Mediterraner Kapitalismus dieEinheitin Balkan Türkei ...

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SEITE 12 · FREITAG, 13. SEPTEMBER 2013 · NR. 213 FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Die Ordnung der Wirtschaft Finanzpolitik und die Währungsintegrati- on durchaus braucht, muss nicht immer den Bedürfnissen der Vielfalt eur Quelle: Werner Abelshauser / F.A.Z.-Karte Jaeck Rheinischer Kapitalismus Europäische Wirtschaftskulturen Transformationsländer Anglo-Amerikanischer Kapitalismus Mediterraner Kapitalismus Balkan Türkei 500 km A ls sich 1950 sechs europäi- sche Staaten auf den Weg machten, ihre Wirtschaft Markt für Markt zusam- menzuführen, hatten sie ein supranationales Euro- pa vor Augen. Die Montanunion aus Frankreich, Westdeutschland, Italien und den Beneluxstaaten bot sich dafür als Ein- stieg an. Lediglich Deutschland musste in nennenswertem Umfang Souveränität an die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl abtreten. Alle anderen Mitglie- der verfügten entweder über nur geringe schwerindustrielle Marktmacht oder streb- ten sie – wie Frankreich – erst an. Aber auch den Deutschen fiel es leicht, sich der Hohen Behörde in Luxemburg unterzuord- nen, stand man doch immer noch unter Besatzungsstatut und war weit davon ent- fernt, souverän über die Zukunft seiner Montanwirtschaft zu entscheiden. Doch schon am Rüstungsmarkt, den die sechs parallel zur Montanunion ins Visier nah- men, scheiterte der supranationale An- spruch. Die Europäische Verteidigungsge- meinschaft und die in sie eingeschlossene Politische Gemeinschaft kollidierten 1954 mit der Souveränität Frankreichs, das nicht darauf verzichten wollte, Atom- macht zu werden. Bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die 1957 zu ei- ner Relance Européenne führte, stand Su- pranationalität nicht mehr zur Debatte. Die sechs schlossen eine Vertragsgemein- schaft souveräner Staaten, deren Ziel nicht die Überwindung, sondern die Über- lebensfähigkeit der beteiligten National- staaten war. An diesem Status hat sich bis heute – für 27 Mitglieder der Europäi- schen Union – nichts Wesentliches geän- dert, wie das Bundesverfassungsgericht nicht aufhört zu betonen. Dennoch haben die Bannerträger der Europäischen Inte- gration von Anfang an nichts unversucht gelassen, die Karte des funktionalen, in ge- wisser Weise subversiven Föderalismus zu spielen, der, von ersten, kleinen Schritten ausgehend, schließlich zum Ziel der ge- samteuropäischen Souveränität gelangen würde. Sie rechtfertigten diese Salamitak- tik der, Europapolitik mit der Zwangsläu- figkeit technologischer Entwicklungspro- zesse und der Logik des Marktes: Streben nach wirtschaftlicher Modernisierung musste nach Überzeugung der europäi- schen „Eliten“ früher oder später auch po- litisch zum Einheitsstaat führen. Das Ver- trauen auf die Zwangsläufigkeit wirt- schaftlich-technokratischer Integrations- prozesse wurde somit zur politischen Le- benslüge der Gemeinschaft, die sich wie ein roter Faden durch die Vorstellungs- welt der europäischen Politik zieht. Dies gilt in hohem Maße auch für die Europäi- sche Währungsunion. In der Modellwelt des „optimalen Wäh- rungsraumes“ schienen zunächst alle wirt- schaftlichen Voraussetzungen gegeben, um die Währungsunion zum Motor einer supranationalen Umformung der europäi- schen Vertragsgemeinschaft zu machen. Die Euroländer verfügen über hohe Flexi- bilität und Mobilität der Arbeits- und Gü- termärkte. Auch ihre Integration in den Welthandel, der Offenheitsgrad, lässt we- nig zu wünschen übrig. Bliebe nur noch der Appell an die Bereitschaft der Mit- gliedstaaten, einige wenige Regeln einzu- halten, die für den Zusammenhalt des Währungsraumes unabdingbar sind. Die- se im Vertrag von Maastricht festgelegten Kriterien setzten freilich kollektive Menta- litäten der Euroländer voraus, die sie befä- higten, Staat und Gesellschaft so zu organi- sieren, dass diese Regeln auch eingehalten werden konnten. Zwar war von Anfang an klar, dass der gemeinsame Währungsraum sehr unterschiedliche, oft über lange histo- rische Zeiträume gewachsene kollektive Mentalitäten einschloss, doch zweifelten die Verfechter einer europäischen Ein- heitswährung keinen Augenblick daran, dass sich allgemeinverbindliche Standards für Budgetdefizit, Verschuldungsquotient oder Inflationsrate unter dem Druck der Kapitalmärkte ganz selbstverständlich durchsetzen würden. In der Vorstellungs- welt zwangsläufiger Integrationsprozesse schien die soziale und politische Kompe- tenz, gemeinsam gesetzte Regeln auch ein- zuhalten, zu einer bloßen Willensfrage po- litischer Disziplin zu schrumpfen. Spätestens 2010, als die schwelende Bankenkrise das Problem wachsender Staatsverschuldung zahlreicher Eurolän- der akut werden ließ und sich die Refinan- zierung auf den Kapitalmärkten immer schwieriger gestaltete, trat die Instabilität des Euroraumes offen zutage. Unter- schiedliche kollektive Mentalitäten ließen sich offensichtlich nicht problemlos in die schöne Modellwelt eines „optimalen Wäh- rungsraumes“ integrieren. Gleichzeitig mehrten sich die Anzeichen, dass der schwierige Umgang seiner Mitglieder mit den Maastricht-Kriterien auch noch ande- re Gründe hatte. Neben der Zähigkeit kol- lektiver Mentalitäten kollidieren auch un- terschiedliche wirtschaftskulturelle Vor- aussetzungen im gemeinsamen Währungs- raum mit dem Versuch der „Euroretter“, die Währungsunion durch eine noch strik- tere Vereinheitlichung von Regeln und wirtschaftspolitischer Intervention zu dis- ziplinieren. Tatsächlich erfordert die Stabilisierung des Europäischen Währungssystems (mit oder ohne Einheitswährung) nicht eine einheitliche, sondern ganz unterschiedli- che Strategien von Wirtschafts- und Fi- nanzpolitik. Europa umfasst nämlich mehrere historisch gewachsene Wirt- schaftskulturen, in denen jeweils eigene Denk- und Handlungsweisen (Institutio- nen) die Märkte bestimmen und deren Wirtschaft auf sehr verschiedene Weise or- ganisiert ist. Eine Strategie zur wirtschaft- lichen Integration Europas muss daher stärker als in der Vergangenheit dieser Be- sonderheit Rechnung tragen, wenn sie den einmal erreichten Stand konsolidie- ren und gleichzeitig von dieser Vielfalt komparativer Wettbewerbsvorteile in der Weltwirtschaft profitieren will. Voraussetzung dazu wäre die Verge- meinschaftung jener produktiven Ord- nungspolitik, die die Nationalstaaten bis- her schon mit Erfolg eingesetzt haben, um die spezifische Wettbewerbsfähigkeit ihres jeweiligen Produktionsregimes zu verbessern. Damit sind Strategien staatli- cher Rahmen- und Regelsetzung gemeint, die der Gestaltung des sozialen Systems der Produktion dienen – in der Absicht, Wettbewerbsvorteile durch funktionieren- de Institutionen zu erzielen. Wie unter- schiedlich produktive Ordnungspolitik in Europa ausfallen müsste, zeigt allein schon die Verschiedenartigkeit der sozia- len Produktionssysteme wie zum Beispiel des Bankensystems, der Berufsausbil- dung oder der Arbeitsbeziehungen. Wäh- rend die deutsche Produktionsweise der nachindustriellen Maßschneiderei „gedul- diges“ Kapital voraussetzt, ist der briti- sche Kapitalmarkt auf Risikokapital ange- wiesen. Eine Wirtschaftskultur, die auf der regionalen Verbundwirtschaft kleiner und mittlerer Unternehmen beruht, braucht Kreditinstitute, die diesem Mus- ter Rechnung tragen, wie die deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Andere wiederum stützen ihr „Geschäfts- modell“ vorzugsweise auf Investmentban- ken, die den Markt für innovative Finanz- produkte beherrschen. Die kontrastreichen Eigenheiten des europäischen Wirtschafts- und Sozialsys- tems vollständig aufzulisten ist sicher ein hoffnungsloses Unterfangen. Aus der Nähe betrachtet, löst sich der Europäi- sche Wirtschaftsraum in ebenso viele Va- rianten des Kapitalismus auf, wie es dort historisch verschiedenartige Wege in die Moderne gibt. Diese Entstehungsge- schichte unterscheidet den Europäischen Wirtschaftsraum insbesondere von dem der Vereinigten Staaten, erlaubt es aber auch, die Unterschiede zwischen den eu- ropäischen Wirtschaftskulturen wenigs- tens in groben Zügen zu beschreiben und ihre jeweiligen komparativen Wettbe- werbsvorteile auf dem Weltmarkt heraus- zuarbeiten. Im Wesentlichen sind es vier Wirtschaftskulturen, die so den Auftritt der europäischen Wirtschaft in der Welt- wirtschaft bestimmen. Der angelsächsische Kapitalismus er- fuhr seine wesentliche Prägung im Zeital- ter des weltweiten Merkantilismus und wurde stark von den arationalen Gewohn- heiten protestantischer Minderheiten be- einflusst: Akkumuliert, akkumuliert, das ist Moses und die Propheten! Schon im 19. Jahrhundert hat Großbritannien seiner früh ausgeprägten industriellen Wirt- schaftskultur den Rücken gekehrt, um sich auf den Kapitalmärkten rentableren Anlageformen zuzuwenden. Dem Nieder- gang der britischen Wirtschaft im 20. Jahr- hundert war dann die Verschmelzung mit der amerikanischen Kapitalmarktkultur geschuldet, die in den achtziger Jahren endgültig ihren globalen Siegeszug antrat. Ohne dass Großbritannien selbst dem Eu- roraum angehört, lässt sich die anglo-ame- rikanische Wirtschaftskultur daher als zentraler Akteur nicht wegdenken. Das europäische Kerngebiet schritt auf anderen Wegen in die Moderne. Sie führ- ten kreuz und quer durch den Kontinent, und es gibt wenige Regionen, die nicht ir- gendwann an diesem Weg lagen. Der fran- zösische Autor Michel Albert hat die Wirt- schaftskultur, die daraus entstanden ist, „capitalisme rhénane“, Rheinischen Ka- pitalismus, genannt. Er meinte damit ei- nen historisch gewachsenen Wirtschafts- raum, der von Skandinavien bis Nordita- lien und von der Seine bis an die Oder reicht. Das Itinerar seiner Entstehungsge- schichte beginnt spätestens auf der West- Ost-Transferstraße der Hansezeit, die den flandrischen Tuchstapel im Westen mit den Rohstoffmärkten von Nowgorod am Ilmensee verband und deren Einzugsbe- reich von Skandinavien bis nach Westfa- len reichte. Es setzt sich fort auf jenen quer durch Europa ziehenden Entwick- lungsachsen von Brügge nach Genua und von Antwerpen nach Venedig, auf denen zunächst die Messen der Champagne, dann die oberdeutschen „Industrierevie- re“ um Augsburg und Nürnberg zu Kno- tenpunkten institutioneller Innovationen der Moderne wurden. In der Hansezeit waren es vor allem die Ausbreitung der autonomen Stadtwirtschaft als exportfähi- ges Muster moderner Wirtschaftsverfas- sung, der Zunft als genossenschaftliche Organisationsform innovativer gewerbli- cher Institutionen und die Bündelung ei- ner Vielzahl privilegierter Rechtsnormen zu Spielregeln, die den vieldeutigen, aber doch auf lange Zeit höchst effizienten In- halt des hansischen Herrschaftsrahmens, (Hanseatic Governance) ausmachten. Da- nach rückten immer mehr die institutio- nellen Innovationen auf dem Gebiet des Kreditwesens, der gewerblichen Großor- ganisation, der renditeorientierten Unter- nehmung und der rationalen Wirtschafts- gesinnung – also die Grundlagen des Ka- pitalismus – in den Vordergrund. Es fällt in der Tat schwer, die gewerblichen Inno- vationen dieser vom Erzbergbau, der Me- tallverarbeitung und der Textilindustrie geprägten Produktionslandschaft in insti- tutioneller, organisatorischer und techni- scher Hinsicht gedanklich von den Errun- genschaften der Industriellen Revolution in England abzusetzen, auch wenn viele ihrer sichtbaren Resultate in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges in dieser Re- gion wieder untergegangen sind. Heute verkörpert der Rheinische Kapitalismus den starken Kern des Euroraumes und verleiht ihm ein hohes Maß wirtschafts- kultureller Geschlossenheit. Als dichte Landschaft freiwillig akzeptierter „Spiel- regeln“ steht seine Wirtschaftskultur gera- dezu im idealtypischen Gegensatz zur Ideologie der Marktwirtschaft der unsicht- baren Hand, wie sie seit dem 18. Jahrhun- dert in England Gültigkeit hat. Kennzeichen der im Süden Europas vorherrschenden Wirtschaftskultur sind eine distanzierte Haltung der wirtschaft- lichen Akteure zum Staat, ihre gering aus- geprägte Fähigkeit, Sozialkapital zu bil- den und zu nutzen, sowie eine der agra- risch-tertiären Produktionsweise geschul- dete Tradition weicher Währungen. Es ist sicher kein Zufall, dass alle Länder des Mediterranen Kapitalismus (aber auch der Balkanstaat Griechenland) im 20. Jahrhundert gründliche Erfahrungen mit faschistischen Bewegungen machen mussten, die angetreten waren, das offen- kundige Defizit an staatlicher und gesell- schaftlicher Wirksamkeit durch autoritä- re Ordnung zu kompensieren. Wie tief- greifend und langwierig die Ursachen die- ses Defizits sind und wie scharf die Ab- grenzung zum Rheinischen Kapitalismus ausfällt, lässt sich an der Geschichte der wirtschaftskulturellen Spaltung Italiens in nuce zeigen. Während im Süden seit dem 12. Jahrhundert ein effektiver auf Feudalismus gegründeter bürokratisch- autokratischer Staat herrscht, den die Normannen errichtet und andere fremde Mächte fortgeführt haben, entstehen gleichzeitig im Norden autonome, selbst- verwaltete Stadtrepubliken, deren Bür- ger sich am Gemeinwohl orientieren – und aufs engste „rheinisch“ verlinkt sind. Auch dort, wo sie ihre Selbständigkeit später verlieren, bewahren sie die Fähig- keit, Sozialkapital zu akkumulieren und wettbewerbsfähige Institutionen hervor- zubringen. Wie tief dieser wirtschaftskul- turelle Graben auch heute – mehr als 150 Jahre nach Gründung des italienischen Nationalstaates noch klafft, bringt Vera Zamagni auf den Punkt: „Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben, dass der Mezzogiorno mit seinen historisch ge- wachsenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen von außen verän- dert werden kann.“ Die in Bologna leh- rende Wirtschaftsprofessorin weiß, dass eine solche wirtschaftskulturelle Revolu- tion viel Zeit erfordert, zumal der bisher zurückgelegte Weg „keineswegs kürzer gewesen ist – und noch dazu ergebnis- los“. Damit soll nicht unterstellt werden, der Süden Italiens und die übrigen Län- der des Mediterranen Kapitalismus hät- ten keine eigene Wirtschaftskultur. Sie haben eine andere – mit komparativen in- stitutionellen Vorteilen durch stabilen wirtschaftlichen Familismus, auf den Dienstleistungsmärkten und, was die Ibe- rische Halbinsel angeht, durch ein welt- weites Netzwerk von Handelsbeziehun- gen. Hier müsste produktive Ordnungspo- litik ansetzen, die den derzeit beklagens- werten Zustand der mediterranen Wirt- schaft überwinden wollte. Die wirtschaftskulturelle Orientierung Europas ist noch keineswegs abgeschlos- sen. Dies gilt vor allem für die Transforma- tionsstaaten im Osten, die dabei sind, an ei- genen Traditionen anzuknüpfen oder die institutionelle Verfassung anderer Wirt- schaftskulturen zu übernehmen. Lange Zeit lag in diesem Kulturkampf, der nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ein- setzte, die liberale Marktwirtschaft anglo- amerikanischen Zuschnitts weit vorn, weil sich der Dynamik ihrer Kapitalmärkte kaum jemand entziehen konnte. In jüngs- ter Zeit hat aber die rheinische Wirt- schaftskultur etwa im Baltikum oder in den aus der k. u. k. Doppelmonarchie her- vorgegangenen mitteleuropäischen Staa- ten deutlich an Einfluss gewonnen, so dass der Ausgang noch offen ist. Es geht dabei nicht darum, dass sich die überlegene Wirtschaftskultur am Ende durchsetzt. Wirtschaftskulturen kennen keine hierarchische Ordnung. Entschei- dend sind allein ihre Eignung im Wettbe- werb auf konkreten Weltmärkten und die Funktionsfähigkeit ihrer Institutionen. Solange der wirtschaftliche Integrati- onsprozess mit der Errichtung und Vollen- dung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes gleichzusetzen war, mach- te eine Strategie der Harmonisierung durchaus Sinn. Sie ließ sich mit dem ord- nungspolitischen Instrument der Durch- setzung gleicher Wettbewerbsbedingun- gen auf übersichtliche und vertraglich ko- difizierte Weise realisieren. Jetzt da der Binnenmarkt vollendet ist und zufrieden- stellend funktioniert, stellen sich der euro- päischen Politik komplexere Aufgaben. Eine einheitliche Ordnungspolitik, wie sie ein europäisches Währungssystem für die Kapitalmärkte, die Finanzpolitik und die Währungsintegration durchaus braucht, muss nicht immer den Bedürfnis- sen der Vielfalt europäischer Wirtschafts- kulturen entsprechen. Spannungen und In- stabilität im gemeinsamen Währungs- raum sind zwangsläufige Folgen. Eine wirksame Strategie der Integration muss sich deshalb der komparativen institutio- nellen Vorteile der betroffenen Wirt- schaftskulturen immer bewusst sein und mit produktiver Ordnungspolitik ihre Stär- ken hervorheben. Der Brüsseler Apparat wäre in seiner jetzigen Verfassung gewiss überfordert, eine derart komplexe wirtschaftspoliti- sche Strategie zu exekutieren. Dazu fehlen ihm rechtliche und sachliche Vorausset- zungen. Hier ist vielmehr die Kompetenz der Mitgliedstaaten gefragt. Was die EU aber braucht, sind Regeln, die Einheit in der Vielfalt zulassen, und ein Währungs- system, das damit kompatibel ist. Vier Wirtschafts- kulturen bestimmen den Auftritt der euro- päischen Wirtschaft in der Weltwirtschaft. Werner Abels- hauser (68) ist Forschungspro- fessor für Histo- rische Sozial- wissenschaft der Universität Bielefeld, Mit- glied des Insti- tuts für Wissen- schafts- und Technikforschung und Mitgründer des Bielefeld Insti- tute for Global Society Studies. In den achtziger Jahren war der re- nommierte Wirtschaftshistoriker Direktor des Bochumer Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung. Er leitet den Wissenschaftlichen Beirat der Hans-Böckler-Stiftung des Deut- schen Gewerkschaftsbundes und sitzt in der Historikerkommission, die seit zwei Jahren die Geschich- te des Bundeswirtschaftsministeri- ums aufarbeitet. (hig.) Foto Christian Thiel Unterschiedliche Mentalitäten ließen sich nicht problemlos in die Modellwelt des „opti- malen Währungsraums“ integrieren. Es geht dabei nicht darum, dass sich die überlegene Wirtschaftskultur am Ende durchsetzt. Der Autor Werner Abelshauser Die EU braucht Regeln, die Einheit in Vielfalt zulassen FAZ-f6ÄWYZd Eine einheitliche Ordnungs- politik, wie sie ein europäisches Währungssystem für die Kapitalmärkte, die Finanzpolitik und die Währungsintegration durch- aus braucht, muss nicht immer den Bedürfnissen der Vielfalt europäischer Wirtschaftskulturen entsprechen. Spannungen und Instabilität im gemeinsamen Währungsraum sind zwangsläufige Folgen.

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Finanzpolitik und die Währungsintegrati-on durchaus braucht, muss nicht immerden Bedürfnissen der Vielfalt eur

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EuropäischeWirtschaftskulturen

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Anglo-Amerikanischer Kapitalismus

Mediterraner Kapitalismus

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Türkei

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Als sich 1950 sechs europäi-sche Staaten auf den Wegmachten, ihre WirtschaftMarkt für Markt zusam-menzuführen, hatten sieein supranationales Euro-

pa vor Augen. Die Montanunion ausFrankreich, Westdeutschland, Italien undden Beneluxstaaten bot sich dafür als Ein-stieg an. Lediglich Deutschland musste innennenswertem Umfang Souveränität andie Europäische Gemeinschaft für Kohleund Stahl abtreten. Alle anderen Mitglie-der verfügten entweder über nur geringeschwerindustrielle Marktmacht oder streb-ten sie – wie Frankreich – erst an. Aberauch den Deutschen fiel es leicht, sich derHohen Behörde in Luxemburg unterzuord-nen, stand man doch immer noch unterBesatzungsstatut und war weit davon ent-fernt, souverän über die Zukunft seinerMontanwirtschaft zu entscheiden. Dochschon am Rüstungsmarkt, den die sechsparallel zur Montanunion ins Visier nah-men, scheiterte der supranationale An-spruch. Die Europäische Verteidigungsge-meinschaft und die in sie eingeschlossenePolitische Gemeinschaft kollidierten 1954mit der Souveränität Frankreichs, dasnicht darauf verzichten wollte, Atom-macht zu werden.

Bei der Gründung der EuropäischenWirtschaftsgemeinschaft, die 1957 zu ei-ner Relance Européenne führte, stand Su-pranationalität nicht mehr zur Debatte.Die sechs schlossen eine Vertragsgemein-schaft souveräner Staaten, deren Zielnicht die Überwindung, sondern die Über-lebensfähigkeit der beteiligten National-staaten war. An diesem Status hat sich bis

heute – für 27 Mitglieder der Europäi-schen Union – nichts Wesentliches geän-dert, wie das Bundesverfassungsgerichtnicht aufhört zu betonen. Dennoch habendie Bannerträger der Europäischen Inte-gration von Anfang an nichts unversuchtgelassen, die Karte des funktionalen, in ge-wisser Weise subversiven Föderalismus zuspielen, der, von ersten, kleinen Schrittenausgehend, schließlich zum Ziel der ge-samteuropäischen Souveränität gelangenwürde. Sie rechtfertigten diese Salamitak-tik der, Europapolitik mit der Zwangsläu-figkeit technologischer Entwicklungspro-zesse und der Logik des Marktes: Strebennach wirtschaftlicher Modernisierungmusste nach Überzeugung der europäi-schen „Eliten“ früher oder später auch po-litisch zum Einheitsstaat führen. Das Ver-trauen auf die Zwangsläufigkeit wirt-schaftlich-technokratischer Integrations-prozesse wurde somit zur politischen Le-benslüge der Gemeinschaft, die sich wieein roter Faden durch die Vorstellungs-welt der europäischen Politik zieht. Diesgilt in hohem Maße auch für die Europäi-sche Währungsunion.

In der Modellwelt des „optimalen Wäh-rungsraumes“ schienen zunächst alle wirt-schaftlichen Voraussetzungen gegeben,um die Währungsunion zum Motor einersupranationalen Umformung der europäi-schen Vertragsgemeinschaft zu machen.Die Euroländer verfügen über hohe Flexi-bilität und Mobilität der Arbeits- und Gü-termärkte. Auch ihre Integration in denWelthandel, der Offenheitsgrad, lässt we-nig zu wünschen übrig. Bliebe nur nochder Appell an die Bereitschaft der Mit-gliedstaaten, einige wenige Regeln einzu-halten, die für den Zusammenhalt desWährungsraumes unabdingbar sind. Die-se im Vertrag von Maastricht festgelegtenKriterien setzten freilich kollektive Menta-litäten der Euroländer voraus, die sie befä-higten, Staat und Gesellschaft so zu organi-sieren, dass diese Regeln auch eingehaltenwerden konnten. Zwar war von Anfang anklar, dass der gemeinsame Währungsraumsehr unterschiedliche, oft über lange histo-rische Zeiträume gewachsene kollektiveMentalitäten einschloss, doch zweifeltendie Verfechter einer europäischen Ein-heitswährung keinen Augenblick daran,dass sich allgemeinverbindliche Standardsfür Budgetdefizit, Verschuldungsquotientoder Inflationsrate unter dem Druck derKapitalmärkte ganz selbstverständlichdurchsetzen würden. In der Vorstellungs-welt zwangsläufiger Integrationsprozesseschien die soziale und politische Kompe-tenz, gemeinsam gesetzte Regeln auch ein-zuhalten, zu einer bloßen Willensfrage po-litischer Disziplin zu schrumpfen.

Spätestens 2010, als die schwelendeBankenkrise das Problem wachsenderStaatsverschuldung zahlreicher Eurolän-der akut werden ließ und sich die Refinan-zierung auf den Kapitalmärkten immerschwieriger gestaltete, trat die Instabilitätdes Euroraumes offen zutage. Unter-schiedliche kollektive Mentalitäten ließensich offensichtlich nicht problemlos in dieschöne Modellwelt eines „optimalen Wäh-rungsraumes“ integrieren. Gleichzeitigmehrten sich die Anzeichen, dass derschwierige Umgang seiner Mitglieder mitden Maastricht-Kriterien auch noch ande-re Gründe hatte. Neben der Zähigkeit kol-lektiver Mentalitäten kollidieren auch un-terschiedliche wirtschaftskulturelle Vor-aussetzungen im gemeinsamen Währungs-raum mit dem Versuch der „Euroretter“,die Währungsunion durch eine noch strik-tere Vereinheitlichung von Regeln undwirtschaftspolitischer Intervention zu dis-ziplinieren.

Tatsächlich erfordert die Stabilisierungdes Europäischen Währungssystems (mitoder ohne Einheitswährung) nicht eineeinheitliche, sondern ganz unterschiedli-che Strategien von Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik. Europa umfasst nämlichmehrere historisch gewachsene Wirt-schaftskulturen, in denen jeweils eigeneDenk- und Handlungsweisen (Institutio-nen) die Märkte bestimmen und derenWirtschaft auf sehr verschiedene Weise or-ganisiert ist. Eine Strategie zur wirtschaft-lichen Integration Europas muss daherstärker als in der Vergangenheit dieser Be-sonderheit Rechnung tragen, wenn sieden einmal erreichten Stand konsolidie-ren und gleichzeitig von dieser Vielfaltkomparativer Wettbewerbsvorteile in derWeltwirtschaft profitieren will.

Voraussetzung dazu wäre die Verge-meinschaftung jener produktiven Ord-

nungspolitik, die die Nationalstaaten bis-her schon mit Erfolg eingesetzt haben,um die spezifische Wettbewerbsfähigkeitihres jeweiligen Produktionsregimes zuverbessern. Damit sind Strategien staatli-cher Rahmen- und Regelsetzung gemeint,die der Gestaltung des sozialen Systemsder Produktion dienen – in der Absicht,Wettbewerbsvorteile durch funktionieren-de Institutionen zu erzielen. Wie unter-schiedlich produktive Ordnungspolitik inEuropa ausfallen müsste, zeigt alleinschon die Verschiedenartigkeit der sozia-len Produktionssysteme wie zum Beispieldes Bankensystems, der Berufsausbil-dung oder der Arbeitsbeziehungen. Wäh-rend die deutsche Produktionsweise dernachindustriellen Maßschneiderei „gedul-diges“ Kapital voraussetzt, ist der briti-sche Kapitalmarkt auf Risikokapital ange-wiesen. Eine Wirtschaftskultur, die aufder regionalen Verbundwirtschaft kleinerund mittlerer Unternehmen beruht,braucht Kreditinstitute, die diesem Mus-ter Rechnung tragen, wie die deutschenSparkassen und Genossenschaftsbanken.Andere wiederum stützen ihr „Geschäfts-modell“ vorzugsweise auf Investmentban-ken, die den Markt für innovative Finanz-produkte beherrschen.

Die kontrastreichen Eigenheiten deseuropäischen Wirtschafts- und Sozialsys-tems vollständig aufzulisten ist sicher einhoffnungsloses Unterfangen. Aus derNähe betrachtet, löst sich der Europäi-sche Wirtschaftsraum in ebenso viele Va-rianten des Kapitalismus auf, wie es dorthistorisch verschiedenartige Wege in dieModerne gibt. Diese Entstehungsge-schichte unterscheidet den EuropäischenWirtschaftsraum insbesondere von demder Vereinigten Staaten, erlaubt es aberauch, die Unterschiede zwischen den eu-ropäischen Wirtschaftskulturen wenigs-tens in groben Zügen zu beschreiben undihre jeweiligen komparativen Wettbe-werbsvorteile auf dem Weltmarkt heraus-zuarbeiten. Im Wesentlichen sind es vierWirtschaftskulturen, die so den Auftritt

der europäischen Wirtschaft in der Welt-wirtschaft bestimmen.

Der angelsächsische Kapitalismus er-fuhr seine wesentliche Prägung im Zeital-ter des weltweiten Merkantilismus undwurde stark von den arationalen Gewohn-heiten protestantischer Minderheiten be-einflusst: Akkumuliert, akkumuliert, dasist Moses und die Propheten! Schon im 19.Jahrhundert hat Großbritannien seinerfrüh ausgeprägten industriellen Wirt-schaftskultur den Rücken gekehrt, umsich auf den Kapitalmärkten rentablerenAnlageformen zuzuwenden. Dem Nieder-gang der britischen Wirtschaft im 20. Jahr-hundert war dann die Verschmelzung mit

der amerikanischen Kapitalmarktkulturgeschuldet, die in den achtziger Jahrenendgültig ihren globalen Siegeszug antrat.Ohne dass Großbritannien selbst dem Eu-roraum angehört, lässt sich die anglo-ame-rikanische Wirtschaftskultur daher alszentraler Akteur nicht wegdenken.

Das europäische Kerngebiet schritt aufanderen Wegen in die Moderne. Sie führ-ten kreuz und quer durch den Kontinent,und es gibt wenige Regionen, die nicht ir-gendwann an diesem Weg lagen. Der fran-zösische Autor Michel Albert hat die Wirt-schaftskultur, die daraus entstanden ist,„capitalisme rhénane“, Rheinischen Ka-pitalismus, genannt. Er meinte damit ei-nen historisch gewachsenen Wirtschafts-raum, der von Skandinavien bis Nordita-lien und von der Seine bis an die Oderreicht. Das Itinerar seiner Entstehungsge-schichte beginnt spätestens auf der West-Ost-Transferstraße der Hansezeit, die denflandrischen Tuchstapel im Westen mitden Rohstoffmärkten von Nowgorod amIlmensee verband und deren Einzugsbe-reich von Skandinavien bis nach Westfa-len reichte. Es setzt sich fort auf jenenquer durch Europa ziehenden Entwick-lungsachsen von Brügge nach Genua undvon Antwerpen nach Venedig, auf denenzunächst die Messen der Champagne,dann die oberdeutschen „Industrierevie-re“ um Augsburg und Nürnberg zu Kno-tenpunkten institutioneller Innovationender Moderne wurden. In der Hansezeitwaren es vor allem die Ausbreitung derautonomen Stadtwirtschaft als exportfähi-ges Muster moderner Wirtschaftsverfas-sung, der Zunft als genossenschaftlicheOrganisationsform innovativer gewerbli-cher Institutionen und die Bündelung ei-ner Vielzahl privilegierter Rechtsnormenzu Spielregeln, die den vieldeutigen, aberdoch auf lange Zeit höchst effizienten In-halt des hansischen Herrschaftsrahmens,(Hanseatic Governance) ausmachten. Da-nach rückten immer mehr die institutio-nellen Innovationen auf dem Gebiet desKreditwesens, der gewerblichen Großor-ganisation, der renditeorientierten Unter-nehmung und der rationalen Wirtschafts-gesinnung – also die Grundlagen des Ka-pitalismus – in den Vordergrund. Es fällt

in der Tat schwer, die gewerblichen Inno-vationen dieser vom Erzbergbau, der Me-tallverarbeitung und der Textilindustriegeprägten Produktionslandschaft in insti-tutioneller, organisatorischer und techni-scher Hinsicht gedanklich von den Errun-genschaften der Industriellen Revolutionin England abzusetzen, auch wenn vieleihrer sichtbaren Resultate in den Wirrendes Dreißigjährigen Krieges in dieser Re-gion wieder untergegangen sind. Heuteverkörpert der Rheinische Kapitalismusden starken Kern des Euroraumes undverleiht ihm ein hohes Maß wirtschafts-kultureller Geschlossenheit. Als dichteLandschaft freiwillig akzeptierter „Spiel-regeln“ steht seine Wirtschaftskultur gera-dezu im idealtypischen Gegensatz zurIdeologie der Marktwirtschaft der unsicht-baren Hand, wie sie seit dem 18. Jahrhun-dert in England Gültigkeit hat.

Kennzeichen der im Süden Europasvorherrschenden Wirtschaftskultur sindeine distanzierte Haltung der wirtschaft-lichen Akteure zum Staat, ihre gering aus-geprägte Fähigkeit, Sozialkapital zu bil-den und zu nutzen, sowie eine der agra-risch-tertiären Produktionsweise geschul-dete Tradition weicher Währungen. Esist sicher kein Zufall, dass alle Länderdes Mediterranen Kapitalismus (aberauch der Balkanstaat Griechenland) im20. Jahrhundert gründliche Erfahrungenmit faschistischen Bewegungen machenmussten, die angetreten waren, das offen-kundige Defizit an staatlicher und gesell-schaftlicher Wirksamkeit durch autoritä-re Ordnung zu kompensieren. Wie tief-greifend und langwierig die Ursachen die-ses Defizits sind und wie scharf die Ab-grenzung zum Rheinischen Kapitalismusausfällt, lässt sich an der Geschichte derwirtschaftskulturellen Spaltung Italiensin nuce zeigen. Während im Süden seitdem 12. Jahrhundert ein effektiver aufFeudalismus gegründeter bürokratisch-autokratischer Staat herrscht, den dieNormannen errichtet und andere fremdeMächte fortgeführt haben, entstehengleichzeitig im Norden autonome, selbst-verwaltete Stadtrepubliken, deren Bür-ger sich am Gemeinwohl orientieren –und aufs engste „rheinisch“ verlinkt sind.Auch dort, wo sie ihre Selbständigkeitspäter verlieren, bewahren sie die Fähig-keit, Sozialkapital zu akkumulieren undwettbewerbsfähige Institutionen hervor-zubringen. Wie tief dieser wirtschaftskul-turelle Graben auch heute – mehr als 150Jahre nach Gründung des italienischenNationalstaates – noch klafft, bringtVera Zamagni auf den Punkt: „Es ist einegefährliche Illusion zu glauben, dass derMezzogiorno mit seinen historisch ge-wachsenen politischen, wirtschaftlichenund sozialen Strukturen von außen verän-dert werden kann.“ Die in Bologna leh-rende Wirtschaftsprofessorin weiß, dasseine solche wirtschaftskulturelle Revolu-tion viel Zeit erfordert, zumal der bisherzurückgelegte Weg „keineswegs kürzergewesen ist – und noch dazu ergebnis-los“. Damit soll nicht unterstellt werden,der Süden Italiens und die übrigen Län-der des Mediterranen Kapitalismus hät-ten keine eigene Wirtschaftskultur. Siehaben eine andere – mit komparativen in-stitutionellen Vorteilen durch stabilenwirtschaftlichen Familismus, auf denDienstleistungsmärkten und, was die Ibe-rische Halbinsel angeht, durch ein welt-

weites Netzwerk von Handelsbeziehun-gen. Hier müsste produktive Ordnungspo-litik ansetzen, die den derzeit beklagens-werten Zustand der mediterranen Wirt-schaft überwinden wollte.

Die wirtschaftskulturelle OrientierungEuropas ist noch keineswegs abgeschlos-sen. Dies gilt vor allem für die Transforma-tionsstaaten im Osten, die dabei sind, an ei-genen Traditionen anzuknüpfen oder dieinstitutionelle Verfassung anderer Wirt-schaftskulturen zu übernehmen. LangeZeit lag in diesem Kulturkampf, der nachdem Zusammenbruch des Ostblocks ein-setzte, die liberale Marktwirtschaft anglo-amerikanischen Zuschnitts weit vorn, weilsich der Dynamik ihrer Kapitalmärktekaum jemand entziehen konnte. In jüngs-ter Zeit hat aber die rheinische Wirt-schaftskultur etwa im Baltikum oder inden aus der k. u. k. Doppelmonarchie her-vorgegangenen mitteleuropäischen Staa-ten deutlich an Einfluss gewonnen, sodass der Ausgang noch offen ist.

Es geht dabei nicht darum, dass sich dieüberlegene Wirtschaftskultur am Endedurchsetzt. Wirtschaftskulturen kennenkeine hierarchische Ordnung. Entschei-dend sind allein ihre Eignung im Wettbe-werb auf konkreten Weltmärkten und dieFunktionsfähigkeit ihrer Institutionen.

Solange der wirtschaftliche Integrati-onsprozess mit der Errichtung und Vollen-dung eines einheitlichen europäischenBinnenmarktes gleichzusetzen war, mach-te eine Strategie der Harmonisierungdurchaus Sinn. Sie ließ sich mit dem ord-nungspolitischen Instrument der Durch-setzung gleicher Wettbewerbsbedingun-gen auf übersichtliche und vertraglich ko-difizierte Weise realisieren. Jetzt da derBinnenmarkt vollendet ist und zufrieden-stellend funktioniert, stellen sich der euro-päischen Politik komplexere Aufgaben.

Eine einheitliche Ordnungspolitik, wiesie ein europäisches Währungssystem fürdie Kapitalmärkte, die Finanzpolitik unddie Währungsintegration durchausbraucht, muss nicht immer den Bedürfnis-sen der Vielfalt europäischer Wirtschafts-kulturen entsprechen. Spannungen und In-stabilität im gemeinsamen Währungs-raum sind zwangsläufige Folgen. Einewirksame Strategie der Integration musssich deshalb der komparativen institutio-nellen Vorteile der betroffenen Wirt-schaftskulturen immer bewusst sein undmit produktiver Ordnungspolitik ihre Stär-ken hervorheben.

Der Brüsseler Apparat wäre in seinerjetzigen Verfassung gewiss überfordert,eine derart komplexe wirtschaftspoliti-sche Strategie zu exekutieren. Dazu fehlenihm rechtliche und sachliche Vorausset-zungen. Hier ist vielmehr die Kompetenzder Mitgliedstaaten gefragt. Was die EUaber braucht, sind Regeln, die Einheit inder Vielfalt zulassen, und ein Währungs-system, das damit kompatibel ist.

Vier Wirtschafts-kulturen bestimmenden Auftritt der euro-päischen Wirtschaftin der Weltwirtschaft.

Werner Abels-hauser (68) istForschungspro-fessor für Histo-rische Sozial-wissenschaftder UniversitätBielefeld, Mit-glied des Insti-tuts für Wissen-

schafts- und Technikforschungund Mitgründer des Bielefeld Insti-tute for Global Society Studies. Inden achtziger Jahren war der re-nommierte WirtschaftshistorikerDirektor des Bochumer Institutszur Erforschung der europäischenArbeiterbewegung. Er leitet denWissenschaftlichen Beirat derHans-Böckler-Stiftung des Deut-schen Gewerkschaftsbundes undsitzt in der Historikerkommission,die seit zwei Jahren die Geschich-te des Bundeswirtschaftsministeri-ums aufarbeitet. (hig.)

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UnterschiedlicheMentalitäten ließen sichnicht problemlos in dieModellwelt des „opti-malen Währungsraums“integrieren.

Es geht dabeinicht darum, dasssich die überlegeneWirtschaftskulturam Ende durchsetzt.

Der Autor

Werner Abelshauser

Die EUbraucht Regeln,die Einheit inVielfalt zulassen

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Eine einheitliche Ordnungs-politik, wie sie ein europäischesWährungssystem für dieKapitalmärkte, die Finanzpolitikund die Währungsintegration durch-aus braucht, muss nicht immerden Bedürfnissen der Vielfalteuropäischer Wirtschaftskulturenentsprechen. Spannungen undInstabilität im gemeinsamenWährungsraum sind zwangsläufigeFolgen.