie das 2004 geschlossene Werk in Herzberg be-troffen. Einfachere Produktionsprozesse wurden in Betriebe in Niedriglohnländern verlagert und die Kapazität der Werke dort erweitert. Die Produktionskapazität in Thailand, Portugal und Kanada wurde z.B. von Mitte 2005 bis Ende 2006 nahezu verdoppelt. Durch Produktionsverlagerung und Steigerung der Produktivität sollen 50 Mio. Euro gespart werden. Im Vergleich mit Konkurrenten stellt sich Grohe heute angesichts steigender Rohstoffkosten und des zunehmenden globalen Wett-bewerbs als krisenresistentes Unternehmen dar. Während der Wettbewerber Ame-rican Standard die Sanitärsparte verkauft und Hansgrohes US-Mutter Masco bis zu 10.000 Stellen abbauen will (o.V. 2007), sind bei Grohe zwar Umstrukturierungen möglich, jedoch erfolgt kein weiterer Personalabbau über den vereinbarten Sozial-plan hinaus. Grohe verspricht 2007 nach durchaus schmerzhaften Einschnitten „ein Bombenergebnis“ (Gillmann 2007).

Permira versuchte bei Kiekert auch die Strategie der operativen Restruktrie-rung mit Konzentration auf die Ausweitung des Vertriebs. Mit dem Verlust des Großkunden Ford und einem erheblichen Umsatzeinbruch hatte keiner gerech-net, obwohl 1998 die Ford-Werke in Köln vorübergehend die Produktion einstel-len mussten, weil Kiekert Türschlösser nicht liefern konnte. Kiekert gab als Grund Softwareprobleme bei einem Zulieferer an. Dass Ford den Vertrag mit dem Systemlieferanten Kiekert auflösen und einen neuen Lieferanten beauftra-gen würde, der sogar Patente von Kiekert missachtete, war nicht vorausgesehen worden (vgl. Lange 2006).

Erst nach dem Verlust von Ford wurden systematisch Strukturanpassungen mit starken Kostensenkungsmaßnahmen eingeleitet (vgl. Maier 2007). Durch die Kostensenkungsprogramme und den Ausbau des Asien- und Nordamerikage-schäftes konnte jedoch der Umsatzeinbruch (zwischen 2000 und 2004 um 30%)

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nicht kompensiert und die Margen nicht gehalten werden (vgl. Maier 2006). Die Strukturanpassung kam zu spät. Das technisch gut aufgestellte Unternehmen konnte den hohen Schuldendienst nicht mehr aufbringen und trudelte in eine Abwärtsspirale, die auch Strukturanpassungsmaßnahmen nicht mehr aufhalten konnten. Permira musste das Kiekert-Engagement total abschreiben und verkauf-te 2006 das Unternehmen an spezialisierte Hedgefonds, d.h. an Fonds mit speku-lativen Anlagestrategien, die Unternehmen in Krisensituationen aufkaufen. Sie nahmen bei Kiekert eine Umschuldung vor und leiteten die bislang unzureichen-den strukturellen Bereinigungen ein.

4 Einfluss von Private Equity-Gesellschaften auf den Unternehmenssektor

Das Beispiel Grohe zeigt, dass Private Equity-Gesellschaften, die alle Wertstei-gerungsstrategien konsequent verfolgen, bei den Portfoliounternehmen eine Wertsteigerung erreichen können. Von 1999 bis 2004 hat sich der Wert der Be-teiligung von BC Partner, einschließlich der Gesamtentnahmen (Rekapitalisie-rung) in Höhe von 350 Mio. Euro, mehr als verdoppelt (o.V. 2005b), durch den Weiterverkauf an TPG und Credite Suisse ist das Unternehmen strukturell sogar stärker geworden. Deshalb bringt es heute gute Ergebnisse und hat sich im Ver-gleich zu Wettbewerbern als krisenresistentes Unternehmen erwiesen. Auch wenn die Restrukturierung und Verlagerung einfacher Fertigungsprozesse in Niedriglohnländer mit einem Verlust von Arbeitsplätzen am Standort Deutsch-land verbunden war, war diese Entwicklung aus gesamtunternehmerischer Per-spektive sinnvoll. Insgesamt hat Grohe durch den frühzeitigen Strategiewechsel an Schlagkraft gewonnen und kann auf aktuelle Herausforderungen der Branche adäquat reagieren.

Dieser positive Einfluss der Private Equity-Gesellschaften auf den Unterneh-menssektor in Deutschland wird in vielen Studien bestätigt, denen zufolge Private Equity-Gesellschaften langfristig neue Arbeitsplätze schaffen und Umsätze und Gewinne vieler Portfoliounternehmen steigern konnten (vgl. z.B. PriceWater-hauseCoopers 2005 oder Achleitner u.a. 2006). Dies ist der Fall, wenn sie Portfo-liounternehmen mit unzureichend qualifiziertem Management und/oder fehlen-der Nachfolgeregelung wählen (vgl. z.B. Reimers 2004) und hoch qualifiziertes Management einsetzen.

Verantwortungsbewusste, Substanz erhaltende Private Equity-Gesell-schaften sind deshalb heute auch in Deutschland zunehmend „willkommen“ (Storn 2006). Mitarbeiter von Märklin in Göppingen z.B. gingen auf die Straße,

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weil Alteigentümer den Verkauf des traditionsreichen Unternehmens an einen Finanzinvestor blockierten. Für die Beschäftigten von Märklin war dieser Inves-tor ein Retter in größter Not. Nur so wird verständlich, dass Bundeswirtschafts-minister Michael Glos das Engagement internationaler Finanzinvestoren in Deutschland als „segensreich“ bezeichnet. Finanzinvestoren werden zunehmend selbst in Deutschland als „legitime Akteure des Kapitalmarktes“ angesehen (ebd.), die Bewegung in den Unternehmenssektor bringen.

Private Equity-Gesellschaften sind auch dann disziplinierende Akteure des Kapitalmarktes, wenn potenzielle Portfoliounternehmen einer drohenden Über-nahme vorgreifen und Strategien der Restrukturierung oder der Konsistenzstei-gerung ergreifen. So hat beispielsweise die Linde AG selbst die Konsistenz ihrer Gesamtunternehmensstrategie verbessert und die effizienzorientierte Gabelstap-lerfertigung unter dem Namen Kion verselbständigt, an die Börse gebracht und sich auf das flexibilitätsorientierte Industriegasegeschäft mit einem sehr dynami-schen Umfeld konzentriert. Heute hat Linde die Wertsteigerungspotenziale sel-ber weitgehend ausgeschöpft; Private Equity-Gesellschaften haben das Interesse an dem Unternehmen verloren.

Es gibt allerdings auch Beispiele für wenig verantwortungsbewusste Private Equity-Gesellschaften, die mit Kurzzeitmanagern ohne Bezug zur Branche und zum Unternehmen allein die Kosten senken wollen und z.B. zukunftssichernde Investitionen in Forschung und Entwicklung kürzen oder die Portfoliounterneh-men an andere Private Equity-Gesellschaften verkaufen (secondary oder tertiary buyout), sie somit auspressen und in den Ruin treiben. Sie sind damit buchstäb-lich zu „Aussaugern“ geworden.

Die von Permira bei Kiekert eingesetzten Manager konnten z.B. nicht ver-hindern, dass das Unternehmen heute mit hohen Schulden und stark rückgängi-gem Absatz vor dem finanziellen Zusammenbruch steht. Sie haben die notwen-dige massive Restrukturierung nicht betrieben und ein Krisenmanagement zu spät versucht. Damit war keine Wertsteigerung zu erreichen.

Private Equity-Gesellschaften erscheinen häufig als „Eigenkapitalräuber“ (Schneider 2006), wenn sie nicht investieren, sondern den Kaufpreis in erster Linie mit Fremdkapital finanzieren, welches das erworbene Unternehmen zurückzah-len muss, und das Eigenkapital abziehen.

Würden Private Equity-Gesellschaften nur Portfoliounternehmen mit Wert-steigerungspotenzialen auswählen und bei diesen die genannten Strategien um-setzen, dann wären sie eindeutig „disziplinierende Akteure“ des Kapitalmarktes, da sie aus Sicht der Eigentümer die Optimierung der Rendite des eingesetzten Kapitals anstreben und schlechtes Management auswechseln. Das ist aber nicht

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immer der Fall. Eine abschließende Bewertung des Private Equity-Engagements und der volkswirtschaftlichen Wirkungen der Private Equity-Gesellschaften ist deshalb nicht möglich. Sie können sowohl „disziplinierende Akteure“ als auch „Aussauger“ sein. Das gilt für alle Unternehmen in einer Marktwirtschaft und ist eine Konsequenz daraus, dass pensionierte Lehrer, Universitäten und reiche Ka-pitalgeber überdurchschnittliche Renditen suchen.

Für die Zukunft ergeben sich zwei Herausforderungen, denen sich die Pri-vate Equity-Gesellschaften stellen müssen: � steigende Kapitalmarktzinsen, die durch das Private Equity-Engagement in

der Regel hoch verschuldete Unternehmen sehr stark belasten bzw. zu hoch verschulden angesichts der unternehmerischen Risiken und

� Ausstieg aus den Investitionen, ohne dass die Portfoliounternehmen an einen Hedgefonds oder eine andere Private Equity-Gesellschaft weiterverkauft werden.

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Staaten und Märkte – Privatisierungspolitik in transatlantischer Perspektive

Eckhard Schröter

1 Ausverkauf des Staates? Die Debatte um die Grenzen zwischen Staat und Markt

Die Frage nach der angemessenen Rolle des Staates markiert eine der wichtigs-ten – und der am schärfsten gezogenen – politischen (und politikwissenschaftli-chen) Konfliktlinien. Verständlicherweise muss diese Debatte vor allem dann an Relevanz gewinnen, wenn im modernen Kapitalismus der OECD-Welt durch-schnittlich nahezu die Hälfte – und in nicht unwichtigen Fällen auch mehr – der produzierten Güter und Dienstleistungen nicht über den Markt, sondern über den Staat verteilt werden. Die Vorstellung vom optimalen Verhältnis zwischen Markt und Staat unterliegt einem steten Wandel, wobei sich – insbesondere im Zuge der internationalen, vom New Public Management inspirierten Reformbewegung (vgl. Schröter/Wollmann 2005) – eine länderübergreifende Tendenz herausbilde-te, die stärker als in der Vergangenheit den Nutzen und die Notwendigkeit von Privatisierungsmaßnahmen betont (Mahboobi 2002, Osborne/Plastrick 2000). Dagegen gewinnt allerdings auch der Chor jener Kritiker an Stimmkraft, die den Sinn des Regierens mit Marktmechanismen in Zweifel ziehen, vor einem ausge-höhlten Staat warnen (Milward/Provan/Else 1993) oder die Grenzen der Privati-sierung aufzeigen (von Weizsäcker/Young/Finger 2006).

Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, in welchen Bereichen und in welchem Maße man von einem Rückzug des Staates zugunsten privater Marktteilnehmer sprechen kann.1 Die grundlegende Annahme ist dabei, dass eine sinnvolle Antwort von der gewählten Zeitperspektive, den politisch-kulturellen und -institutionellen Rahmenbedingungen und den Funkti-onsbereichen staatlicher Tätigkeit abhängig sein wird. Daher wird die folgende Diskussion von einer vergleichenden und transatlantische Warte aus geführt, von der aus die wechselseitigen Grenzverschiebungen zwischen Staat und Markt in 1 Dieser Beitrag basiert in Teilen auf einem Kooperationsprojekt mit den Kollegen Bert Rockman

(Purdue University), Trevor Brown (Ohio State University) und Yijia Jing (Funan University). Yijia Jing verdanke ich die Einsichten in das private Sicherheitsgewerbe in den USA. Vgl. dazu auch ausführlicher Brown/Jing/Rockman/Schröter (2006). Die verbliebenen Mängel liegen selbstverständlich allein in der Verantwortung des Autors.

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zwei der größten Wirtschaftsnationen mit grundsätzlich verschiedenen Staatstra-ditionen in den Blick genommen werden können. Darüber hinaus dienen ausge-wählte Politikfelder als empirisches Anschauungsmaterial, um gleichgerichtete Entwicklungen, aber auch gegenläufige Tendenzen – samt der dafür relevanten Umstände – beschreiben zu können.

Um den konzeptionellen Hintergrund der Privatisierungsdebatte vollständi-ger – und vor allem in deren politischer Dimension – zu entfalten, widmet sich der folgende Abschnitt den grundsätzlichen Motivlagen, die für Privatisierungs-programme als ursächlich angenommen werden können, bevor im weiteren Ver-lauf die unterschiedlichen Modalitäten der Privatisierungspolitik näher betrachtet werden. Von den komplexen Erscheinungsformen der Entstaatlichung richtet sich das Augenmerk insbesondere auf die Vermögensveräußerung und den Fremdbezug von Leistungen kommerzieller Anbieter (Contracting-Out). Der empirische Hauptteil richtet den Blick anschließend auf die beiden Länderstu-dien, in denen Entwicklungen über die vergangenen drei Reformjahrzehnte in den Bereichen des staatlichen Landbesitzes, des öffentlichen Industrievermö-gens, des Staatsanteils an Infrastruktur- und Versorgungsbetrieben sowie hin-sichtlich der Rolle von privat-kommerziellen Anbietern bei der Gefahrenabwehr und der öffentliche Sicherheit ausschnitthaft skizziert werden.

2 Triebfedern der Privatisierungspolitik Bei den vielschichtigen Gründen gegenwärtiger Privatisierungspolitiken in den OECD-Staaten (und darüber hinaus) sind drei zentrale Motivstränge miteinander verflochten, die sich grob den Kategorien „Ideologie“, „Globalisierung“ und „Prag-matismus“ zuordnen lassen. Bei dem ersten Aspekt geht es um den Wandel von Werten, die prägende Kraft ideologischer Überzeugungen, beim zweiten um die po-litischen Einflüsse (bis hin zu gegenseitigen Verpflichtungen und Zwang), die glo-bale Regime auf die nationalstaatliche Politik ausüben, und im dritten Bereich um die Orientierung an vorherrschenden Interessen und Nutzenkalkülen. Die einzelnen Grundtöne dieses Dreiklangs werden im Folgenden nacheinander angestimmt.

Ideologie und Überzeugungssysteme: Die vermutete Kraft der Ideen ist der maßgebliche Antrieb für Entstaatlichungen, die sich vor allem aus ideologischen Überzeugungen speisen. Die von den Regierungen unter Ronald Reagan in den USA oder Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich forcierte Reformpolitik wurde mit ihrer radikalen Orientierung zugunsten des Privatsektors zum Vorrei-ter einer Grundströmung, die den öffentlichen Verwaltungs- und Wirtschaftsbe-reich vor allem als Quell betriebswirtschaftlicher Ineffizienz, finanzieller Verlus-

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te und als Hort bürokratischer Einfalt, Trägheit und Selbstbedienungsmentalität ansieht. Weniger als ein Jahrzehnt zuvor war dagegen noch die moderne Strahl-kraft sozialistischer Wirtschaftsordnungen beschworen und die spätkapitalisti-sche Krise diagnostiziert worden. Die „gemischte Ökonomie“ mit substantiellen Staatsanteilen stand somit bei anscheinend progressiven Politiker- und Wähler-kreisen demokratischer Industriestaaten hoch im Kurs. Gleichermaßen galt – als sich schon die trente glorieuse, die Phase rasanten und vor allem steten wirt-schaftlichen Wachstums in den Nachkriegsjahrzehnten, ihrem Ende zuzuneigen begann – die verstärkte öffentliche Aufgabenwahrnehmung (z.B. im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- oder Städtebaubereich) und regulierende Intervention als das politisch-administrative Mittel der Wahl, um gesellschaftliche Problemlagen in den Griff zu bekommen. Zu Beginn der 1980er Jahre hingegen erschien – der symbolkräftigen Aussage von Ronald Reagan zufolge – die staatliche Bürokratie nicht mehr als „Lösung“, sondern als das eigentliche und vorrangige „Problem“. Wiederum ein knappes Jahrzehnt später schien mit dem Kollaps realsozialisti-scher Regime und ihrer Wirtschaftsordnungen – zumindest von einigen publizisti-schen Standpunkten – das Ende der Geschichte in Reichweite und waren die Heilsvorstellungen auf die problemlösende Kraft des Marktes und der kapitalisti-schen Produktionsweise projiziert worden. Sicherlich sind bei diesen ideologi-schen Pendelschlägen zugleich die materiellen und institutionellen Umfeldbedin-gungen mitzudenken. So vollzog sich die Abkehr vom tradierten Modell bürokratischer Steuerung und umfassend wohlfahrtsstaatlicher Politik nicht im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Vakuum, sondern im Angesicht politischer Un-zufriedenheit anwachsender Wählergruppen, unübersehbarer ökonomischer Kri-sensignale (Stagflation) und eines tiefgreifenden Wertewandels. Das Anliegen des hier entwickelten Arguments ist es jedoch, dem ideellen Faktor (Ideologie) auch eine eigenständige Wirkung zuzuschreiben, die zu einer nachhaltigen Antriebsfe-der für den gegenwärtigen Diskurs um den Neuzuschnitt des staatlichen Aufga-benbereichs und für eine vorteilhafte Grundstimmung für Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen geworden ist. Dieses Motivbündel hat somit einen grundlegenden Wandel in den Überzeugungssystemen (belief systems) maßgebli-cher Akteure (wie etwa politischer Eliten, Medienvertreter, aber auch wissen-schaftlicher Berater) zum Kern.

Politische Globalisierung: Der zweite Strang dieser Argumentationskette rankt sich um die zunehmend für die innerstaatliche Politik – vor allem mit Blick auf Wettbewerbs- und Liberalisierungsfragen – wichtiger werdenden inter- und supranationalen Organisationen. Damit wird jene Variante der Globalisierungs-debatte aufgegriffen, die sich mit dem Verhältnis zwischen nationalstaatlichen Institutionen mit ihren relativen Machtverhältnissen und zwischenstaatlichen Or-

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ganisationen beschäftigt. Selbst wenn man anerkennt, dass vor allem die wirt-schaftlich und politisch mächtigeren Nationalstaaten zentrale Mitspieler in den neuen globalen Governance-Strukturen bleiben, lässt sich der wachsende Ein-fluss und das Eigengewicht nicht übersehen, mit dem die wesentlichen internati-onalen Institutionen (z.B. die Welthandelsorganisation, der internationale Wäh-rungsfonds, die Weltbank oder die OECD) und supranationalen Institutionen (wie die Einrichtungen der Europäischen Union) die nationalstaatlichen Politik-strategien zur Marktöffnung, Deregulierung und Privatisierung vor allem in den vergangenen beiden Jahrzehnten mitgeprägt haben (vgl. zum EU-Einfluss Lip-pert 2005). Im Einzelnen sind beispielhaft die Wettbewerbspolitik der Europäi-schen Union (insbesondere hinsichtlich ihrer restriktiven Vorschriften für staatli-che Beihilfen) sowie das Regelwerk der World Trade Organization zu nennen. Im Rahmen der entwicklungspolitischen Strategie der „strukturellen Anpassung“ war beispielsweise die Handlungsmaxime des International Monetary Fund be-reits seit längerem darauf ausgerichtet, die Relevanz von Staatsbetrieben und staatlich stark regulierten Märkten in den Empfängerländern massiv zurückzu-drängen. Mit einer vergleichbaren Mission war auch die Forschungsabteilung für Fragen des öffentlichen Sektors (PUMA) der OECD ins Leben gerufen worden, die sich gerade in ihrer formativen Phase zur Fürsprecherin für den „schlanken Staat“ und nachhaltige Privatisierungsmaßnahmen machte. Nimmt man die ver-schiedenen Einflussfaktoren zusammen, so hat das Entstehen einer inter- und übernationalen Ebene von globalen Policy-Regimen in vielen Fällen dazu ge-führt, dass Mitglieds- bzw. Vertragsstaaten – milde formuliert – dazu angehalten wurden, ihre öffentlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben (ob durch Staats-eigentum oder Regulierung) zu verringern und die Rolle von staatlichen Beihil-fen (ob für öffentliche oder private Betriebe) zu minimieren. Selbstverständlich ist dieser Erklärungsansatz für Privatisierungsmaßnahmen eng mit dem Wandel von professionellen Standards und Überzeugungssystemen verbunden, doch hat diese globalisierte institutionelle Komponente eine eigenständige und besonders signifikante Bedeutung angenommen.

Politischer und ökonomischer Pragmatismus: In der dritten Kategorie der vorherrschenden Privatisierungsmotive sind jene Beweggründe versammelt, die sich auf die Durchsetzung von politischen und/oder ökonomischen Interessen beziehen. Abhängig von der spezifischen Rationalität und der entsprechenden Präferenzstruktur, nach welcher die Akteure ihre Handlungen ausrichten, können mit Maßnahmen der Entstaatlichung bestimmte Vorteile verbunden sein. In vor-derster Reihe werden in diesem Zusammenhang routinemäßig die betriebswirt-schaftlichen Vorzüge aufgezählt, die in der ökonomischen Literatur mit der Übertragung eines Unternehmens bzw. einer bestimmten Funktion vom öffentli-chen in den privaten oder den sogenannten „dritten“, d. h. gemeinnützigen Sek-

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tor zumeist verbunden werden. Dazu können etwa flexiblere arbeitsrechtliche und tarifliche Regeln oder Haushalts- und Finanzierungsvorschriften gehören, die dem privaten Management größeren Handlungsspielraum, vermehrten Zu-gang zu den Kapitalmärkten oder effizientere Anreizstrukturen und schnellere Entscheidungsstrukturen bieten. Die Interessenlage von betroffenen Führungs-kräften aus (noch) öffentlichen Unternehmen oder Agenturen lässt jedoch auch andere Interpretationen zu. So mögen sich staatliche Betriebsleiter in privatisier-ten Firmen höhere Einkommen und bessere Reputation erhoffen. Vergleichbare Nutzenfunktionen bieten sich auch für die Deutung der politischen Motivlagen an: Nicht nur, dass bestimmte Wähler- und Interessengruppen mit Privatisie-rungsstrategien angesprochen oder belohnt werden können, es wird vielmehr für Politiker aller Couleur – gerade in Zeiten knapper öffentlicher Kassen und hoch-verschuldeter Staatshaushalte – verlockend sein, sich defizitärer Einrichtungen zu entledigen oder – im Falle von höherbewerteten Staatsbetrieben oder öffentli-chem Vermögen – mit den (einmaligen) Privatisierungserlösen die öffentlichen Kassen zu entlasten. (Gerade dieses Interesse führt typischerweise allerdings zu der paradoxen Situation, dass verlustreiche Staatsbetriebe in öffentlicher Regie oft zur Marktreife geführt werden, um dann in privates Eigentum übertragen zu werden.) Nicht selten täuscht der Wechsel in einer private Unternehmensform auch lediglich vor, dass Regierungen reformerisch aktiv sind oder unterhalb be-stimmter Obergrenzen für öffentliches Personal oder Ausgaben bleiben. Was häufig jedoch nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt wird, sind die be-wussten und unbewussten Macht- und Risikoverschiebungen, die mit dem Rück-zug öffentlicher Aufgabenwahrnehmung einhergehen: sei es die mögliche Schwächung von tendenziell gewerkschaftlich hochgradig organisierten Mitar-beitern des öffentlichen Dienstes und ihrer Interessenvertretungen oder grund-sätzlich die Verlagerung von Risiken, wenn es z.B. um die Wahl zwischen einer kollektiven (Staat) oder individuellen (Markt) Absicherung gegen die Risiken von Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit oder Altersarmut geht.

3 Formen und Verfahren der Privatisierung Bislang war zumeist in allgemeiner Form von Entstaatlichung oder Privatisie-rung die Rede, ohne näher auf die vielfältigen Modalitäten einer solchen Grenz-verschiebung zwischen den öffentlichen und privaten Sektoren der Volkswirt-schaft einzugehen. Auch an dieser Stelle bleibt die überblicksartige Diskussion unterschiedlicher Typen der Privatisierung kursorisch, da im einschlägigen Lite-raturfundus kein Mangel an ausführlichen Darstellungen herrscht (vgl. Salamon

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2002). Somit lässt sich der Gedankengang in diesem Abschnitt zunächst vor-nehmlich von der Absicht leiten, für ein differenzierteres Problembewusstsein für ganz verschiedene Varianten der Privatisierungspolitik zu werben, bevor konkret die ausgewählten US-amerikanischen und deutschen Fallstudien in den Blick genommen werden.

Die anfangs thematisierte Schärfe in der Kontroverse um die angemessene Grenzziehung zwischen staatlicher und privat-marktwirtschaftlicher Verantwor-tung speist sich nicht zuletzt aus der – teilweise bewusst kultivierten und instru-mentalisierten – fehlgeleiteten Annahme, dass es sich in dieser Frage um eine bi-när kodierte Ja-Nein- oder Schwarz-Weiß-Entscheidung handeln würde. Es ist ein wesentliches Verdienst der politischen und wissenschaftlichen Debatten um den „Gewährleistungsstaat“ (enabling state), auf die abgestuften Entscheidungen bei der Wahl zwischen „öffentlich-staatlich“ und „privat-marktwirtschaftlich“ überzeugend hingewiesen zu haben: Die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass eine bestimmte öffentliche Aufgabe erfüllt wird, muss also nicht damit einherge-hen, für die gesamte Finanzierung (ob der Investitionen oder der laufenden Be-triebskosten) oder gar für die konkrete Erledigung der Aufgabe zu sorgen. Was in neudeutscher Terminologie unter der Rubrik der im Grunde altbekannten „Public-Private-Partnerships“ gefasst wird, bezieht sich zumeist auf den Zufluss privaten Kapitals für öffentliche Investitionen. Darüber hinaus können in der Durchführungsphase Konzessionen für private Betreiber vergeben oder – falls die Hauptverantwortung für die Leistungserbringung in öffentlicher Hand ver-bleibt – einzelne Zulieferungen oder Teilprodukte vom privaten Markt bezogen werden. Ebenso können Verteilungsentscheidungen oder Anreize über Gut-schein-Systeme, Nutzerentgelte und Eigenbeteiligungen der Konsumenten öf-fentlicher Güter und Dienstleistungen privatisiert werden. Dieser differenzierte Blick eröffnet auch weitere Einsichten in die Vielfalt der Privatisierungsmög-lichkeiten, da nicht nur für eine öffentliche Aufgabe als Ganzes, sondern für je-den einzelnen Schritt einer umfassenden Wertschöpfungskette diese abgestuften Verantwortungsfragen zu beantworten sind. Selbst wenn man erfolgreich ver-sucht, sich Klarheit über die Gewährleistungs-, Finanzierungs- und Durchfüh-rungsverantwortung in den einzelnen Prozessschritten zu verschaffen, eröffnet sich ein breites Spektrum von institutionellen Lösungen, das sich zwischen den Extrempunkten „öffentliches Amt“ und „privat-kommerzielle Unternehmung“ entfaltet. Eine wichtige Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang zwischen der formalen und der materiellen Privatisierung zu treffen, wobei sich hinter der ersten Option lediglich ein Wechsel in der Unternehmensverfassung (vom öf-fentlich-rechtlichen Status zur privatwirtschaftlichen Rechtsperson) verbirgt,

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während erst die materielle Privatisierung mit einem Eigentumswechsel verbun-den ist. Allerdings vollzieht sich dieser Wandel oft in einzelnen Schritten, so dass es sich um Teilprivatisierungen handelt. Damit ist zumindest ein behelfs-mäßiger Prospekt ausgebreitet, vor dem die hier ausgewählten Privatisierungs-formen – materielle Privatisierungen (Verkauf öffentlichen Vermögens) und Auslagerungen (contracting-out) – in den USA und in Deutschland genauer in den Blick genommen werden können.

Den Auftakt zur vergleichenden Betrachtung machen die Vermögens- und Besitzübertragungen von öffentlichem Eigentum in private Hände. Der empiri-sche Blick richtet sich dabei vor allem auf das staatliche Industrievermögen, das Eigentum an der Verkehrsinfrastruktur sowie auf den Telekommunikationsbe-reich. Darüber hinaus soll jedoch auch der staatliche Grundbesitz im Vergleich zum privaten Eigentum an Land erörtert werden. Diese ausgewählten Bereiche machen einerseits den Kern das klassischen öffentlichen Eigentums aus, anderer-seits haben sich gerade in diesen Bereichen tendenziell die Grenzen zwischen Staat und privatem Sektor als Folge der gegenwärtigen Debatte um den Rückbe-sinnung auf den Kernbestand öffentlicher Aufgaben verschoben. Im Gegensatz zu den populären und fachwissenschaftlichen Diskursen um die Privatisierung von öffentlicher Infrastruktur und Versorgungsunternehmen bleibt der öffentli-che Grundbesitz allzu häufig außerhalb der allgemeinen Aufmerksamkeit. Gera-de mit Blick auf die US-amerikanische Situation bietet sich hier jedoch interes-santes Anschauungsmaterial für unerwartete Perspektiven auf eine politisch-administrative Kernfrage: Wem gehört eigentlich das Staatsterritorium?

Der zweite zentrale Privatisierungsmodus sind die vielfältigen Formen der Auslagerung und des Fremdbezugs von Gütern und Dienstleistungen, die im Zu-ge öffentlicher Leistungserfüllung von privat-kommerziellen oder privat-gemeinnützigen Anbietern erbracht werden. Obgleich es sich in der populären Wahrnehmung um Phänomene handelt, die vor allem mit den New Public Ma-nagement-Reformen und der marktorientierten Variante der Verwaltungsmoder-nisierung in Verbindung gebracht werden, handelt es sich bei diesem Modus um eine Urform öffentlicher Aufgabenerledigung – selbst in den klassisch-hoheit-lichen Bereichen der Staatstätigkeit: Armeen und Polizeikräfte wurden und wer-den von privaten Vertragsnehmern ausgerüstet und mit Waffen versorgt, staatli-che Bauten von privaten Architekten und Handwerkern entworfen und gebaut. In den nationalen Traditionen besonders stark verankert sind vor allem die Aufga-benteilungen zwischen den öffentlichen und gemeinnützigem Sektoren, wenn es z.B. um die Erfüllung öffentlicher Aufgaben in den Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereichen geht. Sowohl die USA als auch Deutschland haben in dieser Hin-

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sicht einen beachtlichen Anteil gemeinnütziger Anbieter, die entweder einen kon-fessionellen Hintergrund haben (wie die etablierten protestantischen und römisch-katholischen Kirchen in beiden Ländern), mit sozialen und politischen Bewegun-gen eng verknüpft sind (vor allem in Deutschland aus der Arbeiterbewegung) oder sich aus privaten philanthropischen Stiftungen speisen (so vor allem in den USA im Bildungs- und Gesundheitsbereich). Zunehmend haben sich diese pri-vat-gemeinnützigen Institutionen jedoch (insbesondere im ausgebauten west-deutschen Wohlfahrtsstaat der 1970er und 1980er Jahre) selbst zu quasi-öffentlichen Einrichtungen entwickelt, die als wesentliche Zuwendungsempfän-ger oft der staatlichen Bürokratie schattengleich wurden. (Im vergangenen Jahr-zehnt setzte in der Bundesrepublik wiederum ein Trend zur moderaten Kommer-zialisierung und Vermarktlichung des gemeinnützigen Sektors ein.)

In der Vorausschau auf die folgenden Länderbeispiele sei noch auf eine oft vernachlässigte Variante von Entstaatlichungen – häufig im Zusammenhang mit der wachsenden Rolle privater Anbieter bei der Leistungserbringung – verwie-sen: den Rückzug des öffentlichen Sektors durch Unterlassen, das Unterlassen nämlich, sich an der Befriedigung der rasant wachsenden Nachfrage nach be-stimmten Gütern und Dienstleistungen im bisherigen Maße zu beteiligen. Ähn-lich, wie zu beobachten ist, dass bei Kapitalerhöhungen öffentlicher Unterneh-men die staatliche Finanzierung nicht immer Schritt hält und es somit zu einer „stillen“ Privatisierung kommen kann, ist gegenwärtig vor allem mit Blick auf den Bereich der öffentlichen Sicherheit, des Gesundheitswesens und – tenden-ziell – im Bildungssektor in beiden Ländern festzustellen, dass die Nachfrage in quantitativer und qualitativer Hinsicht viel schneller und stärker gestiegen ist als die Fähigkeit und/oder die Bereitschaft der öffentlichen Hand, entsprechende Angebote selbst zur Verfügung zu stellen. Die nicht gestillte Nachfrage sorgt damit für die Entwicklung eines entsprechenden Marktangebots durch private Versicherer, Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, Sicherheitsfirmen oder Schulen und Universitäten in privater Trägerschaft.

4 Privatisierungspolitik in Deutschland und den USA

4.1 Politische und historische Kontextbedingungen Der vergleichende Blick fällt auf zwei der weltweit größten Volkswirtschaften. Sie haben beide, sieht man von dem Sonderfall der DDR ab, eine starke wirt-schaftspolitische Tradition zugunsten privater Eigentumsstrukturen und – auf der Bundesebene – relativ begrenzten Staatseigentums. Die Vorstellung der ausge-prägten mixed economy (wie in der britischen Nachkriegsgeschichte) oder der

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französischen dirigisme hat weder in dem einen, noch in dem anderen Länder-beispiel verfangen. Politisch-strukturell stehen die beiden Fälle als föderale Staa-ten mit starker kommunaler Selbstverwaltung in einem verwandten Verhältnis. Jedoch stehen die hier gewählten Beispiele zugleich für zwei kontrastierende Staatstraditionen, wobei die in den USA dem liberalen, individualistischen und von den gesellschaftlichen Interessen gedachten Modell der stateless society na-hesteht, während für die deutsche Tradition das stärker organische, bürokratische und der Gesellschaft übergeordneten Staatsverständnis als prägend angenommen wird. Eklatant sind auch die unterschiedlichen Ausprägungen des Wohlfahrts-staates in beiden Ländern, was sich nicht zuletzt auch in den unterschiedlichen Staatsquoten von etwas mehr als einem Drittel (USA) bzw. nahezu der Hälfte (Deutschland) des Bruttoinlandprodukts niederschlägt. Die politischen Pro-gramme für eine „Verschlankung“ des Staates zeigten trotz rhetorischer Auffäl-ligkeiten und Unterschiede in beiden Staaten seit Beginn der 1980er Jahre eine vergleichsweise moderate Kontinuität (vgl. Aberbach/Rockmann 2000, Schröter/ Wollmann 1997). Deregulierung und Privatisierung wurden von der republikani-schen Reagan-Administration mit großen Kampagnen propagiert, doch erst die Demokraten Bill Clinton und Al Gore initiierten das „Reinventing Government“-Programm, mit dem insbesondere das Contracting-Out forciert wurde. Dieser Reformmaßnahme hatte sich in der Folgezeit auch die neokonservative Admi-nistration unter George W. Bush verschrieben. Der Wechsel von sozialdemokra-tischer Führung im Bundeskabinett zur christdemokratischen Kanzlerschaft von Helmut Kohl im Jahre 1982 resultierte u.a. in dem neuen Leitbild des „schlanken Staates“, dem eine Serie beachtlicher – wenn auch im internationalen Vergleich moderater – Entstaatlichungsprojekte entsprach (BMF 2001a, 2001b). Wenn auch unter neuen Leitbild-Überschriften blieb die grundsätzliche Politikrichtung – meist jedoch mit gebremstem Enthusiasmus und oft geringer politischer Sicht-barkeit – auch in den folgenden Kabinetten unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) bis hin zur Amtszeit der Großen Koalition erhalten.

Die vollständigen und exakten Konturen der Privatisierungspolitiken in den USA und der Bundesrepublik werden in der folgenden selektiven und skizzen-haften Darstellung naturgemäß nur schemenhaft zu erkennen sein. Dennoch lässt das Privatisierungsprofil markante Unterschiede und Auffälligkeiten, aber auch unerwartete Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern erkennen, aus de-nen sich weitere Lehren für ein tieferes Verständnis der internationalen Privati-sierungsdebatte zwischen Staat und Markt ziehen lassen. Zu diesem Zweck ist die nachstehende Abhandlung nach den beiden vorherrschenden Privatisie-rungsmodi – Vermögensübertragung und Auslagerungen/Fremdbezug – geglie-

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dert, wobei das Schlaglicht hinsichtlich der Vermögensprivatisierung auf die Be-reiche Grundbesitz, Infrastruktur (insbesondere Verkehrswesen und Telekommu-nikation) und Industrievermögen fällt, während der Fokus beim Contracting-Out auf den politisch sensiblen und „staatstragenden“ Sektor der öffentlichen Sicher-heit (Polizei und Strafvollzug) gerichtet ist.

4.2 Privatisierung öffentlichen Vermögens: Land, Infrastruktur und Industriebesitz. Wem gehört das Land? Öffentlicher Grundbesitz in den USA und Deutschland

In beiden Staaten ist der öffentliche Grundbesitz von spürbarer Bedeutung. In be-sonderem Maße trifft dies auf die USA zu, wo sich insgesamt ein Drittel der Land-fläche in öffentlichem Besitz befindet. Der vorherrschende Eigentümer ist in die-sen Fällen die US-Bundesregierung, die ihren Grundbesitz ganz überwiegend in den westlichen Bundesstaaten hat, wo es keine Seltenheit ist, dass bei bis zu 80 Prozent der Landfläche der Eigentümereintrag zugunsten der US-Bundesregierung lautet (Bureau of Land Management). Schon dieser Befund überrascht, denn er lässt die stereotypisch als marktradikal beschriebenen Vereinigten Staaten von Amerika als eines der Länder mit den weltweit höchsten Staatsanteilen beim Landbesitz erscheinen. Es kann nicht verwundern, dass ein derart umfangreiches öffentliches Eigentum an Grund und Boden ein ständiger und reichhaltiger Quell politischer und wirtschaftlicher Kontroversen ist – vor allem, weil damit kollek-tive Entscheidungsrechte über die Landnutzung verbunden sind. Diese Konflikte werden umso vehementer ausgefochten, je höher der ökonomische oder politi-sche Spieleinsatz für die Kontrahenten ist. Und im Falle der potentiell überaus wertvollen Nutzungsrechte weiträumiger Landgebiete im US-Westen ist dieser Einsatz besonders hoch: Die Möglichkeiten wirtschaftlicher Entwicklung für Wirtschaft, Handel und Bauflächen, die Ausschöpfung von Bodenschätzen, die Chancen auf subventionierte Land- und Wassernutzung für Farmer, der Ausbau der Forstwirtschaft, aber auch die Interessen an einem nachhaltigen Natur- und Umweltschutz stehen auf dem Spiel. Die in diesen Auseinandersetzungen auf-geworfenen Konfliktlinien zeichnen einmal mehr die vielschichtigen und über-kreuzten Interessenlagen in typischen Privatisierungsdebatten nach. Es stehen sich konkurrierende wirtschaftliche Interessen gegenüber, ebenso wie ökonomi-sche und ökologische Positionen; regionale Interessen der US-Weststaaten sto-ßen sich mit dem politischen Willen der US-Bundesregierung und im Falle einer von den Demokraten kontrollierten US-Bundesverwaltung stehen sich insbeson-dere auch parteipolitische Interessen gegenüber, da in den ländlichen Gebieten des US-Westens die Republikaner nahezu ein politisches Vertretungsmonopol

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haben. (Dieser Sachverhalt vermittelt beiläufig die kuriose Einsicht, dass die als ausgesprochen „staatsfern“ und individualistisch beschriebenen republikanischen Weststaatler einen maßgeblichen Teil ihres wirtschaftlichen und kulturellen Le-bensstils auf den generösen Zugang zu staatlich subventionierten Ressourcen und den entsprechenden Nutzungsrechten gründeten.) Im Ergebnis münden diese po-litischen und wirtschaftlichen Interessengegensätze in der Regel jedoch nicht in Privatisierungsentscheidungen. Die US-Bundesregierung bleibt formal Eigen-tümerin des Territoriums, nutzt allerdings die Möglichkeit der Verpachtung und der langfristigen Vergabe von Nutzungsrechten für kommerzielle Zwecke als pragmatisches Privatisierungspotential.

Was in der US-amerikanischen Folklore der „Westen“ ist, mag in den Ab-gründen des deutschen kollektiven Gedächtnisses als „Wald“ eine Entsprechung finden. Neben der mythisch überhöhten Rolle mag eine weitere Gemeinsamkeit auch in der Bedeutung liegen, die der Waldbesitz – analog zum großflächigen Staatsbesitz im US-Westen – im Vermögensportfolio der öffentlichen Hand in Deutschland hat. Die Bundesrepublik ist zu einem Drittel mit Wald bedeckt, wo-von sich mehr als ein Drittel im Besitz von Bund und Ländern befindet, während ein Fünftel kommunale Forste sind und etwas weniger als die Hälfte (44 Prozent) in Privatbesitz ist (Volz 2001). Im Gegensatz zur Situation in den Vereinigten Staaten spielt allerdings der Bund beim öffentlichen Grundbesitz insgesamt nur eine randständige Rolle. Vielmehr sind es – als Folge deutscher Kleinstaaterei und der absolutistischen Vergangenheit in Mitteleuropa – die Länder, die zu den wichtigsten Landeignern in der Bundesrepublik gehören. Wie auch in den USA stehen sich bei vielen Nutzungsfragen umweltpolitische und forstwirtschaftliche Interessen gegenüber, wobei gerade die Eigeninteressen der Länder als Nutznie-ßer der Holzindustrie nicht zu vernachlässigen sind. Als weiterer Faktor gehen in das landespolitische Kalkül oft auch Erwägungen ein, welche die Pflege der Waldlandschaften zur kulturhistorischen Aufgabe erklären. Trotz vieler Lippen-bekenntnisse und rhetorischer Selbstverpflichtungen zur „Verschlankung“ der Staatswirtschaft fallen vor diesem Hintergrund die Initiativen zur Forstprivatisie-rung eher halbherzig aus. Im Einklang mit der derzeit vorherrschenden Reform-strategie im Umgang mit öffentlichen Unternehmen in der Bundesrepublik wird zunächst die Binnenmodernisierung und die formale Überführung der Unter-nehmung in eine Rechtsform privaten Rechts forciert. Regelmäßig wurden daher z.B. staatliche Forstbehörden aus der unmittelbaren Staatsverwaltung herausge-löst und mit der Erwartung auf eine effizientere und flexiblere Unternehmensfüh-rung zu formal-privatisierten Einrichtungen (in weiterhin öffentlicher Träger-schaft) gemacht. Eine Besonderheit stellt in diesem Zusammenhang verständ-

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licherweise die wirtschaftliche Transformation der ostdeutschen Länder im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses dar. Zusammen mit dem Industriebesitz der Deutschen Demokratischen Republik übernahm die Treuhandanstalt als nachgeordnete Einrichtung des Bundes auch den umfangreichen Besitzstand des SED-Staates an Grundvermögen und Liegenschaften (darunter nicht weniger als ein Drittel der Agrar- und zwei Drittel der Forstflächen). Die langwierigen – und politisch, wirtschaftlich und juristisch konfliktreichen – Verfahren zur (Rück-)Übertragung dauern jedoch weiter an, so dass der Bund formal noch die Eigen-tumsrechte an einem Zehntel der land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen auf dem Gebiet der früheren DDR innehat (Behm 2004).

Beträchtliche Anteile des Grundvermögens in Deutschland und den USA sind Eigentum der öffentlichen Hand. Es differiert jedoch die staatliche Ebene (der Bund in den USA und die Länder in Deutschland), bei welcher die Eigen-tumsrechte vornehmlich liegen. In keinem der beiden Fälle sind – abgesehen von der Transformationsphase in den ostdeutschen Ländern – wesentliche Übertra-gungen zugunsten privater Eigentümer zu beobachten. Das Hauptaugenmerk liegt eher auf den Entscheidungen über die Vergabe von Nutzungsrechten und den Bestrebungen, das Flächen- und Nutzungsmanagement unter Effizienzge-sichtspunkten (zum Teil mit Mitteln der managerialen Binnenmodernisierung oder der formalen Privatisierung) zu verbessern.

4.3 Öffentliche Infrastruktur: Verkehr und Telekommunikation Der Transportsektor dient als erstes Anschauungsbeispiel für die beiden Länder-studien. Schon ein oberflächlicher Blick auf die US-amerikanische Situation – und ihre Entwicklung während der vergangenen Jahrzehnte – macht die tiefgrei-fenden Unterschiede zwischen den nordamerikanischen und klassisch-kontinentaleuropäischen Ansätzen zur politischen Steuerung von Netzwerkin-dustrien und öffentlichen Versorgungsbetrieben deutlich. Für die US-Tradition blieb das Eigentümermodell zur politischen Einflussnahme und öffentlich-rechtlichen Erledigung von Aufgaben im Rahmen der „Daseinsvorsorge“ die längste Zeit ein Fremdkörper, während der Schwerpunkt der politisch-wirtschaftlichen Steuerungsversuche tendenziell auf umfänglichen Regulie-rungswerken und ausgeklügelten Regulierungsarchitekturen – mit administrativ selbständigen und politisch unabhängigen Aufsichtsbehörden im Zentrum – lag. Im Luftfahrtsektor brachten die späten 1970er Jahre jedoch eine umfassende De-regulierungswelle (mit der Auflösung des Civilian Aeronautics Board, der vor-mals sektoralen Regulierungsbehörde). Fluggesellschaften waren und sind in den USA stets private Unternehmungen, doch kam der Grad der Regulierung in den

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Hochzeiten der Wahrnehmung von typischen Eigentumsrechten relativ nahe (z.B. mit Blick auf Preisgestaltung, Flugpläne und -verbindungen). Der stärker wettbe-werbliche und deregulierte Markt für den zivilen Flugverkehr in den USA ging in den letzten drei Jahrzehnten mit einem rasanten Wachstum des Verkehrsaufkom-mens und durchschnittlich geringeren Flugpreisen einher, jedoch auch mit ver-schlechtertem Kundenservice, geringeren Angeboten für Passagiere in weniger nachgefragten Märkten und einer stärkeren Fluktuation der Anbieter.

Bei genauerem Hinsehen finden sich in den USA im betrachteten Zeitraum allerdings auch Beispiele, die eine Ausweitung öffentlicher Angebote – zum Teil verbunden mit öffentlichem Eigentum an den Betreibern – im Verkehrssektor be-legen. Auf nationaler Ebene wurden bereits während der Präsidentschaft von Ri-chard Nixon zwei öffentliche Bahngesellschaften geschaffen (AMTRAK und CONRAIL), die jeweils für den Passagierfernverkehr (AMTRAK) bzw. für den Güterverkehr auf der Schiene (CONRAIL) verantwortlich sein sollten. Beide Staatsbetriebe litten nicht zuletzt unter dem inhärenten Widerspruch zwischen po-litischen und managerialen Erwartungen an die Unternehmensleistungen. Wäh-rend die politischen Forderungen – zumeist von exekutiver Seite – nach mehr be-triebswirtschaftlicher Effizienz und privatwirtschaftlichem Geschäftsgebaren die Firmengeschichte von AMTRAK wie ein roter Faden durchziehen, wird genau dies durch das politische Mikromanagement (z.B. mit Forderungen nach be-stimmten Verkehrsdienstleistungen für ihre jeweiligen Wahlkreise) von Seiten der Kongressabgeordneten weitgehend verhindert. Dieser politische Rückhalt ist es allerdings auch, der AMTRAK als wirtschaftlich defizitäres öffentliches Unter-nehmen weiter am Leben erhält. CONRAIL hingegen wurde als Zuschussbetrieb ohne größere populäre Unterstützung relativ schnell liquidiert. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe blieben jedoch nicht allein auf die Initiative der US-Bundes-regierung und auf den Schienenfernverkehr beschränkt. In vielen nordamerikani-schen Metropolregionen sind Nahverkehrssysteme eingerichtet worden (Bus- und Bahnbetriebe, Mass Public Transit Systems), die – wie städtische Verkehrsgesell-schaften in Europa – auf einen beträchtlichen Finanzierungszuschuss für die Be-triebskosten und massive Investitionsbeihilfen zum Ausgleich ihrer Haushalte an-gewiesen sind. Auffällig ist in diesem Marktsegment der Verkehrinfrastruktur der beständige Trend von nahezu ausschließlich privater Aufgabenwahrnehmung hin zum klar dominierenden öffentlichen Sektor. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wa-ren die urbanen Verkehrsgesellschaften in den USA das Ergebnis privaten Unter-nehmertums, gegenwärtig sind praktisch alle großstädtischen Verkehrsverbünde (einschließlich der neugebauten U-Bahn-Systeme) von öffentlich-kommunalen und -regionalen Trägern finanziert und betrieben.

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Staatsbetriebe und kommunale Unternehmen waren hingegen in Deutsch-land (vgl. Esser 1994, Lehmkuhl 1996, Reid 2001) bei Eintritt in die hier be-trachtete Reformperiode der vergangenen drei Jahrzehnte von zentraler Bedeu-tung für das Verkehrswesen (Czada 1983). Die zur damaligen Zeit im Staats-besitz befindliche Lufthansa AG war 1985 mit anderen Bundesbeteiligungen zu einem Privatisierungspaket des ersten Kohl-Kabinetts verschnürt worden (nicht zuletzt auf Betreiben des marktorientierten Koalitionspartners FDP), so dass es in den Folgejahren zu einer „passiven“ Privatisierung kam, bei welcher der Bund bei anstehenden Kapitalerhöhungen nicht mitzog und damit den staatlichen An-teil am Aktienbesitz auf 65 Prozent reduzierte. Über einen Zeitraum von 10 Jah-ren wiederholte sich diese Praxis mehrfach, bis 1997 der verbliebene Staatsanteil von 37 Prozent privatisiert wurde (BMF 2003). Symptomatisch für diesen schrittweisen und langjährigen Entstaatlichungsprozess ist der Konflikt des Bun-des mit dem Land Bayern, das mit der Privatisierung auch um den nachlassenden Staatseinfluss auf die Luftfahrtindustrie insgesamt und vor allem um die Aufträ-ge für die regionale Luft- und Raumfahrtindustrie fürchtete.

Hinsichtlich des staatlichen Bahnbetriebs lagen die Privatisierungshürden – politisch und vor allem rechtlich – jedoch weit höher, da dem Grundgesetz zu-folge die Deutsche Bundesbahn als staatliches Sondervermögen verfasst war. Je-de Entstaatlichung setzte daher einen gemeinsamen politischen Kraftakt des Bundes und der Länder für die entsprechende Grundgesetzänderung voraus. Zur grundsätzlichen Weichenstellung über die Bahnreform führte eine Reihe unter-schiedlicher Faktoren, die – nicht überraschend – Forderungen von Wirtschafts-seite nach Liberalisierung und Deregulierung des Schienenverkehrs und die für Privatisierungen günstige parteipolitische Stimmung zugunsten des christdemo-kratischen und liberalen Lagers einschließen. Nicht zuletzt waren es jedoch auch europäische Entwicklungen, die einen nachhaltigen Einfluss auf die national-staatliche Bahnpolitik ausübten. Schließlich verlangte das sich laufend ver-schlechternde Betriebsergebnis der Bundesbahn nach mehr und mehr staatlichen Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt – eine Situation, die nach der deutschen Vereinigung (und der rasant ansteigenden Verschuldung des Bundes) sowie der Eingliederung der hochdefizitären und investitionsdurstigen Deutschen Reichs-bahn nicht mehr zu tolerieren war. Aus diesen Antrieben heraus wurde das staat-liche Sondervermögen – das neben dem Bahnbetrieb auch die bundeseigene Netzinfrastruktur umfasst – 1994 in eine privatrechtliche Aktiengesellschaft überführt (Deutsche Bahn AG), die jedoch vollständig im Besitz des Bundes verblieb. Gleichzeitig mit der formalen Privatisierung trat auch eine neue Auf-sichts- und Regulierungsbehörde auf den Plan, die nach EU-Vorschrift den dis-

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kriminierungsfreien Zugang zum Bahnnetz zu kontrollieren und zu gewährleis-ten hat. Eine wettbewerbliche Öffnung des Personenverkehrs auf der Schiene fand – bei insgesamt sehr gemäßigtem, doch für den ehemaligen Monopolisten deutlich spürbaren Umfang – im Nah- und Regionalverkehr statt, der sich auch auf Subventionen des Bundes stützen kann, um den Ländern bei der ursprüngli-chen Bahnreform einen finanziellen Anreiz zu geben. Ein Jahrzehnt nach der formalen Privatisierung der Bahn rückte zunehmend eine mögliche materielle Teilprivatisierung in den politischen Blickpunkt. Die kontroverse und langwieri-ge Debatte führte im Mai 2008 schließlich zu einer Entscheidung des Bundesta-ges, die eine Privatisierung von bis zu 24,9 Prozent der Anteile der Personenver-kehrs- und Logistikbereiche der DB AG vorsieht. Während die wettbewerbs-orientierten Privatisierungsmodelle im Verlaufe der Entscheidungsfindung zunehmend in den Hintergrund traten, blieb am Ende noch die – wenn auch un-sichere – Aussicht auf die Privatisierungserlöse als motivierender Faktor.

Die Strategie der formalen Privatisierung ist auch hinsichtlich der kommu-nalen Verkehrsbetriebe der dominierende Reformmodus (Trapp/Bohlay 2003). Im vergangenen Jahrzehnt war ein nahezu einheitlicher Organisationswandel vom öffentlich-rechtlichen Status zu einer privatrechtlichen Gesellschaftsform im öffentlichen Personennahverkehr zu beobachten, wobei praktisch jede größe-re Stadt in Deutschland zumindest eine Verkehrsbetriebsgesellschaft in ihrem Beteiligungsbesitz hält. In zwei Drittel der Fälle sind die Kommunen nach wie vor alleinige Eigentümer, während der umgekehrte Fall – die vollständige Eigen-tumsübertragung an Private – bislang die große Ausnahme (nur 4 Prozent der Fälle) geblieben ist (Kilian/Richter/Trapp 2006).

Für den Verkehrssektor fallen daher unterschiedliche Trends ins Auge – sowohl im Vergleich zwischen den Staaten als auch bei der Einzelbetrachtung einer Länderfallstudie. Die deutsche Reformstrategie neigt sich stark in Richtung einer voranschreitenden formalen Privatisierung, wobei jedoch im Luftverkehr und beim bundeseigenen Bahnsystem – wenn auch erst in jüngster Zeit und in überaus zurückhaltender Art – materielle (Teil-)Privatisierung zum Reformreper-toire gehört. Die US-Fallstudie ist einerseits von markanten Deregulierungen ge-prägt, zeigt andererseits aber auch Entwicklungen von zunehmendem öffentli-chen Engagement beim Eigentum, der Finanzierung und dem Betrieb von Verkehrsdienstleistungen, insbesondere bei kommunalen und regionalen Netzen des öffentlichen Personennahverkehrs

Die länderspezifischen Ausgangspositionen im Telekommunikationssektor lagen in Deutschland und den USA ebenfalls weit auseinander. Während Deutschland mit der langen Tradition eines verfassungsrechtlich verankerten

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Staatsbetriebs in die Reformphase der 1980er und 1990er Jahre ging, stand in den USA in den 1970er Jahren die Liberalisierung eines stark von Behörden des US-Bundes (der Federal Communications Commission) und der Bundesstaaten (mit Verbraucherschutzkommissionen zu Fragen der Preisbildung) regulierten und von einem privaten Monopolisten (AT&T) beherrschten Marktes zur Debat-te. Der Unterschied liegt somit vor allem in den jeweils überlieferten politischen Steuerungsprinzipien (staatliches Eigentum vs. strikte staatliche Regulierung), weniger in der Tatsache, dass sich die Telekommunikationskunden vor der Pri-vatisierung bzw. Deregulierung einem Monopolanbieter gegenübersahen. In den USA war es – neben dem politischen Gestaltungswillen – letztlich eine Serie von Gerichtsentscheidungen, die 1984 zur Zerschlagung des ehemaligen AT&T-Monopols führten. Wie im zivilen Luftverkehr durchlief der liberalisierte Markt seitdem Phasen von enormer Anbietervielfalt (was für die Kundenseite auch deutlich erhöhte Transaktionskosten bedeutete) und nachfolgender Konzentration auf wenige, durchsetzungsstarke Wettbewerber, was in letzter Zeit der ehemals zerschlagenen AT&T zu neuer Stärke verhalf. Da die umfassende Deregulierung der technologischen Entwicklung des mobilen Telefonierens vorausging, blieb dieses Marktsegment von Beginn an ohne jegliche landesweite regulative Wur-zeln. Eine Vielfalt von unterschiedlichen Entwicklungen im Mobilsektor war die Folge, was von einigen Beobachtern auch mit der – im Vergleich zu Deutschland und Europa insgesamt – relativ langsamen Entwicklung dieses Marktes in Ver-bindung gebracht wird.

Im Vergleich zu den heute in internationalen Märkten agierenden und in privater Unternehmensform geführten Firmen der Deutschen Telekom, der Deut-schen Post und der Postbank muss die als staatliches Sondervermögen organi-sierte Deutsche Bundespost wie ein bürokratischer Dinosaurier erscheinen, der seine Monopolstellung in den Post- und Telekommunikationsdiensten zum Über-leben brauchte. Zwar halten auch die Nachfolgefirmen die Erinnerung an diesen früheren Zustand für die Verbraucher bei verschiedenen Gelegenheiten wach, doch wurden bei der – noch längst nicht abgeschlossenen – Transformation vom Staatsbetrieb zu wettbewerbsorientierten Privatunternehmen in den vergangenen 25 Jahren wichtige Mammutaufgaben bewältigt. Der Reformdruck auf die ehe-malige Deutsche Bundespost nahm in den 1980er Jahren spürbar zu, woran der Regierungswechsel zur christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl (1982) seinen Anteil hatte, woran aber auch Wirtschafts- und Konsumentenvertreter so-wie die Führungsriege der Bundespost selbst ein Interesse anmeldeten. Neben den innerstaatlichen Druck trat insbesondere die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft (1987), die ihre marktorientierte Richtung mit Blick auf einen

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liberalisierten Telekommunikationsmarkt in der damaligen Gemeinschaft immer stärker durchzusetzen begann. Ähnlich wie die legislativen Hürden bei der Bahn-reform standen einer deutschen Privatisierungspolitik im Telekommunikations-bereich jedoch die grundgesetzlichen Regelungen entgegen, die einen Staatsauf-trag für das Post- und Fernmeldewesen formulierten, so dass eine politische Koalition für eine entsprechende Grundgesetzänderung geschmiedet werden musste. Die erste Poststrukturreform (1989) bereitete mit der Verselbständigung der Teilbereiche Telekom, Post und Postbank – wenn auch überaus zaghaft – den Weg für eine Marktöffnung (und eine folgerichtige Regulierung durch eine Auf-sichtsbehörde), doch wurde dieser Reformschritt schon bald von den neuen Her-ausforderungen auf dem Telekommunikationsmarkt (als Folge der Vereinigung, aber vor allem als Konsequenz aus der beschleunigten und vertieften europäi-schen Integration nach dem Vertrag über die Europäische Union von 1992) überholt. Die Krisensituation der Telekom, die eine Überlebensfähigkeit auf den neu entstehenden internationalen Märkten ernsthaft bedrohte, nötigte auch den früheren Privatisierungsgegnern die entsprechenden Zugeständnisse ab, um 1995 im Zuge der formalen Privatisierung die Deutsche Telekom AG gründen zu kön-nen. Bereits im Folgejahr gab der Börsengang der DTAG Anlass zu einer hoch-fliegenden, jedoch kurzlebigen Phase des „Volkskapitalismus“ durch die „Volksaktie“ des ehemaligen Staatsbetriebs. Bis 2001 blieb die DTAG jedoch mehrheitlich im Besitz des Bundes und noch immer ist der Staat mit einem be-achtlichen Aktienanteil von 32 Prozent der Großaktionär des Unternehmens.

4.4 Industrievermögen Für umfangreiche Privatisierungsprogramme braucht man vor allem eines: vo-rausgegangene umfangreiche Verstaatlichungsprogramme. In der populären Wahrnehmung der weltweiten New Public Management-Reformen erscheinen daher die britischen oder neuseeländischen Projekte als ausgesprochen markt-freundlich, nur weil frühere Reformwellen einen ausgeprägten staatsorientierten Charakter hatten. Für Deutschland und die USA dagegen fällt die Bilanz in bei-derlei Hinsicht zurückhaltend aus. Besonders knapp können die Privatisierungen von öffentlichem Industriebesitz in den USA gehalten werden. Weder in der Vergangenheit, noch gegenwärtig hatten oder haben die amerikanischen Ge-bietskörperschaften nennenswertes Eigentum an Industrieunternehmen. Nur wenn man vom formalen Kriterium des rechtlich verbrieften Eigentums abginge, müsste man allerdings in funktionaler Hinsicht einen zweiten Blick auf jene pri-vaten US-Unternehmen (vor allem in der Rüstungs- und Luft- und Raumfahrtin-dustrie) richten, die nahezu ausschließlich für und von öffentlichen Aufträgen

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existieren. Militärischen Bezug hatte auch der in jüngeren Vergangenheit einzige (und aufgrund richterlicher Entscheidungen gescheiterte) Versuch der US-Regierung, einen Industriezweig zu nationalisieren. Zu Zeiten des Korea-Kriegs (1952) boten streikende Stahlarbeiter für Präsident Harry Truman dafür den An-lass. Zu den signifikanten, jedoch seltenen Ausnahmefällen von kommunalem Industriebesitz in den USA zählen z.B. die Stadtwerke von Los Angeles oder Cleveland, doch summieren sich diese Fälle nicht zu einem nennenswerten Be-stand von öffentlichem Industrievermögen in den USA.

Die bundesrepublikanische Tradition „ordo-liberaler“ Wirtschaftspolitik wirkte – anders als in benachbarten europäischen Staaten – gegen die Verstaatli-chung von Industriesektoren oder auch nur einzelnen Unternehmungen. Aller-dings übernahm die westdeutsche Republik das beträchtliche Erbe an Staatsun-ternehmen, deren Bestand auf die Weimarer Zeit und vor allem auf die nationalsozialistische Diktatur zurückgeht. In pragmatischer Weise nutzten die CDU-geführten Regierungen der 1950er und 1960er Jahre dieses Industriever-mögen als Vehikel für den ökonomischen Wiederaufbau, während die Sozialde-mokratie in den 1970er Jahren dazu neigte, diese Ressource für eine stärker nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zu nutzen. Erste Privatisierungsschritte (BMF 2003) wurden jedoch schon 1959 und 1965 – und damit lange vor der NPM-orientierten internationalen Entstaatlichungswelle der 1980er Jahre – un-ternommen, als staatliche Anteile am Volkswagen-Konzern und an der Indust-rieholding VEBA AG teilweise verkauft wurden. Die Privatisierungspolitik kam 20 Jahre später unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl wieder auf die Tages-ordnung, wobei im Kontext des Modernisierungsprojekts „Schlanker Staat“ ein – in internationaler Sicht allerdings moderates – Entstaatlichungspaket mit den verbliebenen großen Industriebeteiligungen auf Bundesebene vorgelegt und um-gesetzt wurde: VEBA AG (Energy, Chemie, 1984/87), Salzgitter Stahl (1990), Volkswagen (1986/88), Vereinigte Industrieunternehmen AG (VIAG, Elektrizi-tät, Gas, Aluminium, 1986/1988), Saarbergwerke (1998) und – wie bereits be-schrieben – die Deutsche Lufthansa AG (1997). Nachfolgende Kabinette unter sozialdemokratischer Führung folgten einer weiteren Entstaatlichungsmaxime, wenn auch mit gemäßigtem Enthusiasmus. Folgerichtig verliefen diese Projekte oft abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit, auch wenn sie sich zu einem sys-tematischen Rückzug des Bundes aus (zumeist Minderheits-)Beteiligungen an öffentlichen Infrastrukturprojekten (wie der Frankfurter und der Hamburger Flughafengesellschaft) summierten. Dennoch standen bei den Motiven weniger ideologische Maximen oder wettbewerbsfördernde Maßnahmen als regelmäßig budgetpolitische Interessen im Vordergrund, da die Privatisierungserlöse zur

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Haushaltskonsolidierung verwendet werden konnten. Der in Aussicht gestellte Abbau der Neuverschuldung stützt sich in den kommenden Jahren ebenfalls zum Teil auf die Veräußerung von Bundeseigentum.

Man sollte sich nach dieser Übersicht der wichtigsten Projekte auf Bundes-ebene allerdings mit dem Kommentar beeilen, dass es sich hierbei um nicht mehr als die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs handelt, da der Wert von Unterneh-mensbeteiligungen auf Landesebene nach Schätzungen traditionell um mehr als doppelt so hoch liegt wie auf der Bundesebene. Dazu kommt umfangreiches öf-fentliches Eigentum in Händen der Kommunen, die sich seit den frühen Tagen der Industrialisierung und Urbanisierung („Munizipalsozialisten“) ein beachtli-ches Portfolio insbesondere in der Energieversorgung und Wasserwirtschaft so-wie bei kommunalen Sparkassen aufbauten. Wie schon im Verkehrsbereich zu beobachten, wurde für die meisten Kommunalbetriebe die Option einer privaten Unternehmensform gewählt. Allein im Elektrizitätssektor, in dem die Marktlibe-ralisierung am weitesten vorangeschritten ist, kam es in etwa jedem fünften Fall zu signifikanten Veräußerungen an private Investoren (Trapp/Bohlay 2003, Kili-an/Richter/Trapp 2006). Für die Länder liegt der Schwerpunkt auf dem – um-strittenen und nicht zuletzt mit der Hypothekenkrise in schwierigeres Fahrwasser geratenen – öffentlichen Bankensektor. Doch auch dort, wo die Länder nen-nenswerten Industriebesitz haben, wie im Falle der VW-Beteiligung des Landes Niedersachsen, zeigen sie – unabhängig von der jeweiligen parteipolitischen Färbung der Landesregierung – wenig Neigung zu Privatisierungsmaßnahmen. Öffentliche Banken und Industriebeteiligungen sind für sie nach wie vor will-kommene Instrumente regionaler Wirtschafts- und Interessenpolitik.

4.5 Fremdbezug/Contracting-Out: Privatisierung öffentlicher Sicherheit? Wenn es um klassische hoheitliche Aufgaben des Staates wie etwa das Polizei-wesen und den Strafvollzug geht, dann sind im Ländervergleich zwischen der kontinentaleuropäisch-deutschen Staatstradition und dem US-amerikanischen Verständnis des öffentlichen Sektors besonders markante und historisch-kulturbedingte Unterschiede zu erwarten. Diese Vermutung wird erstmals bestä-tigt, wenn man erfährt, dass sich über 90 Prozent der weltweit von Privaten be-triebenen Gefängniskapazitäten in den USA befinden (Thomas 1995). Der pri-vat-kommerziell betriebene Strafvollzug kann dabei auf eine lange Tradition zurückblicken, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, zu welcher Zeit private Haftanstalten gang und gäbe waren – vor allem wegen der Möglichkeit, mit zur Zwangsarbeit verpflichteten Insassen Geld zu verdienen (Shichor 1995). In der jüngeren Vergangenheit jedoch waren es zunächst Hilfsleistungen wie die von

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Wäschereien oder Kantinen, die von kommerziellen Anbietern im US-Strafvollzug geleistet wurden, bevor insbesondere gemeinnützige und religiöse Vereinigungen weitergehende Erfahrungen mit der Unterbringung von jugendli-chen Gewalttätern und „Schwererziehbaren“ in Erziehungsanstalten und ge-schlossenen Heimen machten. Mit dem damit angesammelten Grundstock an Wissen und Kapital waren wichtige Voraussetzungen für den Eintritt in den Be-trieb von Haftanstalten für Erwachsene zur Mitte der 1980er Jahre gegeben. Seitdem ist der Privatsektor in vollem Umfang in die Finanzierung, den Bau, die Verwaltung und den laufenden Betrieb von US-Gefängnissen integriert (Bureau of Justice 2003). Das stärkste Wachstum der privatbetriebenen Gefängniskapazi-täten war in den 1990er Jahren zu verzeichnen, als drei Viertel aller neueinge-richteten Strafanstalten in privater Verantwortung waren. Allein in den Jahren zwischen 1995 und 2000 stieg damit die Zahl der Insassen in privaten Haftan-stalten von 16.000 auf mehr als 90.000 an. Und doch macht diese beachtliche Zahl nur einen kleinen Anteil der insgesamt 1.4 Millionen Strafgefangenen aus. Ganz eindeutig ist das Anwachsen der in privaten „Vertragseinrichtungen“ ein-sitzenden Gefängnispopulation eine Folge der emporschnellenden Inhaftierungs-raten in den USA und ist dem damit verbundenen Bedarf an neuen Haftplätzen und nicht etwa Effizienz- oder Kostenerwägungen zuzuschreiben. Der Rückgriff auf private Justizvollzugsanstalten – von denen im Übrigen nur etwa die Hälfte der US-Bundesstaaten Gebrauch machen – erfolgt jedoch in der Regel nur dann, wenn es sich um Gefängnisse der geringsten Sicherheitsstufe bzw. um Einrich-tungen des offenen Vollzugs handelt. (Nur insgesamt vier Hochsicherheitstrakte werden in den USA von Privaten betrieben.) Während sich die Kooperation mit privaten Vertragsnehmern als vorherrschender Privatisierungsmodus im US-Strafvollzug etabliert hat, spielt der Verkauf staatlicher Justizvollzugseinrichtun-gen an Private (bei einer hohen Varianz zwischen den Bundesstaaten) durch-schnittlich nur eine geringe Rolle (ca. 6 Prozent der Kapazitäten; Bureau of Justi-ce 2003). In jedem Fall bleiben die privaten Vertragsnehmer für Haftplätze einer Aufsicht und Regulierung durch die Bundesstaaten und (in geringerem Umfang) durch die Bundesverwaltung unterworfen, die sich auch maßgebliche Entschei-dungen (z.B. über Disziplinarfragen, Hafterleichterungen oder vorzeitige Entlas-sungen) vorbehalten.

Im Hinblick auf private Sicherheitsdienste in den USA ist der Substitutions-effekt in ähnlicher Weise wie im privaten Gefängnisgewerbe zu erkennen, doch fallen hier insbesondere die großen Dimensionen ins Auge, wobei sich das quan-titative Verhältnis zwischen den öffentlichen und privaten Segmenten des Si-cherheitsmarktes in den USA schon seit längerem zugunsten der kommerziellen

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Anbieter verschoben hat. Grundsätzlich war das staatliche Gewaltmonopol ange-sichts der verfassungsrechtlichen Tradition des privaten Waffenbesitzes nie in dem Maße durchgesetzt worden, wie es für den europäischen Kontinent üblich ist. Darüber hinaus befinden sich – analog zur Situation im Strafvollzug – die öf-fentlichen Polizeisysteme der Gebietskörperschaften in einer Zwangslage, da selbst bei rasantem Ausgabenwachstum die staatlichen und kommunalen Sicher-heitsbehörden die rapide ansteigende Nachfrage nicht befriedigen können. In der Konsequenz ist das private Sicherheitsgewerbe eine beachtliche Wachstumsin-dustrie, die sich in den letzten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, an Beschäf-tigtenzahlen gemessen, praktisch verachtfacht hat (Pastor 2003). Inzwischen über-trifft der Personalbestand der privaten Sicherheitsfirmen (2 Millionen) die Zahl der staatlichen und kommunalen Polizeibeamten um das Dreifache. Ähnlich ver-hält es sich bei den Ausgaben: Während der Umsatz privater Dienste von 1981 bis 2000 von 22 Milliarden US-Dollar auf 104 Milliarden anstieg, erhöhten sich die öffentlichen Polizeiausgaben im gleichen Zeitraum von 14 auf 44 Milliarden. So-wohl der Abstand in absoluten Zahlen als auch die relative Kluft zwischen den privaten und öffentlichen Leistungsanbietern hat sich deutlich erweitert.

Verständlicherweise wirft diese relative Zuständigkeitsverlagerung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gewichtige Fragen der Verantwortlichkeit und Kontrolle privater Sicherheitsagenturen auf. Zwar bleiben die drastischsten Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (wie die Anwendung tödlicher Gewalt) oder klassisch polizeiliche Aufgaben (wie Verhaftungen und Verhöre) exklusiv auf öffentliche Sicherheitsbehörden beschränkt, doch lässt sich das Problem einer sich ausweitenden und besonders konfliktträchtigen Grauzone nicht von vornherein verhindern. Somit kam dem Regulierungsthema immer mehr Bedeu-tung zu, was über die Zeit zu einer verstärkten – wenn auch in ihrem Ausmaß stets umstrittenen – öffentlich-rechtlichen Lizenzierung, Ausbildung und Kon-trolle privater Sicherheitsdienstleister führte.

Eine interessante Rückverlagerung von Sicherheitszuständigkeiten in den staatlichen Tätigkeitsbereich ist jedoch als Folge der massiv gestiegenen Auf-merksamkeit für die Terrorismusbekämpfung im Bereich der US-amerikanischen Flughafensicherheit zu beobachten (GAO 2001, 2003). Während vor den terro-ristischen Angriffen vom September 2001 die Fluggastkontrolle in den USA – im Unterschied zur kanadischen oder vorwiegenden europäischen Praxis – in den Verantwortungsbereich der Fluggesellschaften fiel, führte eine umfassende Or-ganisationsreform im Jahr nach den Anschlägen mit der Einrichtung der nationa-len „Transportation Security Administration“ zur Zentralisierung und Verstaatli-chung der Zuständigkeiten für die Flughafen- und Luftverkehrssicherheit. In die

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gleiche Richtung weisen auch die massiv verstärkten Investitionen der amerika-nischen Luftverkehrsbehörde in Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen.

Während in den USA die Übergänge zwischen öffentlicher und privater Aufgabenwahrnehmung bei der Gefahrenabwehr traditionell eher fließend sind, legt das historisch gewachsene Staatsverständnis in Deutschland – insbesondere die tief verwurzelte Rechtsstaatstradition – eine scharfe Grenzziehung zwischen den beiden Sektoren nahe. Besonders deutlich wird diese Unterscheidung hin-sichtlich des Strafvollzugs, wo Vertragsbeziehungen mit Privaten nur in engem Rahmen bestehen. Wie bei kaum einer anderen Staatstätigkeit tritt hier mit dem staatlich erzwungenen Freiheitsentzug der hoheitliche Charakter der öffentlichen Aufgabe und das Unter- und Überordnungsverhältnis zwischen Bürger und Staat zu Tage. Vor dem Hintergrund des in Deutschland hochgradig legalistischen Po-litikverständnisses und der überlieferten (hierarchischen) Unterscheidung zwi-schen öffentlichem und privaten Recht, bleibt – auf den ersten Blick – bei der Zuarbeit oder gar dem Ersatz öffentlicher Sicherheits- und Ordnungsfunktionen wenig Spielraum für kommerzielle Anbieter (Dünkel/Drenkhahn 2001). Im Ein-klang mit dieser Erwartung sind es gewöhnlich allenfalls die Hilfsfunktionen (wie Kantinenservice, Reinigungs- und Handwerkerdienste, aber auch Bildungs-angebote oder medizinische Dienstleistungen), die auf der Liste des Fremdbe-zugs stehen. In den späten 1990er Jahren setzte jedoch in mehreren Ländern eine Diskussion um den Einsatz von privatem Wachpersonal ein. Für eine solche Grauzone sorgte – in allerdings sehr bescheidenem Umfang – die einer privaten Firma übertragene Verwaltung und Bewachung einer Abschiebehaft für abge-lehnte Asylbewerber in Nordrhein-Westfalen. Der Protest gegen diese Maßnah-me spiegelte sicherlich nicht nur rechtliche Bedenken, sondern auch die Sorge um etablierte Interessen der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten des öf-fentlichen Dienstes wider. Eine attraktivere Kooperationsform sehen einzelne Länderverwaltungen (u.a. Hessen, Hamburg, Sachsen-Anhalt) hingegen in der privaten Finanzierung von Anstaltsbauten im Rahmen von Public-Private-Partnerships, die bisher jedoch erst einzelne Ausnahmefälle produzierten.

Wer für die weitere Diskussion seine Erwartung von dem international ge-sehen nur minimalen privaten Anteil am Strafvollzug in Deutschland leiten lässt, wird von den hochfliegenden Wachstumsraten für private deutsche Sicherheits-unternehmen überrascht sein. Die Entwicklung gleicht hier – wenn noch nicht dem Volumen nach, so doch mit Blick auf den Verlauf – den US-amerikanischen Trends, die gerade in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf-grund der sich öffnenden Schere zwischen Nachfrage und staatlicher Bedarfsde-ckung eine Vervielfachung dieser privaten Dienstleistungen anzeigen (vgl.

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Nitschke 1998, Glavic 1995, Gollan 1999, Brunst/Korell 2001, Eick 1998, Pit-schas 1999). In Deutschland hat sich in diesem Zeitraum (1980 bis 1999) die Zahl der registrierten Firmen (von 550 auf 2.500) um den Faktor 5.5 vermehrt (ebenso wie der gesamte Branchenumsatz) und die Zahl der Beschäftigten ver-dreifacht (nach konservativen Schätzungen auf 180.000). Trotz dieser Steigerun-gen überwiegt jedoch nach wie vor die Zahl der von Ländern und Bund beschäf-tigten Polizeibeamten (228.000 Beamte der Länderpolizeien und 30.000 Beamte der Bundespolizei). In qualitativer Hinsicht hat die Rolle privater Sicherheits-dienste nicht zuletzt mit der Ausweitung der sogenannten „halb-öffentlichen Räume“ wie Einkaufszentren, Fußgängerzonen, Bahnhofszentren oder innerstäd-tischer Geschäftszentren zugenommen (Krölls 1999). Kommunale und staatliche Behörden wurden – angesichts sich verschärfender Problemlagen und stagnie-render eigener Ressourcen – auch zunehmend für die Idee empfänglich, mit dem privaten Sicherheitsgewerbe zu kooperieren. So sind seit 1992 private Wachleute für die Deutsche Bahn tätig – in Kooperation mit bzw. anstelle der ehemaligen Bahnpolizisten. Seit 1998 sind von mehreren Länder- und Kommunalbehörden und der privaten Sicherheitsindustrie auch gemeinsame öffentlich-private Foren zur Verbrechensvorbeugung (Länderpräventionsräte) eingerichtet worden. Der formal-juristische Rahmen, der allein dem öffentlich-rechtlichem Personal die klassischen polizeilichen Eingriffs- und Vollzugsrechte zugesteht, blieb unge-achtet dieser Annäherungen jedoch unverändert.

Der Luftverkehrssektor bietet weiteres Anschauungsmaterial für die disku-tierten öffentlich-privaten Aufgabenteilungen. Die Erfahrungen mit den europäi-schen Terrorismusgruppen machten bereits seit den 1970er Jahren den Luftver-kehr zu einem sicherheitspolitisch hochsensiblen Thema. In letzter Konsequenz liegt die Verantwortung für die Flughafensicherheit (einschließlich der Zugangs-kontrollen, der Passagier- und Gepäckdurchsuchungen sowie der Ausbildung und Aufsicht von privaten Vertragsnehmern) bei der Polizei des Bundes (Luft-verkehrsgesetz und Luftsicherheitsgesetz). Seit 1992 sind die Flughäfen jedoch ermächtigt, kommerzielle Anbieter mit den entsprechenden Sicherheitskontrollen zu betrauen. Im Ergebnis war daher das Kontingent der öffentlich-beschäftigten Flughafenkontrolleure (2.900) – sehr zum Unmut der Polizeigewerkschaften – zur Zeit der Terroranschläge in den USA vom September 2001 der Zahl privater Vertragsnehmer bereits deutlich unterlegen (5.000) – ein Trend, der sich trotz der neuen Gesetzeslage (Luftsicherheitsgesetz 2004), die den Bundesbehörden grö-ßere regulative Eingriffsmöglichkeiten bei den Sicherheitsmaßnahmen einräumt, fortgesetzt hat.

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5 Welche Lehren für die Privatisierungs- und Modernisierungsdebatte? Sowohl die politische Debatte um den vermeintlichen Rückzug des Staates als auch die konkreten empirischen Entwicklungen in der „Staat-Markt“-Kontroverse sind von einer gehörigen Portion politisch-kultureller Pfadabhän-gigkeit geprägt. Ob sich Regierungen als radikale „Privatisierer“ beweisen kön-nen, hängt daher schon vom Ergebnis früherer Verstaatlichungstrends ab. Wie weit diese Pendel in Richtung Staat oder Markt ausschlagen, ist wesentlich auch von den jeweils vorherrschenden politisch-kulturellen Grundwerten mitbe-stimmt, die sich in spezifischen – und zumeist von den politischen, wirtschaftli-chen und gesellschaftlichen Eliten verinnerlichten und kultivierten – Staatstradi-tionen zusammenfassen lassen. Allerdings ist dieses „Hegen und Pflegen“ von tradierten Kulturmustern, die bei den Grenzziehungen zwischen Staat und Markt als Orientierungshilfe dienen können, zugleich auch von verwurzelten Eigeninte-ressen und den bestehenden Gelegenheitsstrukturen abhängig, die sich aus dem institutionellen Gefüge einer politisch-administrativen Ordnung ergeben: Die Zu-rückhaltung gegenüber der privat-kommerziellen Übernahme von Aufgaben der Gefahrenabwehr oder der Daseinsvorsorge mag daher weniger mit legitimieren-den Kulturmustern zugunsten des „Öffentlichen“ und gegen den „kapitalisti-schen Markt“ zu tun haben als mit der politisch starken und rechtlich abgesicher-ten Position wichtiger Akteure (wie Führungskräfte und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes).

Interessanterweise zeigen die beobachteten Fälle kein allein dominierendes Schema von Privatisierungstendenzen über die Grenzen von Staaten, Politikebe-nen und Policy-Feldern hinweg. Es handelt sich daher um ein viel differenzierte-res und mehrdimensionaleres Phänomen als weithin vermutet wird. Zwar ziehen einige wichtige Hauptströmungen der Privatisierungspolitik seit Ende der 1970er Jahre große Aufmerksamkeit auf sich, doch sind die vielfältigen Verwirbelun-gen, einige bedeutsame Gegenströmungen und so manches stille Wasser mindes-tens ebenso aufschlussreich. So zeigt die skizzierte Entwicklung in einigen Be-reichen keinerlei nennenswerte Privatisierungsprojekte, während in anderen Sektoren (vornehmlich in den USA) gar von einer Umkehr in Richtung des öf-fentliches Sektors zu sprechen ist. In den betrachteten föderalen Systemen Deutschlands und der USA spielen sich wichtige Veränderungen (oder Nicht-Veränderungen) allerdings unterhalb der Bundesebene ab. Die Privatisierungs-profile variieren daher nicht nur zwischen den Staaten, sondern z.T. in vergleich-barem Ausmaß auch innerhalb eines Landes.

Selbst in den Fällen, die eine klare Tendenz zu privaten Rechtsformen, dem vermehrten Fremdbezug von Teilleistungen oder gar eine Eigentumsübertragung

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an kommerzielle Betreiber anzeigen, gibt es gute Gründe, nicht rundheraus von einem Rückzug des Staates zu sprechen. Kurioserweise verdankt die deutsche Bundesregierung ihrer Stellung als zentraler Mitspieler in der weltweiten Logis-tikbranche erst der formalen Privatisierung der Sondervermögen bei Bahn und Post. Und erst die enorme Ausweitung der Staatstätigkeit in den USA, nämlich die verschärften Strafrechte mit der weltweit höchsten Inhaftierungsrate, mach-ten das Contracting-Out im Strafvollzug nötig. Vor allem aber geht es in den meisten Fällen um eine staatliche Aufgabenverlagerung. So geht regelmäßig die staatliche Regulierungsaufgabe (samt neuer Aufsichtsbürokratien) mit dem Pri-vatisierungstrend einher. Gerade der liberalisierte Markt – ohne den staatlichen Monopolisten – verlangt daher nach neuer und oft komplexer öffentlicher Regu-lierung. Diese Strategie staatlicher Steuerung, die auf öffentliche Eigentumsrech-te weitgehend verzichtet, dem privaten Eigentümer aber zugunsten unabhängiger Aufsichtsbehörden wichtige Verfügungsrechte entzieht, kann – wie in den USA traditionell die Regel – teilweise als funktionales Äquivalent zur Einflussnahme durch staatliches Eigentum dienen. Damit wird letztlich auch offenbar, dass die Eigentumsfrage in ihrer Bedeutung für eine effiziente und effektive Aufgabener-ledigung maßlos überschätzt ist. Diese Fehleinschätzung nährt sich teilweise aus dem Missverständnis, Privatisierung mit Wettbewerbsorientierung gleichzuset-zen. Doch zeigten die Beispiele gerade, wie wenig das eine mit dem anderen zu tun haben kann – z.B. bei rein formalen Privatisierungen, bei überwiegenden fis-kalischen Motiven oder dem Contracting-Out mit privaten oligopolistischen oder gar monopolistischen Anbietern.

Die Rolle des öffentlichen Sektors im kapitalistischen Staat bleibt daher weiterhin Gegenstand machtpolitischer Kontroversen, ohne dass man sich auf eine von ökonomischer Rationalität gesteuerte „unsichtbare Hand“ zur Wohl-fahrtssteigerung verlassen könnte. Die im Privatisierungsprozess stets mit-schwingende Frage nach dem optimalen Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Aufgabenwahrnehmung richtet sich daher im Kern darauf, welches Re-gierungs- und Verwaltungssystem, mit welchem Grad an Effektivität, Legitima-tion und Verantwortlichkeit gegenüber der Bürgerschaft, wir anstreben.

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Mehr-Werte des Kapitalismus: Die Kapitalien der Zukunft und die Verwandlung der Märkte

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Konsum zwischen Markt und Moral: Eine soziokulturelle Betrachtung moralisierter Märkte

Nico Stehr und Marian Adolf

„When the accumulation of wealth is no longer of high social importance, there will be great changes in the code of morals […]. Of course there will still be many people with intense, un-satisfied purposiveness who will blindly pursue wealth – unless they can find some plausible substitute. But the rest of us will no longer be under any obligation to applaud and encourage them“ (Keynes 1963 [1930], S. 369–370).

1 Einleitung In einer Antwort auf vier kritische Besprechungen seines bahnbrechenden und die Makroökonomie wie auch die Wirtschaftspolitik nachhaltig beeinflussenden Werks The General Theory of Employment, Interest and Money (1936) macht John Maynard Keynes (1937) in der Zeitschrift The Quarterly Journal of Eco-nomics darauf aufmerksam, dass es unter den zeitgenössischen Ökonomen wohl kaum noch explizite Anhänger des Say’schen Gesetzes gibt, nach dem das An-gebot seine eigene Nachfrage generiert. Keynes fügt hinzu, dass die Ökonomen seiner Generation dieses Theorem dennoch stillschweigend weiter akzeptieren. An diesem Sachverhalt hat sich in den darauf folgenden Jahrzehnten kaum etwas geändert. Auch heute noch beobachten wir eine systematische Überschätzung der Macht des Angebots, d.h. der produzierenden Marktakteure, sowie der Macht der Summe der Maßnahmen, die dazu dienen sollen, dem Say’schen Gesetz Nach-druck zu verleihen. Dazu gehört beispielsweise das Gewerbe des Marketing und der Werbung, aber auch die These von der essentiellen Macht- und Ahnungs-losigkeit der Konsumenten.

Doch wenn ein Immobilieneigentümer sein Haus nicht an den höchsten Bie-ter sondern an einen Interessenten verkauft, dessen Nutzungskonzept ihm zusagt; wenn ein Produzent von Schokoriegeln den Produktionsprozess ändert, weil sich die Konsumenten über die bisherige Produktion heftig beschwert haben; wenn Jugendliche ihre T-Shirts trotz begrenzter Budgets bei American Apparel nicht zuletzt wegen deren Produktionsethos kaufen, dann sind dies Indizien für eine Moralisierung der Märkte. Waren es vor wenigen Jahren noch versteckte Dritte-

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Welt-Läden, kleine Verkaufsstände und winzige Biohändler, in denen biologisch angebaute Hirse und unbehandelter Joghurt ein Nischendasein fristeten, so hat sich die Situation in kurzer Zeit drastisch gewandelt. Heute haben ökologische Produkte ein Millionenklientel und dreistellige Wachstumsraten. Fair Trade Pro-dukte sind in jedem Supermarkt zu haben. Diese Entwicklung betrifft nicht nur Lebensmittel, auch viele andere Waren besitzen sowohl in der Rohstoffzusam-mensetzung als auch in den Produktionsabläufen zunehmend moralische Qualitä-ten. Das Marktvolumen dieser Produkte und Dienstleistungen steigt nachhaltig und rapide.

Eine neue Größe zur Beurteilung von Waren und Dienstleistungen greift seit einiger Zeit um sich: die Moral. Neu an dieser ethischen Handlungsmaxime sind ihr Umfang, ihre Vehemenz, ihre unmittelbare Umsetzbarkeit qua Konsum sowie die wachsende Globalisierung dieser Werte, Standards und Regularien. Heute genügt es nicht mehr, das Markthandeln eines Unternehmens mit altruisti-schen Zusatzveranstaltungen oder Mäzenatentum zu ergänzen – zum Total Qua-lity Management gesellt sich die Sustainability Abteilung; Corporate Social Responsibility – möglichst auf Führungsebene – gehört zum guten Ton. Die Be-mühungen der Unternehmen, neben preislicher und qualitativer Marktfähigkeit auch ethischen Maximen gerecht zu werden, entspringt allerdings nicht allein in-trinsischer Motivation. Es sind veränderte Ansprüche der Konsumenten, der Märkte insgesamt, die sie zum Handeln zwingen. Die in der Folge vorgebrachte These einer Moralisierung der Märkte ist, so unsere Argumentation, weit mehr als eine kurzfristige Reaktion auf eine mediale Mode. Sie verweist auf eine neue Stufe in der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, insbesondere aber der Machtverhältnisse in den Märkten.

2 Die Moral der Moral Aus den wenigen genannten Beispielen moralischen Markverhaltens geht hervor, dass der Begriff der Moral nicht eine einzelne, universelle oder verbindliche Be-deutung hat. Über den genauen Sinn der Begriffe Moral oder Ethik lässt sich darum keineswegs eine schnelle Übereinkunft erzielen. Objektiv gesehen gibt es in modernen Gesellschaften eine Vielfalt nicht aufeinander reduzierbare Werte. Darüber hinaus sind verschiedene Werte unter bestimmten Bedingungen oder in entscheidenden Situationen inkommensurabel. Ganz elementar gedacht trifft dies zum Beispiel für die Werte Freiheit und Gleichheit zu.

Wir plädieren deshalb für einen weit gefassten, niemals abschließend fest-geschriebenen, sondern historisch variablen Begriff des Moralischen. Es ist nun

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einmal eine praktische Eigenschaft, oder besser: eine Tugend liberaler Demokra-tien, dass in ihnen das Moralische unbestimmt bzw. unterdeterminiert ist. Des-halb sind in solchen Gesellschaften letzte Fragen, etwa nach der Moral, nicht zu beantworten. Für Märkte hat diese Unbestimmtheit zur Folge, dass es in moder-nen Gesellschaften eine Pluralität vom Märkten gibt, auf denen der Trend zur Moralisierung in unterschiedlicher Weise und mit verschiedenen Werten von Konsumenten und Produzenten praktiziert wird. Obwohl gewisse, handlungs-bestimmende moralische Imperative wie beispielsweise Nachhaltigkeit nicht vollumfänglich Geltung erlangen, verändern diese Werte den Markt und das ge-sellschaftliche Leben. Gerechtigkeit oder Solidarität sind nicht schon deshalb Wahnvorstellungen oder Scheinwerte, weil sie kaum jemals vollständig durchge-setzt werden.

3 Die soziologische Relevanz des Marktes Die Beschäftigung mit dem Markt stand immer schon im Zentrum vielfältiger sozialwissenschaftlicher Überlegungen. Auch in der aktuellen Debatte, die an In-tensität noch zuzunehmen scheint, kollidieren und konvergieren zahlreiche Dis-kurse, Traditionen und Disziplinen. Dieses Thema ist die aktuelle Schnittstelle von Unternehmens- und Managementliteratur, der Nachhaltigkeitsdebatte, von ethnografischen Studien des Konsumierens, kulturkritischen Betrachtungen des Marktes als Vergesellschaftungsinstanz, der Frage nach Souveränität und Ein-fluss der Konsumenten sowie umfassenderen theoretischen Ansätzen zum Zu-sammenhang von individueller Handlungsfähigkeit, Sozialstruktur und der Dif-ferenzierung der modernen Gesellschaft.

Legen wir die gesellschaftstheoretische Konzeption der Wissensgesellschaft zu Grunde (Stehr 1994) und fokussieren sodann innerhalb dieser auf ökonomi-sche Fragen, so kann man am Phänomen des Marktes einige grundsätzliche Be-obachtungen anstellen. Der Rahmen ist dabei ein vornehmlich soziologischer, der darauf zielt, Konsum und Produktion als soziales Phänomen zu bestimmen. Diese Perspektive erscheint vorerst als Bruch konventioneller, im weiteren Sinne soziologischer Betrachtungen. Diese sind oftmals volkswirtschaftlich orientiert und beschäftigen sich, sofern sie sich mit der Ökonomie als wirkmächtiger Grö-ße der modernen Gesellschaft befassen, zumeist mit Fragen der Produktion (und der damit in Verbindung stehenden Reproduktion) der Gesellschaft. Dabei reicht die Bandbreite der Perspektiven von der kultur- und vernunftkritischen Herange-hensweise der Kritischen Theorie – welche auf historisch-materialistischer Basis die Epiphänomene der nach wie vor als zentral gesetzten Produktion jenseits rein

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reflexionistischer Basis-Überbau Konzeptionen behandelte – bis hin zu struktur-funktionalistischen Betrachtungen der Ökonomie als zentralem Charakteristikum der (post-) industriellen Gesellschaft. Auch in der US-amerikanischen Tradition der Massenkulturkritik, stehen die Auswirkungen der kapitalistischen Wirt-schaftsweise und somit des Marktes im Zentrum. Erst in jüngeren theoretischen Entwicklungen (so z.B. der poststrukturalistischen Wendung der Cultural Stu-dies1) kommt das Konsumieren als Untersuchungsgegenstand zu eigenem Recht. Konsum taucht hier unter kulturalistischen Vorzeichen im Rahmen der Diskussi-onen von Aneignungspraxen auf, in alltäglichen Decodierungen, Interpretationen und Appropriationen vorfindbarer Konsumgüter jedweder Art. Zielvariablen sind dabei die Handlungsfreiheit und Widerständigkeit des Individuums, Möglichkei-ten der gesellschaftlichen Teilhabe sowie die Konstruktion von Identitäten – jedoch nicht vorrangig der Konsum als solcher. Während es also an ökonomisch interessierten soziologischen Studien zur kapitalistischen Produktionsweise, in denen der Konsum und die Rolle der Konsumenten als Objekte und Subjekte des Marktes eine wiederkehrende Gastrolle spielen (oft im Rahmen gesellschaftsthe-oretischer Bemühungen), nicht mangelt, ist eine eigenständige Soziologie des Konsums eine bis heute eher randständige wissenschaftliche Veranstaltung geblieben.

So kann man eine lose Kette herausstechender Einzelwerke von Thorstein Veblen bis Herbert Marcuse, von George Katona bis John Kenneth Galbraith zeichnen; als eigenes Fach ist die Konsumsoziologie eine junge Entwicklung, die im Verbund von Werbeforschung, Vergesellschaftungstheoremen und theoreti-schen Annäherungen an die Mediengesellschaft heute allerdings große Konjunk-tur hat. Den Hintergrund hierfür bildet sodann die Einbettung ökonomischen Handelns in einen umfassenderen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, wobei sich eine gleichwertige Gewichtung sowohl von Prozessen der Produktion als auch der Konsumtion durchgesetzt hat. Und auch das Dazwischen ist heute kein unbestelltes Feld mehr: von der Marketing-, über die Produkt- bis hin zur Werbe- und PR-Forschung machen sich Ökonomen, Soziologen und Kommuni-kationswissenschaftler Gedanken über Distribution und Kommunikation von Produkten, Dienstleistungen, Ideen und Images.2

1 Man mag uns die implizite Subsumierung der Cultural Studies unter die Überschrift der Soziolo-

gie nachsehen. Wer auf disziplinäre Labels allerdings ohnehin keinen Wert legt, dem dürften sol-che punktuellen und durchaus argumentierbaren (vgl. Adolf 2007) Zuordnungen eigentlich auch nichts ausmachen.

2 An dieser Stelle sei insbesondere auf die Arbeitsgruppen der einschlägigen Fachorganisationen hingewiesen: In der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gibt es eine ad-hoc Gruppe „Ver-gesellschaftung durch Konsum“; in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunika-

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4 Moralisierte Märkte In den letzten hundert Jahren haben sich die grundlegenden volkswirtschaft-lichen Parameter fundamental geändert: Statt achtzig Prozent gibt ein durch-schnittlicher OECD-Haushalt heute nur mehr dreißig Prozent seines Einkom-mens zur Deckung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Unterkunft) aus. Die Realeinkommen stiegen im selben Zeitraum um das Vier- bis Fünffache. Daher ist es augenscheinlich, dass die Ideen, Theorien und Konzeptionen zur Ökonomie, die nicht vor diesem Hintergrund entstanden sind, heute einer Revi-sion bedürfen. Der Wohlfahrtsstaat, die historische einmalige Zunahme des ge-samtgesellschaftlichen Wohlstandes ebenso wie das historisch einzigartige Wachsen des Bildungsgrades der Bevölkerung der entwickelten Gesellschaften,3 haben die theoretischen Vorstellungen aus der Ära der Industrialisierung über-holt. Trotzdem greifen wir bis heute vielfach auf Urteile zurück, die vor hundert Jahren gebildet wurden. Allgemeine Bildung, die Institutionalisierung sozialer Sicherungssysteme, technologischer Fortschritt, veränderte Produktionsprozesse und die umfassende Mediatisierung (IKT) ergeben eine andere Gesellschaft als jene, die von Analphabetismus, Armut und individualisierter Ohnmacht geprägt war. Die bis heute verbreitete Vorstellung des Marktes – von hilflosen und leicht manipulierbaren Konsumenten bevölkert – ist somit in dem Maße zu überarbei-ten, wie die aktuelle Wohlstandsgesellschaft mit den Paradigmen der vergange-nen Zeit nicht mehr hinreichend zu erfassen ist.4

Das Individuum von heute ist keine ohnmächtige Arbeitskraft im Sinne des vom Elend bedrohten Proletariats mehr, ebenso wenig wie die Natur heute noch allein als Produktionsfaktor gesehen wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob normativ richtiges Handeln heute ein wesentlicher Faktor des Markt-

tionswissenschaft seit 2006 auch eine Arbeitsgruppe Werbeforschung. Die erste „International Conference on the Sociology of Consumption“ fand 1988 an der Universität Oslo statt.

3 Die quantitativen Veränderungen des durchschnittlichen Wohlstands der Haushalte wie auch des Bildungsgrades der Bevölkerung (in Deutschland) gehen aus unseren im Anhang wiedergegebe-nen Tabellen 1 und 3 hervor.

4 Dabei sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der allgemeine Zuwachs an Wohlstand, so wirkungsmächtig er sich sozial zeigt, nicht mit einer gerechten Verteilung des angewachsenen Reichtums gleichbedeutend ist. Gerade die ökonomisch krisenhafte letzte Dekade hat mit ihren Debatten zum Um- und Rückbau des Wohlfahrtsstaates und der Abkühlung des sozialen Klimas in den Wohlstandsdemokratien die weiterhin bestehenden Demarkationslinien der sozialen Schichtung deutlich gemacht (stagnierende oder sinkende Reallöhne der letzten Dekade, Zu-wachs an Arbeitskämpfen, Neuorganisation und Abbau von Sozialleistungen, „Kulturalisierung“ von Konfliktlinien). Dieser Umstand sozialer Konflikte um die – abstrakt gefasst – Verteilung von Lebenschancen qua materieller Ausstattung soll aber nicht den Blick auf den Umstand ver-stellen, dass es den BürgerInnen moderner Marktwirtschaften in Hinblick auf materielle Ausstat-tung, Mobilität und Lebensstandard weiterhin so gut geht wie noch nie zuvor.

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verhaltens geworden ist. Gibt es einen von gesellschaftlichen Veränderungen mitbestimmten, symbolischen und strukturellen Wandel des Marktes? Nähern sich etwa die Rollen von Bürger und Konsument in einer veränderten Markt-gesellschaft an? Kommt es zu einer „Demokratisierung“ des Marktes?

Somit treten das Marktverhalten und seine Motive in den Vordergrund des Interesses: Wenn die Deckung der Grundbedürfnisse heute nicht mehr aus-schlaggebend ist, das verfügbare Einkommen ungleich größer ist und kulturelle Komponenten in ökonomische Prozesse verstärkt hineinspielen, dann helfen eng umrissene ökonomische Sichtweisen des Marktes für die heutige Zeit nicht mehr weiter. Die Machtverhältnisse werden neu geordnet. Anders formuliert: Die durch das Verhalten der Marktteilnehmer ausgeübte soziale Kontrolle bezieht sich nicht mehr vorrangig, wie in der Vergangenheit, auf Marktergebnisse (out-puts), sondern zunehmend auf Marktprozesse (inputs) (vgl. Lindblom 1995). Während der Konsument vergangener Epochen keine wirksame Kontrolle über den Prozess ausüben, sondern nur das Ergebnis akzeptieren oder zurückweisen konnte, sind die Konsumenten heute in der Lage, den Prozess, beispielsweise die Art der Ressourcen, die zur Produktion einer Ware verwendet werden, zu beein-flussen. Damit verschiebt sich nicht nur die Machtkonstellation in den Märkten, sondern der Wandel der Relevanz vom Ergebnis zu den Entscheidungen im Pro-zess verweist auf eine politische Veränderung der Kontrolle zu einer größeren Demokratisierung der Märkte. Das bedeutet nicht, dass der Markt mit seiner sys-temspezifischen ökonomischen Logik nicht auch weiterhin das Verhalten seiner Teilnehmer beeinflusst. Wir haben es bei der Entwicklung hin zu moralisierten Märkten keinesfalls mit einer Alternative zum Kapitalismus, sondern eher mit einer neuen Stufe desselben zu tun. Auch sind nicht alle Märkte gleich. Einige – wie beispielweise Finanzmärkte – sperren sich, vielleicht für immer, gegen die gegenständlichen Dynamiken (obwohl auch hier interessante Verschiebungen, z.B. hinsichtlich sogenannter„ethischer Fonds“, zu beobachten sind). Manche Märkte sind stärker betroffen als andere, da die hier thematisierten Veränderun-gen nicht unbedingt simultan ablaufen. Zentral jedoch ist die Einsicht der Ver-bundenheit ökonomischer Felder mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Trotz der Rede von Deregulierung und Entgrenzung sind viele Märkte immer noch institu-tionell reglementiert. Es scheint insgesamt keinen Sinn (mehr) zu machen, Markt und Gesellschaft separat verstehen zu wollen.

Zugleich sind die hier aufgeworfenen Fragen durchaus auch auf den sozial-wissenschaftlichen Theoriediskurs selbst anzuwenden. Zusammen mit anderen, langfristigen sozialen Wandlungserscheinungen kann die Moralisierung der

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Märkte als eine Dynamik der Wissensgesellschaft verstanden werden.5 So steht hier nichts Geringeres zur Debatte als die weiterhin einflussreichen Vorstellun-gen Max Webers zur materiellen Rationalität. Anders auch als in den wesentlich von marxistischen Überlegungen angeleiteten Analysen des letzten Jahrhunderts stellt sich verstärkt die Frage nach einer tiefgreifenden Abkehr von der durch die Mechanik des reinen Gelderwerbs bestimmten Rationalisierung der Lebenswelt. Werden zukünftig Entscheidungen am Markt verstärkt an ihren Folgen für ande-re beurteilt und gewichtet werden? Treten strikt monetäre Überlegungen und die Diktatur des Eigeninteresses hinter eine neue Wertbezogenheit zurück? Werden sich, getragen von einer neuen Wichtigkeit der Konsumpolitik, die Handlungs-fähigkeit und die Einflussmöglichkeiten von Individuen, sozialen Gruppen und somit nicht zuletzt von Konsumenten künftig erhöhen?

Zusammengenommen bedeuten zustimmende Antworten auf diese Fragen, dass kulturelle Werte, umfassenderes Wissen und weit gefächerte Interessen der Akteure eine Schlüsselrolle in der angeblich kulturfreien Welt und der von der Gesellschaft abgekoppelten Realität der modernen Wirtschaftssysteme spielen. Konsumtion kann infolgedessen nicht länger vornehmlich als Funktion der Organisation der Produktion verstanden werden, Produktion und Konsumtion sind in der modernen Ökonomie zumindest als gleichwertig zu fassen. Wir gehen davon aus, dass die Regulierung der Marktbeziehungen im Verein mit gesamt-gesellschaftlichen Veränderungen neuen, handlungsleitenden Normen vermehrt zum Durchbruch verhilft. Zu diesen wirksamer werdenden Einflussfaktoren des Marktes gehören Fairness, Authentizität, good will und Nachhaltigkeit ebenso wie das Streben nach Ausgleich, Exklusivität, Altruismus, Originalität, Gesund-heit, Solidarität, aber auch Ängste oder Rache. Es gilt nicht mehr nur die unab-lässige, kurzfristige Suche nach dem billigsten Kauf oder der Optimierung des morgigen shareholder values. Auch langfristige Sichtweisen sind gefragt.

Dabei sind Waren und Dienstleistungen selbst von diesem Prozess betrof-fen, in dem ihnen intrinsische moralische Eigenschaften zugesprochen werden (beispielsweise bei regenerativen Energieformen oder fair gehandeltem Kaffee). Neben dem ökonomischen tritt verstärkt der moralische Wert von Waren und Dienstleistungen in den Vordergrund. Zweitens werden die Motive des beschrie-benen sozialen Wandels zu Faktoren der Produktion und Konsumption von Wa-ren und Dienstleistungen, die gesetzliche Regeln und Procedere mitbestimmen (zum Beispiel Mindeststandards oder Grenzwerte). Die Konfrontation der Werte

5 Vergleiche Stehr (1994), in der Anwendung auf Fragen der sozialen Kohärenz insbesondere

Stehr (2000), bezüglich Auswirkungen auf Politik und Regierbarkeit Stehr (2003) und hinsicht-lich des Zusammenhanges umfassender Mediatisierung Adolf/Stehr (2008).

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der Produktion mit jenen – nunmehr verstärkt maßgeblichen – der Konsumtion kann sodann als Triebfeder eines sich selbst realisierenden und verstärkenden Prozesses verstanden werden: Nicht jeder muss an diese Werte und Motive glau-ben, um ihnen am Markt zum Durchbruch zu verhelfen. Verstärkter Welthandel, globalisierte Netzwerkkommunikation und transnationale Werbe- und Image-kampagnen sorgen für eine potenziell globale Ausbreitung des Transformations-prozesses. Eine Moralisierung der Märkte verweist also auf umfassende gesamt-gesellschaftliche Veränderungsdynamiken. Einige davon sollen in der Folge kurz angesprochen und auf ihren Beitrag zur Moralisierung des Markthandelns unter-sucht werden.

5 Antriebsfedern moralisierter Märkte: Gesellschaftliche Veränderungen Die Moralisierung der Märkte verweist auf eine paradoxe gesamtgesellschaft-liche Entwicklung. Es ist der Erfolg der modernen Märkte, dem sie ihre eigene moralische Transformation verdanken: die unglaubliche marktinduzierte Wohl-standssteigerung, die unwahrscheinliche Karriere der westlichen Marktwirtschaft bildet erst die Grundlage für den neuen Markttypus. Die Moralisierung der Märkte kann somit als Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen ver-standen werden, die ihrerseits Ergebnis der Entwicklung des Wirtschaftssystems sind. Dies bedeutet zugleich, dass eine Sichtweise, die auf einer strikten Tren-nung und Abschottung unterschiedlicher Sozialsysteme mit ihren jeweils eigen-sinnigen Handlungsmaximen besteht, wesentliche Veränderungsdynamiken in ihrer Verschränktheit nicht abbilden kann.6 Märkte und Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft sind mittlerweile auf vielfältige Weise miteinander verbunden und zwar in einer Art, welche die Vorstellung einer klaren Trennung der Systemlogi-ken unhaltbar macht.

Gemeinsame soziale wie kulturelle Erfahrungshorizonte in der heutigen Welt sind, zusammen mit den bereits skizzierten Veränderungen in der Sozialstruktur, für diese Veränderungen verantwortlich zu machen. Man denke dabei unter ande-rem an geteilte Bedrohungsszenarien wie Klimawandel, Gesundheitsrisiken und traumatische kollektive (mediatisierte) Erlebnisse wie Tschernobyl oder die An-

6 Der in der These der Moralisierung der Märkte nahegelegten Grenzüberschreitung zwischen ge-

sellschaftlichen Teilsystemen steht die Doktrin der neoklassischen Ökonomie entgegen, die den Markt nicht nur unabhängig von anderen gesellschaftlichen Institutionen sieht, sondern ihn sol-chermaßen auch verstanden haben will: Der funktional differenzierte, von anderen gesellschaft-lichen Teilbereichen abkoppelte Markt sei – so die normative Position der neoklassischen Öko-nomie wie auch die strikte systemtheoretische Sichtweise – der beste und effizienteste Weg, die ökonomischen Angelegenheiten in modernen Gesellschaften zu organisieren.

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schläge auf das World Trade Center. Erst die Aufhebung des strikten Trennungs-denkens von endogenen und exogenen Faktoren macht auf die wirklich interes-santen Aspekte einer Marktanalyse in modernen Gesellschaften aufmerksam.

Dies bedeutet zugleich, dass wir mit der Privilegierung der Produzentenseite in Marktanalysen brechen müssen. Eine solch einseitige und überkommene Sichtweise verliert zusehends wichtige Austausch- und Interdependenzprozesse aus dem Blick. Um dem heutigen gesamtgesellschaftlichen Wandel gerecht zu werden, plädieren wir für eine ausgewogene Betrachtung des Ökonomischen im Rahmen gesamtgesellschaftlichen Wandels. Deshalb ist, sofern es hier um Moral geht, damit nicht Moralität gemeint, sondern ein bestimmtes soziales Verhalten, das auf soziale Tatbestände und Handlungsabläufe verweist, die man bei den Marktteilnehmern beobachten kann. Moralisierung der Märkte bedeutet des Wei-teren die in dieser Form neuen und heute zunehmend wichtigen Eigenschaften von Waren und Dienstleistungen und zwar im Hinblick auf ihre Herkunft, die Art der Produktion, sowie das Image und Prestige der Produzierenden. Und letzt-lich verweist die Prozessualität des hier interessierenden Phänomens auf die rückbezügliche Wirkung veränderter Rahmenbedingungen der Märkte bzw. des ökonomischen Handelns, welche selbst Ergebnis moralisch kodierten Marktver-haltens sind. Dieser Regelkreislauf hält sich selbst in Gang.

5.1 Soziokulturelle Veränderungsdynamiken Der Geltungsbereich der These erstreckt sich potenziell auf alle entwickelten Ge-sellschaften, was die Moralisierung der Märkte zu einem sich auch sukzessive global auswirkenden Prozess macht. Wir unterscheiden drei verschiedene Ein-flussbündel, die insgesamt, auf je unterschiedliche Weise und an anderen Enden des Phänomens ansetzend, auf eine Moralisierung der Märkte hinwirken.7

Zu den wesentlichen Rahmenbedingungen einer Moralisierung der Märkte zählt zunächst ein transnationaler soziokultureller Wandel, der sich unter ande-rem an veränderten öffentlichen Meinungsmustern, historisch neuartigen Risiko-perzeptionen menschlichen Tuns und Reaktionen auf zivilisatorische Katastro-phen und Gefahren (z.B. BSE, SARS, Kernenergie) festmachen lässt. Neuartigen Lebensstilen entsprechen veränderte politische Ziele, ein neues Risiko- und

7 Es sei an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass hier nicht von einem linearen Wandel ge-

sprochen werden kann. Der Einfluss von endogenen und exogenen Variablen variiert auch geo-graphisch erheblich. Wie immer bei komplexen sozialen Systemen haben wir es mit dem Um-stand der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit zu tun: Nicht jeder Trend setzt sich mit derselben Intensität zur selben Zeit durch, ebenso wie es Rückschläge und gegenläufige Tenden-zen gibt.

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Sicherheitsbewusstsein sowie eine neue Wichtigkeit von Gesundheits- und Um-weltfragen (vgl. Inglehart 1977; 1998). Des Weiteren lässt sich der Einfluss und die Repräsentation unterschiedlicher Weltanschauungen beobachten, ebenso wie sich Fragen der staatlichen und internationalen Gerechtigkeit im gesellschaftli-chen Diskurs niederschlagen. Zu diesen gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Veränderungsdynamiken gesellen sich damit in Verbindung stehende soziale Bewegungen wie organisierte soziale Bewegungen (NGOs) und institutionelle Reformen, wie zum Beispiel die Änderung gesetzlicher Rahmenbedingungen oder auch die Adaption von Firmenpolitiken. Auf einer dritten Ebene lassen sich sodann erst die eigentlichen Marktveränderungen verorten, welche durch eigen-dynamische Entwicklung innerhalb von Märkten hervorgerufen werden. Inwie-weit solche Prozesse als endogen oder exogen verstanden werden, hängt nicht zuletzt von der jeweils eingenommenen Perspektive ab.8

5.2 Soziostrukturell induzierter Veränderungsdruck Es lassen sich einige gesamtgesellschaftliche soziostrukturelle Veränderungen von großer Tragweite identifizieren, die sich notwendig auf die Gesellschaft und somit auch auf die Märkte auswirken.

Erstens führen in einer rasanten Entwicklung seit den 1950er Jahren persön-licher Wohlstand und materielle Sicherheit in den zeitgenössischen entwickelten Gesellschaften zu einem Rückgang materieller Zwänge zugunsten individueller Wahlfreiheit. Dieser Trend ist auch mit dem Verweis auf nach wie vor bestehen-de relative und absolute Armut selbst in entwickelten Gesellschaften eindeutig. Hier haben wir es mit einer historisch einmaligen Begebenheit zu tun: Der lange Schatten materieller Not lichtet sich von immer breiteren Bevölke-rungsschichten, die Lebenserwartung steigt ebenso wie der Lebensstandard. In Deutschland etwa verdreifachte sich zwischen 1950 und 1973 das Pro-Kopf Re-aleinkommen. Versteht man unter Wohlstand nicht nur geldähnliche Vermö-genswerte, sondern rechnet auch Humankapital (Wissen und Fertigkeiten) hinzu, dann fällt der Anstieg noch bemerkenswerter aus.

Zweitens ist ein explodierendes Wachstum des Wissens zu konstatieren (vgl. Tabelle 1). Mit dem materiellen Reichtum nimmt auch das Humankapital und das kulturelle Kapital zu (vgl. Bourdieu 2005: 75f). Wissen und Handlungs-fähigkeit sozialer Akteure steigen rapide, auch haben immer mehr Menschen

8 Aus Sicht der orthodoxen ökonomischen Lehrmeinung werden letztere wohl eher als exogen be-

zeichnet werden, wobei sich die Frage stellt, ob sie nicht besser als markteigene Reaktionen auf sich verändernde Umweltbedingungen zu klassifizieren wären, was sie wiederum zu endogenen Geschehnissen machte.

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Zugang zu Wissen. Das Wachstum des gesellschaftlich objektivierten Wissens verbessert und verändert die Handlungsmöglichkeiten (agency), die Entwicklung von horizontalen sozialen Beziehungen, von Bedürfnissen, Selbstwert und Selbstverständnis sowie von Interessen der Menschen (vgl. Tabelle 2). In der Summe stellt dies auch für die Märkte wesentlich veränderte soziale Rahmen-bedingungen dar. Neue Kontakte, Vorstellungen und Ideen führen zu einer men-talen Neuorientierung sozialen Verhaltens. Die erweiterte individuelle und kol-lektive Klugheit oder die gewachsene erworbene Wissenheit im Sinne einer wachsenden Fähigkeit zu einer selbstständig-kritischen und selbstbewussten Le-bensgestaltung lässt es als sinnvoll und zwingend erscheinen, nicht mehr nur die Klasse der Produzenten, sondern auch die Schicht der Konsumenten als aktive Agenten zu begreifen und nicht mehr nur als willenlose Gefangene einer Kultur der Abhängigkeit, als passive Opfer der Werbeindustrie oder, wie zuletzt verbrei-tet, als hilflose Akteure im Angesicht der unüberschaubaren Angebotsvielfalt. Es geht um den Niederschlag dieser Entwicklung in Form von klügeren, selbst-bewusster am Markt agierenden Menschen – um die Bedeutung des Aggregats relevanten Wissens der Käufer, also den „Wissensstand des imaginären Gesamt-kunden“ (vgl. von Weizsäcker 2005), welcher Auswirkungen qua Antizipation auf die Produzentenseite hat. Wir leben in einer wissensbasierten Ökonomie, in der Produkte und Dienstleistungen zunehmend wissensbasiert sind. Wissen – auch das der Konsumenten – wird insgesamt immer wichtiger. Auch der Kon-sum vermittelt Wissen über die Welt.

Drittens können wir von einer sozialen Extension der Märkte und ihrer Dy-namik sprechen. Damit ist auf eine Dynamik in der Entwicklung der modernen Gesellschaft hingewiesen, nämlich ihre Entstehung aus steten, früh einsetzenden, multiplen, nicht-linearen Prozessen der Ausweitung sozialen Handelns. Für die Märkte bedeutet das deren Differenzierung (in immer neue, spezifische Märkte) sowie eine Ausweitung auf soziale Aktivitäten und Dinge, die bisher außerhalb des Marktregimes angesiedelt waren (Gesundheitswesen, Strafvollzug, Erzie-hung etc.). Somit treten – auch angesichts zunehmend globalisierter Verhältnisse – neue Akteure auf, wie beispielweise die zunehmend wichtigen transnationalen Organisationen (Weltbank, IMF, OECD und EU, aber auch nicht institutionali-sierte Handelsabkommen und ihre relevanten Marktregeln und -standards). Die Moralisierung der Märkte und jene Phänomene, die man gemeinhin unter dem Begriff der Globalisierung fasst, stehen nicht zufällig in enger Verbindung. Des Weiteren muss auch die geographische Ausdehnung bereits bestehender Märkte in diesem Faktorenbündel Beachtung finden.

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So darf, viertens, die Wirkungsmächtigkeit von lokalen bis hin zu globalen Regelwerken, die sich auf die Handlungsbedingungen der Wirtschaft auswirken, nicht unterschätzt werden. Über den Weg oder Umweg von gesetzgeberischen Regulierungsmaßnahmen, z.B. im Lebensmittelrecht, in der Finanzmarktgesetz-gebung, in Wettbewerbsregeln, in Umwelt- und Sicherheitsvorschriften, Berufs-gesetzen, Gesundheits- und Hygienevorschriften u.a., dringen nicht-utilitaristi-sche Momente in den Markt und beeinflussen Kauf- und Produktionsmöglich-keiten sowie die Eigenschaften von Waren und Dienstleitungen. Die am Markt wirksamen Kontrollmechanismen erfassen zunehmend auch Marktprozesse und nicht mehr nur Marktergebnisse.

5.3 Die selbstgemachte Transformation der Märkte Für Veränderungen des Marktes können jedoch auch die materiellen Erfolge der Marktwirtschaft selbst verantwortlich sein. Nach dieser Annahme führt ein endo-genes Geschehen, angesichts einer gewissen Sättigung und angesichts des erreich-ten Wohlstandsniveaus, zu einer marktimmanenten, normativen Neuorientierung. Ökonomische Ziele sind dann eventuell keine rein hedonistischen mehr – sofern sie das je waren. Dieses Szenario gilt es umso mehr zu berücksichtigen, je mehr die einstige Vorherrschaft der Angebotsseite durch das wachsende Gewicht der Nachfrageseite abgelöst wird (vgl. hierzu Featherstone 1991; Shields 1992).

Veränderungen können sich auch aus heute verstärkt wahrgenommenen Fehl-entwicklungen des Marktgeschehens ergeben. Dies betrifft sowohl öffentlich the-matisiertes strukturelles, wie auch individuelles Fehlverhalten von Marktteilneh-mern (vor allem auf Produzentenseite). Solche Perzeptionen führen eventuell auch zu neuen Regulierungs- und Schutzmaßnahmen durch externe Akteure, wie z.B. Verbraucherschutzkommissionen oder supranationale Instanzen wie die Europä-ische Kommission. Diese Fehler und Beinahe-Katastrophen – zu denken wäre an Gammelfleischskandale, verunreinigte Lebensmittel oder gesundheitsschädliche Kinderspielzeuge – und die dadurch ausgelösten Disziplinierungsmaßnahmen, können in einer mediatisierten Gesellschaft mehr denn je den Trend zur Moralisie-rung der Märkte verstärken und das Kaufverhalten auf Dauer modifizieren.

Auch Veränderungen in der Zusammensetzung der Marktteilnehmer zeiti-gen Effekte. Die sich verändernde Bevölkerungszusammensetzung, die demo-graphische Struktur der Gegenwartsgesellschaft, bringt neue Konsumententypo-logien hervor. Moralische Ansprüche und Erwartungshaltungen verändern sich mit den am Markt teilnehmenden Gruppierungen. So verfünffachte sich in den letzten Jahrzehnten die Lebenszeit im Ruhestand; der Kohortenanteil, der das Rentenalter erreichte, hat sich im selben Zeitraum versiebenfacht (vgl. Fogel

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1997: 1905). Der durch die neue Altersstruktur veränderte Anteil der Wohl-habenden in der Bevölkerung wie auch der wachsende Anteil weiblicher Er-werbstätiger weisen auf ein sich wandelndes Marktverhalten der typischen Marktteilnehmer hin.

6 Moralisierung und Kulturalisierung Wir gehen davon aus, dass sich in der komplexen Verschränkung von Markt, Kultur und Gesellschaft, von Bedürfnis, Produktion und Nachfrage eine klare Trennung verschiedener ökonomischer Handlungsstadien ebenso wenig durch-halten lässt wie jene der klar abgegrenzten Reproduktionslogiken verschiedener gesellschaftlicher Bereiche. Für eine Beschreibung des Marktes bedeutet dies, dass sich eine Moralisierung auf der Ebene des Konsums, der Produktion sowie der Waren beobachten lässt.

Eine (a) Moralisierung des Konsums fragt neue Waren nach, Produkte, die sich mit den moralischen Prämissen des Käufers in Einklang bringen lassen. Wir haben es also mit Änderungen des Verhaltens und der Orientierungen der Markt-teilnehmer zu tun. Dies zeitigt sodann Folgen für die Produktionszusammenhänge sowie für die produzierten Güter und Dienstleistungen selbst. Eine (b) Moralisie-rung der Konsumgüter manifestiert sich in den an Märkten gehandelten Produkten und Dienstleistungen, d.h. die Moralisierung bezieht sich nicht allein auf Produkte und Dienstleistungen, nachdem diese gefertigt worden sind, sondern sie beein-flusst ganz unmittelbar die Art und Konstitution der angebotenen Waren und Dienstleistungen. Diese (c) Moralisierung der Konsumgüterproduktion funktio-niert über sich verändernde Qualitätserwartungen, welche zum Machthebel der Konsumenten werden, indem diese ihre Vorstellungen vom Produktionsprozess und von den für sie relevanten Qualitätskriterien in den Wertschöpfungsketten durchsetzen. Wertschöpfungsketten sind zwar weiterhin hierarchisch organisiert, jedoch ändern sich die Kontrollmöglichkeiten und der relative Einfluss unter-schiedlicher kollektiver Akteure auf relevante Marktprozesse.

So kann der Markt – so zweckrational seine Spielregeln auch sein mögen – selbst zum Transmissionsriemen kulturellen, wertorientierten Handelns werden. Die Tendenz zur Moralisierung wird indirekt durch den Markt selbst perpetuiert, weil Märkte gesamtgesellschaftlich eingebettet liegen und sich ihrer umgebenden Kultur und deren Veränderungsdynamiken nicht entziehen können. Besonders deutlich lassen sich solche Trends in der Wirtschaftswerbung ablesen – die Bot-schaften der Werbung, ihre Bilder und Claims, die hier implizierten Darstellun-gen von Wohlstand und Glück sind auch in diesem Fall die Displays der kultu-

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rellen Wertungen, Idealbilder und Wünsche des gesellschaftlichen Diskurses – und zwar unabhängig von den rationalen Kalkülen der Werbenden. Der feedback loop, den wir hier skizzieren, ist ein umfassender, gesamtkultureller. Die Morali-sierung der Märkte kann daher auch als Kulturalisierung der Märkte bezeichnet werden (vgl. Löfgren 2003: 244).

Hier sind wir wieder mit dem Phänomen der nicht intendierten Folgen ab-sichtsvollen Handelns konfrontiert, dort nämlich, wo auch jene Konsumenten, die nicht bewusst Verantwortung jenseits ihres Eigeninteresses übernehmen, Teil der Moralisierung der Märkte werden, da sie durch die Logik des Marktes ge-zwungen sind, sich verantwortlich zu verhalten. Wenn, mit anderen Worten, die Moralisierung der Märkte ein Selbstläufer geworden ist, dann verdeckt dies nicht nur eine Moralisierung qua Inkorporation in Produktionsmuster, sondern lässt die Moralisierung als „normale“ Marktentwicklung erscheinen, die weiterhin in den engen Grenzen des betriebwirtschaftlichen Kalküls beschrieben werden kann. Oder, um mit Khalil (1997: 501) zu sprechen, das Wohlwollen wird zum Nebenprodukt der Interessensrealisierung der Marktakteure selbst. Idealtypisch wäre hier von einer Konvergenz von Moralisierung und Interessensrealisierung zu sprechen.

7 Homo disputatus: Zur Kritik impliziter Menschenbilder Die These einer Moralisierung der Märkte bricht notwendig mit der weitverbrei-teten Vorstellung des rein marktrational handelnden Menschen. Der homo oeco-nomicus als isolierter, autonomer und rationaler Idealtyp, der allein eng um-schriebenen finanziellen Überlegungen folgt, wird eingebettet in größere gesellschaftliche Zusammenhänge, in marktfremde Kriterien, die sein Handeln ebenso mitgestalten wie die Logik des Ökonomischen. Aus den Reihen der Ökonomen liegt eine Verteidigung des rationalen Idealtyps des Marktes nahe, die Rechtfertigung der axiomatischen Setzung des Nutzenkalküls als Fundament der ökonomischen Rechnung und des stilisiert-souveränen Konsumenten.

Ebenso scheint es möglich, dass die Moralisierung der Märkte von soziolo-gisch-kulturwissenschaftlicher bzw. gesellschaftstheoretischer Warte als eine zu optimistische, gar affirmative These angegriffen wird. Die Annahme der depri-vierenden, zerstörerischen oder manipulierenden Kraft der kapitalistischen Pro-duktionsweise liegt tief verwurzelt. So wenden wir uns ferner gegen jene nach wie vor latente Angst, der Mensch sei bis heute eine den Marktkräften und ihren Sekundanten hilflos ausgesetzte Marionette.

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7.1 Zur Kritik der ökonomistischen Perspektive Die klassische Sichtweise betont den neutralen, abstrakten, objektiven und effi-zienten Charakter des Marktes als Medium von Interessen, kurz: Der Markt hat keine Moral und soll auch keine haben. Ähnlich versteht die Ökonomie die Prä-ferenzen der Marktteilnehmer als a priori gegebenen, nicht weiter analysebedürf-tigen Baustein des Markthandelns, welches allein auf seine Ergebnisse bezie-hungsweise Folgen hin untersucht wird. Ist der Markt also entpersonalisiertes Abstraktum, einzig geleitet von seinem nicht weiter hintergehbaren Eigensinn?

Der homo oeconomicus als Leitbild der hegemonialen Ökonomie, welches sich auch in anderen Gesellschaftsbereichen als Idealtypus durchsetzt, muss als solcher nicht weiter untersucht werden. Sein Handlungskalkül scheint klar. So-mit bedürfen Konsum und Konsument keiner näheren Bestimmung. Auch die Soziologie der Ökonomie kümmert sich deshalb nicht sonderlich um den Kon-sumenten – sein Verhalten, basierend auf Intentionen, Sorgen, Ängsten etc. spielt keine Rolle. Die als selbstverständlich hingenommene und nicht weiter hinter-fragte Rolle des Konsumenten, des Verbrauchs und der Verbraucherhaushalte (sowie der Firmen und des Staates) ist angesichts des wachsenden Anteils des Konsums am Bruttoinlandsprodukt umso verwunderlicher. In vielen Wirtschaf-ten der entwickelten Welt beläuft sich der Verbrauch der Privathaushalte auf mehr als sechzig Prozent des BIP. Das gilt auch global. Lag der Gesamtumfang des globalen Konsums um 1900 bei etwa 1,5 Trillionen Dollar, so erreichten die weltweiten Konsumausgaben 1998 die Marke von vierundzwanzig Trillionen Dollar. Mehr denn je gilt die Binnennachfrage in den entwickelten Ländern als heilige Kuh des Wirtschaftswachstums – bereits geringfügige Rückgänge werden als Alarmsignal in allen Nachrichtensendungen berichtet. Die Rede vom Kon-sum als Motor der Moderne ist nachvollziehbar, die seltsame Vernachlässigung seiner Genese umso unverständlicher.

So gehen zum Beispiel die standard-neoklassischen ökonomischen Wachs-tumsmodelle davon aus, dass ein Wandel im Konsumentenverhalten als Wachs-tumsmotor und damit als Erklärung für Veränderungen im gesamtwirtschaft-lichen Produkt zu vernachlässigen sei: Das heißt, die theoretischen Prämissen der neo-klassischen ökonomischen Wachstumstheorie beziehen sich einerseits auf die Produktionsfunktion und andererseits auf die der Konsumtion. Die Wahl der Produktionstechnik (und in bestimmten Versionen dieser Wachstumstheorie die Entwicklung neuer technischer Verfahren) ist vorrangig eine Funktion der Preis-entwicklung der inputs, wobei der Umfang der Produktion, nicht aber die Zu-sammensetzung der verschiedenen inputs eine Frage der Grenzerträge ist. Trends im Verhalten der Konsumenten wiederum sind eine Funktion der Entwicklung ihres Einkommens sowie der relativen Preise der am Markt angebotenen Waren

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und Dienstleistungen. Die neo-klassische Wachstumstheorie unterstellt somit, dass ein Wandel in den Präferenzen der Konsumenten ein zufälliges Detail sei, beziehungsweise berücksichtigt einen Wandel dieser Art erst gar nicht. Resultat dieser Vorgehensweise ist deshalb, dass im Rahmen der neo-klassischen Wachs-tumstheorie zukünftiges ökonomisches Verhalten die Vergangenheit weitgehend imitiert, beziehungsweise dass das Konsumentenverhalten a-historisch ist. Aller-dings gibt es weder logische Gründe noch empirische Erkenntnisse, die einen Wandel des Marktverhaltens der Konsumenten unabhängig von Preissignalen von vornherein ausschließen (vgl. Felix 1979).

Die Schwäche der ökonomischen „Souveränitätstheorie“ liegt laut Prisching (2006: 26f) in der „trivial-utilitaristischen“ Gleichung von Handeln und Wünschen, in der die eigentlich wesentlichen Fragen erst gar nicht gestellt werden: „zum ei-nen, wie Situationen vom Individuum gedeutet werden; zum anderen, wie Präfe-renzen geformt werden; und letztlich auch, wie das Individuum sich selbst als Per-son sieht und welche Konsequenzen dies hat.“ Dazu kommt der Umstand, dass die (subjektive) Situationsdefinition eine zu treffende Entscheidung wesentlich beein-flusst. Stattdessen werden Präferenzen einfach vorausgesetzt, die Grenzen des Modells werden so gezogen, dass die „geistig-emotionale Innenausstattung“ (ebd., Fußnote 25) einfach als exogen und konstant gesetzt wird. Jede Veränderung ist dann auf für die Theorie relevante Marktfaktoren (z.B. Preis) zurückzuführen. Doch hier beginnt erst die zentrale Fragestellung, wie die Präferenzen des Indivi-duums zustande kommen. Kurzum: „Das Postulat von der Mündigkeit der Konsu-menten, mit dem jede Überlegung über die Formierung von Präferenzen abge-schnitten wird […], lässt auch jedwede Analyse des Konsumverhaltens als überflüssig erscheinen: Konsum ist Konsum“ (Prisching 2006: 27).9

7.2 Zur Kritik der kulturkritischen Perspektive Das ehemals prominente historisch-materialistische Paradigma wirkt in seiner fundamentalen Ablehnung der kapitalistisch organisierten Wirtschaftsweise bis heute nicht zuletzt über lange sedimentierte Allgemeinplätze nach. In dieser düs-teren Weltsicht verschwimmen rückblickend häufig die oftmals deutlich feineren

9 Für ein Gegenargument des solchermaßen kritisch hinterfragten ökonomischen Diskurses siehe

Endres (2007). Erstens bedeute das Prinzip der Nutzenmaximierung nicht immer zugleich Ge-winnmaximierung: Was wem nutzt, entscheidet der Betroffene (freiheitlich) selbst. Nutzen ist da-her eine vorerst neutrale Kategorie. Zweitens wird nicht präjudiziert, wessen Nutzen maximiert wird. Der homo oeconomicus kann altruistisch den Nutzen anderer zu maximieren trachten, und auch dafür hat die Mikroökonomie brauchbare Theorien entwickelt. Drittens betrachtet auch die Ökonomie heutzutage längst jene Externalitäten, die lange aus der betriebswirtschaftlichen Rech-nung ausgeblendet waren, und die wahren Kosten auf andere verlagerten (vgl. Endres 2007: 578f).

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Konturen der Kritik des Kapitalismus und seiner Auswirkungen auf die moderne Gesellschaft und die aufklärerische Vernunft. Relevante zeitgenössische Kultur-kritik kann nicht einfach Argumente der Vergangenheit unverändert für die Kri-tik der zeitgenössischen Gesellschaft übernehmen. Auch eine gesellschafts- und konsumkritische Position von heute muss sich auf die rezenten und emergenten sozialen und wirtschaftlichen Realitäten der Gegenwart einstellen, will sie mit ihrer Kritik konstruktiv zur Analyse und Verbesserung der gesellschaftlichen Gegenwart beitragen. Doch auch für diese Perspektive ist eine einseitige Ent-mündigung des Konsumenten qua Urteil charakteristisch. Die Anklage des „Konsumerismus“, die besagt, dass wir möglicherweise unreflexiv und hilflos an die tatsächlich existierende Logik sowie die Verhaltensweisen der uns überall umgebenden „Konsumgesellschaft“ und den Verbrauch von massenhaft produ-zierten Waren gekoppelt sind, ist gegenüber individuellen Handlungsmotiven ebenfalls ignorant.

Dabei lassen sich skizzenhaft zwei konsumkritische Grundpositionen unter-scheiden. Eine im weitesten Sinne als „Verrohungsthese“ klassifizierbare Positi-on geht davon aus, dass die Menschen von der unmenschlichen Logik des Mark-tes korrumpiert werden. Eine zweite zielt auf die Hilflosigkeit des Einzelnen angesichts der übermächtigen Kommunikationskanäle einer abstrakt gefassten „Kulturindustrie“ und konstatiert eine ständige Verführung „unschuldiger“ Kon-sumenten. Auch diese verkürzten Positionen werden der Deutungs- und Hand-lungsfähigkeit des Individuums und seiner sozialen Verbände nicht gerecht. Weder scheint eine Position des souveränen, kalkülgesteuerten Konsumenten haltbar, noch eine paternalistische Anklage des verführten, entmündigten und außengeleiteten Menschen.

8 Conclusio Angesichts einer Moralisierung der Märkte steht die noch oft anzutreffende Vor-stellung einer in ihrer Essenz kulturfreien Welt des Wirtschaftens sowie der ex-ternalisierten Folgen des Marktes zur Disposition, die davon ausgeht, dass der Markt eine soziale Arena ist, die ohne Bezug auf das normativ Richtige aus-kommt. Die Moralisierung der Märkte ist ein emergentes Phänomen, ein gegen-wärtig ablaufender Prozess, der darauf verweist, dass wir in einer Zeit leben, in der sich immer mehr Marktakteure sehr wohl Gedanken darüber machen, welche ethischen Bedingungen und Folgen ihr Handeln hat. Dieser Wandel ist zumin-dest teilweise Ergebnis einer Diskrepanz zwischen Intentionen und Folgen sozia-len Handelns.

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Vor allem aber ruft er die alte Durkheim’schen Prämisse ins Gedächtnis, dass sich die gesellschaftliche Moral mit dem Wandel des sozialen Milieus der Menschen ändert (vgl. Durkheim 1988 [1893]: 295). Angesichts dieser Verände-rungen stellt sich die Frage, ob und wie nicht-ökonomische, moralische Motive zu ökonomischen mutieren, in welchem Umfang also der existenzielle Wandel in modernen Gesellschaften Motor des Wandels der moralischen Logik ökonomi-schen Verhaltens ist. Eine Moralisierung der Märkte bedeutet, einfach formuliert, dass das Marktverhalten in modernen Gesellschaften nicht mehr vorrangig von den Eigeninteressen der Marktteilnehmer bestimmt wird und dieser Wandlungs-prozess schließlich zu einem sich selbst aktualisierenden und verstärkenden Pro-zess wird. Zwar mag die hier beschriebene Renaissance der Ethik vorerst nur auf kleine Teile der Gesamtgesellschaft zutreffen. Diese können aber langfristig als Multiplikatoren wirken, einschließlich der globalen Verbreitung der von ihnen angestoßenen Trends, die dann das Konsumverhalten, die Produktionsregimes, die technische Entwicklung und Handlungsbedingungen am Markt wesentlich größerer sozialer Schichten von Konsumenten und Gruppen von Produzenten zumindest mitbestimmen, wenn nicht sogar dominieren.

Die These von der Moralisierung der Märkte kann zusammenfassend als eine Art Schaukelbewegung von Angebot und Nachfrage verstanden werden, als gemeinsamer Tanz der Produzenten und Konsumenten. Das Verständnis der symbolischen und organisatorischen Dynamik des Marktes in modernen Gesell-schaften setzt voraus, dass man die beobachteten Verhaltens- und Einstellungs-veränderungen der Marktteilnehmer in eine Beziehung zum gesamtgesellschaft-lichen Wandel setzt.

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Zur Übertragbarkeit von Kapitalien. Einsichten aus der Migrationsforschung

Annemarie Gronover und Gertraud Koch

1 Einleitung Kapital wandert weltweit. Nahezu ungehindert scheinen die Finanzströme über den Globus zu fließen. Mit ihnen verbreitet sich der Kapitalismus, dessen Viel-gestaltigkeit darauf verweist, dass Kapital weitaus mehr ist als eine ökonomische Größe. Schon bevor dies durch den Zusammenbruch sozialistischer Systeme offensichtlich wurde, hat der französische Anthropologe und Soziologe Pierre Bourdieu den Kapitalbegriff in die sozial- und kulturwissenschaftliche Theorie integriert und gezeigt, dass Kapital ein grundlegendes Ordnungsprinzip des So-zialen ist, inhärent verbunden mit der Möglichkeit zur Machtausübung (Bourdieu 1983). Gleichzeitig verweist er darauf, dass menschliches Handeln auch im öko-nomischen Bereich nicht nur rational bestimmt ist, sondern in kulturelle, soziale und politische Prozesse eingebettet ist. Rein ökonomische Perspektiven auf Kapital greifen deswegen zu kurz.

Der Kapitalbegriff ist damit auf verschiedene gesellschaftliche Felder an-wendbar. Eine breite Übertragung des ökonomischen Prinzips auf soziale und kul-turelle Prozesse wirft jedoch Fragen auf, die weitaus umfangreicher sind als die von Bourdieu gewonnenen Einsichten. So ist noch durchgängig aufzuschlüsseln, wie die Funktionsprinzipien des Kapitals, also Prinzipien des Tauschs, der Akku-mulation, des Verlusts, der Vererbung, der Machtausübung usw., im Detail in den jeweiligen gesellschaftlichen Feldern bzw. Kapitalsorten umgesetzt werden kön-nen.1 Darüber hinaus und in besonderer Weise interessant ist, wie sich die unter-schiedlichen Kapitalsorten ineinander konvertieren lassen, um so soziale Energien von Kapital (Bourdieu 1991: 194f.) von einem in ein anderes Feld übertragen zu können. Für die Investierbarkeit und auch im Hinblick auf die anscheinend globa-le Mobilität und Mobilisierung von Kapital ist diese Problematik zentral.

Die Migrationsforschung – als wissenschaftliches Forschungsfeld, in dem es prominent um Mobilität und Mobilisierung geht – hat die Bourdieusche Kapi-taltheorie frühzeitig aufgegriffen und mit diesem theoretischen Konzept unter-

1 Bourdieu hat dies, bezogen auf französische Verhältnisse, in einzelnen Feldern ausgearbeitet, tut

dies jedoch exemplarisch zu Zwecken der Anschauung und weniger systematisch.

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220 Annemarie Gronover und Gertraud Koch

sucht, inwieweit Menschen in Migrationssituationen die unterschiedlichen Kapi-talsorten als Ressourcen erkennen und einsetzen und auch, welche Transformati-onsleistungen bzw. -kosten damit verbunden sind. Darüber hinaus ist fraglich, ob die Aufnahmegesellschaft diese Ressourcen anerkennt und wie sie diese verhan-delt. In Migrationssituationen stellt sich die Frage nach der Umwandelbarkeit bzw. Mehrwertigkeit von Kapitalien im Hinblick auf zwei zentrale Dimensionen: (a) die Übertragung von Kapitalien zwischen unterschiedlichen sozialen Räumen (also etwa zwischen Gesellschaften) und (b) die Übertragbarkeit von Kapitalien zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern (Ökonomie, Politik usw.). Der folgende Beitrag geht somit der Frage nach, welche Erkenntnisse zur Um-wandelbarkeit von Kapitalien sich aus dem Forschungsstand2 gewinnen lassen und wo weiterer Klärungsbedarf liegt.

2 Kapitalien in der Migrationsforschung Studien in der Migrationsforschung, die den Kapitalbegriff aufgreifen, beziehen sich auf die drei von Bourdieu in unterschiedlicher Intensität ausgearbeiteten Felder der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Kultur, in denen mittels den drei Kapitalsorten ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital um Macht und An-erkennung gerungen wird. Für Forschungen zu sozialer Ungleichheit, wie migra-tionsbedingter, ist damit ein theoretischer Bezugspunkt für die Analyse sozialer Lagen formuliert. Grundlegend hierbei ist, dass alle Kapitalien – je nach Umfang und Sortierung – mit Gestaltungschancen verbunden sind, die durch geschicktes Investieren gemehrt werden können. Dabei kann man von der Annahme ausge-hen, dass jede Kapitaliensorte nicht nur feldspezifisch investiert, sondern zur Er-reichung von Mehrwert und damit zur Verbesserung der eigenen sozialen Lage auch in andere Kapitalformen transformiert werden kann – wenn auch um den Preis von Transaktionskosten für jeden Transfer (Bourdieu 1983: 195). Die Ka-pitalien eines Individuums – zusammengesetzt aus den unterschiedlichen Kapi-talsorten und deren Höhe – bestimmen dabei über seine soziale Position inner-halb einer Gemeinschaft (Bourdieu 1991: 143-146). Diese zunächst einfach erscheinende Formel zur Beschreibung von sozialen Lagen, aber auch zur Mobi-lität innerhalb von sozialen Feldern, birgt jedoch einige Komplexitäten, wie die folgenden Betrachtungen zeigen werden.

2 Dabei wird keine Vollständigkeit, angestrebt. Vielmehr diskutiert er exemplarisch die Anwen-

dung des Kapitalienkonzeptes und die dabei gewonnnen Einsichten zur Transferierbarkeit.

Page 216: Mehrwertiger Kapitalismus: Multidisziplinäre Beiträge zu Formen des Kapitalismus und seiner Kapitalien

Zur Übertragbarkeit von Kapitalien 221

2.1 Ökonomisches Kapital Die Prinzipien des ökonomischen Kapitals sieht Bourdieu als grundlegend an, auch für andere Kapitalsorten. Studien, die migrantische Ökonomien in den Blick nehmen und dabei Bourdieus Ansatz zugrunde legen, erweitern dieser Bourdieuschen Logik folgend ihre Perspektive meist frühzeitig hin zu anderen Kapitalsorten, auch weil ohne eine solche Erweiterung kaum ein umfassendes Bild davon gewonnen werden kann, wie Migranten in den jeweiligen Einwande-rungsländern wirtschaften. Im Vergleich mit den dort gewohnten Wirtschafts-weisen wird deutlich, dass andere als ökonomische Ressourcen mobilisiert wer-den müssen, damit migrantische Arbeitnehmer und Unternehmer erfolgreich sein können. So müssen für den wirtschaftlichen Erfolg meist ethnische und familiäre Netzwerke, also soziales Kapital, aktiviert werden, um einen Arbeitsplatz zu fin-den oder um Unternehmen profitabel führen zu können (Ça�lar 1998; Pécoud 2004). Beschränktes ökonomisches Kapital kann so ausgeglichen werden. Die knappen finanziellen Ressourcen begrenzen das migrantische Unternehmertum meist jedoch auf ethnisch geprägte Viertel, wo Mieten niedrig sind.

Doch selbst wenn die Mittel ausreichen, um in anderen Quartieren Fuß zu fassen, so ist mit diesem ökonomischen Gewinn noch nicht die soziale Anerken-nung gewiss. Strategien von türkischen Gastronomen, die trotz guter wirtschaft-licher Erträge ihre Dönerrestaurants analog zu amerikanischen Fastfood-Ketten mittels Benennung und Aufmachung modernisieren oder gar griechische und ita-lienische Restaurants eröffnen, geben Auskunft über die Hierarchisierung ver-schiedener Migrantengruppen im Aufnahmeland bzw. deren Anerkennung oder Platzierung im sozialen Raum (Ça�lar 1998; Pécoud 2004). Diese ethnische Se-gregation des Arbeitsmarktes wird wahrgenommen und von den Migranten auf-gegriffen, gerade dort, wo es nicht primär um ökonomische Entscheidungen geht, sondern um Anerkennung und soziale Aufwertung. Gerade im ökonomi-schen Feld wird die metastrukturierende Dimension des symbolischen Kapitals deutlich, die Bourdieu in ihrer entscheidenden Wirkung durch seine Studien in der kabylischen Gesellschaft erkannt hat. „Ökonomisches und symbolisches Ka-pital sind so unauflöslich miteinander vermengt, dass allen schon die Zurschau-stellung der von geachteten Schwiegerverwandten verkörperten materiellen und symbolischen Stärke in einer Wirtschaft auf Treu und Glauben, wo ein guter Ruf die beste, wenn nicht die einzige ökonomische Bürgschaft ist, materiellen Ge-winn bringen kann“ (Bourdieu 1987: 217).

Bei den Investitionsstrategien und ökonomischen Entscheidungen der migrantischen Unternehmer wird andererseits auch erheblich von einem breiten Spektrum an kulturellem Kapital profitiert, das Migranten im Laufe der Zeit im Einwanderungsland erworben haben. Ihr Wissen um ethnische Stratifizierungen

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222 Annemarie Gronover und Gertraud Koch

wird ökonomisch genutzt, etwa wenn in von Deutschtürken betriebenen Schnell-restaurants und Imbissständen wegen der niedrigeren Lohnerwartungen afrikani-sche Köche eingestellt werden. Solche Stratifizierungen werden aber auch auf symbolischer Ebene wahrgenommen und eingesetzt, indem deutsche Studenten als Aushilfskräfte im Verkauf die ethnische Kodierung der Restaurants gegen-über den Kunden relativieren sollen (Ça�lar 1998; Pécoud 2004).

Ökonomische Entscheidungen über die Umwandlung von Kapital sind auch dann notwendig, wenn es darum geht, für die Zukunft des migrantischen Nach-wuchses zu sorgen. Die Investition in ökonomisches Kapital zur Platzierung der Nachfolgegeneration in der Einwanderungsgesellschaft ist nur aussichtsreich, wenn eine Selbständigkeit möglich ist. Dabei ist häufig eine starke Einbindung aller Familienmitglieder unumgänglich, sodass auf Dauer der Erfolg nur gegeben ist, wenn hohe Erträge allen ein einigermaßen zufrieden stellendes Einkommen sichern. Ein intergenerationeller Transfer von finanziellen Mitteln ist dabei in jeder Lebens- bzw. Unternehmensphase notwendig. In der Adoleszenzphase wird dieser von den Eltern an die Jugendlichen geleistet, später von den Kindern an die aus Altersgründen nicht mehr erwerbsfähigen Eltern, was mit vielfältigen intergenerationellen Schwierigkeiten behaftet sein kann. Auch geschieht dies um den Preis, dass Kinder früh in Arbeitsabläufe eingebunden sind und kaum kultu-relles Kapital erwerben können. Gelingt dies dennoch, so erwachsen daraus möglicherweise alternative Verdienstoptionen, welche die familienbasierte, öko-nomische Basis des Unternehmens infrage stellen (Diefenbach/Nauck 1997).

Zusammenfassend kann für das ökonomische Feld festgehalten werden, dass hier mit dem Bourdieuschen Ansatz die Verkürzungen von rein ökonomisti-schen Perspektiven deutlich werden. Die Relationalität der verschiedenen Kapi-talsorten und die Metastrukturierung des ökonomischen Kapitals durch das sym-bolische tritt hier wohl deswegen so deutlich zutage, weil die Diskrepanz zwischen den erwarteten ausschließlich rechnerisch kalkulierten Entscheidungs-prinzipien und den tatsächlich vorgefundenen symbolischen, also von Deutungen und kulturellen Wertungen durchdrungenen, Handlungslogiken selten größer ist. „Wenn man weiß, dass symbolisches Kapital Kredit ist, und dies im weitesten Sinne des Worts, d.h. eine Art Vorschuß, Diskont, Akkreditiv, allein vom Glau-ben der Gruppe jenen eingeräumt, die die meisten materiellen und symbolischen Garantien bieten, wird ersichtlich, daß die (ökonomisch stets sehr aufwendige) Zurschaustellung des symbolischen Kapitals einer der Mechanismen ist, die (sicher überall) dafür sorgen, daß Kapital zu Kapital kommt“ (Bourdieu 1987: 218; Hervorhebung und Klammern im Original).

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Zur Übertragbarkeit von Kapitalien 223

2.2 Soziales Kapital Pierre Bourdieu (1983) und James Coleman (1988) griffen das Konzept des sozi-alen Kapitals vom Ökonomen Glenn Loury (1977) auf und arbeiteten es theore-tisch aus.3 Seit den 1980er Jahren wird es in der Migrationsforschung angewen-det, um vor allem die Bereitwilligkeit und Gründe der Akteure zur Migration, ihre sozialen Praktiken innerhalb der Netzwerke und die Verortung in der Mehr-heitsgesellschaft sowie die Transformation von Ressourcen zu untersuchen. Migrantische Netzwerke in der Art familiärer, verwandtschaftlicher und freund-schaftlicher Beziehungen und Gruppenbildungen werden in und mit ihren sozia-len Praktiken in der eigenen Community im Herkunftsland, in Auseinanderset-zung mit den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft und den Communitys untereinander in der Aufnahmegesellschaft erforscht.4

Bourdieu operiert in seinen empirischen Forschungen selten mit dem Kon-zept des sozialen Kapitals und es bleibt in theoretischen Ausführungen im Ver-gleich zum ökonomischen und kulturellen Kapital unterentwickelt (vgl. Albrecht 2004: 199; Fuchs-Heinritz/König 2005: 168). Bourdieu fokussiert in der Spezifi-zierung des sozialen Kapitals das in Gruppen generierte und führt es auf soziale Herkunft zurück, wobei er einzelne Akteure und deren Netzwerke vernachlässigt (Bourdieu 1982; 1991).5 Den Charakter des sozialen Kapitals formuliert Bour-dieu dagegen präzise: „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder An-erkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 190f., Hervorhebung im Original).

Im Gegensatz zum ökonomischen und zum kulturellen Kapital steht hier die „überindividuelle Natur“ (Albrecht 2004: 204) im Vorgrund, denn soziales Kapi-tal kann nicht (nur) individuell akkumuliert werden. Der einzelne Akteur und sein soziales Kapital sind vom Einfluss anderer Akteure abhängig. Die interper-sonellen Beziehungen und der relationale Charakter des sozialen Kapitals mani-festieren sich in Freundschaften, Bekanntschaften, Vertrauensbeziehungen und 3 Coleman und Bourdieu beziehen sich zudem auf die Kritik von Marc Granovetter (1985), um das

Konzept des sozialen Kapitals weiter zu entwickeln. Granovetter sieht ökonomisches Handeln nicht ausschließlich vom Markt bestimmt, sondern eingebettet in kontextbezogene Variablen und individuelles Handeln.

4 Siehe zur Charakterisierung von Binnennetzwerken und verbindenden Netzwerken die drei Netz-werkperspektiven (a) „die wandernde Gruppe selbst als soziales Gebilde“, (b) „Vernetzung der wandernden Gruppe mit ihrer neuen Umgebung“ und (c) „Vernetzung der Migranten mit ihrem Herkunftsland“ (Weiss/Thränhardt 2005: 11).

5 Zitiert in Albrecht (2004: 200, 205).

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224 Annemarie Gronover und Gertraud Koch

Arbeitsverbindungen oder Mitgliedschaften in Vereinen, Klubs und Organisatio-nen. Diese sozialen Netzwerke sind nicht institutionell verankert und dauerhaft gesichert, sondern müssen ständig durch einen alltäglichen Gabentausch erneuert werden (Bourdieu 1987: 181).6 Dieser Tauschprozess fordert Zeit und Verpflich-tungen und kann nur bedingt individuell gesteuert werden. Das soziale Kapital nimmt gerade aufgrund seines überindividuellen Charakters eine Multiplikato-renfunktion für das ökonomische und kulturelle Kapital ein, zu dessen Erhalt und Vermehrung es beiträgt. Umgekehrt kann soziales Kapital selten ohne materiel-len Einsatz oder den Besitz kulturellen Kapitals erlangt werden, da diese den Einzelnen dazu befähigen, soziale Beziehungen zu knüpfen (Bourdieu 1980: 2-3). Die Wertigkeiten der sozialen Kapitalien einer Gruppe konstituieren sich aus der Gruppengröße, dem Kapitalvolumen der Mitglieder und deren Fähigkeit, Austauschbeziehungen untereinander zu gestalten. Soziales Kapital im Sinne von Bourdieu ist auf kleinere Gruppen als Untersuchungseinheit bezogen.

Der Ansatz des sozialen Kapitals von Bourdieu ist in den hier exemplarisch vorgestellten Studien zu migrantischen Netzwerken, Familien- bzw. Haushalts-organisation und gender aufgegriffen worden:

Zum ersten Mal wurde das Konzept des sozialen Kapitals von Massey et al. (1987) in ihrer Untersuchung von Wanderungsbewegungen von Mexikanern in die USA angewandt. Die Soziologen erforschten u.a. die Umwandelbarkeit be-ziehungsweise die relationalen Beziehungen von Kapitalien und zeigten, dass mexikanische Bauern zwar arm an ökonomischen Ressourcen, jedoch reich an sozialem Kapital sind, das sie leicht in Arbeit und somit ökonomischen Ver-dienst umwandeln können. Die Umwandelbarkeit basiert auf einem reziproken Austausch, gegenseitiger Hilfe der migrierenden Freunde und Verwandten unter-einander. Das Tauschsystem folgt zwar generalisierten Regeln, aber die Gabe, zum Beispiel in Form von Gefälligkeiten und finanzieller Unterstützung, wird ohne Erwartung einer sofortigen Rückerstattung gegeben, in der Hoffnung, dass sie in Zukunft erwidert wird (Massey et al. 1987). Espinosa und Massey (1997)

6 In Anlehnung an Marcel Mauss (1989) geht Bourdieu bei der Ethik des Gabentauschs davon aus,

dass dieser nur scheinbar uneigennützig vollzogen wird und im Grunde Ergebnis strategischer sozialer Praxis ist. Die Strategisierung muss, um nicht erkannt zu werden, individuell und kollek-tiv verschleiert werden. Bourdieu nennt dies eine „kollektive Verkennung“ (Bourdieu 1998: 165). Der eigentliche Motor sozialer Praxis ist nicht erkennbar und folglich lässt sich wirtschaftliches Handeln nicht nur auf den Profit und rationale Entscheidungen reduzieren. Übertragen auf Bour-dieus Entwurf des Spiels bedeutet dies, dass das Spiel des Gabentausches nur gespielt werden kann, wenn die Spieler sich weigern, die objektive Wahrheit des Spiels zu erkennen. Soziales Kapital kann im Gegensatz zum ökonomischen Kapital nicht als ein erhaltenes Gut mit exaktem Wert zurückgegeben werden. Akteure müssen darauf vertrauen, dass ihre Vorleistungen in die sozialen Beziehungen sich in Zukunft auszahlen (ebd.: 163ff.).

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untersuchten ebenfalls mexikanische Einwanderer in die USA und fanden her-aus, dass Akkumulation sozialen Kapitals dazu führen kann, dass die Einreise in die USA ohne Pass umso wahrscheinlicher ist, je größer das soziale Kapital einer Person innerhalb der Netzwerke ihrer Verwandten ist. Soziales Kapital wird hier aus verwandtschaftlichen Beziehungen generiert. Portes und Sensenbrenner (1993) sehen in demselben Forschungsfeld familiäre Netzwerke als soziales Kapital, das Migrationsverhalten beeinflussen kann: Chancen, Widerstände, Haushaltsorganisation und die familiäre Gemeinschaft sind Kriterien zum Blei-ben oder Auswandern. Migrantische Netzwerke haben laut Portes und Sensen-brenner alle Formen sozialen Kapitals inkorporiert.

Soziales Kapital ist daher ein wichtiger Bestandteil von Migrationsbewegungen. Netzwerke als soziales Kapital sind eingebunden in Entscheidungsprozesse, das Land zu verlassen, die Wanderbewegung zu finanzieren und sie bieten oft überlebenswich-tige Informationen. Darüber hinaus dienen sie als Ressourcen für Hilfeleistungen, die der von Bourdieu entworfenen Theorie des Tausches von Kapitalien folgen.

Mand (2006) fokussiert in der Analyse von Literatur über Migration in Südostasien soziales Kapital von transnational organisierten Familien und wider-legt die These, dass soziales Kapital durch Prozesse des Wandels nicht generiert und erhalten werden könne (vgl. Coleman 1990; Putnam 1995). Im Gegenteil, transnationale Beziehungen verhindern die Generierung von sozialem Kapital nicht, sondern sind kreative und innovative Praktiken, die soziale Netzwerke er-halten, reproduzieren und benutzen (Mand 2002). Hier schließt sie mit der Ana-lyse ritueller, nachhaltiger und monetären Rückhalt bildender Praktiken der transnational agierenden Migranten an die Theorie sozialer Praxis von Bourdieu an. In südostasiatischen Migrationskontexten ist Migration eine Entscheidung des Haushalts und an die Bedürfnisse aller Mitglieder gekoppelt. Gleichzeitig beeinflusst Migration die Erfahrungswelten der Familien und ihre Beziehungen untereinander. In diesem Sinne, so die These, ist Migration ein Katalysator für Wandel und mündet in neue Arten von Zugehörigkeiten. Diese neuen Formen der sozialen Beziehungen von Akteuren und Orten werden durch die oben ge-nannten Praktiken zum Ausdruck gebracht und haben unmittelbaren Einfluss auf die Hervorbringung, den Gebrauch und die Umwandlung sozialen Kapitals und rücken die Perspektiven von gender und Generation in den Blick. Mand führt beispielhaft unterschiedliche ethnische Gruppen hinsichtlich ihrer Migrationsge-schichte, Verwandtschaftsstrukturen, religiösen Identitäten, Familienzusammen-führungen, Geldüberweisungen, Rituale der Verheiratung an und legt dar, dass allen sozialen Praktiken eine Dynamik zugrunde liegt, die sich auf die Generie-rung und Umwandelbarkeit sozialen Kapitals überträgt (Mand 2006).

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226 Annemarie Gronover und Gertraud Koch

Bourdieus Theorieansatz von Ungleichheit, Macht und sozialem Kapital be-zieht sich zwar nicht explizit auf gender, hat jedoch eine Reihe feministischer Studien inspiriert (vgl. z.B. Krais 2006, weiterführend Siegmann/Thieme 2007). Siegmann und Thieme setzen an der Konzeptionalisierung sozialer Netzwerke als soziales Kapital an und kritisieren, dass Migrationsprozesse oftmals auf Indi-viduen, Haushalte und ökonomische Schwachstellen sowie das politische Mana-gement von Migration reduziert werden. Sie konzeptionalisieren im Rückgriff auf die Theorie der Praxis von Bourdieu eine geschlechtsspezifische Koppelung zwischen sozialem Kapital als analytischem Instrument und der „vulnerability“, einem Zustand der Wehrlosigkeit, Unsicherheit, Schock und Stress (Chambers 1989, zitiert in Siegmann/Thieme 2007: 3). Anhand der Migrationsliteratur aus asiatischen Ländern zeigen die Autorinnen auf, dass die Bindung sozialen Kapi-tals einen hohen Grad des Ausschlusses von Nicht-Mitgliedern sozialer Netz-werke bedeutet, was wiederum mit Ungleichheit und „vulnerability“ verbunden ist (ebd.: 5). Ferner kritisieren sie am Beispiel feministischer Forschungen, dass soziales Kapital oftmals naiv mit sozialen Netzwerken gleichgesetzt wird, die sowohl Güter vermehren als auch Armut und „vulnerability“ reduzieren (ebd.: 7). Die Forschungen, vor allem über Haushaltsorganisationen und Politik, zei-gen, dass Frauen diejenigen sind, die von sozialen Netzwerken und den damit verbundenen Ressourcen, der Generierung und Umwandelbarkeit, ausgeschlos-sen sind. Die Umwandelbarkeit von sozialem Kapital folgt nicht einem einfachen kostendeckenden Mechanismus, der Armut und „vulnerability“ mindert, sondern ihm sind asymmetrische Kosten und Gewinne eingeschrieben, die den unter-schiedlichen Rollen von Frau und Mann in Netzwerken immanent sind. Parado-xerweise investieren Frauen oftmals in soziale Netzwerke, ohne fähig zu sein, diese in Kapital umzuschlagen (ebd: 12, 18). Dies entspricht Bourdieus Theorie der Praxis, vor allem in Bezug auf das soziale Kapital, denn soziales Leben ist konfliktbehaftet, kontradiktorisch und soziales Kapital fungiert als ein Instru-ment der Macht und Unterdrückung (ebd.: 15). Andererseits ist Unterdrückung nach Bourdieu ein analytisches Werkzeug, mit dem in sozialen Netzwerken „vulnerability“ beleuchtet werden kann. Thieme und Müller-Boecker (2004) de-monstrieren am Beispiel nepalesischer Frauen, die ihren migrierenden Männern nach Delhi / Indien folgen, dass diese durch Vermeidung der kastenregulierten Kommunikation der Männer fähig sind, eigenfinanzierte Selbsthilfegruppen zu etablieren, in denen sie ökonomisches Kapital akkumulieren können, um von der Dominanz ihrer Männern unabhängiger zu sein. Soziales Kapital ist Ausgangs-punkt für die Umwandlung in ökonomisches Kapital. Das Moment der Umwand-lung der Kapitalien als soziale Praxis, die sich gegen die Erfahrung der Unter-

Page 222: Mehrwertiger Kapitalismus: Multidisziplinäre Beiträge zu Formen des Kapitalismus und seiner Kapitalien

Zur Übertragbarkeit von Kapitalien 227

drückung richtet, ermöglicht Widerstand und somit kollektive Aktionen (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006). Siegmann und Thieme leisten eine theoretische Ver-bindung von sozialem Kapital und der Theorie der Praxis, indem sie soziales Kapital als Macht definieren, die als Instrument zur Produktion und Reprodukti-on weiblicher Unterdrückung fungieren kann, aber auch als Basis für Wider-stand. Durch Bourdieus Theorie der Praxis und des sozialen Kapitals kann, über-tragen auf feministische Analysen, eine Verbindung von einem gendered sozialen Kapital und „vulnerability“ hergestellt werden.

Bourdieu hat empirisch vornehmlich Transformationsbeziehungen zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital erforscht, dabei stand die Familie für den Erwerb des kulturellen Kapitals im Vordergrund. Die Transformierbarkeit sozialen Kapitals reißt Bourdieu lediglich an (Bourdieu 1983: 193ff.). Die Stu-dien erweitern die Engführung beziehungsweise Vernachlässigung sozialen Ka-pitals, indem sie das heuristische Instrument des sozialen Kapitals für die Analy-se transnationaler Migrationprozesse anwenden, auch wenn eine theoretische Verlinkung sozialen Kapitals mit den anderen Kapitalsorten und der Theorie der Praxis nur partiell geleistet wird. Zunächst gewinnt man die Einsicht, dass sozia-les Kapital eine Multiplikatorenrolle für ökonomisches, weniger kulturelles Ka-pital einnimmt und soziales Kapital stets im Zusammenhang mit sozialen Netz-werken steht, die die Gestaltungschancen zur Generierung, Akkumulation und Umwandlung der Kapitalien besitzen. Hierbei wird besonders der kreative und selbstgestalterische Anteil von Akteuren betont, die im Gegensatz zu Bourdieus Fokussierung auf Gruppen in den Vordergrund treten, und soziale Netzwerke im Rückgriff auf Bourdieus Theorie der Ungleichheit und Macht unter dem gender-Aspekt betrachtet. Aufschlussreich ist die theoretische Verbindung des Konzepts des sozialen Kapitals mit der Theorie der Praxis, da hier auf der Mikroebene so-ziale Praktiken der Akteure, vor allem hinsichtlich der Umwandelbarkeit von Kapitalien, in den Blick genommen werden und die Komplexität sozialen Kapi-tals gezielt beleuchtet wird. Dies kann als ein wesentlicher Beitrag zur Spezifi-zierung sozialen Kapitals, das Bourdieu im Vergleich zu den anderen Kapitalsor-ten weniger präzise ausarbeitete, gelesen werden.7 Für eine Untersuchung des sozialen Kapitals in transnationalen Kontexten, die die Umwandlung von Kapita-lien in ihrem Wechselspiel untereinander und deren Transferierbarkeit über nati-onale Grenzen hinweg fokussieren, müssten jedoch Mikro-, Meso- und Makro-ebene und die Transaktionskosten beziehungsweise -verluste stärker berück-sichtigt und systematisch in die Theorie der Praxis integriert werden.

7 Vgl. hierzu auch die Studie von Dahinden (2005) über Wanderungsverläufe und soziale Netz-

werke albanisch sprechender Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien.

Page 223: Mehrwertiger Kapitalismus: Multidisziplinäre Beiträge zu Formen des Kapitalismus und seiner Kapitalien

228 Annemarie Gronover und Gertraud Koch

2.3 Kulturelles Kapital Der Bildungsbereich ist einer der Bereiche, denen sich Bourdieu intensiv ge-widmet hat. Er hat es dabei nicht bei theoretischen Erkenntnissen bewenden las-sen, sondern hat sich auch für die Umsetzung dieses Wissens in der französi-schen Bildungspolitik eingesetzt.8 Bourdieu sieht das Bildungswesen als einen Kernbereich für die Reproduktion von sozialen Ungleichheiten an, weil hier Hie-rarchisierungs- und Exklusionsprozesse strukturell angelegt sind, die Ungleich-heiten immer wieder aufs Neue objektivieren und festschreiben.

Allein durch Bildung ist die Kapitalsorte des kulturellen Kapitals zu erwer-ben, die als inkorporiertes Wissen nur durch großen, zeitlichen Einsatz und intel-lektuelle Anstrengung erworben werden kann, welche zudem persönlich erbracht werden müssen und nicht an Dritte delegiert werden können. Erheblich leichter können diese Mühen bewältigt werden, wenn vorhandene materielle Ressourcen notwendige zeitliche Freiräume gewährleisten und auch kulturelles Kapital in objektivierter Form, also Kulturgüter wie Gemälde, Literatur, Musik usw., das Lernumfeld prägen (Bourdieu 1991: 159f.). Zentral ist dabei, das „richtige“ Wis-sen zu erwerben, denn nicht alle Wissensbereiche genießen gleichermaßen hohe gesellschaftliche Wertschätzung und damit die Anerkennung, die Wissen wert-voll und verwertbar macht (Bourdieu 1991: 153). Weitere Aufwertung erfährt solchermaßen erworbenes Wissen, wenn es in Form von Bildungsabschlüssen institutionell bestätigt werden kann und dann als institutionalisiertes kulturelles Kapital eine formelle, also eher kalkulierbare Anerkennung erfährt, als dies bei inkorporiertem kulturellen Kapital der Fall ist.9

Für die Migrationsforschung liegt es nahe, den Bourdieuschen Kapitalansatz zum Ausgangpunkt für solche Studien aufzugreifen, die den Bildungsbereich in den Blick nehmen. Kulturelles Kapital lässt sich durch Arbeit in ökonomisches Kapital umwandeln, ist aber auch eine wesentliche Voraussetzung für den Erwerb von sozialem Kapital, also für die Partizipation in sozialen Gemeinschaften. 8 Vgl. hierzu den von Margareta Steinrücke herausgegebenen Sammelband (Bourdieu 2001), in

dem einige Beitrage von Pierre Bourdieu zu Bildung, Schule und Politik aus unterschiedlichen Schaffensperioden ins Deutsche übertragen und zusammengefasst sind.

9 Das objektivierte kulturelle Kapital als dritte Form spielt in diesem Kontext keine unbedeuten-dende, aber dennoch eine untergeordnete Rolle. Zwar wirkt es durch seine bloße Anwesenheit auf den Erwerb von inkorporiertem kulturellem Kapital ein und kann in ökonomisches Kapital transferiert werden, in der Migrationsforschung stellt es jedoch (bisher) keine Bezugsgröße dar und wird deswegen in der weiteren Betrachtung ebenfalls unerwähnt bleiben. Dies ist schon des-wegen der Fall, weil objektiviertes kulturelles Kapital in Migrationssituationen nur selten transfe-riert wird. Auch ist generell zu berücksichtigen, dass objektiviertes kulturelles Kapital nur als materielles und symbolisches Kapital fortbestehen kann, wenn es von dem Handelnden angeeig-net und im sozialen Feld der kulturellen Produktion, also Wissenschaft, Kunst usw. und der sozi-alen Klassen eingesetzt werden kann (Bourdieu 2001: 118).

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Der Kapitalansatz von Bourdieu wird in der bildungsbezogenen Migrations-forschung in unterschiedlicher Form aufgegriffen:

(a) Schulen werden als Orte thematisiert, in denen ein struktureller Aus-schluss von Migranten stattfindet. Dabei stehen Reproduktionen von Ungleich-heiten oder gar Rassismus (Flam 2007) im Vordergrund, die verdeutlichen sol-len, dass die fehlende soziale Mobilität von Migranten nicht selbstverschuldet, sondern strukturell angelegt ist.10 Solche Ansätze machen nachvollziehbar, wie das so genannte „othering“, das stete Rückverweisen auf die Andersartigkeit der Migranten, im Alltag unbewusst und beiläufig geschieht (z.B. Mannitz 2006). In diesen Studien wird auf Bourdieus Überlegungen nur als allgemeine Referenz für die Mechanismen der Ungleichheit Bezug genommen.

(b) Explizit erkenntnisleitender Theorieansatz ist Bourdieus Kapitalbegriff dort, wo die Bildungsbeteiligung von Migrantenkindern mit deren (mangelnder) Kapitalausstattung erklärt wird. Im Vordergrund steht auch hier, wie die konkre-ten Mechanismen des Ausschlusses funktionieren. Darüber hinaus werden die Strategien der Akteure thematisiert, die aktiv mit den strukturellen Bedingungen der Bildungssysteme umgehen, indem sie diese als Rahmen ihrer eigenen Ent-scheidungen berücksichtigen. Handeln und Struktur werden so in Relation zu-einander gesetzt, dass sie dem praxistheoretischen Charakter des Kapitalansatzes bei Bourdieu besser gerecht werden als Perspektiven, die nicht relational argu-mentieren. Aber auch Investitionsstrategien von Migranten in kulturelles Kapital und für den Erwerb von kulturellem Kapital werden in den Blick genommen (z.B. Diefenbach/Nauck 1997; Barber 2000; Waters 2006).

(c) Zentraler Bezugspunkt ist Bourdieus Kapitalansatz auch in Forschungen zur Migration Hochqualifizierter (Nohl et. al. 2006; Barber 2000). In solchen Perspektiven wird kulturelles Kapital als Voraussetzung für Migrationsentschei-dungen und -möglichkeiten aufgegriffen. Dabei geht es um die Frage, welche Gelegenheitsstrukturen und Sanktionsmechanismen Migranten vorfinden. Der Forschungsfokus wird hier verschoben von einer Problematisierung der Migrati-onsfolgen hin zu den Potenzialen der Migration für Nationalstaaten, die Migran-ten und ihr kulturelles Kapital „als zentrales Element volkswirtschaftlicher Vita-lität und Prosperität“ anziehen können (Nohl et al. 2006: 1).

In Relation zum Forschungskorpus der bildungsbezogenen Migrationsfor-schung arbeiten nur wenige Autoren konzeptionell mit dem Bourdieuschen An-satz, wobei einige relevante Einsichten gewonnen werden konnten. Migration, so stellen die beiden Forscher Diefenbach und Nauck (1997) fest, zielt meist auf die

10 Vgl. auch Bukow/Llaryora (1988).

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Umwandlung von kulturellem in ökonomisches Kapital11; dabei sind der Kon-vertierung allerdings enge Grenzen gesetzt, welche nicht nur nationalstaatlicher bzw. einwanderungsrechtlicher Art sind, sondern wesentlich mit den Wahrneh-mungen des kulturellen Kapitals durch die Aufnahmegesellschaft zusammen-hängen. Wie bei allen Kapitalsorten erschließt sich der Wert des kulturellen Ka-pitals symbolisch. „Das symbolische Kapital ist eine beliebige Eigenschaft (eine beliebige Kapitalsorte, physisches, ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital) wenn sie von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, deren Wahrnehmungska-tegorien so beschaffen sind, dass sie sie zu erkennen (wahrzunehmen) und anzu-erkennen, ihr Wert beizulegen, imstande sind“ (Bourdieu 1998: 108, Klammer-setzungen im Original). Die gleichermaßen begrenzende und ermöglichende Wirkung solcher Wahrnehmungskategorien für Migrationsoptionen zeigt sich am Beispiel von Philippinas, welche als gut gebildete, freundliche und mit guten Umgangsformen ausgestattete Arbeitskräfte insbesondere in Haushalten bzw. im Pflegebereich von westlichen Industriegesellschaften und arabischen Ländern, also unterhalb ihrer im Heimatland erworbenen Bildungsabschlüsse, in Lohn und Brot kommen. Als Transaktionskosten, die sie für die Umwandlung dieses kultu-rellen Kapitals in ökonomisches Kapital aufbringen müssen, gehört unter ande-rem die Festschreibung auf diese Arbeitssektoren und somit auch der eigenen so-zialen Lage innerhalb dieser Gesellschaften (Barber 2000).

Kulturelles Kapital ist, das belegt dieses Beispiel eindrücklich, nicht ohne weiteres über Grenzen hinweg zu transferieren, selbst dann, wenn es institutiona-lisiert, also durch formelle Bildungsabschlüsse belegt ist. Dies haben in Deutsch-land insbesondere zahlreiche deutschstämmige Osteuropäer bei ihrer Einbürge-rung erfahren, wenn sie trotz guter Zeugnisse aus dem Heimatland keine Anstellung als Ingenieurin oder Lehrer fanden, sondern nur noch minder qualifi-ziert als Haushalts- und Putzhilfe oder im Sicherheitsdienst tätig werden konnten (Konietzka/Kreyenfeld 2001).

Der Erwerb von kulturellem Kapital vollzieht sich nach Bourdieu „in der Relation zwischen den Strategien der Familien und der spezifischen Logik des Bildungssystems“ (Bourdieu 1998: 35). Dabei bildet das kulturelle Kapital einer Familie einen wichtigen Vorteil für den Erwerb von Humankapital in der Folge-generation, weil dieses im Laufe der Sozialisation angeeignet und verinnerlicht wird. Die schlechte Transferierbarkeit im (symbolischen) Wert des kulturellen Kapitals, die durch die Migrationssituation bedingt ist, lässt sich, wie eine Studie

11 Diese Erkenntnis von Diefenbach und Nauck scheint uns insbesondere für die arbeitsbezogene

Migration zuzutreffen. Andere Formen der Migration wie die Flucht und Vertreibung folgen eher anderen Transformationsmustern.

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von Diefenbach/Nauck (1997) zeigt, durch soziales Kapital ausgleichen, wenn auch nur partiell. Sie stellen fest, dass der Bildungserfolg von spanischen Migrantenkindern im deutschen Bildungssystem vor allem darin begründet liegt, dass deren Eltern über die Gründung von Vereinen und Lobbyarbeit bis auf Bundesebene fehlendes kulturelles Kapital in den Familien, in Form von man-gelnden Sprachkenntnissen und Alltagswissen, und auch die strukturellen Be-nachteiligungen in der Schule ausgleichen konnten. Kulturelles Kapital kann sich bei den Migrantenkindern in diesen Fällen deswegen bilden, weil erhebliches so-ziales Kapital von Elternseite erarbeitet und eingesetzt wird, um notwendiges kulturelles Kapital zu organisieren. Die Anwesenheit und der Einsatz von sozia-lem Kapital kann fehlendes kulturelles Kapital aufwiegen und in gewissen Teilen ersetzen, so dass an dieser Stelle die Relationalität von Kapitalsorten festzuhalten ist (vgl. auch Seitter 1999). Für die Frage der Transferierbarkeit von Kapitalien rücken einmal mehr die für Bourdieu so wichtigen Praktiken der Akteure in den Blick, die durch kreatives Investieren und Mischen verschiedener Kapitalformen das Fehlen einzelner Sorten ausgleichen können, um sich an die jeweiligen An-forderungen eines sozialen Feldes anzupassen. Neben der Höhe und den Anteilen der einzelnen Sorten muss also auch ihr Einsatz und ihr Zusammenwirken in konkreten Situationen betrachtet werden, wenn eine realistische Einschätzung der daraus erwachsenden Handlungsfähigkeiten möglich werden soll.

Allerdings ist die reiche Ausstattung mit kulturellem Kapital nicht automa-tisch von Vorteil. In der Migrationssituation wird das in einer Familie vorhande-ne kulturelle Kapital häufig stark entwertet, weil es im Wesentlichen staatliche, also nationale, Instanzen sind, die den symbolischen Wert von kulturellem Kapi-tal kodifizieren (Bourdieu 1998: 113) und deswegen dessen Wert(-schätzung) an Inhalten, Selektionskriterien und Zertifikaten des jeweiligen Bildungssystems ausgerichtet ist. Eltern mit Migrationshintergrund stehen bei der Platzierung der Folgegeneration in besonderer Weise vor der Entscheidung, wie sie ihre Res-sourcen einsetzen sollen und welche Investitionsstrategien für ihre Kinder sinn-voll sind. In Abwägung der drei Kapitalsorten gegeneinander gilt die Investition in kulturelles Kapital als aussichtsreichste Strategie für alle Geschlechter, weil die Chancen für einen nachhaltigen Kapitalaufbau und Erwerb einer guten sozia-len Stellung am ehesten gegeben sind. Die gute Rück-Transferierbarkeit vom kulturellen Kapitel der Migrantenkinder in ökonomisches Kapital scheint in hoch spezialisierten Wissensbereichen, wie etwa im Ingenieurwesen, am ehesten mög-lich, da dort der ergänzende Besitz von weiteren Kapitalsorten, etwa die Teilhabe an Netzwerken, weniger wichtig ist als in anderen Sektoren (wie Wirtschaft oder Politik). Auch für die Positionierung im Herkunftsland bzw. in ethnischen Netz-

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werken ist solches Kapital sehr nützlich, gerade auch für junge Frauen bezüglich ihrer Heiratsaussichten, weil ein hoher Bildungsstatus und die Aufenthalts- bzw. Arbeitsgenehmigung sich positiv auf das Ansehen auswirken und so das soziale Kapital der Familie steigt (Diefenbach/Nauck 1997: 285).

Die Transferierbarkeit von kulturellem Kapital über Ländergrenzen hinweg ist nur mit Schwierigkeiten möglich, weil diese Kapitalsorte relativ stark lokal gebunden ist (Faist 1997: 2006). Das kulturelle Kapital eines Menschen wird in Migrationssituationen nur ausschnitthaft anerkannt, ungelernten Arbeitern ergeht es hier nicht anders als hochqualifizierten Expatriats. Was kulturelles Kapital ist, wird also letztlich symbolisch verhandelt und ist somit eine Frage des Kennens und Anerkennens (Fröhlich 1994). Bezüglich der lokalen Bindung von kulturel-lem Kapital sind damit eine Reihe an Fragen aufgeworfen, die sich auf die Ur-sachen für diese Ortsbindung richten, und auch auf möglichen Optionen, einzel-ne Bestandteile im kulturellen Kapital länderübergreifend als wertvoll wahr-zunehmen (Nohl et al. 2006).

Die Umwandelbarkeit von kulturellem Kapital in ökonomisches folgt nicht vorgegebenen Pfaden, auch wenn es in institutionalisierter Form, also in Form von Bildungsabschlüssen und Zertifikaten vorliegt. Sie ist nur äußerst schwer kalkulierbar. Schon Bourdieu selbst hat diese symbolische Strukturierung von Bildungsabschlüssen thematisiert, die etwa durch die unterschiedliche Reputati-on der Institutionen erfolgt, die die Abschlüsse verteilen (Bourdieu 1991: 143f., 1998: 37 ff.). Aus der Migrationsforschung lässt sich diese Einsicht dahingehend ergänzen, dass eine weitere symbolische Strukturierung von institutionalisiertem kulturellem Kapital entlang von (nationalstaatlich organisierten) Bildungssyste-men erfolgt, die die Verteilung der Zertifizierung von Bildungserfolgen regulie-ren. Und auch die ethnische Zugehörigkeit ist ein symbolisch strukturierender Faktor für kulturelles Kapital, mit negativ konnotierten Effekten12 (Weiß 2001; Schittenhelm 2005). Die metastrukturierende Wirkung des symbolischen Kapi-tals beeinflusst hier den Wert der jeweiligen Kapitalien entscheidend. Für die Migrationsforschung und die damit einhergehende Notwendigkeit zur Kapital-übertragung in neue soziale Räume und Felder, ist dabei insbesondere auch die Einsicht wertvoll, dass es vielfach die staatliche Ebene ist, die der Transferier-barkeit von Kapitalien enge Grenzen setzt, indem sie über privat- und staats-rechtliche Regelungen Strukturen der Wahrnehmung bestimmt und damit die Gliederungsprinzipien sozialer Anerkennung kodifiziert (Bourdieu 1998: 109).

Die Erkenntnisse, die auf Grundlage des Kapitalansatzes in der bildungs-bezogenen Migrationsforschung gewonnen wurden, sind insgesamt facettenreich 12 Zu potenziell negativen Aspekten des sozialen Kapitals vgl. auch Portes/Landolt (2000).

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und heterogen und stehen für die Einsicht, dass auf der Basis des Bourdieuschen Kapitalansatzes relevante wissenschaftliche Beiträge für dieses Feld erbracht werden können. Der Ansatz wird, wohl weil eine umfassende Methodologie noch nicht vorliegt und diese angesichts der Komplexität ggf. eine äußerst auf-wändige Operationalisierung erfordern würde, dabei vor allem heuristisch, als Ausgangspunkt für das Forschungsdesign oder als Interpretationsrahmen der Er-gebnisse, genutzt. Ein zusammenfassendes, knappes Fazit für die Transferierbar-keit von kulturellem Kapital muss vor diesem Hintergrund relativ allgemein bleiben und kann dabei auf eine von Bourdieu selbst formulierte theoretische Einsicht zurückgreifen: „Genau wie ökonomischer Reichtum erst als Kapital fungieren kann, wenn er auf einem ökonomischen Feld eingesetzt wird, werden kulturelle Fähigkeiten in allen ihren Formen zu kulturellem Kapital erst in den objektiven Verhältnissen, die zwischen dem ökonomischen Produktionssystem und dem System hergestellt werden, das die Produzenten produziert (und das wiederum aus der Beziehung zwischen Schulsystem und Familie entsteht)“ (Bourdieu 1993: 226; Klammersetzung im Original). Kulturelles Kapital ist ähn-lichen Mechanismen unterworfen wie ökonomisches Kapital und kann seine Wirkung erst in einem sozialen Feld entfalten, das einen spezifischen Hand-lungs- und Deutungsrahmen für die Bewertung und den Umgang mit dem Kapi-tal bereitstellt. Wissen und Können von Migranten kann also überhaupt erst als kulturelles Kapital wahrgenommen und anerkannt werden, wenn sie dieses in einem konkreten sozialen Feld einsetzen und dort erreichen, dass seine Wahr-nehmung wie auch Anerkennung verhandelt werden.

3 Fazit: Zur Übertragbarkeit von Kapitalien Die Migrationsforschung hat einige Befunde erbracht, die zeigen, dass dieses Bourdieusche Konzept sinnvoll zur Mehrung der Erkenntnisse in diesem Feld der Mobilität und Mobilisierung eingesetzt werden kann, und kann zudem auch die im Titel dieses Beitrags anvisierten Einblicke in die Mehrwertigkeit von Ka-pitalien erbringen. Bewusst wird hier eher banalisierend von „Einblicken“ ge-sprochen, um deutlich zu machen, dass die gewonnenen Einsichten nur Schlag-lichter zur Ergänzung und Erläuterung eines komplexen theoretischen Ansatzes sein können, der sein analytisches Potenzial erst in vollem Umfang entwickeln wird, wenn er in einem iterativen Prozess von empirischer Analyse und Theorie-arbeit weiter ausformuliert und präzisiert worden ist. Bourdieu selbst ist sich die-ser Notwendigkeit bewusst, wie seine vielfältigen Verweise auf die enorme Komplexität der empirischen Zusammensetzung von Kapitalien zeigen (z.B.

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Bourdieu 1993: 146). In diesem Sinne sollen die nachfolgenden Überlegungen weniger Ergebnisse, als vielmehr neue Anknüpfungspunkte, neues Material, zur weiteren Entwicklung des Bourdieuschen Kapitalansatzes formulieren.

Bis auf wenige Ausnahmen legen die ausgewerteten Studien den Eindruck nahe, dass Bourdieu als Impuls für die Forschung vor allem auf begrifflicher Ebene aufgenommen wurde, aber in seinem theoretischen Potenzial erst ansatz-weise wahrgenommen und deswegen auch nur selten eine systematische Opera-tionalisierung seines Kapitalienansatzes versucht wird. Dies äußert sich auch in einer eher allgemeinen Referenzierung der Bourdieuschen Schriften, wenn im Kontext der Migration entstandene soziale Ungleichheiten thematisiert werden. So sind die Kapitalien in der Migrationsforschung meist nicht mehr als ein heu-ristisches Konzept, das neue Ebenen zur Beschreibung der beobachteten Phäno-mene ermöglicht. Für eine umfassende Operationalisierung wäre angesichts der Komplexität von Praxisformen und auch der von Bourdieu selbst geforderten ho-listischen Analyse sozialer Phänomene eine sowohl quantitativ als auch qualita-tiv begründete Methodologie zu leisten. Dies ergibt sich schon daraus, dass eine detaillierte Analyse von Kapitalien mit Mikro, Meso, Makro verschiedene ge-sellschaftliche Ebenen in Betracht ziehen muss, was häufig forschungspragmati-schen Erfordernissen und auch vorhandenen Ressourcen zuwider läuft, so dass die meisten Studien nur eine oder allenfalls zwei der genannten Ebenen themati-sieren, indem sie etwa Mechanismen des strukturellen Ausschlusses analysieren und dabei u.U. noch die Reaktion der Akteure einbeziehen.

Das Gefühl von Fremdheit, das sich im Zuge von Migrationsprozessen ein-stellt, weist darauf hin, dass es Habitusinkonsistenzen gibt, zu deren Überwin-dung eine Anpassung der individuellen Kapitalien an den sozialen Raum oder das soziale Feld notwendig werden, in dem man sich neuerdings bewegt. Dabei wird die Umwandlung von Kapitalien in neue Anerkennungsstrukturen ebenso notwendig sein wie die Reorganisation der Kapitalzusammensetzung, also des Bestandes an verschiedenen Sorten, um sich innerhalb des neuen Machtgefüges gut zu positionieren. Eine Transferierung ist nur bei ökonomischem Kapital rela-tiv einfach möglich, wobei auch hier mehr oder minder kleine Verluste bei der Transaktion entstehen können. Andere Kapitalsorten wie kulturelle und soziale Kapitalien sind hingegen relativ stark lokal und regional gebunden (Faist 2006) und verlieren bei einem Transfer in ein neues Feld stark an Wert oder gehen schließlich ganz verloren. Zudem werden sie Transformationen erfahren müssen, wenn man sie in einem neuen sozialen Umfeld zum Einsatz bringen will. Wer die Mehrwertigkeit von Kapitalien verstehen will, wird deswegen vor allem die Möglichkeiten und Verluste, die Bedingungen und Begrenzungen, die Relatio-

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nen zwischen den einzelnen Kapitalsorten und ihre symbolische Metastruktur in Betracht ziehen müssen, die bei solchen Transferprozessen wirksam werden.

Auf phänomenologischer Ebene ist auf Basis des Bourdieuschen Kapital-ansatzes in der Migrationsforschung die Einsicht gewachsen, dass die Transferie-rung und Transformation von Kapitalien nur schwer zu leisten ist, insbesondere dann, wenn mehrere Kapitalsorten gleichzeitig angesprochen sind. Viele Men-schen schaffen diese in Migrationssituationen notwendige Umwandlung der Ka-pitalien nicht. Nur 2 % der Weltbevölkerung entscheiden sich überhaupt für die Option einer Migration, wobei die Zahl an potenziellen Migranten weitaus höher liegt. Der Migrationsforscher Thomas Faist macht für diese Sesshaftigkeit die lokale Verortung von Kapitalien bzw. die hohen Transaktionskosten für deren Übertragung in neue soziale Kontexte verantwortlich (Faist 1997).

Soziale Felder und ihre spezifischen Kapitalien wie das soziale und kulturel-le Kapital, die Bourdieu bereits intensiver durchdacht hat, werden auch in der Forschung perspektiviert und bearbeitet. Es findet jedoch keine systematische Übertragung des Kapitalbegriffs auf andere gesellschaftlichen Felder und die dort relevanten Kapitalsorten, etwa juristisches oder politisches Kapital statt, wie dies bei Bourdieu bereits angelegt ist. Darüber hinaus wäre im Feld der Migration, in dem soziale und institutionelle Strukturen mit transnationalem Charakter von gro-ßer Bedeutung sind, auch zu überlegen, inwieweit sich die benannten Kapitalfor-men hier äußern und eingesetzt werden können (Nohl et al. 2006), aber auch, ob dabei eine neue Kapitalsorte – transnationales Kapital – entstanden sein könnte.

In diesem Sinne erheben die ausgewerteten Studien auch nicht den An-spruch, einen über die Migrationsforschung hinausgehenden Beitrag zur Theo-riebildung zu leisten und den Bourdieuschen Kapitalansatz aus diesem Praxisfeld Migration heraus auszuformulieren und weiterzuentwickeln. Hierzu gäbe es viel-fältige Anlässe und Möglichkeiten, wie die oben bereits angesprochene Frage, ob in Zeiten der Globalisierung so etwas wie ein transnationales Kapital entstanden sein könnte. Auch die von Bourdieu konstatierte Dominanz des symbolischen Kapitals wirft vielfältige Fragen auf, für deren Bearbeitung Migrationsphänome-ne ein hervorragendes Feld bieten, weil diese insbesondere für Kapitalübertra-gung häufig Konflikte um die Anerkennung der migrantischen Kapitalien auf-werfen (vgl. z.B. Esser 1996) und damit geeignet sind, Bedingungen der Akku-mulation und des Verlusts von symbolischem Kapital besser zu begreifen und insgesamt ein umfassenderes Verständnis für dessen strukturierende Wirkung auf alle übrigen Kapitalsorten zu gewinnen.

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Ethics as Capital: Eggs, Research Governance and the Politics of Representation

Jacquelyne Luce

1 Introduction In 1999 I interviewed a 29 year old woman, Nora, in a small northern Canadian city about her thoughts, plans and expectations about getting pregnant. Although she had tried to get pregnant before and was still hoping to, she had gone back to university and had decided to put the plans to become pregnant on hold. During the conversation, I mentioned an article that had recently appeared in the New Yorker magazine (Mead 1999) reporting that women were being paid U.S. $15,000-$20,000 to ‘donate’ their eggs for fertility purposes. Nora looked at me, questioningly: “$15,000-$20,000?” “That was a high amount,” I replied. She nodded, “Hmm. It sounds too good to be true.” I described the content of the ar-ticle a bit more, as well as the advertisement that had inspired it. Nora reflected:

But, I mean, the donor … I mean it’s, if she wants to, it’s her responsibility to be responsi-ble to know what’s happening to her body. But if somebody is looking for a donor, there’s nothing wrong with that. But is education provided out there? Or are resources out there for women to research them? Because, if somebody put in an ad and I saw the ad, and, you know, $20,000 … Yeah, I’d want to do it. But I’d also want to check, have the resources to look into it. What’s going to happen to my body taking fertility [drugs]? How do I match my cycles to the other person’s cycle? And how much damage are they going to do to my body when they do surgery? And do I have to go for the surgery, or …?

As Nora’s trail of questions ended, I added, “I don’t think there is enough infor-mation about what it all does to our bodies. And, I think that those types of prices … For some women that would make a huge difference in their lives.” Nora reiterated: “It sounds too good to be true. Or, is $20,000 enough? Now you’ve got me thinking.”

The fact that I had mentioned the article, and had been the first person to in-troduce to Nora the amount of money that was potentially available to women willing to ‘donate’ eggs, has stayed with me for many years as I have inter-viewed women and men about the use of donor gametes (egg cells or sperm) in their process of trying to become a parent and their consent to donate gametes for use in another person’s attempts to become a parent and, more recently, for re-search. I could distinctly recall the sound of Nora’s voice as she contemplated what could be done with $20,000. What I had not remembered until just recently

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was the stream of questions that Nora had immediately posed and the statements she had made: “It’s her responsibility to be responsible … But is education pro-vided …? What’s going to happen to my body …?”

Writing this chapter nearly 10 years later, the ‘information’ that Nora would have wanted is still not yet widely available and, that which is, is not yet well un-derstood. Payment to women for eggs, provision of fertility services in exchange, or the ‘acceptance’ of so-called altruistic ‘donations’ has become, however, inte-grated into medical and scientific practice. In this chapter I explore some of the cultural, social and political questions associated with the commodification of egg cells and their flexible ‘value’ for so-called reproductive and research purposes. In doing so, I pay particular attention not only to what has been referred to as the human “egg trade” (Sexton 2005; Salleh 2007; Barnett/Smith 2006; EU Parlia-ment 2005), but also to the ways in which discursive constitutions and representa-tions of both health and ethics are significant for the accumulation and circulation of what I refer to as “ethical capital” in current life sciences, medical practice and research and the interface between the two. Although research involving egg cells has been undertaken in order to develop and improve treatments for infertility, the number of egg cells available for research use has been limited, but also not very visible, and attention to ethical issues within the context of both fertility treatment and reproductive research has concentrated on embryos. Drawing on a series of representations of research being conducted in the UK, I explore various represen-tations of ethics within the context of embryonic stem cell research, specifically that which involves somatic cell nuclear transfer, and the ways in which the repre-sentation and vocalisation of ethical standpoints has become a form of capital within globalising knowledge economies.

2 Representing Ethics in Legislation: Embryos and Egg Cells in Emerging Contexts

In the late 1990s, two scientific developments – the birth of a cloned sheep whose conception involved the method of somatic cell nuclear transfer (SCNT) in 1996, and the isolation of embryonic stem cells in 1998 – lead to a re-emergence of the visibility of extracorporeal embryos and egg cells.

In 1997, a research team announced the birth of a sheep named Dolly in 1996, the first mammal to be successfully cloned using an adult cell, which was inserted into an egg of another ewe and the developing embryo then gestated in yet another ewe.1 Somatic cell nuclear transfer offers the possibility to establish 1 The adjective “successful” was used in various press releases. Dolly was born after 276 other attempts.

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an embryo which is a genetic match to the animal or human from which the so-matic cell originated. Reports of this experiment invoked broader discussions about the ethical implications of cloning, and the potential to employ the tech-nique used in respect to humans.

The isolation of human embryonic stem cells in 1998 furthered these dis-cussions. Embryonic stem cells are considered in most contexts to be pluripotent rather than totipotent, offering the potential to differentiate into any cell in the body, but not the extraembryonic tissue that would be required for fetal devel-opment. However, this distinction has been argued by others to be a matter of rhetoric and a matter of perspective in the light of, for example, experiments which have demonstrated the potential to differentiate an embryonic “pluripo-tent” cell into a gamete which is then totipotent (Denker 2003; Newcastle Uni-versity Press Office 2006). Whereas discussions concerning the use of egg cells or embryos in medicine had centred predominantly on issues related to infertility treatment and management or broader reproductive medicine developments (with genetic testing of embryos often being encompassed by this frame), embryonic stem cell research was represented as holding the potential to change health care in general. One of the early media statements following the 1998 announcement of the isolation of embryonic stem cells declared:

The long-awaited discovery of so-called human embryonic stem cells – the primordial human cells that give rise to all the specialized tissues in a developing fetus – was hailed by researchers as a landmark event with vast biomedical potential. The cells multiply tirelessly in laboratory dishes, offering a self-replenishing supply from which scientists hope to grow replacement tissues for people with various diseases, including bone mar-row for cancer patients, neurons for people with Alzheimer’s disease, and pancreatic cells for people with diabetes (Weiss 1998).

Combined, embryonic stem cell research and the technique of somatic cell nu-clear transfer made much more plausible the possibility of future regenerative medicine therapies involving the body’s (or future patient’s) “master cells” or “building blocks” which could be directed to differentiate into particular cell types or even, potentially, entire organs. It is proposed that a somatic cell could be obtained from a patient requiring treatment and injected into an enucleated egg, which would then be chemically or electrically stimulated to divide. The re-sulting “embryo” and derived stem cell line would theoretically be of a makeup nearly genetically identical (notwithstanding mitochondria DNA from the cyto-plasm) to that of the patient and thus be immunocompatible.2

2 The therapeutic potential of embryonic stem cell research is contested, with some proponents ar-

guing instead that the greatest benefit will be with respect to studying (vs. treating) disease, pharmaceutical development and further activities in the emerging field of pharmacogenomics.

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The prospect of embryonic stem cell research raised and still raises series of questions, many of which focus on the status of the embryo which would be or is used for the research, but also on the justification of directing research funding and material and human resources to develop a specific field of “personalised” medicine which may be accessible only to a limited population (The Corner House 1999; GeneWatch 2005). Embryonic stem cell research in combination with somatic cell nuclear transfer, also referred to as cell nuclear replacement or therapeutic cloning, raised further, but also different, questions.

The status of the ‘embryo’ established was suspect in terms of its classifica-tion as an embryo in the first place.3 Whether or not this was an embryo accord-ing to prevailing understandings of what constitutes an embryo (an egg fertilised by sperm), stem cells could be theoretically derived from it and stem cells are considered “building blocks” of life. The new entity then, whether called an em-bryo or not, was a purposefully created ‘artificial’ artefact of nature, which could potentially be differentiated into organic material to be incorporated into bodies. The establishment of these embryos – the quotation marks signifying contested status now removed, a clarity engendered by their inclusion within the remit of the Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA) following a court decision in 2002 – would require eggs which could be enucleated and into which the nucleus from another cell could be integrated. The eggs, in the early stages of this research, were understood to come from the bodies of women. (More re-cently, stem cells have been differentiated into germ cells suggesting the possi-bility of a new source of eggs and research with animals as the “cytoplasma do-nors” is being pursued.) Thus, questions were posed about the instrumentation of women, and women’s reproductive capacities, in the name of scientific experi-mentation (see Sexton 2005; Dickenson 2006).

The means by which embryonic stem cell research involving cell nuclear replacement has been incorporated into existing legislative and discursive

3 Roberts and Throsby note that within the Newcastle University Press release regarding the HFEA

decision to allow “egg-sharing” for research purposes the term “embryo” is used only once, with an emphasis instead placed on eggs. They write: “The incorporation of ‘fresh’ eggs into existing scientific endeavours is also facilitated by the implicit construction of eggs as less ethically prob-lematic than embryos and, therefore, as fitting more comfortably into existing practices around requesting donation for research” (2008: 166). I would add that containing the discussion of the research to that of eggs also avoids engaging with questions regarding the embryo that, it is hoped, will be created as a result of the ‘donated’ egg. Here, narratives of egg donors can be helpful given the emphasis on the potential ‘non-value’ of eggs, which are ‘lost’ during men-struation each month. For women undergoing fertility treatment, however, an egg (whether one’s own or one that has been donated) is what is necessary to move ahead with a treatment cycle. Each egg may be perceived as a chance.

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frameworks of both medical research and current medical practice highlight the continuous re-ordering of new, competing and conflicting information into exist-ing repertoires of knowledge and understanding, as well as governance struc-tures. In 1999, the article in the New Yorker focused on the concept of an emerg-ing market in egg cells, the market price for which highlighted particular genotypic and phenotypic traits which were considered to be of value. The do-nated eggs were to be used in the process of creating an embryo or embryos which would then be transferred to, and if successful implantation occurred ges-tated by, a woman, possibly not the intended parent of the child. In these types of scenarios, which to some degree have become quite familiar given the prolifera-tion of so-called egg donation programmes in countries where it is permitted, the woman providing the eggs is represented as the ‘healthy’ ‘donor’ to a woman or a couple (male-female, male-male, or female-female) whose body or relationship is inscribed with the status of infertility. The use of egg cells for so-called repro-ductive purposes, as well as the means of retrieval involved, although becoming the subject of legal and social studies of kinship (see Konrad 2003; Nahman 2006), is, in the UK, a regulated and government supported dimension of in vitro fertilisation and associated practices and variations in treatment protocols. In question, rather, was the status of the embryo that might have resulted, the child who might have been born, and the reconfiguration of “narratives of conception” (see Franklin 1997). These questions were resolved through various pieces of specific legislation introduced to govern assisted reproduction and/or the legal status of novel family formations and the mobilisation of narratives of kinship which placed appropriate emphasis on distinctions between biological and ge-netic relationships, altruism, and intended parenthood.4 For example, in the UK, the Human Fertilisation and Embryology Act 1990 was implemented to govern both the practice of assisted reproduction involving the storage of eggs, sperm and embryos, but also access to assisted reproduction treatment. Section 13 of the HFE Act (only amended in 2005), which declared it to be the treating clini-cian’s responsibility to address the welfare of the child (including the need of that child for a father) made the restriction of fertility treatment to heterosexual couples a practice that many saw as being set in law. In the United States legisla-

4 Reading a number of the ethnographic studies of assisted conception published during the 1990s

and early 2000s (Franklin 1997; Franklin/Ragoné 1998; Cussins 1998; Becker 2000; Ragoné 2004), it is possible to view how what Cori Hayden (1995) calls “kinetic kinship” configures the same actions within alternative frames of kin recognition dependent on intended future relations. See also Luce (2002) for an analysis of how distinctions between genetic, biological and social contributions to parenthood are configured so as to establish symmetry rather than asymmetry be-tween the concept of two mothers.

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tion governing parental status has been enacted within the area of family law, which is state dependent, while the practice of assisted reproduction has for the most part been governed by professional guidelines (Becker 2000) rather than binding legislation. In Canada, there is also broad variation in practice, with paren-tal recognition relying predominantly on recorded documentation of parental status. Access to assisted reproduction services was governed by informal policies, health insurance coverage, availability of information, and since the mid-1990s precedent setting cases which found the barring of access to be counter to the Can-ada Health Act and Canadian Charter of Human Rights (Luce forthcoming).

The advent of advances in regenerative medicine simultaneously moved hu-man embryonic research outside of the frame of reproductive medical research and brought embryonic stem cell research within the governance frame of assisted re-production. Countries that did have a legislative framework under which medical practice and research involving embryos was included revisited and amended regu-lations to take account of the new scientific developments and permit further re-search. For example, the HFE Act when introduced in 1990 stipulated specific purposes for embryo research, which restricted research to that which would fur-ther knowledge about infertility and miscarriages and improve on fertility and re-productive treatments. In 2001, an amendment to the Act added the possibility of conducting non-reproduction related stem cell research. Thus, research governed by the Act must be for a minimum of one of the following purposes:

To promote advances in the treatment of infertility; To increase knowledge about the cau-ses of congenital diseases; To increase knowledge about the causes of miscarriage; To en-hance knowledge in the development of more effective contraception; Detection of genetic or chromosomal abnormalities before implantation; To increase knowledge about the deve-lopment of embryos; To increase knowledge about serious disease; or To enable any such knowledge to be applied in developing treatment for serious disease (HFEA 2004).5

A court decision in 2002 ruled that the regulation of research involving the estab-lishment of embryos by SCNT is within the remit of the HFEA; it was simply unknown at the time of implementing the Act that the creation of an embryo by SCNT would be possible. A distinct piece of legislation outside the boundaries of the HFEA, entitled the Reproductive Cloning Act, was enacted in 2001, ex-plicitly banning so-called reproductive cloning, or specifically, the transfer of a “cloned” embryo to a woman’s body. Thus, the UK, already recognised as hav-ing a thorough but permissive governance framework (Franklin 1997; Rob-erts/Throsby 2008) established a position of absolute distinction between repro-

5 See the HFEA website for details, http://www.hfea.gov.uk/en/1179.html (accessed 18.1.2008).

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ductive and research cloning in law and created a research context in which “re-search cloning” could proceed.

In contrast to the UK, Canada, where a Royal Commission on Reproductive Technologies was launched in 1989 and completed in 1993, only introduced overarching federal legislation in March 2004. Officially titled the Assisted Hu-man Reproduction Act, the legislation was cited in many media reports as Can-ada’s “Cloning Law”.6 The Canadian Institutes for Health Research had imple-mented guidelines for embryonic stem cell research and the allocation of funding in 2002. These guidelines have been amended and the 2007 currently applicable version would be in line with the AHR Act. The distinction within the Canadian governance framework is that “The Act applies to the derivation of stem cells from human embryos, but does not apply to research using human embryonic stem cell lines that have already been derived.”7 In contrast to the UK frame-work, which permits the creation of an embryo for research purposes, and hence embryos created by SCNT, the Canadian legislation restricts research to embryos which “were originally created for reproductive purposes and are no longer re-quired for such purposes”. At present, research involving somatic cell nuclear transfer is prohibited in Canada.

The implementation, enactment and enforcement of these various ap-proaches to governance have attempted to mediate distinctions between repro-ductive and non-reproductive domains of embryonic research and medical prac-tice, as well as productive and reproductive potentialities of egg cells and embryos. A sound ethical framework is viewed by many in this era of scientific research as important to so-called public trust and support of new research and innovation (see Salter n.d.; Franklin 2003). Good ethics is one particular form of capital, which can then support the generation of other forms. In October 2006, Angela McNabb, chief executive of the HFEA, participating on a panel about le-gal restrictions on stem cell research in the U.S., attributed public acceptance of stem cell research in the UK to belief in the regulatory framework and support of discussion on the topic. McNabb is quoted as recommending:

Talk about it. The more you tell people, the less they worry about it, and acceptance fol-lows […] Nobody’s going to re-debate (whether) we should allow stem cell research […] The whole regulatory framework is not up for grabs. The (country) believes it’s worked well. (Pierce 2006)

6 See, for example, Payne (2004) and Gravenor (2004). 7 See Canadian Institutes of Health Research Updated Guidelines for Human Pluripotent Stem Cell

Research, June 29, 2007 http://www.cihr-irsc.gc.ca/e/34460.html (accessed 18.1.2008).

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Although during the past years there have been a number of larger open consul-tations on emerging topics, the framework for governing both assisted reproduc-tion and embryo research is not “up for grabs”, perhaps because of how decision-making around novel issues is framed. McNabb’s statement highlights the conti-nuity that is drawn between the ethical evaluation of assisted reproductive tech-nologies and newer research in the life sciences. The regulatory framework, which is seen to “work”, is one which comprises a practice of considering indi-vidual license applications and cases whereby variations between each case ap-pear neither drastic nor transformative. The ethical appearance of this process is for the most part sound, given that ethical reviews and consultation are valued by those emphasizing transparency in research governance. In contrast to McNabb’s statement, Christine Hauskeller questions the structure of the HFEA which she proposes forecloses “re-debates” and instead relies on a process by which incre-mental changes are made to legislation:

All embryos used for research are used as means to an end to some degree. The decision made years before, that the use and even the creation of embryos for research purposes can have ethical approval if the potential benefits for better medical treatments are of greater moral importance is not put into question. This refusal to review former decisi-ons and instead debate new issues strictly on the grounds of the currently existing regu-lation – regulation that passed under circumstances in which cloning, for example, was not possible – is an example of the tendency to a policy via stepwise watering down of prohibitive regulations (2004: 517).

Within ethical discussions in the context of legislative review and reform, the “moral importance” of “the embryo” in relation to “potential benefits for better medical treatments” is reframed within economically argued cost-benefit analy-ses. Thus, questions about the moral status of the embryo are addressed at once by drawing on the history of public debate that has already determined and agreed on the definition of the embryo (see Franklin 1997; Steinberg 1997; Spal-lone 1999) in the UK and representing means by which the efficiency of the re-search and the contribution of stem cell research technologies will support the health care economy. Attributing a new value to embryos, which in common par-lance “would have been discarded”, is often portrayed as an ethical means of fur-thering research and avoiding the “disposal” of embryos which have not been used in fertility treatment.8 Sarah Franklin, reporting on statements made by par-ticipants within HESCCO, the Human Embryonic Stem Cell Coordinators Net-work, funded by the Medical Research Council, states:

8 In the UK, it is possible to cryopreserve (freeze) embryos for five years, and in certain circum-

stances to renew this “storage” period for a subsequent five years, after which embryos should be discarded.

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It is the consequent ‘wastage’ of ‘perfectly good’ embryos that causes concern among parts of the scientific community, and it is this possibility – that valuable embryos that could be used for research are being lost due to ‘gaps’ in the administrative process – which led to a call for greater coordination (2006: 83).

Thus, the regulatory framework as a whole would not need to be revisited be-cause it is always considered to be in flux and oriented toward improvement. Embryo research has already been written into legislation and thus facilitating further and more efficient embryo research is within the remit of the HFEA.

3 Ethical Borders between Medical Research and Treatment In 1979, with the birth of the first child following what is now referred to as a “natural” IVF cycle (one which does not involve hormone stimulating medica-tions to foster the development of more eggs per menstrual cycle), in vitro fertili-sation was recognised as a medical treatment for women with blocked fallopian tubes. In Bodies in Glass, Deborah Lynn Steinberg (1997) analysed the processes leading to the development of the HFE Act 1990, highlighting not only the nor-malisation of the practice of in vitro fertilisation but also embryo research. Ana-lysing the First Report of the Voluntary Licensing Authority (which was set up following the Warnock Report, but preceded the HFEA) Steinberg writes:

The central index of acceptable practice, then, is not the safety of IVF for women, but rather the facilitation and prioritisation of ‘medical advance’ and ‘medical research’ … IVF is defined centrally as a research project whose research status, interests and poten-tial far outweigh its ‘clinical application’ in importance (1997: 59).

Steinberg cites Walters and Singer (1984) as saying that IVF and embryo trans-fer are being explored as treatment for male fertility. She comments:

It would seem an unprecedented move in medical circles to subject a person to such an in-vasive and risky regiment for the purpose of treating someone else’s condition when that condition is non-fatal (and that person himself is not undergoing treatment) (1997: 46).

Since the publication of Bodies in Glass, the spectrum of reasons to undergo fer-tility treatment has become increasingly broad, and it is not uncommon for women to undergo IVF “treatment” due to what is referred to as “male-factor” infertility or not conceiving due to unexplained reasons (see Becker 2000: 8). IVF’s status, however, as a research project, although potentially viewed as one by individuals and couples undergoing treatment, and some critical on-lookers, has I would suggest lost its status as “experimental” in public narratives. IVF is often considered a “normal” next step and many less invasive techniques of as-sisted reproduction are often subsumed within the discursive framework of IVF or side-stepped in favour of IVF. Gay Becker writes:

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New reproductive technologies have become “the gold standard,” to use a phrase often repeated by physicians in [the study that she conducted]. Definitive diagnoses of speci-fic infertility problems are often possible only with new reproductive technologies. But, ironically, the proliferation of assisted reproductive technologies has lead to a paradigm shift in which infertility care is driven not by the diagnosis but by the treatment. The emphasis has shifted from diagnosing and correcting abnormal physiology to achieving a pregnancy in the fastest and most direct manner possible, regardless of the cost or in-vasiveness. This approach aggressively augments the natural reproductive cycle, or by-passes it altogether, and aims for results regardless of the underlying infertility diagnosis (2000: 16).

The discomfort, which can be severe, and potential risks associated with fertility drugs or egg retrieval are seldom included within public representations of fertil-ity treatment, which increasingly is represented by images of intracytoplasmic sperm injection in which an embryologist directly injects a sperm into an egg. The embodied individuals involved, not only in the clinical procedures but also the broader cycle of ‘treatment’, are seldom present. The temporal, emotional and economic dimensions of in vitro fertilisation, while not invisible, are more a part of the background to the foregrounded act of extracorporeal fertilisation.

The potential of the fields of regenerative medicine and personalised medi-cine, advanced by possibilities imagined through stem cell research develop-ments, and particularly embryonic stem cell research involving somatic cell nu-clear transfer or similar practices of embryo cloning, have contributed to a re-demarcation of practices associated with the now routinised and normalised IVF, bringing attention back to the numerous stages involved in a cycle of treatment. Sarah Franklin (2006), in her discussion of “embryonic economies”, addresses the “IVF-stem cell interface” as the site within which what is referred to by some in the UK as the “national embryo supply” is made available. Following Frank-lin, the field of stem cell research “depends on a reliable supply of embryos do-nated to research from assisted reproduction clinics” (Franklin 2006: 71). The in-stitutionalisation of the affinity between assisted reproduction treatment and embryonic stem cell research in the UK is evident in the support from public and private funds to in some cases literally blur the boundaries between embryonic stem cell research and fertility treatment by renovating and resituating physical spaces such that they are in accordance with good manufacturing practice (GMP) standards, an early step in the translation of research to therapy.9

A significant amount of boundary work minimises the perception of prac-tices associated with various fertility procedures as “invasive or risky regi-

9 See the website of the North East England Stem Cell Institute for descriptions of new laboratory

facilities to support translational work in stem cell research (http://www.nesci.ac.uk/news/item/ north-east-scientists-set-sights-on-new-treatments-from-stem-cells, accessed 19.01.2008).

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ments”. I would suggest that a similar amount of work has historically gone in to distinguishing the narratives of women ‘undergoing IVF’ from those of women ‘donating’ eggs. Speculations about the high numbers of egg cells that could po-tentially be required for effective realisation of stem cell therapies, has lead to the emergence of discussions about the invasiveness of the ‘treatment’ and the risks involved in egg retrieval (Sexton 2005; Mullen 2001). In contrast to repre-sentations of embryonic stem cell research (not involving SCNT) which empha-sised the use of “spare” or “left over” embryos – embryos already in existence, created in the process of IVF treatment – the proposed SCNT research could not as easily fit this rhetoric of rendering cells that would be disposed into cells with a use value. Roberts and Throsby write:

[…] while ‘failed-to-fertilise’ eggs, like ‘spare’ embryos, can be conceptualised as no longer constituting a reproductive resource for IVF patients, the same cannot be said for ‘fresh’ eggs, which, prior to the fertilisation process, are always potentially useful to pa-tients (2008: 160).

In the next section, I address a series of more ‘locally’ grounded representations of embryonic stem cell research in order to explore the ways in which the dis-tinctions between types of embryonic stem cell research and concepts of repro-ductive capacities and health have been employed and redefined over a relatively short period of time. Specifically, the representation of “what is ethical” will be addressed with respect to the weight that normative perceptions of the interrelat-edness of fertility treatment, embryonic stem cell research and research govern-ance may have.

4 (Un)Contested Representations of Research and Research Governance

4.1 Left-Over Eggs, Spare Eggs and Ethical Use On August 11, 2004, the Fertility Centre at Life, based in Newcastle Upon Tyne, was awarded the first license in the UK to carry out stem cell research involving somatic cell nuclear transfer. One news article described the research process by stating “Cloned embryos can be created by scooping out the core of a human egg – the part containing the mother’s genetic blueprint. In its place, the scientists in-sert the genetic blueprint of the person to be treated” (Utton 2004). Other reports stated that the “renucleated” egg is then “encouraged” or “coaxed” to divide “as if it had been fertilized” (Cookson 2004; Conner 2004). The resulting “embryo” is then cultured until the point at which the inner cell mass can be removed and stem cells derived. The language here is at once graphic and nurturing, but also

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employs relational categories which could normally not coexist. Who is the “mother” of the to be enucleated egg in this scenario? If this egg is to be from a woman undergoing fertility treatment as represented in most cases, she may not be and may never be a mother. Given the significance that genes, however, hold in predominant narratives of so-called ‘Euro-American’ kinship, possibly height-ened in narratives of kinship and assisted reproduction, it is perhaps even more important that it is the “genetic material” which is “scooped out”. Furthermore, the resulting entity will divide “as if it had been fertilized” (my emphasis) – not because it was fertilised, as would be hoped for in the course of fertility treatment. Within this very brief description of a new research technique, issues which might have been anticipated in relation to the prospect of using reproductive cells in re-search are contained and others do not surface. Removing the genetic material renders null and void, following genetically defined kinship rules (which indi-viduals employing assisted reproductive technologies may not), a kinship rela-tionship between the donor of the egg cell and any resulting embryo or embryonic stem cell line. According to this kin logic, the somatic cell donor would be the ‘relative’ of the to-be derived stem cells, but with a focus on reproductive cells this individual as a donor is minimally present in representations of the experi-ment and instead is configured as a future recipient of treatment.

At a public lecture held at the International Centre for Life in 2004 to dis-cuss this research, a scientist involved in nuclear transfer stem cell research ac-knowledged the logistical difficulties in developing ‘therapies’ that would re-quire oocytes, citing the work conducted in Korea lead by Hwang Woo Suk in which 242 eggs from 16 volunteers resulted in one stem cell line.10 The re-searchers associated with the SCNT project based in Newcastle emphasized in most reports that the eggs that were being used in the research were “donated and spare” from women undergoing fertility treatment. Stephen Hall, reporting on the next stage of the research in October 2004, wrote: “In an effort not to com-promise the reproductive chances of the patients, the staff proposes to use only eggs that fail to become fertilized during in vitro fertilization” (Hall 2004). Ac-cording to the lay summary of the project, the eggs that could have been used within the period of research between August 2004 and May 2005 would have been those which had failed to fertilise, were retrieved during a follicle reduc-tion, or were ‘obtained’ during other gynaecological surgeries (Newcastle Fertil-ity Centre 2004). Miodrag Stojkovic, one of the leading scientists on the SCNT

10 In keeping with the narrative conventions of reporting scientific breakthroughs, I maintain the

depiction of the results as they were understood at the time. It was subsequently revealed that the data and findings reported by Hwang had been falsified.

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research project in Newcastle, consistently stated in interviews and presentations that the eggs being used would have been discarded (see for example Whitfield 2004). While the ‘logistics’ of acquiring the number of eggs that might be needed for therapeutic application in the future was acknowledged early on by Professor Alison Murdoch and Professor Miodrag Stojkovic, just as it was a question raised in public and media discussions (see Hall 2004), the left-over status of the eggs being used, in terms of their ‘spareness’ was presented as an ethical foundation upon which to carry out the initial research, as indicated in Hall’s statement above (Hall 2004). However, in contrary to the majority of rep-resentations in August 2004 of the research planned, by October 2004, the “left-over” characterisation of the eggs was beginning to also be linked to their quality (Hall 2004).11

On May 19, 2005, the team in Newcastle made an announcement regarding the SCNT research, which coincided with news of a breakthrough by the re-search group lead by Hwang in South Korea. Hwang’s team was considered to have been the first to derive a stem cell line following somatic cell nuclear trans-fer in 2004. However, as the somatic and egg cells were from the same women, it was not possible to prove that the resulting embryos were “clones”. On May 20th, Roger Highfield (2005) reported:

To the dismay of opponents of such research, the Koreans have succeeded in the effi-cient creation of more than 30 cloned human embryos – regardless of the age, sex, and infirmity of the person being cloned. They then dismantled the embryos to grow the first lines of patient-specific embryonic stem cells.

The Newcastle Stem Cell Research Team’s announcement reported that their SCNT research had resulted in a cloned embryo which developed to the blastocyst stage, but that they were unable to derive a stem cell line from this embryo. The as-sociation of the two research projects in the media reports facilitated their compari-son on a surface level and also linked what could have been considered stifled suc-cess – the non-derivation of a stem cell line – to prospects of future treatments. The derivation of patient-specific stem cell lines had been shown to be possible.

The media coverage emphasised the improved rate of efficiency exhibited by the research team from South Korea and the findings of the Newcastle team that, of the 36 eggs used in their experiments, “only eggs less than an hour old are good enough for cloning – a significant constraint” (Highfield 2005). In his 11 The contested status of “failed-to-fertilise” vs. “fresh” eggs has recently reappeared in two re-

ports of distinctly different research. One concerns the results of research on mouse cells which show that “failed-to-fertilise” eggs may indeed be suitable for nuclear transfer (Cell Press 2007) while the other reports on the success of SCNT experiments due to the use of “fresh eggs” (Nick-erson 2008).

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article about the cloning of the blastocyst in Newcastle, science journalist Mark Henderson, writing for The Times, reported: “The embryos were cloned using eggs left over from fertility treatment and were not clones of any living person: genetic material injected during the procedure came from a stem cell derived from normal embryos.” In another rendition of the experiment, Clive Cookson wrote: “The Tyneside scientists removed the genetic material from a human egg cell and replaced it with the genetic material of a patient using a technique called nuclear transfer” (2005). These explanations of the experimental process are meant to clarify the scientific practice involved; but what is being explained, to whom, and for what purpose? The left over eggs referred to by Henderson were for the most part understood to be eggs that did not fertilise. These “failed to fer-tilise” eggs are those which constituted the eggs “left-over” from fertility treat-ment, their ‘left-overness’ having been characterised as defining their ethical use. Originating from women who are undergoing fertility treatment, the eggs exist in their disembodied fashion anyways, and thus are not perceived as involving any additional involvement by ‘the donor’.

The reports also turned the ‘left-overness’ and their origin in the bodies of women undergoing fertility treatment into a constraint. Following IVF (without ICSI) protocol, the eggs would have been left (cultured) overnight after having been placed together with sperm in a Petri dish. By the time it would have been de-termined that they had not fertilised, they would have already typically been out-side of a woman’s body for twelve hours or more. The egg that did result in a blas-tocyst was an egg retrieved during a follicle reduction, a procedure implemented when a woman taking fertility medication (superovulation drugs) but not enrolled in an IVF treatment programme develops too many follicles and would then be at risk of a multiple pregnancy. The use of “left-over” eggs from IVF patients can be represented as a constraint due to the fact that eggs which would have been avail-able for research would have been more than hour old given that they would have been eggs which had not fertilised following attempted fertilisation. Hwang’s team had used eggs from volunteer donors, women who are not part of an infertility treatment programme, and had established embryos from which stem cell lines were derived. In the Newcastle based research, the egg which resulted in a blasto-cyst had not been outside of a woman’s body for long, a finding which was then used to support a shift in the research protocol from the use of “failed-to-fertilise” eggs to “unfertilised” eggs, referred to, as discussed below, as “fresh” eggs.

Interestingly, although seldom commented on, the somatic cell nucleus used was not from a patient as depicted in many of the diagrams used in the media re-ports, but was rather a stem cell from a line derived from an embryo previously

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donated to research.12 Both brief descriptions of the experiment (above) focus on the source of the egg and contestation regarding cloning as the issues in question. Henderson draws a distinction between a cloned embryo that would be the “clone” of a living person, and the genetic relationship between the cloned em-bryo and a stem cell derived from a normal (in this case likely used to distinguish between cloned) embryo. The source of the embryo in this case is not discussed, nor the stem cell line that was used in the experiments. In contrast, Cookson’s description is much more closely aligned with the diagram illustrating the SCNT technique and thus does not introduce a conflict between the image and the ver-bal description. In this statement, the replacement of genetic material is a key image, but an image of the future and an image that creates a closer affinity be-tween the work in the UK and that concurrently reported on in South Korea.

4.2 Reconstituted Eggs and IVF ‘Donors’ Within the reports on the results of these experiments a reconstitution of the egg begins to take more concrete shape. I would ask you to recall that it was reported that 242 eggs from 16 women resulted in the one stem cell line derived from SCNT embryos in South Korea in 2004. The May 2005 reports on the research conducted in South Korea emphasised the improvement in the efficiency of the research:

The Korean group have produced 11 colonies of embryonic stem cells from 31 cloned blastocysts and 185 eggs. Their success rate was 16 times better than last year, when 242 eggs were needed to make a solitary stem cell line (Henderson 2005).

Furthermore, Hwang’s experiments indicated an even higher rate of efficiency when eggs from women under thirty years of age were used. Respectively, the low number as well as poor quality of eggs which were available to researchers in the UK was represented as a hindrance to the possibility of success. Hender-son states that while the Korean team “worked with volunteer donors […], the Newcastle researchers have so far refused to do this because of ethical consid-erations” (2005, my emphasis). Given that the procedure for collecting eggs car-ries some risks, Henderson reports, they have allowed donations only from women already undergoing it for medical reasons (Henderson 2005). In this phrase, the Newcastle team had adhered to ethical considerations, but one read-

12 According to the terms of the license the somatic cell could only have been from stem cell lines

already established at Newcastle University (derived from embryos already donated), or from a woman undergoing a gynaecological procedure. Although the original license had proposed to use the nuclei of somatic cells donated by people with diabetes, this was withdrawn from the ap-plication prior to the approval of the license (see HFEA 2004).

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ing of this statement would be that this may have been detrimental to faster pro-gress and that the ethical considerations might need to be reconsidered. Indeed, Clive Cookson (2005) states:

The Newcastle scientists said their research over the past nine months confirmed the Korean conclusion that therapeutic cloning required eggs freshly harvested from young women, rather than ones left over from IVF treatment. They hope to obtain fresh eggs from women who produce more than they need for IVF.

The differences between the eggs used for the experiments, and the women from whose bodies they originate, are articulated here in two different ways. On the one hand, the ‘freshness’ of the eggs is emphasised and, on the other, the non-IVF pa-tient status of the ‘donor’. Cookson describes the donors of eggs to Hwang Woo Suk as “healthy young women”. When contrasted with IVF donors, the IVF donors have the potential to be perceived both as unhealthy and as of an average older age.

In a slightly different configuration, describing the SCNT research carried out so far, it is stated “The experiment was done as a proof of principle to see if eggs collected from women undergoing IVF treatment would be healthy enough to produce clones” (Sample 2005). The language here is significant. In 2005 the General Assembly adopted the UN Declaration on Human Cloning which high-lights the similar pathways that so-called reproductive and therapeutic cloning take to reach their end objectives – both involving the use of egg cells from women (but also other female beings) and the use of embryos. In many contexts the strong division between reproductive and therapeutic cloning is drawn by distancing humans from cells and therapy from reproduction. In this description, however, the language of (re)production (see Martin 1987) becomes a part of the research, with the distinction being made between that which has the potential to reproduce. The IVF eggs are in question, because the women donating them are having difficulties reproducing; thus, will their eggs be healthy enough to pro-duce clones? Are the fertility difficulties of the women inscribed in the IVF eggs? Undergoing IVF is not necessarily an indicator that IVF eggs are normally of poorer “quality”. The latest figures provided by the HFEA, indicate that 43% of all IVF treatment includes ICSI13 signalling difficulties with the semen, but not necessarily also eggs. Those women, though, undergoing ICSI, would typi-cally have had all retrieved eggs fertilised by injection, thus not likely being part of the cohort of women, even if they had consented to research, who would have had “failed to fertilise” eggs that could have been used.

The ‘freshness’ of the eggs relates to the time that has elapsed since retrieval. The use of “fresh” rather than “left-over” eggs would require a shift from “failed to 13 See http://www.hfea.gov.uk/en/406.html#The_risk_of_treatment (19.1.2008).

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fertilise” eggs to “unfertilised” eggs, which have never undergone a fertilisation at-tempt. The hope of researchers to obtain fresh eggs, which was mentioned in Cookson’s article, was more concretely articulated by Ian Sample in the descrip-tion of a new practice approved by a local ethics committee whereby the research-ers have been given permission “to seek eggs from women who produce too many after IVF treatment” (2005). Clinician Professor Alison Murdoch commented that women will be asked to consent to the use of 2 eggs for the research project if they would be willing to consent to the use of 2 eggs for the research project, explaining that based on the analysis of IVF data “if a woman has 20 eggs, her chance of get-ting pregnant is no higher than if she has 18 […]” (Sample 2005).

This image of “too many eggs”, a surplus, is incorporated into other ac-counts of the new proposed arrangement. In a question and answer column “Human cloning for health’s sake: your questions answered”, Barry Nelson re-sponds to the question of where eggs for research come from with: “The eggs – their technical name is oocytes – are voluntarily donated by women having fertil-ity treatment. Because they produce large numbers of eggs, a small amount can be donated to research without reducing the woman’s chances of conceiving” (2005; emphasis mine). In this explanatory note, the eggs are rendered surplus – carrying a different connotation than “left-over” – and what is to be donated is simply “a small amount”. That the eggs are available because women undergo-ing fertility treatment produce large numbers of them is rendered a normative and unquestionable aspect of fertility treatment. However, the number of eggs that could be considered a large number is variable, and the association of fertil-ity treatment with large numbers of eggs is also culturally specific. Laws in some countries, such as Germany for example, state that all eggs that are fertilised must be transferred (to a maximum of three) during the same cycle to the woman from whom they originated. Fertilising additional eggs and freezing resulting embryos may not be permitted. In these situations, it is not as likely for women to undergo hormonal stimulation with the aim of producing more than, for ex-ample, three eggs per cycle. In other situations, to a woman who does not ovulate regularly 4 to 6 eggs retrieved in one cycle may seem like a large number of eggs. The same may also apply to women who are part of an IVF treatment pro-gramme in which 8 or 9 eggs per cycle is considered the average and who may also consider 4 to 6 eggs to be a high number of eggs, given that this amount is just about or even over half of that expected. Although the example provided in a number of newspaper articles worked with the image of 20 eggs, out of which 2 could be consented to research, the numbers involved in this programme were based on a retrieval of 12 eggs from which 2 would be requested for use in re-

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search (HFEA 2006).14 These numbers competed with figures associated with an “egg-sharing” programme in which women undergoing IVF could agree to ‘share’ half of the eggs retrieved with another woman for a reduction in cost; a retrieval of 6 eggs or less would result in the intended donor retaining all eggs for use in her own treatment.15 It would thus be possible for women familiar with the different programmes to wonder why in one situation 6 eggs would seem to be a number associated with minimal impact on pregnancy rates and in another situation 10.

Miodrag Stojkovic, who left Newcastle University to conduct research in Spain, co-authored a paper proposing an “egg-sharing model for human thera-peutic cloning research” accepted in September 2005 and published in 2006. In this article, Heng et al. propose criteria by which potential donors – egg-sharers for research – could be selected. Here they propose different criteria than cur-rently in place, for example, with respect to egg sharing for reproductive pur-poses, suggesting that for therapeutic cloning research participants in such a pro-gramme should be “limited only to younger women (below 30 years of age) with indications for either male partner sub-fertility or tubal blockage, since such pa-tients are likely to produce excess supernumerary oocytes in response to gonad-otrophin stimulation” (2006: 1023). These criteria bring us back to the original uses of in vitro fertilisation procedures and highlight the potential number of women undergoing IVF who do not have compromised fertility status on their own. Thus, in the latter case, these egg cells would only be available for research to further medical advances due to the expansion and normalisation of risky and invasive procedures to ‘treat’ another individual’s non-life-threatening difference in the first place (see Steinberg 1997). Compensation, they suggest, could be made in the form of subsidised treatment cycles or, admittedly more ethically contentious, the “promise of future therapeutic benefit” realised by having the same individual also donate the somatic cell to be used in the research (2006: 1024). A press release by the University of Newcastle announced in January 2008 that it had received applications from 100 women in response to the notice that the HFEA had approved an “egg-sharing” for research programme for which funding had been received from the UK Medical Research Council. According to criteria, fifteen women have been chosen to participate in the programme and six

14 See Newcastle University Press Release “‘Egg sharing’ go-ahead for stem cell researchers”

http://www.ncl.ac.uk/press.office/press.release/content.phtml?ref=1154008083 (19.1.2008). 15 The recently implemented complimentary system of “egg-sharing” for research has reconciled

these numbers.

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will begin their first subsidised ‘research’ cycles (the cost of their treatment cycle will be reduced by £1500) in January 2008.16

5 Eggs, Ethics, Futures, Women In contrast to the beginning narratives of embryonic stem cell research, in which it was typically possible for researchers and journalists to draw on already exist-ing public images of surplus embryos, the source of eggs for stem cell research involving ‘cloning’ techniques was from the beginning a question. As one can ascertain from the above, the discursive and pictorial representations of human embryonic stem cell research involving somatic cell nuclear transfer techniques (also referred to as therapeutic cloning) are difficult to decipher and represent the concurrent mediation of multiple ethical issues. In representations of emerging scientific research, scientists (including social scientists), journalists and clini-cians access various frameworks of understanding in an attempt to communicate, and in many cases invoke support for and/or raise questions about, new tech-nologies, methods or potential. The UK coverage of the results of the SCNT ex-periments in 2005 reveals a reliance on the images already presented in articles about the granting of the license in 2004. Although the information at times con-flicts, a sense of scientific continuity is maintained and an ethical stability grounded in a step-wise approach is conveyed.

This chapter has focused on events which have predominantly taken place in relation to the embryonic stem cell research conducted in Newcastle Upon Tyne. As each new embryonic stem cell research license has been applied for, discussed and granted, other researchers across the country have voiced their dis-agreement or support, all having a stake in the development of stem cell science, the “ethical sourcing of embryos” (UK Stem Cell Bank 2006) – whether “nor-mal” or “cloned” – and the investment of additional funding, usually for both stem cell research and reproductive medicine. Disappearing, for the most part, from the discursive representation of embryonic stem cell research are the find-ings made public in the latter half of 2005 and beginning of 2006 that the data presented by Hwang illustrating the derivation of patient-specific stem cell lines was falsified, that the number of eggs used in the experiments was dramatically higher than reported, and that the eggs were provided by junior researchers and

16 See Newcastle University Press Release “‘Egg sharing’ go-ahead for stem cell researchers”

http://www.ncl.ac.uk/press.office/press.release/content.phtml?ref=1154008083 (19.1.2008).

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technicians involved in the project17 (see Sexton 2005). Reference to the issues surrounding the work of Hwang’s team, and narratives of the pressures to achieve results, were written in to the Consultation Paper produced by the HFEA, Donating Eggs for Research: Safeguarding Donors (2006), with proposed additional safeguards being the prohibition of research involving eggs provided by women associated with the research institution, additional counselling for in-dividuals with or relatives of those who could benefit from potential therapy and so forth. Images, however, of healthy and fresh eggs, young donors, and also non-fertility patient “volunteers” are still informing broader narratives of re-search governance decisions. Women’s autonomy and decision-making authority over their own reproductive capacity has been articulated in the UK as a founda-tion upon which it would be unethical to refuse participation in an egg retrieval programme for the purpose of donating the eggs to research. Here, in contrast to distinctions made between reproductive and research cloning, the continuity of practice with respect to egg retrieval, and the ‘right’ to undertake the risks in-volved, for reproductive or research “donation” is granted.

By examining the means by which these representations circulate and how new practices are encompassed within existing practice norms, I am drawing at-tention to a politics of representation within the context of research governance and research practice. The step-wise incremental shifts in legislation and the de-velopment of scientific research is also accompanied by minute and sometimes not minute shifts in the representations of what constitutes scientific experimen-tation and what is ethical practice. The majority of women who provide eggs for stem cell research in the UK may indeed be women already in IVF programmes as argued by Roberts and Throsby (2008). However, the new ethical guidelines are meant to broaden the pool of potential “egg donors” and, following the in-formation sheets provided, so-called “fresh eggs” may perhaps not only be used for embryonic stem cell related research (Newcastle Fertility Centre 2008). It is possible to speculate that the donors who are not fertility ‘patients’ may have previously been fertility patients or that IVF “egg sharers for research” may be women who would not have decided to undergo IVF treatment at this particular stage of their life.

A significant focus is placed on the value of eggs as commodities to be ‘shared’, ‘donated’, ‘exchanged’ and ‘traded’. Rather than disembodied eggs as a

17 For an overview of the related events see http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/asia-pacific/455

4422.stm (accessed 19.1.2008). In contrast to the number of eggs reported as an indication of im-proved efficiency in SCNT research, Hwang’s team is reported to have used “a total of 2,061 eggs from 129 women” (Sexton 2005).

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market item, I am interested in how concepts of health and ethics become config-ured as the ‘objects’ of trade and the implications of this. As, increasingly, steps are taken to facilitate women’s participation in embryonic stem cell research, I still do not have clear answers to Nora’s questions. Schindele and Zimmermann (2007) explore some of the narratives of women who have donated eggs for use in the IVF treatment of other women, examining the short and long term effects of potential complications and extending the discourses of transnational egg ex-change to research purposes. Catherine Waldby (see Salleh 2007) is also drawing connections between egg donor for treatment narratives and stem cell research. To what extent will the potential health implications of fertility drugs and surgical egg retrieval procedures be addressed in arrangements made with non-patient or so-called altruistic donors? Will these questions potentially be alleviated by estab-lishing reimbursement programmes? Or will stem cell lines become the source of eggs? There is no question that there are numerous narratives within which re-search in the field of human embryonic stem cell research can be placed and within which its status as a focus of investment and hope is rationalised. At what point will the narratives of individuals who are undergoing the same processes, taking the same medications, experiencing the same surgeries meet rendering ex-perience a form of capital within scientific, public and government deliberations?

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„Capitalism doesn’t mean that much to me.“ Die Künstlerin Katya Sander zeigt den verlassenen Ort der Kritik1

Karen van den Berg

1 Nachfragen „Was ist Kapitalismus?“ fragt die 1970 geborene dänische Künstlerin Katya Sander2 in ihrer 2003 entstandenen gleichnamigen Filminstallation. Der Film zeigt eine kuriose Passantenbefragung in einer Prärielandschaft. Verschiedenste Interpretationen und „Wahrheitsregime“3 des Kapitalismus werden dabei glei-chermaßen seltsam wie lapidar nebeneinander gestellt, bis am Ende zweifelhaft scheint, ob es den Kapitalismus (als Singular) überhaupt gibt. Zumindest wird durch Sanders abwegiges Setting bedenkenswert, wer aus welcher Position her-aus überhaupt dazu in der Lage sein könnte, gültige Aussagen über Funktions-weise und Logik des Kapitalismus zu tätigen.

So wie Sanders künstlerische Arbeit insgesamt, ist auch dieses Projekt eher diskurs- und kontextanalytisch motiviert.4 Sie untersucht, in welchen Räumen welche Sprechakte und Diskurse wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich wirken und aus welcher Position heraus bestimmte Aussagen möglich oder unmöglich werden. Bezeichnend dabei ist, dass die Tatsache, dass überhaupt nach dem Beg-riff „Kapitalismus“ gefragt wird, vielsagender ist als die verschiedenen Antwor- 1 Für fruchtbare Kritik und zahlreiche Anregungen danke ich sehr herzlich Joachim Landkammer

und Markus Rieger-Ladich! 2 Zu Katya Sanders Biographie und Arbeitsweise vgl. Bonde/Sandbye (2006: 307-310) sowie die

Homepage der Künstlerin http://www.katyasander.net/; 16.12.2007. 3 Der Begriff „Wahrscheitsregime“ wird im Sinne Foucaults benutzt. Foucault arbeitete durch die

Analyse spezifischer gesellschaftlicher Praktiken (wie etwa der Behandlung von Verbrechen) heraus, dass diese Praktiken sich nicht nur einfach kulturell und historisch unterscheiden, sondern auch verschiedenen Wahrheitsauffassungen folgen. Dabei zeigt er, dass die jeweiligen Wahr-heitsauffassungen stets auch mit wirksamen Machtverhältnissen im Zusammenhang stehen. Be-sonders deutlich wird dies z.B. in seinem Buch Überwachen und Strafen. Die Geburt des Ge-fängnisses, in dem er Veränderungen in den Praktiken des Strafvollzugs auf die „neuen Regime der Wahrheit“ zurückführt (1976/1994: 33).

4 Neben bildender Kunst studierte Sander auch Literaturwissenschaften und Cultural Studies (vgl. http://www.katyasander.net). In vielen ihrer Arbeiten beschäftigt sie die Frage, in welchen Kontex-ten welche Rhetoriken, Skripte und Sprechakte vorherrschen und reproduziert werden. Vgl. hierzu auch die Arbeit „9 Scripts from a nation at war“, die sie zusammen mit David Thorne, Ashley Hunt, Sharon Hanyes und Andrea Geyer 2007 für die documtenta 12 produzierte (www.9scripts.info).

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ten der Interviewten. Denn wenn nach dem Begriff „Kapitalismus“ gefragt wird, outet sich offensichtlich vor allem der Fragende selbst damit als Kritiker. Scheinbar reicht es, Kapitalismus zum Gegenstand zu machen, um als politisch motiviert wahrgenommen zu werden.5

Doch ergibt sich aus dem bloß kritischen Fragen noch lange keine konturierte Position. Das weiß Katya Sander offenbar auch: Ihre heiter-engagierte Interview-technik, die sie im Film vorführt, verbleibt allzu ostentativ in jenem Modus, der alle Antworten gelten lässt und nirgends insistiert. Selbstironisch markiert die Künstlerin hierdurch, dass die gegenwärtige künstlerische Praxis durch das bloße Nachfragen allein noch längst keine ernstzunehmende Bastion der Kritik wird, ruft dies doch kaum mehr als halbwegs nachvollziehbare Meinungsäußerungen hervor.

Gerade weil die künstlerische Praxis in ihrer freien „Reflexionsfunktion“6 gerne als der Gegenentwurf zur Zweckrationalität des Kapitalismus schlechthin verstanden wird, erinnert Sander mit ihrer Arbeit daran, dass man auch hier leicht in ein gepflegtes, harmloses „anything goes“ verfallen kann und es nicht genügt, es dabei bewenden zu lassen. Viel eher käme es auf eine Decodierung dahinter liegender Logiken an. Dies wäre zumindest eine Lesart der Arbeit, die im Folgenden – ausgehend von einem Rekurs auf die jüngere Kapitalismuskri-tik – näher erörtert werden soll.

2 Boltanski, Chiapello und die neue Künstlerkritik In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus unterscheiden der Soziologe Luc Boltanski und die Wirtschaftswissenschaftlerin Éve Chiapello zwei Formen der Kapitalismuskritik, die gemäß ihrer Analyse in den 1960er und 1970er Jahren aufgekommen sind: die „Sozialkritik“ und die „Künstlerkritik“. Die Künstlerkritik entzündet sich ihnen zufolge vor allem daran, dass der Kapitalismus eine Rationa-lisierung und Entzauberung der Welt hervorbringt, wodurch „Freiheit, Autonomie und Kreativität“ (Boltanski/Chiapello 2006: 80) beeinträchtigt werden. Das emanzipierte, freie Individuum wird demnach durch die kapitalistische Form der Ökonomisierung gefährdet. „Im Zentrum dieser Kritik stehen der Sinnverlust und insbesondere das verloren gegangene Bewusstsein für das Schöne und Große als Folge der Standardisierung und der triumphalen Warengesellschaft“ (ebd.: 81).7

Die Sozialkritik am Kapitalismus dagegen sieht nach Boltanski/Chiapello (2006: 80) im Kapitalismus die Quelle von Armut und Ungleichheit schlechthin.

5 Vgl. hierzu auch Kastner (2005: o.pag.). 6 Lemke (2004: 12). 7 Der Prototyp dieser Künstlerkritik findet sich bei Horkheimer/Adorno (1947/1986).

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Durch die Brille der Sozialkritik betrachtet, erscheint das Problematische am Ka-pitalismus, dass er „Opportunismus und Egoismus“ (ebd.) fördert. Diese Kritik, so stellen es auch die beiden Autoren heraus, steht in einem gewissen Widerspruch zur Künstlerkritik, fordert doch letztere vor allem den schöpferischen Freiraum und die Emanzipation des Subjekts ein, was durchaus Ungleichheit begünstigt.

Die Pointe von Boltanskis und Chiapellos Untersuchung, die in ihrer Termi-nologie vor allem an Max Weber anknüpft,8 aber besteht in der These, dass der Kapitalismus gerade diese beiden Kritikformen zum Motor der eigenen Entwick-lung, Transformation und Reformierung erfolgreich nutzen konnte und hieraus seit den 1970er Jahren einen „neuen Geist des Kapitalismus“ entwickelte. Ja mehr noch: Aus sich selbst heraus normativ unbestimmt, könne der Kapitalismus seinen eigenen „Geist“ gar nicht erzeugen. Das Geheimnis des Kapitalismus bestehe deshalb darin, die eigene Angewiesenheit auf den kritischen Gegner in eine Fä-higkeit zu übersetzen. Gemeint ist jene Fähigkeit des Kapitalismus, Kritik und ge-sellschaftliche Gegenentwürfe zu absorbieren und als produktiven Katalysator zur Generierung der eigenen Entwicklungsdynamik umzunutzen. Es kommt, wie Bol-tanski/Chiapello es nennen, zu einer „Endogenisierung der Kritik“ (2006: 476).9

Anhand einer Analyse der Managementliteratur10 der 1960er bis 1990er zeichnen Boltanski und Chiapello nach, wie sich der so genannte „Geist des 8 So geht die Rede vom „Geist“ des Kapitalismus unverkennbar auf den Titel von Webers Studie

Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus zurück (Weber 1904/05/2006), wo-bei Weber „Geist“ noch in Anführungszeichen setzte. Aber auch das Konzept, die Ursprünge und Einflussfaktoren des Kapitalismus außerhalb des Systems zu suchen und nicht in einer system-eigenen Dynamik, schließt an Weber an (vgl. hierzu Botanski/Chiapello 2006: 65f.).

9 „Wenn der Kapitalismus regelmäßigen Untergangsprophezeiungen zum Trotz nicht nur überlebt, sondern seinen Einflussbereich unablässig ausgedehnt hat, so liegt das eben auch daran, dass er sich auf eine Reihe von handlungsleitenden Vorstellungen und gängigen Rechtfertigungsmodel-len stützen konnte, durch die er als eine annehmbare oder sogar wünschenswerte, alleinige, bzw. als beste aller möglichen Ordnungen erschien. Diese Rechtfertigungen müssen auf einer hinrei-chend soliden Argumentation beruhen. Nur so können sie von einer ausreichend großen Zahl von Menschen als selbstverständlich hingenommen werden und Verzweiflung oder Nihilismus be-grenzen bzw. überwinden“ (Boltanski/Chiapello 2006: 46). Diese Rechtfertigungen und Normen vermag der Kapitalismus jedoch nicht aus sich heraus hervorzubringen: „Auch wenn der Kapita-lismus nicht ohne eine Allgemeinwohlorientierung als Quelle von Beteiligungsmotiven auskom-men kann, ist er aufgrund seiner normativen Unbestimmtheit doch nicht dazu im Stande, den ka-pitalistischen Geist aus sich selbst heraus zu erzeugen. Er ist auf seine Gegner angewiesen, auf diejenigen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen, um die fehlende moralische Stütze zu finden und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen“ (ebd.: 68).

10 Insgesamt über hundert Texte dieser Gattung wurden einer computergestützten Inhaltsanalyse un-terzogen. Zur Bedeutung der Managementliteratur schreiben Boltanski und Chiapello: „Im fol-genden soll gezeigt werden, dass der Managementdiskurs, der sich sowohl abstrakt als auch his-torisch, sowohl allgemein als auch konkret gibt und in dem allgemeine Empfehlungen und paradigmatische Beispiele einander ablösen, gegenwärtig die Form schlechthin bildet, in der der Geist des Kapitalismus beheimatet ist und weiter vermittelt wird“ (ebd.:51).

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Kapitalismus“ so wandelte, dass sich der Kapitalismus im neoliberalen Gewand selbst als Anwalt der sozialen Gerechtigkeit inthronisieren konnte und in der Folge die Sozialkritik entwaffnete. Als Antwort auf die „Künstlerkritik“ entwarf schließlich die Managementliteratur den Typus des „Instinktmanagers“ (ebd.: 479-480), der als kreativer, irrationaler und begeisterter Entscheider auftrat. Mit diesem Dogma des so genannten „Neomanagements“ (ebd.: 495) wurde der Ma-nager plötzlich dem Rollenmodell des heroischen Künstlers immer ähnlicher (vgl. ebd.: 478ff.) und somit war auch die „Künstlerkritik“ entschärft.11

Die Konsequenz aus diesen Beobachtungen und einer neuen, desillusionier-ten Selbsteinschätzung der Kapitalismuskritik besteht für Boltanski/Chiapello darin, nun auch dem Kapitalismus eine „normative Dimension zuzuerkennen“ (2006: 67), um auf dieser Basis eine Neuformierung der Kritik zu initiieren. In ihrem Verständnis bleibt der Kapitalismus ein amoralischer Prozess unbegrenz-ter Kapitalakkumulation, eine Ideologie12, die sich die eigene Moralfreiheit sogar zugutehält, ja gerade wegen dieser Moralfreiheit meint, ein gerechtes soziales Ordnungssystem zu begründen (ebd.: 49). Durch seine integrative Kraft und sei-ne Flexibilität im Umgang mit Kritik erscheint der Kapitalismus in den Augen von Boltanski/Chiapello immer beständiger, allgegenwärtiger, unausweichlicher und damit eben auch gefährlicher; demnach macht seine „Endogenisierung“ von Konzepten wie Kreativität und Gleichheit den Kapitalismus nicht besser, son-dern unangreifbarer. Aus diesem Grunde wird Kritik umso notwendiger, muss aber zugleich ihre eigene Rolle schärfer in den Blick nehmen.

Mit dieser Perspektivierung verpflichtet sich das Buch einer ganz bestimmten Rhetorik und Logik der Kritik. Diese Kritikform scheint sich gegenüber der Vor-stellung, dass sie ihr Ziel erreicht haben könnte, immunisiert zu haben. Sie kommt nicht an ein Ende, sondern nimmt sich nun selbst kritisch in den Blick. Der Kampf gegen den – in Chiapellos und Boltanskis Verständnis per se unmoralischen – Ka-pitalismus geht folglich auf einer nächsthöheren, besser informierten Ebene der Decodierung und Enttarnung der Instrumente und Operationsmodi weiter.

Hieraus folgt, dass die entscheidende Herausforderung einer erneuerten Ka-pitalismuskritik von Seiten der Künste nun darin besteht, ihrerseits die Folgen

11 Zu einem verwandten Resümee der Kapitalismuskritik vgl. auch Richard Sennett, der in seinem

Buch Die Kultur des neuen Kapitalismus feststellt, dass die von der linken Sozialkritik erkämpfte Deinstitutionalisierung der Gesellschaft zu einer Erosion und Destabilisierung nicht nur der sozialen Verhältnisse, sondern auch des Subjekts selbst geführt hat: „Wenn Institutionen keinen langfristig stabilen Rahmen mehr bereitstellen, muss der einzelne möglicherweise seine Biographie improvisie-ren oder sogar ganz ohne ein konstantes Ichgefühl auskommen“ (Sennett 2007: 9).

12 „Demgemäß wollen wir als Geist des Kapitalismus eine Ideologie bezeichnen, die das Engage-ment für den Kapitalismus rechtfertigt“ (Boltanski/Chiapello 2006: 43).

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der Verbreitung von Individualisierungs-, Emanzipations- und Innovationspostu-laten zu analysieren. Gemäß Boltanski/Chiapello gilt es, die Einforderung von Individualisierung und Innovation, wie sie vonseiten der künstlerischen Praxis gängig ist, neu zu formulieren. Und zwar so, dass die künstlerische Praxis nicht mehr ungewollt dem Neokapitalismus in die Hände spielt. Eine künstlerische Praxis, die sich selbst auf ihre Verstrickungen in die Förderung des Kapitalismus hin beobachtet, existiert denn auch längst. Zu ihren interessantesten Protagonis-ten zählt etwa der Autor und Regisseur René Pollesch, der in seinen Stücken nicht nur die Reflexion künstlerischer Produktionsbedingungen in ein Infinitum überführt, sondern auch die spezifische Rhetorik künstlerischer Kapitalismuskri-tik zur Groteske werden lässt.13 Einen Versuch ganz anderer Art, der mit einer erfrischend anderen Rhetorik des Fragens operiert, unternimmt dagegen Katya Sander mit ihrer Arbeit „What is Capitalism?“.

Abbildung 1: Katya Sander, Installationsskizze „What is Capitalism“, 2003

Quelle: www:katyasander.net/works/whatiscap.html

13 In Stücken wie „Schändet eure neoliberalen Biographien“ oder „Liebe ist kälter als das Kapital“

formuliert Pollesch nicht ohne Ironie die geforderte Neuversionierung der Kritik auf einer nächsthöheren Beobachtungsebene. Seine Protagonisten lässt er in immer wiederkehrenden Loops Sätze sagen wie: „Das Geld wäre so viel schöner als ein Bereich, der allen offen steht, wenn da nicht dieser Kapitalismus wäre, der immer nur Liebe will“ (Pollesch 2007: 9).

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3 Die Prärie und die Ideologie des Räumlichen Katya Sanders Installation „What is Capitalism?“ besteht aus einem 11-minü-tigen 16mm-Film, der auf einem etwa 2m-hohen Rückprojektionsscreen gezeigt wird.14 Der Screen wird links und rechts von zwei Spiegelflächen gerahmt, die im 90°-Winkel direkt an die Projektionsleinwand montiert sind. Hierdurch tritt man als Betrachter in einen kleinen Bühnenraum ein, der sich durch die gegen-seitige Spiegelung der sich gegenüberliegenden Spiegelwände zu einem unend-lichen Illusionsraum weitet.

Wenn der Film einsetzt, ist zunächst alles schwarz, bevor eine weibliche Person direkt vor der Kamera erscheint, um zu fragen, ob Bild und Ton laufen. Nachdem zwei männliche Stimmen aus dem Off kurz bestätigen, dass alles ein-geschaltet sei, entfernt sich die Person mit einem Mikrophon in der Hand.

Abbildung 2: Katya Sander, Filmstill aus „What is Capitalism“, 2003

14 Die Arbeit wurde unter anderem im Institut für Luftschwimmkunst, einem temporären Ausstel-

lungsraum der Zeppelin University im Flughafen Berlin Tempelhof, gezeigt.

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Die Szene spielt sich in einer unwirtlichen Brachlandschaft ab, die durch den kargen Bewuchs unspezifisch prärieartig anmutet. Eine nähere geographische Bestimmung ist nicht möglich. In dieser Umgebung geht die Person mit dem Mikro zunächst auf das Nirgendwo eines weiten Horizonts zu, um sich dann, in einem Abstand von einigen Metern Entfernung, wartend hin und her zu wenden. Wie aus dem Nichts tauchen nun vereinzelte Spaziergänger auf. Die Frau mit dem Mikrophon fragt die scheinbar unbedarften Spaziergänger: „Excuse me, can you tell me please: What is Capitalism?“ Die Antworten fallen denkbar ver-schieden aus. Insgesamt sechsmal werden Antworten gegeben. Die Passanten strengen sich sichtlich an, den Begriff „Kapitalismus“ in einer alltagssprach-lichen Terminologie zu erklären. Dabei scheinen sie nicht sonderlich überrascht, in dieser für eine Umfrage doch höchst merkwürdigen Umgebung mit einer sol-chen Frage konfrontiert zu werden.

Das gesamte Setting entbehrt nicht einer gewissen Absurdität.15 Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Bild und Ton zwischenzeitlich immer wieder leicht gestört sind, so dass die Illusion von Raum und Zeit wie auch die filmische Narration immer wieder abbricht. Absurd wirkt aber auch, dass die Interviewerin offenbar zwischenzeitlich sehr lange warten muss – jedenfalls lässt die Lichtsitu-ation auf unterschiedliche Tageszeiten schließen. Gegen Ende des Films wird eine vorbeikommende Familie befragt, die vergisst das Mikrophon zurückzuge-ben und das sensible Funkmikrophon dem auf den Schultern sitzenden Kleinkind überlässt. Durch die nun vollkommen vollzogene Trennung der Bild- und Ton-ebene wird die gesamte Situation immer kurioser. Der Glaube, es handele sich um eine reale Befragung, schwindet so immer mehr, bis das das Ganze sich selbst als inszenierter Plot enttarnt.

Die Idee einer repräsentativen Umfrage, die gemeinhin als Instrument ge-nutzt wird, um „authentische“ und scheinbar unverfälschte Antworten des Man-nes oder der Frau „auf der Straße“ zu erhalten, wird als fingierte Erzählung zur Aufführung gebracht. Damit entsteht eine merkwürdige Hybridisierung zwischen dokumentarischer Rhetorik und einem fiktiven Geschehen.16

Die Symbolik des Mikrophons als Hinweis auf einen öffentlichen, medialen Diskurs17 wird durch seine Deplatzierung geradezu exponiert. Sander achtet da-bei allerdings genauestens darauf, nicht ins Parodistische abzugleiten (vgl. auch Hayes 2005: 70). Offenbar soll ein anderer Effekt erzielt werden, der in vielen 15 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Sharon Hayes (Hayes 2005: 70). 16 „What is Capitalism?“ stellt weder einen Dokumentarfilm noch eine zusammenhängende Filmer-

zählung dar“, bemerkt Sharon Hayes, vielmehr werden hier „Elemente beider Genres“ zitiert (Hayes 2005: 70).

17 Zur Symbolik des Mikrophons in Sanders Arbeit vgl. auch Hayes (2005: 70-71).

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ihrer Arbeiten eine Rolle spielt: Durch einen verschobenen Rahmen, ein Ausein-anderfallen von Ort, Zeit und Sinn, wird das, was sonst selbstverständlich ist – etwa der Status der Aussagen von zufällig angesprochenen Personen – fragwür-dig. Erkennbar werden stattdessen die symbolischen Ordnungen und die „Wahr-heitsregime“, welche durch die Reproduktion bestimmter medialer Settings oder durch die spezifischen Räumen eigene Logik erzeugt werden.

So gesehen, wirkt auch der Raum des Filmes – ein nicht eingezäuntes, mäßig fruchtbares Feld, auf dem vereinzelte, nicht genauer zu erkennende Tiere grasen, wie ein symbolischer Ort.18 Es fragt sich vor diesem Hintergrund: Warum dreht die Künstlerin – die selbst als Interviewerin auftritt – an einem sol-chen Ort? In welchem Kontext befinden wir uns hier? Eine naheliegende Deu-tung könnte sein: Es ist schlicht der unkultivierte Raum, die Natur, die noch nicht in Besitz genommen wurde; es ist die Prärie als Inbegriff dessen, was noch auf eine zivilisatorische Aneignung wartet und eben nicht der urbane, bereits mit Bedeutungen und kulturellen Implikationen imprägnierte Raum, nicht die Straße, auf der sonst gemeinhin derartige Umfragen durchgeführt werden.

Abbildung 3: Katya Sander, Installationsansicht „What is Capitalism“, 2003

18 Zur ideologischen Aufladung von Räumen in Katya Sanders Arbeiten vgl. auch Möntmann (2005).

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Die Künstlerin schreibt zu diesem Konzept: „The film is set in a bare, un-cultivated landscape: a field stretching out into the horizon, resembling the typi-cal setting for movies of the ‚Western‘ genre. In Westerns, the ‚new land‘ (the West) is articulated as empty – ready to be inscribed with meaning: a naked landscape into which the desires of the protagonists and spectators can be pro-jected“ (Sander 2003).

Durch die Einbettung des Filmes in zwei Spiegel setzt sich diese Landschaft ins Unendliche fort. Der Betrachter sieht sich selbst vor dem nicht enden wollen-den Horizont: „In the installation, the eternal repetition in the mirrors makes the one image resemble such an enormous open field“, kommentiert Katya Sander (Sander 2003).

4 Excuse me, can I ask you something? Die sechs scheinbar willkürlichen und insofern zunächst vermeintlich repräsenta-tiven und authentischen Antworten auf die unverhoffte Frage „I’d like to know: What is capitalism?“ in Katya Sanders Film erweisen sich dabei als Beispiele für eine angedeutete Typologie. Zuerst tritt eine junge, sportlich gekleidete Frau mit Tragetasche ins Bild. Sie lacht zunächst leise und kurz über die Frage und ant-wortet dann leicht stockend: „It is a word that we use to name a system, a kind of ordering system, which is a social ordering system, … It is a way to make things equal, that makes things equivalent. But it is a social order that then became an economic order.“ Sie tritt auf der Stelle hin und her und überlegt, offenbar leicht verunsichert, weiter. Dann sucht sie ein Beispiel, um zu erklären, wie dieses Sys-tem funktioniert, und spricht davon, dass es um Codes gehe, die zum Beispiel für den Wert eines Hauses stehen. Es fällt ihr sichtlich schwer, eine Erklärung zu lie-fern, aber sie trifft dann doch die Aussage, dass es dem System darum ginge Äquivalenz zu schaffen: „So it is about making things the same.“ Damit liefert sie eine Deutung des Kapitalismus als ein System, das Gleichheit produziert. Hier lässt sich ganz direkt an Boltanskis und Chiapellos Interpretationen denken: Deren Analyse zufolge nahm „der neue Geist des Kapitalismus“ durch die Ver-einnahmung der Sozialkritik das Konzept der (Chancen-)Gleichheit für sich in Anspruch und verstand sich fortan selbst als Anwalt einer gerechten sozialen Ordnung. Genau dieser Auslegung entspricht die Aussage der Befragten.

Nachdem die Interviewerin einige Zeit wartet und ein Filmschnitt erfolgt, tritt ein älterer großer, hagerer Herr mit grauen Haaren und lichter Stirn ins Bild. Auch er ist sportlich gekleidet. Er räumt zunächst ein, nicht zu wissen, was Kapi-talismus sei, aber er denke, es sei eine Form von Ökonomie. Und dann weiß er es

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doch genauer: „I think it is a system of exploitation and actually it is exploiting most of the people, I would say. And it calls that exploitation a natural thing, ‘cause that idea, that the market is a natural thing, involves that you can not change that market and that market forces are natural and therefore can not be changed by human beings.“

In seiner Antwort klingt die Kapitalismuskritik einer ganz bestimmten Ge-neration durch, wie auch die Überzeugung, dass Kapitalismus alles andere als eine natürliche Ordnung sei. Aber auch er gibt durch seine Antwort zu verstehen, auf diesem Gebiet kein Experte zu sein und relativiert dadurch den Status seiner eigenen Aussage.

Noch distanzierter antwortet eine nächste Interviewte – eine junge, zierliche Frau im Sportdress. Sie ist der Meinung, dass diese Frage nichts mit ihr zu tun habe: „I think you are asking a question that doesn’t have to do that much with me“ und entsprechend fragt sie die Interviewerin, warum sie diese Frage stelle, ob sie Sozialistin „oder so etwas“ sei. Eine Antwort aber wartet sie nicht ab, sondern wirft gleich ein, sie möge Geld, weil jeder Geld möge: „I like money, because, well, everybody would like money, because it is freedom.“ Man könne die Dinge bezahlen und kaufen, einen Job haben und deshalb sei Kapitalismus „just like a way of being“. Sie scheint den Idealtyp einer jüngeren unpolitischen Generation zu verkörpern, die offenbar – wie ihre etwas abschätzige Frage nach der politischen Gesinnung der Interviewerin andeutet – Vorurteile gegenüber be-stimmten links-politischen Haltungen hegt. Dass sie Geld mag, legitimiert sie dabei, indem sie sich auf eine angebliche Mehrheit beruft.

Es folgt eine Blende und ein Mann mit einer Kappe und einem Blouson steht im Bild und schaut in die Landschaft. Die Künstlerin läuft herbei und stol-pert beinahe auf ihn zu. Seine Antwort fällt sachlich aus und klingt gut inform-iert : „I think it is a principle of expansion, in the sense that can only exist as ex-pansion, as movement, constantly needing new markets, new companies, new factories, ideas, new labour, […] like a bubble that is getting bigger and bigger […] like an enormous flow of interests, which can only from time to time im-plode“. Er betont folglich – in eher kritischer Manier – die expansive Dimension des Kapitalismus, welche durch mögliche Implosionen durchaus Untergangssze-narien mit einschließt. Aber auch bei ihm scheint dieses tendenziell beängstigen-de Szenario keine Emotionalität hervorzurufen.

Als fünfte tritt wiederum eine jüngere Frau auf, die mit osteuropäischem Akzent (!) spricht. Sie gibt die kürzeste und abstrakteste Antwort und vermutet, Kapitalismus sei ein „system of representation. Like money represents value, like representation, like images or something. It is when everything becomes the

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same, when everything becomes an image.“ Sie verweigert so jede Wertung und lässt zugleich die soziale und gesellschaftliche Dimension des Begriffs eher un-terbelichtet. In ihrer Beschreibung des Kapitalismus als System klingt durch, dass es eben auch „nur“ ein Bild oder ein Systembegriff sei, dem sie offenbar keine große Bedeutung beizumessen braucht.

Schließlich tritt die erwähnte Familie (Mann, Frau, Kleinkind) als letzter In-terviewpartner auf. Bevor der Mann antwortet, weil er sich offenbar hierfür zu-ständig fühlt, gibt er das Kind, das er trägt, an die Frau weiter. Seine Antwort lautet: „Capitalism is about value, about accumulation of value through ex-change. There is nothing left but […] the index of changeability. It is nothing, but at the same time it is enormous, it is something else.“ Er verweist so vor al-lem auf die Ungreifbarkeit des Systems und darauf, dass in seinen Augen unklar bleibt, was durch die Einführung von Tauschindizes eigentlich genau passiert. Als die Interviewerin die Frau fragt, ob sie auch etwas dazu sagen möchte, gerät das Mikro in die Hände des Kindes. Die Frau fragt das Kind, welchen Laut die Kuh macht. Das Kind sagt laut „Muh“ ins Mikro und die Familie verlässt die Bildfläche. Sie unterhalten sich darüber, was sie jetzt tun wollen, und stellen fest, dass das gerade eine merkwürdige Frage war. Bild und Ton fallen auseinander, die Künstlerin geht ohne Mikro auf die Kamera zu und der Film beginnt nach kurzer Zeit von vorn.

Innerhalb des gesamten Plots gibt es kein Resümee und auch keinen ab-schließenden Kommentar der Künstlerin, sondern allein die Inszenierung eines „open-ends“. Die Aussagen ergeben zusammen keinen Sinn, obgleich sie im Einzelnen nicht unbedingt falsch oder unzutreffend erscheinen. Aber insgesamt stellen sie doch nicht mehr dar als Klischees und Überlegungen, die wir vom Hörensagen kennen, scheinen keiner fundierten Theorie geschuldet. Vielmehr entsprechen sie einem Alltagswissen und Überzeugungen, die merkwürdig gleichgültig und distanziert vorgetragen werden. Wussten wir das – so lässt sich fragen – nicht schon vorher? Um zu verstehen, worum es in Sanders Arbeit über diese Addition der bekannten Beschreibungen hinaus gehen könnte, blicken wir noch einmal auf den Rahmen.

5 Die Reflexion der Reflexion Als eines der Irritationsmomente, angesichts von Katya Sanders Apparatur, kann die Spannung zwischen medialer Inszenierung und Natürlichkeit gelten. Immer wieder verweist das Knistern der Tonspur und der sehr eindringliche Ton auf das Mediale des Settings; die Endlosspiegel zeigen dem Betrachter, wie er betrachtet,

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und entwerfen ein Bild vom Bild vom Bild usw. – Man kann sich erinnert fühlen an Jean Baudrillards Überlegungen zur Medialität, in denen er von der Unmög-lichkeit der Illusion spricht, weil es das Wirkliche längst nicht mehr gibt (vgl. Baudrillard 1978: 9). Gleichwohl wirkt die Art des Fragens der Künstlerin kei-neswegs inszeniert, sondern entwaffnend einfach. Weil aber die Antworten kei-nen Sinn machen, wird immer unklarer, welche Relevanz die Frage nach dem Kapitalismus eigentlich besitzt. Vor allem an diesem Ort. Warum sollte der Ka-pitalismus hier interessieren? Kommt uns die Frage nach dem Kapitalismus nicht vielmehr überflüssig vor? In welchem merkwürdigen Setting sind wir gelandet? Von welcher Position aus und mit welchen Absichten wird hier wer befragt?

Wie es scheint, bleiben sämtliche gegebenen Antworten folgenlos. Alles wird nur mit einem freundlichen „Thank you!“ quittiert. Die Interviewerin lässt die Antworten unkommentiert im Raum stehen, fragt an keiner Stelle insistierend nach. Jede weitere Reflexion bleibt aus. Jeder spricht gleichsam monadisch für sich, gibt jeweils seine Antwort, so dass daraus weder ein kohärentes Bild noch eine Kontroverse entsteht.

Entsprechend werden auch wir selbst als Betrachter wie in eine Bühne hin-ein genommen, wie in einen Guckkasten, in dem alles nur unendlich gespiegelt wird und nichts gegenwärtig, präsent oder wichtig erscheint. Sowohl die Befrag-ten wie auch die Interviewerin werden von der Kamera auf Abstand gehalten, lassen sich nicht näher in Augenschein nehmen. Nur der Ton geht im wörtlichen Sinne nahe, das Knistern und Rascheln am Mikro: die Störung.

Will man Sanders Arbeit als Interpretation einer Kultur der Sprechens über den Kapitalismus verstehen, so scheinen zwei Aspekte wichtig: erstens die Sym-bolik des Raumes und zweitens der Fragemodus. Der Fragestil erhellt den Blick auf bestimmte Prinzipien des Kapitalismus, sind doch in seiner Logik alle Ant-worten ohnehin nicht mehr als Reaktionen auf Nachfragen. Die Frage ist im Ka-pitalismus – so ließe sich sagen – das Entscheidende, gleichsam ein Naturgesetz, während Antworten ebenso verschieden wie beliebig und unscharf ausfallen, nicht mehr sind als halbwegs nachvollziehbare, aber auch austauschbare Mei-nungen, weder zielführend, erkenntnisgenerierend noch weltverändernd.

Durch den zweiten Aspekt, die Symbolik des Raumes, hingegen führt San-der zunächst eine Inszenierung des Natürlichen, scheinbar Unfertigen, Störungs-anfälligen vor. Vor uns öffnet sich die Wildnis als große Projektionsfläche unse-rer möglichen Antworten. Wir treten als Betrachter in einen Landschaftsraum, blicken auf einen unendlich weiten Horizont und befinden uns hierbei doch stets in einem höchst artifiziellen Interieur, in dem uns Natürlichkeit vorgespielt und doch gleichzeitig als Inszenierung entlarvt wird.

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Mit Hilfe der Spiegel exponiert die Künstlerin dabei das Motiv der Land-schaft als einen besonderen ästhetischen Erfahrungsraum. Sie knüpft damit an die Gattung der Landschaftsmalerei an, in der eine spezifische Form neuzeitlicher „Weltanschauung“ zum Ausdruck kommt: Der Begriff „Landschaft“ meint – wie es Joachim Ritter formulierte – immer schon eine „ästhetische Zuwendung zur Natur“ (Ritter 1963/1989: 144). Demnach wird Natur erst dann zur Landschaft, wenn sie jenseits ihres Bewirtschaftungspotentials und jenseits ihrer bedrohlichen Widerständigkeit und Feindlichkeit in den Blick genommen wird (ebd.: 151). Erst dem ästhetischen Blick erschließt sich Landschaft, und dann bezeichnet sie eine Form der „Weltanschauung“; eine Weltanschauung, die – wie Ritter bemerkt – als theoretisch gelten kann. Und zwar deshalb, weil sie sich, durchaus verwandt mit der Philosophie, „gegen die Sphäre des praktischen Handelns abgrenzt“ (ebd.: 145). „Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden Betrachter ästhe-tisch gegenwärtig ist: Nicht die Felder vor der Stadt [...] und die Steppen der Hir-ten und Karawanen (oder der Ölsucher) sind als solche schon ‚Landschaft‘. Sie werden dies erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne praktischen Zweck in ‚freier‘ genießender Anschauung zuwendet“ (ebd.: 150-151).

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wirkt umso relevanter, dass San-der ihre Befragung gerade in dieser merkwürdigen Prärie durchführt (und eben nicht in einer dem Handel und Warentausch dienenden Fußgängerzone). An die-sem Drehort suchen die Spaziergänger offenbar „Landschaft“ auf. Allerdings scheint die Praxis der Landschaftserfahrung in Sanders Film zu einer reichlich profanen Freizeitbetätigung geworden zu sein. Noch in der Romantik – man denke an die Malerei von Caspar David Friedrich – galt sie als elaborierte Form der Auslotung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Welt, ja, als Anlass zur Erfahrung des Erhabenen. Für Sanders Spaziergänger ist dieses Erschließen des eigenen Weltverhältnisses im Wandern dagegen offenbar zur trivialen Gewohn-heit geworden. Ausgestattet mit lässiger Freizeitkleidung dient die Landschaft für die Spaziergänger vermutlich eher als Ort körperlicher Ertüchtigung denn als Ort der Theoriebildung.

Zu einer solchen Lesart von Sanders Filminstallation als Vorführung trivia-lisierter Reflexionsformen passt auch die Anbringung der Spiegel. Hierdurch wird die so genannte „Selbstreflexion“ des Betrachters derart wörtlich genom-men, dass sie rein physikalisches Geschehen bleibt, welches kaum aufregende Erkenntnisse zu evozieren vermag.

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6 Die Ästhetik der Politik Man kann es als Privileg künstlerischer Praxis verstehen, reale Wirkungen und Erfahrungen zu provozieren, die aber doch nur im Modus des „als ob“ wirksam werden. Ästhetische Erfahrungen ermöglichen ein Erleben in Möglichkeitsräu-men, ein Erleben, das aber gleichwohl reale Dimensionen aufweist. Die reale Er-fahrungsdimension, die Katya Sander bietet, besteht darin, durch die permanente Reflexion unsere eigene Position so zu inszenieren, dass am Ende nichts mehr etwas zu bedeuten scheint.

Hierin ist Katya Sanders Installation auf sehr subtile Weise politisch. Und zwar nicht nur, weil – wie eine bekannte Kritik am Postulat der ästhetischen Autonomie konstatiert – es keine Ästhetik geben kann, die frei wäre von Poli-tik,19 sondern weil Sander eine spezifische ästhetische und symbolische Raum-ordnung vorführt und uns dabei über das Ästhetische politischer und gesell-schaftlicher Ordnungen aufklärt. Damit operiert sie ganz so, wie es der fran-zösische Philosoph Jacques Rancière beschreibt: Dieser dreht das Argument, alle Ästhetik sei politisch, um: Er schlägt einen Begriff von Politik vor, in welchem die politische Ordnung selbst ästhetischen Gesichtpunkten unterliegt. Damit meint er jedoch alles andere als eine Ästhetisierung der Politik. Vielmehr ist Po-litik in seinem Verständnis das Ringen um ein Gleichgewicht in einer raum-zeitlichen Ordnung; und diese Ordnung ist immer auch eine ästhetische. Politik ist zwar ein immer wieder neu einsetzender Aushandlungsprozess, in dem ent-schieden wird, „wer fähig ist, etwas zu sehen, und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen“ (Rancière 2006: 26), und Politik wirkt „sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten“ aus (ebd.: 27). Kunst hingegen, verstanden als eine Praxis der Neucodierung ästhetischer Regime, ist dadurch politisch, dass „sie einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt und dass die Gegenstände, mit denen sie diesen Raum bevölkert, und die Rhythmen, in die sie diese Zeit einteilt, eine spezifische Form der Erfahrung festlegen, die mit anderen Formen der Erfahrung übereinstimmt oder mit ihnen bricht“ (ebd.: 77).

Katya Sander entwirft in ihrer Arbeit eine Raumordnung, die insgesamt widersprüchlich bleibt: Der Betrachter erscheint in eben dem Maße omnipräsent, wie er um seinen Standpunkt gebracht wird. Widersprüchlich bleibt auch, dass eine – wenn auch fingierte – Umfrage zum Thema Kapitalismus in einen räum-lichen Kontext versetzt wird, der traditionell Ort der zweckfreien „Weltanschau-ung“ ist: die Landschaft. Und auch auf der Ebene der getätigten Aussagen wird

19 Gemäß Brian O’Doherty (1996: 88) etwa, ist „der Anschein von Neutralität, der der weißen

Wand anhaftet, [...] eine Illusion“, die „für eine Gesellschaft mit festen Ideen und Werten“ steht.

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vor allem eins vermieden: klare Positionen zu beziehen. Man könnte von hier aus annehmen, der Künstlerin ginge es darum, die universale Gegenwart des Kapita-lismus und die gleichzeitige völlige Indifferenz des Sprechens über den Kapita-lismus zu zeigen. Letztlich aber gehen alle eindeutigen Sinnerwartungen hier ins Leere. Einer allzu ernstnehmerischen Lektüre der Arbeit steht ihr Witz ent-gegen – und ihre Verrücktheit, ihre Unsinnigkeit, die zugleich entwaffnend selbstverständlich wirkt. Wie man nun also den Kapitalismusbegriff zu verstehen hat, lässt sich aus Sanders Arbeit nicht ableiten. Vielmehr eröffnet sie uns die unerwartete Option, diesem Begriff, wenn er derart indifferent bleibt, mög-licherweise seine Relevanz auch absprechen zu dürfen. Ist der Begriff Kapitalis-mus – so wäre dann die Frage – noch wichtig? Oder gilt nicht viel eher zu klären, von welchem Kapitalismus wir sprechen?

Literatur Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen. Berlin: Merve.

Boltanski, Luc/Chiapello, Éve (2006): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Verlags-gesellschaft.

Bonde, Lisbeth/Sandbye, Mette (2006): Manual til dansk samtidskunst. Oslo: Gyldendal.

Foucault, Michel (1994; erstmals 1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1986; erstmals 1947): Kulturindustrie, Aufklärung als Mas-senbetrug. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 128-176.

Kastner, Jens (2005): „iMueve te!“. Bewegungen im Kunstwerk als Positionierungen im Feld. www.reublicart.net|disc/mundial/kastner01–de.htm (20.12.2007).

Lemke, Harald (2004): Zu einer nicht-ästhetischen Kunstphilosophie. In: Infection Manifesto. Zeit-schrift für Kunst und Öffentlichkeit 12 (5). S. 7-23.

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O’Doherty, Brian (1996): In der weißen Zelle. Berlin: Merve.

Pollesch, René (2007): Liebe ist kälter als das Kapital. Stuttgart: Programmheft des Schauspiel Stutt-gart und des Staatstheater Stuttgart.

Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books.

Ritter, Joachim (1989, erstmals 1963): Landschaft. In: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 141-163.

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Sander, Katya (2003): What is Capitalism? http://www.katyasander.net/works/whatiscap.html (20.12.2007).

Sennett, Richard (2007). Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag.

Weber, Max (2006; erstmals 1904/1905): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler, 2. durchges. Aufl. München: C.H. Beck.

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Zu den Autorinnen und Autoren

Marian Adolf, Mag. Dr. phil. (geb. 1974) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften der Zeppelin University und Lehrbeauftragter der Universität Wien. Er studierte Kommunikationswissen-schaft und Politologie an den Universitäten Wien und Karlstad und promovierte 2005 mit einer Arbeit zur Kritischen Theorie der Medien. Von 2002 bis 2006 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik- und Kommunikati-onswissenschaft der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Kommunikations-, Medien- und Kulturtheorie. Seine Studie Die Unverstandene Kultur, eine Arbeit zur Mediengesellschaft, erschien 2006 im Transcript Verlag.

Karen van den Berg, Prof. Dr. (geb. 1963), ist seit 2003 Inhaberin des Lehr-stuhls für Kulturmanagement und inszenatorische Praxis an der Zeppelin Univer-sity Friedrichshafen. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassische Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel; seit 1988 ist sie als freie Ausstellungskuratorin tätig und realisierte zahlreiche Ausstellungsprojekte in öf-fentlichen Räumen und in Kunstinstitutionen (zuletzt mit der Ausstellungsreihe „Politics of Research“ 2007 und „Pari Mutuel“ Page/Hertzsch im Flughafen Ber-lin Tempelhof 2008). Von 1993 bis 2003 war sie Dozentin für Kunstwissenschaft im Studium fundamentale der Privaten Universität Witten/Herdecke, 1994-1996 arbeitete sie als Wissenschaftliche Assistentin und 1999-2003 als Wissenschaft-liche Mitarbeiterin ebendort. Forschungsschwerpunkte sind: Theorie des Insze-nierens und Ausstellens; Kunst und Emotionen (insbesondere Kitsch und Schmerz); Kunst und Öffentlichkeit; Kunstvermittlung und Politik des Zeigens, Rollenmodelle künstlerischen Handelns; Altern und künstlerische Alterswerke.

Reinhard Blomert, Dr. rer. pol. habil., studierte in Heidelberg und Berlin (So-ziologie, Volkswirtschaft, Jura). Nach Gastprofessuren in Graz und Paris lehrt er derzeit an der Ernst Busch Hochschule für Schauspielkunst. Er ist Redakteur der Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft Leviathan, Mitherausgeber der Ge-sammelten Schriften von Norbert Elias (im Suhrkamp Verlag) und Autor einer Studie über die Einheit der Sozialwissenschaften (am Beispiel des Heidelberger Instituts für Sozial- und Staatswissenschaften). Zuletzt erschien von ihm eine Biographie von John Maynard Keynes (rororo Monographien 2007).

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282 Zu den Autorinnen und Autoren

Steve Fuller (geb. 1959), Professor für Soziologie an der Universität Warwick, England. BA an der Columbia University (Geschichte und Soziologie, 1979), MA an der Universität Cambridge (Geschichte und Wissenschaftsphilosophie, 1981), Promotion an der Universität Pittsburgh (Geschichte und Wissenschaftsphilosophie, 1985). Begründer des Forschungsprogramms für soziale Epistemologie und Mitbe-gründer einer gleichnamigen Zeitschrift. Buchpublikationen u.a.: Social Epistemo-logy (2. Aufl.. 2002); Philosophy, Rhetoric and the End of Knowledge (2. Aufl. 2003); The Intellectual (2005); The Philosophy of Science and Technology Studies (2006); The New Sociological Imagination (2006); The Knowledge Book: Key Con-cepts in Philosophy, Science and Culture (2007); New Frontiers in Science & Tech-nology Studies (2007); Science vs. Religion?: Intelligent Design and the Problem of Evolution (2007); Dissent over Descent (2008). Daneben verfasste Fuller über 200 Artikel und hielt 500 Vorträge in 25 Ländern. Seine Arbeiten sind in fünfzehn Spra-chen erschienen. Fuller ist Mitglied der Royal Society for the Arts und eingetragen im Who’s Who in the World. Im Jahr 2007 verlieh ihm die Universität Warwick ein „higher doctorate“ (D.Litt.) für herausragende Forschungsbeiträge. Er ist Vorsitzen-der der Sektion für Soziologie und Sozialpolitik der britischen Association for the Advancement of Science.

Annemarie Gronover, Dr. (geb. 1969), ist seit November 2006 Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft und Wissensanthropologie an der Zeppe-lin University Friedrichshafen. Studium der Ethnologie und Germanistik in Tübingen. Wissenschaftliche Museumsassistentin bei den Staatlichen Museen zu Berlin – Preußi-scher Kulturbesitz am Museum für Europäische Kulturen in Berlin (1998-1999). Feld-forschung in Palermo (2000-2001). Wissenschaftliche Angestellte im Projekt der Volkswagen Stiftung „Das menschliche Umweltverhalten – Eine Synthese archäologi-scher, naturwissenschaftlicher und ethnographischer Untersuchungen“ (2005-2006). Promotion 2006 an der Universität Tübingen. Derzeitige Forschungsinteressen sind: Theorien und Methoden der Ethnologie, Migration, Interkulturelle Kompetenz.

Stephan A. Jansen, Prof. Dr. (geb. 1971), ist seit September 2003 Gründungs-präsident und Geschäftsführer der Zeppelin University sowie Inhaber des Lehr-stuhls für „Strategische Organisation & Finanzierung (SOFI)“. Von 1998 bis 2003 leitete er das von ihm gegründete „Institute for Mergers & Acquisitions (IMA)“ in Witten/Herdecke. Er war Forschungsmitglied an der Stanford Uni-versity (1999) und der Harvard Business School (2000-2001). Zahlreiche Auf-sichtsrats- und Beiratsmandate von Unternehmen und Ministerien, u.a. persönli-cher Berater von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück. Letzte Buch-Veröffent-

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Zu den Autorinnen und Autoren 283

lichungen u.a.: Mergers & Acquisitions (5. Auflage, 2008); Zukunft des Öffent-lichen (2007, Hrsg.); Demographie (2006, Hrsg.); Public Merger (2004, Hrsg.); Management von Unternehmenszusammenschlüssen (2004); Electronic Go-vernment (2001, mit B.P. Priddat); Oszillodox (2000, mit P. Littmann, Wirt-schaftsbuch des Jahres 2001).

Alihan Kabalak, Dipl.-Ök. (geb. 1975), ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Ökonomie an der Privaten Universität Witten/Herdecke. Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hannover. Bis 2008 Assistent am Lehrstuhl für Politische Ökonomie, Zeppelin University Fried-richshafen. Themen: Rationalität, Politische Ökonomie, Akteurs-, Institutionen-, Systemtheorien. Bücher: Wieviel Subjekt braucht die Theorie? Ökonomie / So-ziologie / Philosophie, 2007 (Hrsg. mit B.P. Priddat); Ökonomie, Sprache, Kommunikation. Neuere Einsichten zur Ökonomie, 2008 (Hrsg. mit B.P. Priddat und E. Smirnova).

Gertraud Koch, Prof. Dr., seit 2003 Professorin für Kommunikationswissen-schaft und Wissensanthropologie an der Zeppelin University Friedrichshafen. Studium der Europäischen Ethnologie, Politikwissenschaft und Theater, Film- und Fernsehwissenschaft. Derzeitige Forschungsinteressen: Wissensanthropolo-gie, Anthropologie des Lernens, e-learning, kulturelle Grundlagen von Innovati-on. Veröffentlichungen zu: Kulturalität der Technikgenese. Praxen, Policies und Wissenskulturen der künstlichen Intelligenz (2005); Internationalisierung von Wissen (2006, Edition); Region – Kultur – Innovation (2007, Edition mit Bernd Jürgen Warnken) Second Life. Ethnografische Studien im zweiten Leben (im Erscheinen); Transkulturelle Praktiken. Studien zu kulturellen Grundlagen von Innovation (im Erscheinen).

Jacquelyne Luce, PhD, ist Kultur- und Medizinanthropologin. Sie forscht in den Themenbereichen Nanotechnologien und Konvergierende Technologien, Reproduktive und Genetische Technologien, Embryo- und Eizellenspenden für Stammzellen- und Präimplantationsdiagnostikforschung sowie zur Integration und Professionalisierung hebammengeleiteter Geburtshilfe im kanadischen Ge-sundheitssystem. Ihr Interesse liegt u.a. auf der Beziehung zwischen klinischer Praxis und Forschungssteuerung sowie auf der kulturellen Vermittlung und dem Verständnis von wissenschaftlichem und medizinischem Wissen. Seit 2006 ist sie Forscherin an der Zeppelin University und arbeitet im Projekt KNOWLED-GE NBIC, finanziert durch European Framework 6, das die Entstehung Kon-

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284 Zu den Autorinnen und Autoren

vergierender Technologien und deren Steuerung aus der Perspektive der Sozi-alwissenschaften untersucht. Kürzlich hat sie, gemeinsam mit Liana Giorgi, ein Sonderheft von Innovation: The European Journal of Social Science Research herausgegeben zum Thema „Converging Science and Technologies: Research Trajectories and Institutional Settings“. Gegenwärtig arbeitet sie an einem Buch über die Erfahrungen von Frauen, die gesellschaftlichen Minderheiten angehö-ren, mit künstlicher Befruchtung und Adoption sowie den sich wandelnden Um-gang mit der Anerkennung von Elternschaft in Kanada.

Birger P. Priddat, Prof. Dr. (geb. 1950), ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Ökonomie an der Universität Witten/Herdecke, zugleich deren Präsident. Studium der Volkwirtschaft und Philosophie in Hamburg; 1991-2004 Lehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie an der Privatuniversität Wit-ten/Herdecke; 1995-2000 Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. 2004-2007 head of the department for public management & governance an der Zeppelin University in Friedrichshafen. Forschungsschwerpunkte: Institutional Economics, Political Governance, Theoriegeschichte der Ökonomie, Wirt-schaftsethik, Zukunft der Arbeit. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a.: Hegel als Ökonom (1990); Die andere Ökonomie: Eine neue Einschätzung von Gustav Schmollers Versuch einer „ethisch-historischen“ Nationalökonomie (1995); Moralischer Konsum (1998); Der bewegte Staat (2000, Hrsg.); Arbeit an der Arbeit: Verschiedene Zukünfte der Arbeit (2000); Electronic Government (2001, mit S. A. Jansen); Nachlassende Bildung (2002); Theoriegeschichte der Öko-nomie (2002); Organisationen und Netzwerke: Der Fall Gender (2004, Hrsg. mit U. Pasero); Strukturierter Individualismus. Institutionen als ökonomische Theorie (2005); Unvollständige Akteure. Komplexer werdende Ökonomie (2005); Irritierte Ordnung. Moderne Politik. Politische Ökonomie der Governance (2006); Neuroökonomie (2007, Hrsg.); Ökonomie, Sprache, Kommunikation (2008, Hrsg. mit A. Kabalak und E. Smirnova).

Heike Proff, Prof. Dr., hat seit 2004 den Zeppelin-Lehrstuhl für Internationales Management an der Zeppelin University inne. Studium der Betriebswirtschafts-lehre an den Universitäten Frankfurt und Mannheim, Promotion in Frankfurt, Habilitation in Mannheim, 2002 Visiting Professor an der Dong-A-University in Pusan, Südkorea; 2003 Visiting Scholar an der Wharton School in Philadephia, USA. Forschungsschwerpunke: Internationales und Strategisches Management, insbesondere internationales Wertschöpfungsmanagement, Management in Emerging Markets sowie Automobilmanagement. Beiträge in nationalen und in-

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Zu den Autorinnen und Autoren 285

ternationalen Zeitschriften, Buchveröffentlichungen u.a.: Konsistente Gesamtun-ternehmensstrategien (2002); Internationales Management in Ostasien, Latein-amerika und Schwarzafrika (2004); Dynamische Strategien im internationalen Wettbewerbsprozess (2007) und Dynamisches Automobilmanagement (2008, mit H.V. Proff).

Hartmut Rosa, geb. 1965 in Lörrach, ist Professor für Allgemeine und Theore-tische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Davor lehrte er an der Universität Augsburg, an der Universität Duisburg-Essen und an der New School for Social Research in New York. Er promovierte 1997 an der Hum-boldt-Universität zu Berlin und habilitierte sich 2004 in Jena. 2006 erhielt er den Thüringer Forschungspreis für Grundlagenforschung. Veröffentlichungen: Be-schleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne (2005, Suhrkamp); Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor (1998, Campus).

Eckhard Schröter, Prof. Dr., hat seit 2005 den Stadt-Friedrichshafen-Lehrstuhl für Verwaltungswissenschaft an der Zeppelin University inne und leitet seit 2007 das Department Public Management & Governance. Vorher lehrte er am Department of Political Science der University of California, Berkeley, und am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Schwerpunkten in der Forschung und Lehre gehören der internationale Ver-gleich von Verwaltungsreformen, die Verwaltungskultur-Forschung, Fragen der Metropolenverwaltung und die Governance-Strukturen im internationalen Hochschul- und Wissenschaftsmanagement. Neben zahlreichen Beiträgen in na-tionalen und internationalen Zeitschriften gehören zu seinen Veröffentlichungen u.a.: Comparing Public Sector Reform in Germany and the United Kingdom (2000, Hrsg. mit Hellmut Wollmann); Empirische Policy- und Verwaltungsfor-schung (2001, Hrsg.); Moderne Verwaltung für Moderne Metropolen (Hrsg. mit Manfred Röber und Hellmut Wollmann).

Tobias Schulze-Cleven ist PhD Candidate in Political Science und Research As-sociate am Berkeley Roundtable on the International Economy (BRIE) an der University of California, Berkeley. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Bestimmungsfaktoren und Folgen von Sozialstaats- und Bildungsreformen in Europa. In der Lehre unterrichtet er Vergleichende Politikwissenschaft und Poli-tische Ökonomie. Seine Dissertation vergleicht dänische und deutsche Ansätze

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286 Zu den Autorinnen und Autoren

zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und untersucht deren Auswirkungen auf Unternehmensstrategien in den beiden Ländern.

Nico Stehr, Prof. Dr., ist Inhaber des Karl-Mannheim-Lehrstuhls für Kulturwis-senschaften an der Zeppelin University Friedrichshafen sowie Fellow des Kultur-wissenschaftlichen Instituts in Essen. Im akademischen Jahr 2002/2003 war er Paul-Lazarsfeld-Professor der Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Jüngste Buchveröffentlichungen: Wissenspolitik: Die Überwa-chung des Wissens (2003); The Governance of Knowledge (2004); Biotechnology: Between Commerce and Civil Society (2004); Knowledge Politics: Governing the Consequences of Science and Technology (2005); Die Moralisierung der Märkte (2007); Knowledge and the Law (2008) und Knowledge and Democracy (2008).

Bartholomew Watson ist PhD Candidate in Political Science und Research As-sociate am Berkeley Roundtable on the International Economy (BRIE) an der University of California, Berkeley. In seiner Dissertation untersucht er in verglei-chender Perspektive, wie europäische Staaten auf den US-amerikanischen Boom in IT-basierten Dienstleistungen reagierten und wie sich ihre unterschiedlichen Antworten auf nationale Beschäftigungsmuster ausgewirkt haben.

John Zysman ist Professor of Political Science und Co-Director des Berkeley Roundtable on the International Economy (BRIE) an der University of Califor-nia, Berkeley. In zahlreichen Publikationen beschäftigte er sich mit nationalen Anpassungsleistungen an die sich entwickelnde globale und digitale Ökonomie. Seine jüngste Buchveröffentlichung ist bei Stanford University Press erschienen: How Revolutionary was the Digital Revolution? National Responses, Market Transitions and Global Technology (2006, Hrsg. mit Abraham Newman).