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EXISTENZANALYSE 1/00 1

T H E M E N S C H W E R P U N K T

Methoden der Existenzanalyse

und Logotherapie1. Teil

e-mail: [email protected]

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2 EXISTENZANALYSE 1/00

I N H A LT

Wissenschaftlicher

B E I R A T

Michael ASCHERPhiladelphia (USA)Wolfgang BLANKENBURGMarburg (D)Gion CONDRAUZürich (CH)Herbert CSEFWürzburg (D)Nolberto ESPINOSAMendoza (ARG)Reinhard HALLERFeldkirch (A)Hana JUNOVÁPrag (CS)Christoph KOLBEHannover (D)George KOVACSMiami (USA)Jürgen KRIZOsnabrück (D)Rolf KÜHNWien (A)Karin LUSSWien (A)Corneliu MIRCEATemesvar (RO)Christian PROBSTGraz (A)Heinz ROTHBUCHERSalzburg (A)Christian SIMHANDLWien (A)Michael TITZETuttlingen (D)Liselotte TUTSCHWien (A)Helmuth VETTERWien (A)Beda WICKIUnterägeri (CH)Wasiliki WINKLHOFERMünchen (D)Elisabeth WURSTWien (A)

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Bankverbindungen der GLE

Editorial ..................................................................................................................... 3Impressum .............................................................................................................. 58

ORIGINALARBEITENDie Willensstärkungsmethode (A. Längle) ............................................................... 4Perspektiven-Shifting (C. Kolbe) ............................................................................ 17Phänomenologische Dialogübung (A. Längle) ....................................................... 21

PRAXISAnleitung für die biographische Arbeit in der EA (L.Tutsch & K. Luss) ................. 31Schritte zum Sinn (H. Drexler) ............................................................................... 36Die personale Positionsfindung (D. Fischer-Danzinger & U. Janout) ................... 42

ÜBERBLICKSARTIKELDie Einbindung des katathymen Bilderlebens in die PEA (B. Wicki) ...................... 49

FORUMBeziehungscoaching (E. Lindner & K. Wawra) ..................................................... 54

BUCHBESPRECHUNGEN ...................................................................................... 59

HINWEISE AUF NEUERSCHEINUNGEN ............................................................ 61

PUBLIKATIONEN / ABSCHLUSSARBEITEN ....................................................... 62

AKTUELLESSuizidprävention in Salzburg ................................................................................... 65Vertragsumsetzung verzögert .................................................................................. 65

MITTEILUNGEN ................................................................................................... 66

KONTAKTADRESSEN .......................................................................................... 68

ISEAP - EXISTENZANALYSE INTERNATIONAL .............................................. 69

TERMINE ............................................................................................................... 72

HERBSTAKADEMIE 2000 ..................................................................................... 78

Auflage: 3.000

Unsere e-mail Adresse: [email protected] gestaltete Homepage! http://www.existenzanalyse.org

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EXISTENZANALYSE 1/00 3

H I N W E I S E

ExistenzanalyseInternational

- Argentinien- Deutschland- Mexiko- Rumänien- Schweiz- Tschechien

ab Seite 71

ExistenzanalytischePublikationen

- Buch-Neuerscheinungen- Abschluss- und- Diplomarbeiten

ab Seite 61

Aktuelles zumKassenvertrag

Seite 65

SuizidprophylaxeSalzburger Projekt

Seite 65

Vorschau aufs nächste Heft:

Wenn der Sinnzur Frage wird

(Tagungsbericht)

Themen-RedaktionClaudia Klun

Themen der nächsten Hefte:

− EA Forschungsprojekte− Therapie für Kinder und Jugendliche− Methoden II− Therapeutische Beziehung

Redaktionsschluß für dieNummer 2/2000:

20. Mai 2000

EDITORIAL

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen !Inmitten der Vorbereitungen zum Jahreskongreß der GLE ist unsere erste Aus-

gabe der EXISTENZANALYSE im Jahr 2000 entstanden.Mit dem Thema “Methoden der Existenzanalyse und Logotherapie” wird dies-

mal ein Schwerpunkt in der Praxis gesetzt. Die Entwicklung methodischer Vorge-hensweisen ist immer gleichzeitig eine Weiterentwicklung der Anwendbarkeit undPraxisrelevanz. Und interessanterweise ist es wiederum die theoretische Feinstrukturder Existenzanalyse, nämlich ihre Anthropologie, die in der Darstellung ihrer Me-thoden plastisch und nachvollziehbar wird. Gleichzeitig sind sie auch Beispiele fürdie Systematik und die Lehrbarkeit therapeutischer und beraterischer Prozesse.

Und dennoch heißt dies natürlich nicht, daß Therapie bzw. Beratung einfachnur Anwendung erlernter Methoden wäre. Die heilende Wirkung erwächst aus derVerbindung zwischen Methodik und Persönlichkeit des Behandelnden, die durchdas Leben und Selbsterfahrung gereift und reflektiert ist und eine empathischeHaltung ermöglicht.

Ein durchgehender Zug existentiellen Arbeitens im beraterischen wie therapeu-tischen Vorgehen ist die Suche und Entfaltung der personalen Freiheit des Men-schen als eine zentrale Voraussetzung zur Sinnfindung und vor allem Sinn-verwirklichung. Die Wege, wie Freiheit (wieder) zugänglich gemacht wird, um mitinnerer Zustimmung leben zu können, sind durchaus unterschiedlich. In dieserAusgabe der EXISTENZANALYSE werden Methoden vorgestellt, die einerseits denZugang zu personalen Ressourcen eröffnen, wie die Personale Positionsfindungund die Willensstärkungsmethode, und andereseits die Emotionalität heben und ber-gen, wie Perspektiven-Shifting, Biographische Existenzanalyse, Phänomenologi-sche Dialogübung, Sinnfindung und imaginative Verfahren. Hier zeigt sich gegen-über den Anfängen der Logotherapie die große Bedeutung, die wir in der GLE derEmotionalität im Vorfeld der Sinnfindung heute beimessen.

Die Publikation existenzanalytischer Methoden wird im nächsten Jahr fortgesetzt.Sie ist ja als Thema des GLE-Kongresses 2001 in Hannover geplant. Parallel zu die-sem Heft liegt jetzt auch der Tagungsbericht zur PEA, der Personalen Existenz-analyse, in einer sehr schönen Ausgabe vor.

Die internationalen Aktivitäten in der Existenzanalyse finden in diesem Hefteine weitreichende Darstellung. Die meisten Gesellschaften gehören der GLE-Wienan. Alle sind Mitglieder der International Society for Existential-AnalyticalPsychotherapy (ISEAP). Diese bildet einen internationalen Zusammenschluß vonVereinigungen existenzanalytischer Psychotherapie. Wie bereits im Vorjahr berich-tet, wurde sie auf Initiative von Alfried Längle gegründet, um der weltweiten Prä-senz existentieller Psychotherapie Nachdruck zu verleihen.

Wegen der zunehmenden Internationalisierung der Existenzanalyse und um denErfordernissen einzelner Literatur-Datenbanken zu entsprechen, werden ab diesemHeft die wissenschaftlichen Arbeiten (die vom Wissenschaftsbeirat begutachtetwurden) auch ein englisches Abstrakt haben.

Nun aber steht als nächstes Großereignis der internationale Kongress vom28.-30.4.2000 in Wien an. Er steht unter dem Thema:

Wenn der Sinn zur Frage wirdLesen Sie das Programm in der homepage der GLE nach - Sie werden überrascht

sein von der Vielfalt der Anwendungsbereiche der Existenzanalyse und Logotherapie!Wir würden uns freuen, Sie und Ihre Freunde bei dieser wichtigen Veranstaltungder GLE begrüßen zu können!

Ihre

Silvia Länglefür das Redaktionsteam

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ORIGINALARBEIT

Die Willensstärkungsmethode (WSM)Alfried Längle

Nach einem Abriß über die Entstehungsge-schichte der Willensstärkungsmethode(WSM) und einem Ausblick zu ihrem Kon-text in der Logotherapie/Existenzanalysewird kurz auf das hier vorliegende Konzeptdes Willens eingegangenen. Danach werdendie Schritte der Methode einzeln erläutertund an einem ausführlichen Fallbeispieldeutlich gemacht. Es handelt sich dabei umfünf Schritte: Grundarbeit, Problemarbeit,Ver-Innerlichung, Sinnhaftigkeit und Festi-gung des Willens.

Schlüsselwörter: Wille, Willensstärkungs-methode, übende Verfahren

Urteilen kann der Verstand freilich,aber diesem Verstandes-Urteil eine Kraft zu geben,

den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben,das ist der Stein der Weisen.

(Immanuel Kant)

Entwicklungsgeschichte

Die Entwicklung dieser Methode stammt aus den Jah-ren 1983 bis 1986. Ich war noch ein recht junger Logo-therapeut und versuchte damals, vorwiegend mit demHauptkonzept der Logotherapie, dem “Willen zum Sinn”,psychotherapeutisch zu arbeiten.

Die klassische Vorgangsweise der Logotherapie sieht be-kanntlich vor, zunächst den Sinn der Situation im Gesprächmit dem Patienten ausfindig zu machen. Ist dieser erst ein-mal gefunden und dem Patienten einsichtig, so kann mansich der Theorie zufolge auf die Kraft des “Willens zumSinn” verlassen, daß dieser Sinn auch aufgegriffen undumgesetzt wird, weil der Mensch im Grunde und zutiefstSinn will (Frankl z.B. 1982a, 223). Sowohl die Literatur,als auch die Vorlesungen und Fallbeispiele Frankls sowiepersönliche Gespräche und vertiefende Reflexionen hattenmich überzeugt, daß es legitim sei, sich auf diese angebo-rene Kraft des Geistes an dieser Stelle des psychothera-peutischen Gesprächs verlassen zu können. Ich war zu-versichtlich, damit gleichsam den archimedischen Punkt derpsychotherapeutischen Arbeit in den Händen zu halten - woer doch auch meiner eigenen Erfahrung recht gut ent-sprach.

Außerdem hat mir dabei die “logotherapeutische Absti-nenz” gefallen, wie ich sie in Analogie zum psychoanalyti-

schen Abstinenzbegriff bezeichnet hatte (Längle in Frankl1984, 43). Gemeint ist der erklärte Verzicht auf den Ver-such, den freien Willen des Patienten auf direktem Wegeverändern, bewegen oder gar manipulieren zu wollen. Dielogotherapeutische Vorgangsweise soll dem Willen seineFreiheit und der Person ihre Verantwortung zurückgebenund auf jeden Fall mit der persönlichen Freiheit ernst ma-chen. Am deutlichsten kommt dieses Konzept der logo-therapeutischen Haltung in dem Zitat Frankls zum Aus-druck, wo er einem voluntaristischen Mißverständnis des„Willens zum Sinn“ vorbeugt:Die Idee eines Willens zum Sinn darf nicht im Sinne einesAppells an den Willen mißdeutet werden. Glaube, Liebe,Hoffnung lassen sich nicht manipulieren und fabrizieren.Niemand kann sie befehlen. Selbst dem Zugriff des eige-nen Willens entziehen sie sich. Ich kann nicht glauben wol-len, ich kann nicht lieben wollen, ich kann nicht hoffenwollen – und vor allem kann ich nicht wollen wollen.Darum ist es müßig, einen Menschen aufzufordern, “denSinn zu wollen”. An den Willen zum Sinn appellieren heißtvielmehr, den Sinn selbst aufleuchten lassen – und es demWillen überlassen, ihn zu wollen. (Frankl 1982b, 76)

Diese Stelle bescheibt sehr schön den schöpferischenSprung der Person, wo sie ihre Intentionalität aus sichselbst und aus ihrem (bewußten und unbewußten) Wissenum die Existenz bündelt und ein Wollen gebiert. Es wirdspürbar, daß sich Therapie vor diesem Eigensten des Men-schen, vor seiner Freiheit und Entscheidungsfähigkeit,Zurückhaltung auferlegen muß, will sie den Menschen alsfreies Wesen respektieren und fördern.

Bei aller Diskretion in diesem Bemühen ergaben sich aberdoch regelmäßig zwei Probleme in der Praxis:

After an introduction into the history of themethod of will-strengthening (MWS) andafter a brief explanation of its position in thecontext of logotherapeutic practice, a shortdescription of the underlying concept of willis given. The five steps of the method inquestion are shown, followed by a demon-stration of its practical application in a casestudy. These five steps are: reasoning, clarifi-cation of the specific problems, interiori-sation, meaning context and consolidationof will.

Key-words: will, method of will-strengthe-ning, training techniques and psychotherapy

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ORIGINALARBEIT

* Was tun, wenn jemand etwas zwar als sinnvoll an-sieht, aber sich nicht wirklich dafür entscheiden kann undes daher nicht wirklich tun will? (Kognitive Dissonanz -z.B. rauchen aufhören)

* Was tun, wenn sich jemand für das Sinnvolle zwarentschieden hat und es tun will, aber es regelmäßig nichtschafft und immer wieder in ein anderes Verhalten gerät(“Willensschwäche“)?

Es ist historisch interessant, daß die Geschichte derGLE mit diesem Themenkreis der Behinderung in der Sinn-findung begonnen hat. Die ersten beiden Tagungen derGLE 1983 und 1984 waren den „Sinn-barrieren“, wie U. Böschemeyer sie nann-te, und dem „Willen zum Sinn“, also derMotivationslehre, gewidmet. Die Tatsacheder Ganzheitlichkeit des Menschen - nichtnur Wille, sondern auch Leib und Psychezu sein - stellte sich von Anfang an in derpsychotherapeutischen Anwendung derLogotherapie. Als Frucht dieser beiden Ta-gungen (vgl. Tagungsbericht 1 der GLE,1984) und ihrer Reflexion in mehreren Artikeln (Längle1984a, b, c) sowie der auf ihr aufbauenden praktischenErfahrung insbesondere mit Suchtpatienten war dann 1986die Willensstärkungsmethode (WSM) ausformuliert undblieb bis heute im Wesentlichen unverändert.

Die Idee zur Methode

Die Entwicklung der WSM wurde also durch die prak-tischen Schwierigkeiten mit der Mobilisierung des Willensund der Umsetzung von Entscheidungen angeregt. Die Idee

dabei war, das definierte Willenskonzept der Logotherapieund Existenzanalyse praktisch besser anwendbar zu ma-chen. Es war deutlich geworden, daß es einen spezifischenund methodisch gegliederten Umgang mit dem Willen ver-langt, sobald ein Sinnangebot auf Schwierigkeiten in derRealisierung stößt.

Ausgangspunkt der Überlegungen waren die folgendenÜberlegungen und Erfahrungen:

a) Eigendynamik des Willens: Der Mensch ist demWillen “ausgeliefert”: Er kann nicht einfach “wollen” wol-

len. Er kann dem Willen nicht befehlen,nicht “willkürlich” über ihn verfügen. Erkann nur etwas wollen, und dieses “Etwas”muß ihm auch erstrebenswert sein. DerWille ist sonst nicht zu bewegen, wenn dasintendierte Ziel (Objekt) für den betreffen-den Menschen subjektiv keinen Wert dar-stellt, ihm also nicht wichtig ist oder ihmkeine Lust macht. Er muß etwas in seinenAugen “Positives” darin sehen oder von ihm

erwarten. Wenn der Wille “das Freie im Menschen” ist, mußdas Subjekt selbst die Wichtigkeit (den Wert) der Sacheempfinden und kann es an keine andere Instanz delegie-ren.

b) Der Wille stellt die Handlungsmächtigkeit des Men-schen dar. Der Wille ist die Realisierung der persönlichen Frei-heit, die über die Stufen Wahrnehmung, Bewertung, Entschei-dung (Wahl) und Entschluß (entsprechend der Sinner-fassungsmethode – Längle 1988) die Kraft seiner Wirk-mächtigkeit für das Handeln freigibt (Anm. 1, siehe Seite 6).

Willensstärkungsmethode. Methode der Existenzanalyse und Logotherapie zur Entscheidungsfindung bzw.Stärkung der Entschiedenheit, der Durchhaltekraft und des Ausführungsverhaltens bei willentlich angestrebtenVorhaben. Theoretischer Ausgangspunkt ist das existenzanalytische Willenskonzept, dem zufolge eine “Willens-schwäche” primär ein Defizit in der Wertberührung (vgl. Emotionstheorie, Wertetheorie) und/oder eine Unklar-heit in der Entschiedenheit (vgl. Wille) darstellt. Die Willensstärkungsmethode ist klassischerweise indiziert beiSituationen, in denen etwas zwar gewollt, aber nicht getan wird (klinisch besonders bei Motivation zur Sucht-entwöhnung), oder wenn Unklarheit bezüglich des eigenen Wollens besteht. Die auf der Grundlage der Sinn-und Wertelehre der Existenzanalyse und sozialpsychologischer Forschungen entwickelte Methode besteht aus fünfSchritten:1. Grundarbeit (Sachebene): Konturierung der spontanen Beweggründe, z.B. zur Alkoholabstinenz.2. Problemebene (Problembewußtsein schaffen und Bearbeitung der Zielhemmung): Problematisierung durch

Sammeln der Gegengründe, der konkurrierenden Motive, Relativieren möglicher Ziele, Beschreibung zuerwartender Probleme; kognitive Festigkeit der Einstellung durch Kenntnis der (zu bearbeitenden) Gegengründe.Führt zum Abwägen der Wertigkeit und stellt vor Entscheidungen.

3. Verinnerlichung (Beziehungsaufnahme): Wecken der Emotionalität durch Fühlbarmachen der implizitenWerte, die auf sinnlicher Ebene “schmackhaft”, “begreifbar” werden sollen (kognitive Entlastung). Ziel:Wert-gefühl, Beziehungsfestigung.

4. Sinnhorizont (Beziehungserweiterung und Selbstfindung): Reflexion des Lebenssinns, Zeitstruktur zur Verwirk-lichung mit Beginn im Heute; Einbindung der Motivation ins Lebenskonzept.

5. Festigung: Entschiedenheit, Vorbauen und Üben (Realisierung): In jeder Situation neuerlich die Entschieden-heit einholen. Erleichterung der Umsetzung durch Strategien, Methodik und Prophylaxe (z.B. Medikamente,Verhaltenstraining, sozialpädagogische Maßnahmen, systemische Veränderungen, Einstellungsarbeit, Traum-arbeit usw.).

Probleme des Willensin der Praxis:

⇒ Kognitive Dissonanz (sich gegen „Sinn- volles“ entscheiden)

⇒ Willensschwäche

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ORIGINALARBEIT

c) Da der Wille das Erfolgsorgan für die Noodynamik(Frankl 1982a) ist, besteht die logotherapeutische undexistenzanalytische Arbeit über weite Strecken darin, ihnzu wecken, zu bewegen, zu bündeln, zu formieren, kri-tisch zu hinterfragen, ihn mit der Verantwortung abzustim-men und in der Realisierung zu unterstützen, zu begleitenund abschließend noch einmal gewissenhaft zu reflektie-ren und zu evaluieren.

d) Der Wille verlangt einen spezifischen Umgang: WennWille darin besteht, daß das Subjekt selbst etwas wollenund sich intentional auf einen Wert ausrichten soll, danndarf man nie versuchen, jemandem einen Willen aufzudrän-gen. Das wäre Macht, Gewalt oder Verführung, aber nichtFreiheit. Frankl wiederholte in der Diskussion der Tagung1984 seine Auffassung, daß dem Patienten der “Sinn selbstaufleuchten” müsse. “Werte und Sinnmöglichkeiten zieheneinen Menschen an; er ist dieser Wahrnehmung, dieser‚Gravitation‘, die vom Sinn ausgeht, ausgesetzt. Von da-her läßt sich sagen, die Wahrheit ‚oktroyiert sich selberauf‘.” (Frankl 1984, 43)

Die Methode, die Frankl (1984, 43) damals empfahl,beschrieb er so:„Diese Konfrontation zwischen den äußeren Sinn-möglichkeiten und den inneren Sinnfähigkeiten kann manin der Praxis sehr gut illustrieren, indem man Beispiele vonanderen Patienten aufzählt. Dadurch wird vermieden, daßman dem Patienten direkt sagt, wie er sich “verhalten”soll. Der Patient wird vielmehr, indem er von den Schwie-rigkeiten anderer Patienten erfährt (“exempla trahunt”),versuchen, selber Lösungsmöglichkeiten für sein Problemzu finden. Die Aufgabe des Logotherapeuten hierbei ist dieeines bloßen Katalysators. Der Patient bekommt das Ge-fühl, daß er seine Schwierigkeiten selber mei-stern kann; er wird selber mit sich fertig.“

e) Klärung des Willens: Der “Wille zumSinn”, die primäre Motivationskraft des Men-schen, ist nach Frankls Verständnis ein Wille.Jeder Wille peilt einen echten oder vermeintli-chen Wert an. Ist aber jeder Wille auch ein“Wille zum Sinn”? Ist also alles Wollen sinn-voll, vorausgesetzt es ist ein Wollen? Kann der Wille garnicht anders, als Sinnvolles zu wollen?

Oder peilt der Wille einen Wert an, wobei diese Stre-

bung mehr oder weniger sinnvoll sein kann, je nach Weitedes Horizonts, in dem das Handeln gesehen wird, abhän-gig vom Standpunkt, von Zielsetzungen, die mehr oderweniger sinnvoll sein können? (Anm. 2) Kann der Willenicht von Wünschen durchsetzt sein? Muß dieSinnhaftigkeit eines Wollens immer deutlich und klar ge-geben sein?

Man könnte die wichtigsten Probleme mit demWillen so zusammenfassen:

- das voluntaristische Mißverständnis des Willens schreibtihm die Alleinmächtigkeit der Strebungen im Menschenzu

- ein unkritischer Begriff von Wille, der jede bewußte und/oder starke Strebung als Wille ansieht, obwohl sich inihm aber andere Dynamiken und Wünsche verstecken

- die Unklarheit über die Gründe des Wollens – man weißnicht, wie es zum Wollen gekommen ist und was seineGrundlage ist (man weiß nicht, “wieso man etwas will”)

- die Verwechslung von Wille mit Wille zum Sinn, wodurchalles als sinnvoll angesehen wird, wenn es nur gewolltwird

- die Übernahme des Willens des Therapeuten/Beraters.

Abriß des Willenkonzeptes

Wir definieren den Willen heute in der Existenzanalyse/Logotherapie wie folgt: Der Wille ist der Entschluß, sichauf einen gewählten Wert einzulassen.

Mit dieser Beschreibung wird der existentielle Charak-ter des Willens unterstrichen, nämlich die Bereitschaft undEntschlossenheit, sich auf etwas einzulassen und die ent-

sprechende und erforderliche Mühe auf sich zunehmen. Das Charakteristikum der Freiheit fin-det sich im „Entschluß“, also in der innerenÖffnung und Freigabe der Kraft und Intentio-nalität. Als Motiv für den Willen ist der Wert-bezug angegeben, aus dem sich ein Handlungs-bedarf ableitet.

In der Praxis ist besonders die Differenzie-rung zwischen Wünschen und Wollen wichtig.

Die Verwechslung dieser beiden Strebungen führt zu Miß-verständnissen, die den Willen blockieren können. Eine Ver-wechslung kann aber leicht geschehen, weil sowohl Wün-

Der Wille ist

der Entschluß,

sich auf einen

gewählten Wert

einzulassen.

Anm. 1: Es ist kein Zufall, sondern innere Logik in der historischen Abfolge der Beschäftigung mit dem Willens- und Sinnkonzept, daß nachder WSM die Methoden der Einstellungsänderung (1986) und der Sinnfindung (publiziert 1988) entwickelt worden sind, weil sie Instrumen-te für den praktischen Umgang mit diesen zentralen Inhalten der Logotherapie darstellen.

Anm. 2: Ich bin zur Ansicht gekommen, daß der Mensch - genau genommen - sein Wollen gar nicht direkt auf seinen Sinn ausrichten kann,sondern nur auf einen Wert. Wenn ich etwas Sinnvolles tun will, wie z.B. diesen Artikel schreiben, so zielt mein Wille auf das Schreiben (dieHandlung) und auf die mit ihr verbundenen Werte ab (Freude an der Reflexion, Wichtigkeit der Arbeit für andere – hoffentlich – und fürmich). Wenn ich mich dem Wert hingebe, indem ich schreibe (mein Wollen), bewege ich mich “im Sinne” einer Wertschaffung, also auf etwasWertvolles hin. Genau dies ist “Sinn”: die Richtung auf einen Wert einzuschlagen zu dessen Schaffung, Vermehrung, Erhaltung. Im Intendie-ren des Zieles (Wert) durch das Wollen fällt der “Sinn” als die “richtige, auf einen Wert hin orientierte Richtung” als Begleitphänomen ab. Aussolchen Überlegungen heraus hatte ich ursprünglich die Grundmotivationen als “Wille zum Sein” (1. GM), “Wille zum Wert” (2. GM),“Wille zum Recht” (3. GM) bezeichnet, weil sie die eigentlichen Willenskorrelate sind, während die Bezeichnung “Wille zum Sinn” in mei-nem Verständnis etwas irreführend als direkte Intendierbarkeit von Sinn verstanden werden kann.

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EXISTENZANALYSE 1/00 7

ORIGINALARBEIT

schen als auch Wollen einen Wert intendieren. Auch kön-nen die beiden Strebungen in die jeweils andere überwech-seln oder gar vermischt sein und gleichzeitig bestehen. DieArbeit an der Willensstärkung wird somit eine Differenzie-rung zwischen der passiven Haltung des Wünschens undder aktiven Haltung des Wollens herbeiführen, um denWillen stärken zu können.

Auch andere Differenzierungen sind in der Arbeit amWillen von Wichtigkeit: Wenngleich körperliche Bedürfnisseund psychisches Streben nach Lust Grundlage und Motivfür den Willen sein können, ist ihre Dynamik noch nichtper se schon ein Wille. Um beispielsweise essen zu wol-len, bedarf es nicht nur des Hungers und seines Triebes,sondern auch der Entscheidung.

Auch ist Wille von Gewissen abzugrenzen. Gewissen hatzwar ein Anbindungsverhältnis zum Willen (gleichsam als“Mitwisser”), aber eine andere Aufgabe, nämlich die ethi-sche bzw. moralische Bewertung des Willensaktes vorzu-nehmen.

In unserem Willenskonzept sind folgende Charakte-ristika hervorzuheben:

a) Freiheit: Der Wille ist Ausdruck und Realisierung derFreiheit der Person. Wollen ist das Gegenteil von Müs-sen.

b) Wertbezug: Der Wille kann nur durch einen (echtenoder vermeintlichen) Wert angesprochen und mobili-siert werden. Ein Willensakt kann sich daher nur aufeinen (echten oder vermeintlichen) Wert beziehen.

c) Wille verlangt Entscheidung. Jedes Wollen setztdaher ein Lassen voraus.

d) Entschluß: Jedes Wollen beinhaltet die Bereitschaft, dieeigene Kraft zur Verfügung zu stellen und die erforder-liche Mühe nicht zu scheuen.

e) Aktivität: Wille ist Engagement, Handlungsbereit-schaft. Im Handeln wird die Stärke desWillens sicht-bar.

Abb. 1: Der Wille kann als Scheitelpunkt von wahrge-nommener Realität, Gefühl und Vernunft aufgefaßt werden.Wenn eines dieser drei Elemente fehlt, entsteht eine Willens-blockade, die zu einem Warten oder Wünschen führt.

Für die Praxis ist die Frage wichtig, wie das “Ja” desWollens, die Einwilligung also, zustande kommt. DieserProzeß kann als “Tor zur Freiheit” bildlich als Gewölbe-Bogen gesehen werden, in dessen Scheitelpunkt die Ein-willigung steht, ein Schlußstein, von dem die Stabilität desGewölbes abhängt.

Ich möchte den kurzen Abriß über das Willenskonzept schließen mitdem Hinweis auf ein Paradox. Der Wille ist als Ausdruck der Frei-heit der Person definiert. Gleichzeitig können wir aber, wie obenbemerkt, nicht frei über den Willen verfügen, sondern sind ihm ge-wissermaßen ausgeliefert. Wir können also nicht wollen, daß wirwollen. Das hieße logischerweise, daß wir nicht frei verfügen könnenüber das, was wir sind. Die Reflexion über diesen Sachverhalt be-

Wille. Von der Existenzanalyse und Logotherapie als zentral angesehene, geistige Kraft des Menschen, durchdie er sich als Person durch das Ergreifen seiner Freiheit realisiert und zu einem “Akt” entschließt. Der Willeentsteht aus dem Bezogensein des Subjekts als ganzem Menschen (mit allen Strebungen) auf das Ansprechendeaus der Welt und besteht im Entschluß, sich auf einen gewählten Wert einzulassen.Anlaß zu einem Willensakt ist das Angesprochensein (Berührtsein, Ergriffensein) von Werten, die als primäreund/oder integrierte Emotion der Person präsent sind. Der Willensakt selbst besteht aus der Ent-scheidung (Wahl)zwischen möglichen Werten sowie dem Entschluß, sich mit seinen Kräften auf den gewählten Wert in handelnderAbsicht einzulassen: Im Willen vollzieht der Mensch seine Existenz. Er ist Ursprung seines Handelns (vgl. Au-thentizität) und trägt daher die Verantwortung. Der voll entwickelte, freie Wille nimmt Bezug auf das Gewissenund die Grundbedingungen der Existenz (vgl. Grundmotivationen, Emotionslehre).Durch den Willensakt unterscheidet sich Handeln vom (psychodynamischen oder psychophysischen) Reagieren.Die Handlungsbereitschaft setzt den Willen von der passiven Wunsch- und Erwartungshaltung ab, die neuroti-sches und Suchtverhalten kennzeichnet.Wille als Ausdruck der Freiheit des Menschen kann nicht erzwungen werden (Willensstärkungsmethode), ist aberseinerseits begrenzenden Bedingungen unterworfen (Widerstand durch Realität, Zwang zum Einsatz von Mit-teln).

A. Längle, B. Wicki

WILLE

VernunftGefühl

wahrgenommene Realität

Zukunft

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ORIGINALARBEIT

dürfte einer ausführlicheren Diskussion über das Verhältnis von Wil-le und Person, Wille und Gewissen und Wille und Existenz. Als eineLösung dieses Widerspruchs steht für mich die Auffassung da, daßdie Freiheit der Person darin liegt, gemäß ihrem Wesen zu entschei-den, d.h. gemäß dem, wie sie im Grunde ist und nicht, wie sie sichdenkt oder sich zu irgendwelchen Zwecken haben will. Das unter-scheidet den Willen von Willkür.

Die Methode der Willensstärkung

Indiziert ist die Methode bei allen Störungen des Wil-lens, bei denen es um die Überwindung von Unangeneh-mem geht (z.B. bei Lernen, Gewichtsabnahme), beiUnentschiedenheiten, Unklarheiten oder Zweifeln bezüglichdes Wollens (z.B. wenn man nicht wirklich weiß, ob maneine Therapie beginnen will, ein Studium fortführen oderin einer Beziehung bleiben will) oder bei fehlender Durch-haltekraft, wenn also der Wille nicht stark genug ist, einangestrebtes Ziel zu Ende zu verfolgen (was oft als “Wil-lensschwäche” ausgelegt wird), was besonders bei klei-nen Abhängigkeiten (Pralinen, Fernsehen) und Süchten(Nikotin, Alkohol, Bulimie u.a.) eine Rolle spielt.

Kontraindikation:a) Wenn die Behinderung des Willens durch eine Patholo-

gie stark auf der Seite der Unfähigkeit angesiedelt ist,die Behinderung also nicht in der Mitte zwischen Wol-len und Nicht-Können liegt, wird die Methode wenig be-wegen können.

b) Wenn die Anwendung der Methode nicht zur Klärung derWillenssituation und ihrer praktischen Durchführung aus-reicht, ist dies als Hinweis zu verstehen, daß es einentiefergreifenden Zugang in Form einer Psychotherapiebedarf.

Im folgenden werden die Schritte überblicksmäßig ersteinmal vorgestellt und danach ihre praktische Handhabunggeschildert. Die fünf Schritte sind:

1. Grundarbeit (Sachebene): Erhebung und Reflexion derspontanen Beweggründe für das Wollen. Wissen, Vorstel-lung und Vorerfahrung über das angestrebte Ziel werdenreflektiert und sachliche, “objektive” Gründe ausgetauscht.Ziel ist, die positiven Gründe für die Entscheidung her-auszuschälen, zu konkretisieren und bewußt zu machen.

Das Sammeln und Präzisieren der sachlichen Gründe,die für die Entscheidung sprechen, soll die primäre Moti-vation festigen (“Andockmanöver”).

2. Problemebene: Problembewußtsein schaffen undbearbeiten. Nach dem positiven Anfang kommt nun dieBeleuchtung des Hemmenden der Motivation. Sozial-psychologische Forschungen haben ergeben (z.B. Herkner1975, 186ff.), daß die kognitive Festigkeit der Einstellunggestärkt werden kann, wenn die Gegengründe bekannt unddiskutiert sind. Gelingt es sogar, sie zu entkräften, so wirddie Überzeugung noch fester.

Gemäß dieser Erkenntnis werden konkurrierende Motive

und Gegengründe angesprochen und bewußt gemacht. Siesollen in ihrem Wert gesehen werden, um den Klienten zueiner Entscheidung zu bringen. Das Schildern von Proble-men, die subjektiv erwartet werden und objektiv zu erwar-ten sind, das Relativieren möglicher Ziele und Definieren ersterSchritte, die als Erfolg gelten können, führt zu Entlastungen,größerem Realitätsbezug und zum Abwägen der Wertigkeitdes Zieles im Bewußtsein seines Preises.

3. Ver-Innerlichung (Beziehungsaufnahme): Nach denmehr kognitiven ersten Schritten geht es nun um die inne-re Beziehungsaufnahme zum zentralen Wert, der intendiertwird. Dafür ist es wichtig, die impliziten Werte “schmack-haft” zu machen, damit sie emotional “begreifbar” werden.Das “Gute” am Vorhaben soll durch (meditative) Versen-kung, Nachfühlen von (ähnlichen) Vorerfahrungen undVorstellung von positiven Auswirkungen angefühlt werden.Damit erhalten sie eine innerliche Repräsentation. Ziel istdas Wecken eines Wertgefühls und die Festigung der Be-ziehung durch den Aufbau positiver Emotionen.

4. Sinnhorizont (Beziehungserweiterung und Selbst-findung): Nach dem Aufnehmen innerer Nähe zum ange-strebten Wert soll die mit der Fokussierung verbundeneHorizontverengung nun eine Aufweitung erhalten. Derkonkrete Wertbezug wird in das Lebenskonzept eingebautund hinsichtlich der Selbstverwirklichung und des existen-tiellen Selbstverständnisses überprüft. Welcher Zusammen-hang besteht zwischen dem Ziel des Wollens und demLebenskonzept? Wie kann dieses Lebenskonzept im Hierund Heute Gestalt gewinnen, wie kann die Einmaligkeit desAugenblicks im Hinblick auf die Ganzheit gelebt werden?Das Verständnis des existentiellen Sinns bringt einen über-geordneten Zusammenhang ins Spiel, in dem man sichvorfindet und der sich in die konkrete Alltagssituation ein-spielt, wie er selbst auch in umgekehrter Richtung von denkonkreten Erfahrungen genährt wird.

5. Festigung (Entschiedenheit, Vorbauen und Üben durchRealisierung): Nachdem nun der Wille auf einer existenti-ellen Ebene geklärt ist, bedarf es einer zeitlichen Konstanzund einer Absicherung, damit das erreichte Niveau auchunter den Stürmen künftiger und nicht erwarteter Proble-me gehalten werden kann. Die Vorgangsweise besteht imEinsatz mehrerer Mittel: Es soll immer wieder die Entschei-dungsfindung eingesetzt werden und nach der Entschie-denheit gesucht werden (nur wenn die Entschiedenheitklar und vital ist, kann auf die neuerliche Entscheidungs-findung verzichtet werden). Überlegungen zur Prophyla-xe, zu Methoden und Strategien sowie zu übendem Ver-halten werden gemeinsam angestellt, um das Durchhaltenzu erleichtern und Kompetenzen zu fördern.

Praktische Durchführung

Die WSM ist von ihrer Veranlagung her eine Ressour-cen mobilisierende Methode, die ihre Hauptanwendung im

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beraterischen Bereich hat. Sie verlangt daher keine engeretherapeutische Beziehung, in der die Therapeuten eine ich-stützende Funktion im Therapieprozeß zu übernehmenhätten. Wenn dies als eigentliches Kriterium psychothera-peutischen Geschehens angesehen wird, ist die WSM alseine klassische Methode der Beratung einzustufen. Natür-lich deckt sie auch tiefergehende Defizite auf, dieAusgangspunkt zu therapeutischer Vertiefungen sein kön-nen.

1. Der Einstieg: Die Grundarbeit (Sachebene)Am Beginn wird alles zusammengetragen, was für die

Entscheidung spricht. Soll doch am Anfang die ursprüng-liche Motivation und der erste Impuls, der (möglicherwei-se) zu einem festen Willen führt, gestärkt werden. Fürdiesen Zweck werden die Gründe geklärt, die den Willenbewegen könnten. Der Begriff “Grundarbeit” verweist aufdieses Ansinnen wie auch auf den Anfang und Einstieg derMethode.

Es ist oftmals ein Fehler des psychologischen Laien, zuglauben, es genüge zur Motivation des Willens und zumDurchhalten der auftretenden Schwierigkeiten, sich derGründe seines Handelns bewußt zu sein. Es ist daher nichtselten, daß Patienten und Klienten auf diese Frage ganz guteAntworten parat haben.

Typische Fragen für diesen Schritt sind: “Wofür ist esgut, wenn Sie ...” Nehmen wir hier als Beispiel, wenn je-mand unsicher ist, ob er eine Therapie machen will. Dietypischen Fragen lauten dann: “Weshalb möchten Sie eineTherapie machen – was hat Sie dazu bewogen, wie ist derGedanke entstanden? Was ist Ihnen dabei wichtig? - Ha-ben Sie Erfahrungen, woraus Sie schließen, daß es gut ist,eine Therapie zu machen? - Was wissen Sie von Therapi-en? Welche Vorstellungen haben Sie? Was erwarten Sie sichvon der Therapie? Für wie realistisch halten Sie Ihre Er-wartungen?”

Es ist wichtig, bei diesem Schritt darauf zu achten, daßAntworten aus ihrer Vagheit gehoben und konkret werden.Es genügt beispielsweise nicht, wenn jemand antwortet:“Ich will es machen, weil es besser für mich ist.” Hilf-reich ist dabei, wenn auch der Therapeut seine Erfahrungund Einschätzung dazugibt und über die Vorteile spricht,die z.B. eine Therapie hat. Durch das gemeinsame Betrach-ten, Beschreiben, Suchen und Reflektieren von Werten,Inhalten und Zielen werden auch innere Stellungnahmenangefragt.

Die Aufgaben des Therapeuten bzw. Beraters sind dabeia) mitzufühlen, wie gewichtig die Gründe sind, und Rück-

meldung zu geben.b) mitzuschauen, wie realistisch die Spontanmotivation ist,

und Rückmeldung zu geben.c) zu bestärken, was einem selber auch wichtig erscheint,

nachzufragen, wo “Unwichtiges” vorgebracht wird,Widersprüchliches anzusprechen, wobei man sichinsgesamt in einem verstehenden Annehmen bewegt.

2. Problemebene: Thematisierungder hemmenden KräfteDer erste Schritt trifft meistens auf die Erwartung der

Klienten und Patienten. Der zweite Schritt löst dagegenoftmals Überraschung aus. Die Klienten rechnen üblicher-weise nicht damit, daß das Hinderliche der Motivation sodeutlich angesprochen wird und die Zielhemmung zu ei-nem großen Thema gemacht wird. Je fragiler die Motiva-tion, desto eher besteht die Befürchtung, daß die ganzeStrebung verloren gehen könnte. Ein allfälliges Zögern beimEingehen auf diese Thematik kann durch Erklärung überden Sinn dieses Schrittes sowie durch Ermutigung aufge-fangen werden.

Die Problematisierung des Vorhabens führt jedoch mei-stens bald zu einer Entlastung und zu einem Gefühl derBefreiung beim Klienten. Er wird in seiner Intention ge-löst und erhält einen lockereren Umgang mit seinem Wil-len, der nun die widerstrebenden Kräfte nicht mehr ver-drängen muß, sondern ihnen offen begegnen kann. Eskommt aber auch vor, daß dieser Schritt zur Demotivierungführt und vom Vorhaben (z.B. eine Therapie zu beginnen)abgelassen wird. Dies ist existenzanalytisch gesehen keinVerlust oder nicht als schlechtes Ergebnis anzusehen, daes ja nicht um die Durchsetzung eines “gedachten”, “ver-nünftigen” Willens oder um die Übertragung des Willensdes Therapeuten geht, sondern um die Findung des eige-nen Strebens, das der Mensch als ihm entsprechend undfür ihn machbar ansieht.

Typische Fragen sind (wir haben als Beispiel die Ent-scheidungsfindung für eine Therapie gewählt): “Was könn-te Ihnen Schwierigkeiten oder Probleme machen, wenn Sieso eine Therapie beginnen würden? Was ist der Vorteil,wenn Sie keine beginnen? Gäbe es andere Möglichkeiten,mit dem Problem umzugehen, die leichter für Sie wären?Was spricht gegen die Therapie?”

Dabei werden die Einschätzung und die Erfahrung desKlienten und Therapeuten/Beraters eingeholt und zusam-mengetragen. Am “Tiefpunkt” angekommen wird die Vor-stellung des Gegenteils thematisiert: “Wie wäre es für Sie,wenn Sie jetzt keine Therapie machen würden bzw. könn-ten? Wie würde es weitergehen, was würden Sie tun?”

Zum Schluß dieses Schrittes geht es um die Beschrei-bung der Zielvorstellung, gemessen am Erfolg, und um dieProblematisierung des Weges: “Was wäre für Sie bereitsein Erfolg, auch wenn es nur ein kleiner Schritt wäre?Welche Bedingungen wären Sie dafür bereit einzugehen,welchen ‚Preis‘ würden Sie zahlen?”

Die Aufgaben des Beraters bzw. Therapeuten bestehen indiesem Schritt,a) seine Erfahrungen über mögliche Probleme dazuzu-

geben.b) Gegengründe so lange zu thematisieren, bis sie für den

Patienten entkräftet sind.c) eigene hemmende Phantasien. dazuzugeben.d) den Patienten/Klienten zu führen und eventuell zum

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ersten Schritt zurückzukehren, wenn das Problematisierenüberhand nimmt und demotivierend wird.

3. Ver-Innerlichung und BeziehungsaufnahmeDieser Schritt ist für die Willensstärkung besonders

wichtig, weil mit ihm eine kognitive Entlastung erreichtwerden soll. Er ist nicht immer leicht durchzuführen, soller doch die Emotionalität wecken und zu einer tragendenFunktion berufen. Der Weg dazu geht über ein innerlichesNachzeichnen des intendierten Wertes, damit eine emotio-nale Beziehung zu ihm aufgebaut bzw. ausgebaut werdenkann. Eine solche ist notwendig, um die Belastung, die mitder Realisierung verbunden ist, tragen zu können. Das“Gute”, der Vorteil und Wert des intendierten Zieles, sollspürbar werden.

Als Fragenbeispiele stehen:“Haben Sie das, was Sie anstreben, schon einmal er-

lebt? Wie war es? - Was hat Ihnen gefallen, was war dasSchöne daran? - Wie hat sich das ausgewirkt? Wie habenSie es erlebt? Was hat es bewegt, was wurde dadurchanders? Was war der Gewinn?”

An dieser Stelle kann es hilfreich sein, gestalterischeMittel einzusetzen wie Malen, Ton, Musik oder Rollenspiel;auch meditatives Versenken kann helfen, eine innere Nähezum Objekt aufzunehmen.

Das psychologische Modell für die Ausgestaltung die-ses Schrittes stammt aus der Wahrnehmungspsychologie.Durch genaue Beobachtungen der optischen Wahrnehmungkonnte festgestellt werden, daß das Auge mit fortlaufen-den Suchbewegungen die markierten Punkte eines Objek-tes abtastet und so die Gestalt des Wahrnehmungs-gegenstandes gleichsam “nachzeichnet”. So kann alleinanhand der Aufzeichnung der abtastenden Augenbewegungdas Objekt der Wahrnehmung (z.B. ein Gesicht) sichtbarwerden. Solche Aktivität bedeutet im ursprünglichen Sin-ne “Verinnerlichung”, “Einverleibung”.

Die Aufgaben des Beraters bzw. Therapeuten sind beidiesem Schritt:a) am Thema festzuhalten bzw. immer wieder darauf

zurückzuführen.b) eine Anleitung zur Vertiefung zu geben.c) eigenes Erleben vereinzelt dazuzugeben (hat Verstärker-

funktion).Die kognitive Entlastung, das Ziel dieses Schrittes, wird

durch das Erfühlen, ja eigentlich durch ein innerliches“Anfühlen” des eigentlichen Wertes versucht. DasAnsichtigwerden des Wertes mobilisiert innere Kräfte, dieals Kraftzuwachs erlebt werden. Das Besondere diesesErlebens ist, daß dieser Kraftzuwachs einem wie von au-ßen zukommt. Man spürt dabei, daß das Wollen seine Kraftaus dem intendierten Wert bezieht. Dieser Schritt kann alsMotor der Methode angesehen werden, weil er eine Dy-namisierung und Stärkung des Vorhabens bewirkt. Dieseinnere Stärkung stammt nun nicht mehr aus dem Denkenoder aus der Vernunft, sondern aus dem Ansichtigwerden

des Wertes, des Erlebens und Nachvollziehens einer Attrak-tivität. Sie geschieht analog dem ästhetischen Genuß. Soentsteht das entlastende Gefühl: “Ich muß ja gar nichtwollen können! Das Wollen selbst ist ja gar nicht so an-strengend, wenn man sich nur offen hält und sich vomWert berühren läßt.”

4. Sinnhorizont (Beziehungserweiterung und Selbst-´ findung)

Nachdem die Kraft mobilisiert ist, soll nun die Entschie-denheit gefestigt und dauerhaft werden, indem sie mit demSinngefüge der Person in Verbindung gebracht wird. Dasintendierte Handeln wird so in einen größeren Rahmengestellt und kommt nun in den Kontext der eigenen Lebens-gestaltung und Lebensverantwortung zu stehen. Die Ein-maligkeit des Wertes, um dessen Verwirklichung es geht,wird als “Chance” und Ermöglichung von Zukunft deut-lich. Das aktuelle Handeln wird mit den größeren undschließlich großen Sinnhorizonten der eigenen Existenz inVerbindung gebracht, was nicht selten zu einer Reflexiondes Lebenssinns und der eigenen Zielvorgaben bzw. Vor-stellungen führt. Dafür ist es hilfreich, den Wert auch auszeitlicher Distanz zu betrachten (Selbstdistanzierung, Per-spektiven-Shifting - vgl. Kolbe 2000), um die Zeitstrukturzur Verwirklichung des Willens ins Blickfeld zu bekommen.

Typische Fragen dafür sind:Was sind die Anforderungen Ihrer jetzigen Lebenssi-

tuation, was braucht es jetzt von Ihnen? Ist es eine Vor-aussetzung dafür, daß Sie z.B. diese Therapie machen?Wofür wollen Sie dies (z.B. Therapie) eigentlich machen?Was könnten Sie heute konkret dafür tun? – Perspektiven-Shifting: Was glauben Sie, wie wird es in fünf Jahren seinund was werden Sie dann von dem halten, was Sie heuteentscheiden? Wofür haben Sie “eigentlich” zuletzt gelebt?Wofür früher, in Ihrer Jugend? Wofür wollten Sie “eigent-lich” immer leben? - In welchen Sinnstrebungen sind Sieenttäuscht worden (Sinnfrustrationen)?

Im Lichte des Sinn-Zusammenhanges kann man manch-mal auf größere Enttäuschungen stoßen, die z.B. zum Al-koholismus geführt haben. Abhängigkeiten sind häufigdurch den Verlust von Sinnzusammenhängen verursachtund können daher in der Bearbeitung tiefergehende Sinn-probleme aufdecken und zur Neuorientierung der existen-tiellen Sinnsuche führen.

Die Aufgaben des Beraters bzw. Therapeuten sind bei die-sem Schritt:a) Aufblenden der aktuellen Situation in größere existen-

tielle (von der Situation) geforderte Sinnzusammen-hänge und in die anstehenden personalen (inneren) Ent-wicklungen, sowie Ansprechen des größten ontologi-schen Sinnzusammenhanges, in welchem sich derPatient/Klient versteht (Glaubensbezug).

b) Distanzgewinn und Gewichtung durch zeitlichesShifting, wodurch die Entscheidung von heute dasGewicht von morgen und eines Teils der Existenz erhält.

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c) Eventuell anwenden der Sinnerfassungsmethode (SEM - Längle 1988).

5. Festigung: Entschiedenheit, Vorbauen, Üben imRealisierenIm letzten Schritt geht es zunächst darum, den Willens-

prozeß durch eine immer wieder neu vollzogene Anbin-dung an die Entschiedenheit zu verwurzeln. So sollen dieAlltagsentscheidungen durch die Konfrontation mit derEntschiedenheit existentiell verankert werden. Zu diesemZweck kann sich der Klient/Patient bei jeder Gelegenheit,wo es um Entscheidungen geht, fragen, ob er dies “auchtatsächlich will”.

Damit übt er sich in der eigenen Freiheit und Verant-wortlichkeit und macht sich den Spielraum der Entschei-dung bewußt (nähere Ausführungen, insbesondere bei derSuchttherapie, sind in Längle A, Probst Ch. 1997, zu fin-den). Durch diese Vorgehensweise wird jede einzelneHandlung in ihrer Entschiedenheit aufgefrischt und demWillen unterstellt. Neben dem ständigen Üben und Trainie-ren des Willens führt dies auch zur Klärung der existenti-ellen Situation, in der sich nicht so leicht Unentschieden-heiten und Uneindeutigkeiten einschleichen können. Inanderen Fällen, wenn die Entschiedenheit klar und spür-bar ist, kann wohl auf die Grundsatzentscheidung zurück-gegriffen werden nach dem Motto: “Ich habe dies ein füralle Mal entschieden, und zumindest für heute gilt dies ohneweitere Diskussion.”

Zusätzlich braucht es flankierende Maßnahmen durchAnleihen an Strategien, Methoden und prophylaktischenÜberlegungen. Es sollen kognitive Fehleinschätzungen undvoluntaristische Überheblichkeiten korrigiert werden durchBewußtmachen der Tatsache, die die Patienten meistensauch selbst schon erfahren haben, daß Erkenntnis undEntschiedenheit allein noch nicht genügt, damit etwas auchdurchgeführt wird. Es braucht mitunter Unterstützungdurch Medikamente, übende Verfahren (aus dem Bereichder Körpertherapien, der Entspannungstechniken, derMeditation usw.), des Verhaltenstrainings (hier ist auch anden Sport zu denken), der Prophylaxe (z.B. das Entfernenvon Alkohol im Haus bei Alkoholsüchtigkeit – darin zeigtsich bereits die Grundsatzentscheidung für oder gegen denRückfall; das Einbinden anderer Personen z.B. durchÖffentlichmachung der Entscheidungen, durch Anfragenfür Unterstützung usw.), durch Portionierung der Einstel-lung (indem man z.B. “nur für heute” dies tut oder nur inkleinen, realisierbaren Schritten handelt). Die Arbeit mitbildhaften Vergleichen ist hilfreich in dieser Phase (z.B. dieSucht mit dem Orkan vergleichen, dessen Wucht in derruhigen Phase nicht geahnt wird). Auch das Bearbeiten vonTräumen und das Arbeiten mit Imaginationen kann im Sin-ne der Prophylaxe, der Vertiefung und Verankerung des Ent-scheidungsprozesses hilfreich sein. SozialarbeiterischeMaßnahmen und systemische Veränderungen, Einbauen vonRegelmäßigkeiten und die Überlegung weiterer Fremdhilfengehören zu diesem Kapitel.

Typische Fragen sind: “Fragen Sie sich vor jeder Entschei-dung: Will ich das wirklich tun? Kann ich spüren, was mirwichtig ist? –

Für die Durchführung der Willensstrebung: “Was kannIhnen dabei helfen? Was kann es Ihnen erleichtern? -Welche Erschwernisse sind zu erwarten? Was sind beson-ders gefährliche Situationen – wie können Sie denen vor-beugen? - Was tun Sie im Falle eines Rückfalls oder Ver-sagens? Was können Sie als kontinuierliches Training tun(z.B. Sport, kognitives Training usw.)? – Mit welchem Bildkönnten Sie Ihre Sucht am besten vergleichen? Wasschützt bei so einem Bild am besten?”

Die Aufgabe des Beraters/Therapeuten besteht im Einsatzseines konkreten psychologischen, soziologischen, medi-zinischen und pädagogischen Wissens. Er wird adjuvanteMethoden einsetzen und stets auf mögliche Gefahren undFehler im Verhalten und in der Tagesstruktur hinweisen.

Herta – im Zwang des eigenen Wollens

Herta ist eine 35jährige Bankbeamtin. Sie hat einen an-gesehenen Beruf im mittleren Management, mit welchemsie sehr zufrieden und ausgefüllt ist.

Herta sucht nicht eigentlich Therapie, sondern will ander Verbesserung ihrer Lebensqualität arbeiten. Vor allemleidet sie unter ihrer Hektik und unter der ständigen Unzu-friedenheit, zuwenig zu leisten. Zusätzlicher Druck entstehtdurch den inneren Anspruch, daß es immer gut sein muß,was sie tut. Diese perfektionistischen Tendenzen könnensie zu Höchstleistungen anspornen, sie aber z.B. beimAbfassen schriftlicher Texte sehr hemmen und ihr viel Kraftrauben. Sie ist ehrgeizig und will gefallen. Diese narzißti-schen Tendenzen führen dazu, sich zu überfordern und dieeigenen Gefühle zu übergehen. Depressive Verstimmungensind gelegentlich die Folge.

Eine Reihe weiterer Themen werden in den vier Jahren(22 Gesprächsstunden) besprochen: eine unfertige Diplom-arbeit, die ihre Unzufriedenheit zum Dauerbrenner werdenläßt; Spannungen mit dem Direktor, die schließlich zumWechsel der Arbeitsstelle führen; die Beziehung zu denEltern; eine Unklarheit in der Partnerschaft. Die depressi-ven Verstimmungen sind in diesem Zeitraum verschwun-den, die berufliche Situation ist nun sehr zufriedenstellend,die Elternbeziehung und die Partnersituation können inzwi-schen als problemlos bezeichnet werden. Nach den vierJahren ist nur eine Quelle der Unzufriedenheit noch geblie-ben: die unfertige Diplomarbeit. Sie wird das Thema derWSM werden. – Aber kehren wir zunächst an den Beginnunserer Gespräche zurück.

Schon im ersten Gespräch hat Herta die Angst ange-sprochen, die sie beim Schreiben empfindet. Sie befürch-tet, daß sie mit dem, was sie niederschreibt, nicht genü-gen würde. Die Niederschrift würde dies für alle sichtbarmachen. Dieser Streß macht sie unruhig, bringt sie regel-mäßig in Hektik und macht sie ob der fehlenden Resultateunzufrieden.

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Das zweite Gespräch – eine Doppelstunde – dreht sichnur um ihre Diplomarbeit. Sie schildert ihr Erleben, ihreUnsicherheit, ihre Abwertungen (“was ich schreibe, istbanal”) und ihre ärgerliche Wut auf sich, sowie ihre Unfä-higkeit, die Arbeit zu lassen. Wir halten uns im Bereich derAuflehnung, der wilden Empörung über das bisherigeScheitern auf, können aber nicht bis in die Ebene desWollens vorstoßen.

Es ist Herta klar, daß sie die Diplomarbeit schreiben“will”. Sie braucht sie für ihre Karriere, zur Befriedigungihres Ehrgeizes, zur formalen Verbesserung ihrer Position.Das sind ihre Gründe. Am Entschluß gibt es nichts zurütteln, der Sinn ist ihr klar (doch eigentlich handelt es sichum einen Zweck!). Am Ende dieses Gespräches kommtsie zur Überzeugung, daß sie die Unzufriedenheit alsStimulus braucht und sie daher nicht verlieren möchte.Sie will es mit der Kraft dieses Stimulus versuchen. Sieglaubt, ihr Ziel bei diesem Problem erreicht zu haben.

Nach eineinhalb Jahren, in denen zwei Gesprächeüber andere Themen stattfinden - danach bleibt sie für einJahr fern, weil es ihr gut geht - kommt Herta wieder mitÜberforderungsstreß zu einem Gespräch. Sie hat inzwi-schen den Arbeitsplatz gewechselt. Die neue Arbeitsstellefordert sie sehr (drei Monate später wird sie einen Ner-venzusammenbruch erleiden). Sie attribuiert aber ihre ganzeUnzufriedenheit allein auf die unfertige Diplomarbeit, an dersie keine Zeile geschrieben hat. Das Thema interessiert sieinzwischen nicht mehr. Aber sie kann sie dennoch nichtlassen: das entspräche nicht ihrem Bild von sich. Auchandere, formale Gründe spielen weiterhin eine Rolle, wieauch eingestandenermaßen ihre Eitelkeit. Vor allem abersieht sie den Sinn ihres Lebens in Gefahr: alles, woge-gen sie gekämpft hat und was die Spannungen mit demletzten Chef hervorgerufen hat, wäre dahin, wenn sie dieArbeit ließe. Sie wollte immer gegen einen unmenschlichenFührungsstil in Betrieben ankämpfen und dies mit derMacht der Wissenschaft untermauern. Das wäre das The-ma ihrer Diplomarbeit. Wiederum will sie nur über ihr Leidan der Arbeit und über ihre Überforderung sprechen.Auch diesmal gelingt es im Gespräch nicht, die Sinnhaftig-keit ihres Vorhabens auch nur in Frage zu stellen, so sehrist sie in das Vorhaben verkrallt. Auch zweifelt Sie (zu-recht!) nicht an der Stärke ihres Willens, wo sie sich dochso entschieden erlebt. Zwar fordere sie sich - aber siewolle auch gefordert sein.

Nach weiteren zweieinhalb Jahren (in denen 15Gesprächsstunden über andere Themen stattfinden mit nureiner kurzen Reflexion über die Diplomarbeit) will nunHerta noch einmal über die Diplomarbeit sprechen. Dieanderen Themen sind für sie gelöst. Ihr Leben hat sich sehrverbessert, und sie hat viele neue Einstellungen bezogen.Bei der Diplomarbeit ist jedoch alles beim alten geblieben:Sie hat die ganzen Jahre nichts weitergebracht. Nach wievor ist sie aber entschlossen, sie fertig zu stellen. Woranliegt es nur, daß sie nicht weiterkommt? Sie sei ja sonsteine sehr entschiedene Frau!

Diesmal ist Herta nicht an der Frage interessiert, war-

um sie sich ständig überfordere, sondern wie sie die Ar-beit tatsächlich zustande bringen könnte und warum sie sienicht weitergebracht hat. Es handelt sich um eine klassi-sche Indikation für die WSM.

Die Entdeckung des freien Willens

Wir beginnen mit dem ersten Schritt der WSM:

1. Grundarbeit:

Th: Laß uns doch mal ganz sachlich überlegen: Wofür istes gut, wenn Du die Diplomarbeit hast?H: ... finanzielle Verbesserung ... aber darum geht es mirnicht. Das ist mir nicht Anreiz genug. Es ist zwar nichtganz sachlich, aber gehört doch dazu: In der Position, inder ich bin, haben alle einen akademischen Titel. Daswürde meine Autorität unterstreichen. Auch wenn das ober-flächlich klingt, aber es ist so. Vielleicht ist mir das so-gar wichtiger als das Geld. Wobei ich natürlich weiß, daßich durch die Diplomarbeit nicht mehr kann und nichtmehr weiß als ohne sie.Th: Was würde sich ändern, wenn Du mit mehr Autoritätin die Seminare gingest?H (lacht): Es würde sich nichts ändern. Es wäre für meinSelbstbewußtsein ... jetzt muß ich die Arbeit mit mir sel-ber füllen und ich frage mich, nehmen die mir das ab?Und sonst denke ich mir, das würde sich von alleine ge-ben.Th: Es wäre eine Entlastung, Du müßtest Dich weniger an-strengen?H (lacht): Sicher nicht. Ich würde das Gleiche machen,aber mit einem anderen Gefühl: weniger Zweifel darüber,ob das überhaupt ‚rüber‘ kommt, ob die mich überhauptakzeptieren. Ich weiß nicht, ob das logisch ist.Th: Es ist trotzdem wichtig, auch wenn es nicht logischwäre. Es ist schon so ...H (beginnt von ihren Erfahrungen zu erzählen): Man hateben einen Vorschuß, so kommt es mir zumindest vor. Undes wäre zumindest eine Entlastung, wenn ich das Gefühlnicht mehr haben müßte.Th: (...) Ich denke schon, daß ein akademischer Titel ei-nen Vorschuß bedeutet. Man kann einen Qualifikations-nachweis vorweisen, bevor man beginnt.H: Aber andererseits will ich diese Oberflächlichkeit ge-rade abschaffen! Und auf einen Titel soll es mir nichtankommen. Und ich zitiere mir die Gegenbeispiele, Leutemit Titel, wo nichts da ist. Und dann gibt es formale Grün-de, die für den Titel sprechen. Ich hätte bessere Berufs-aussichten ...

Dieser Gesprächsausschnitt macht deutlich, wie schwersich Herta tut, zu den sachlichen Gründen ihrer Entschei-dung zu stehen. Sie ist ambivalent und hat sich ihre Gründe,die für den Abschluß der Diplomarbeit sprechen, nicht wirk-lich gut überlegt. Die Unterstützung durch den Therapeutenbringt eine gewisse Beruhigung in ihre Argumentationslinie.

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2. Problemebene

Th: Was macht es Dir zum Problem, den Titel zu erwer-ben?H: Es ist alles schon geschrieben ... . Ich lege mir die Lattezu hoch mit der Wahl dieses Professors und mit meinen An-sprüchen ... etwas Neues kann ich nicht erfinden.Th: Das scheint mir jetzt wichtig. Ist das Deine Intention,etwas Neues zu erfinden?H: Ich weiß nicht. Ich versuche es mir bloß zu erklären.Th: Wenn alles schon geschrieben ist, macht es die Arbeitleichter. Da stell ich die Literatur zusammen und die Di-plomarbeit ist fertig.H: Dafür lohnt sich der Aufwand nicht. (...) wenn ich michdann hinsetzte, bekomme ich das Gefühl: Ich kann nichtschreiben. Es ist so banal! Das gestatte ich mir selber nicht.Th: Ist es wirklich banal oder hast Du nur das Gefühl?H: Es ist banal!Th: Was ist banal? Warum ist es banal?H: (schweigt nachdenklich)Th: Warum ist ausgerechnet Deines banal und das, was inden Büchern steht, nicht?H: Das ist die Frage.Th: Liegt es am Stil, an der Wortwahl?H: Sicher nicht. Wenn ich was zu sagen habe, kann ich esauch gut verpacken. Vielleicht ist das alles nicht meines.Ein Kollege hat jetzt eine Studie veröffentlicht und ichdenke mir: ich könnte nicht mit sowenig soviel herum-schreiben. Meines ist immer so kurz. ...Ich kann die Bü-cher auf meinem Schreibtisch schon nicht mehr sehen, dashängt nicht mit dem Thema zusammen, sondern mit demDruck, den ich mir selber mache.

Obwohl die Problemebene in diesem Gespräch nicht inder ganzen Breite ausgeleuchtet wurde, ist Herta ihre Selbst-entwertung und ihre Selbstunsicherheit klar geworden. Wirversuchen deshalb an dieser Stelle, den Prozeß der Verin-nerlichung und der Beziehungsaufnahme anzugehen, weildieses Defizit besonders deutlich wurde.

3. Verinnerlichung

Th: Hast Du schon einmal ein positives Erlebnis gehabt,wenn Du geschrieben hast?H: (nachdenklich): Ich muß weit zurückgreifen ... Schul-zeit ... Matura ... damals war es keine Sache etwas zuschreiben.Th: Wie hast Du das erlebt, wenn Du etwas geschriebenhast?H: Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern.Th: Das könnte jetzt wichtig sein, weil Du schreiben möch-test ... Wie erlebst Du es überhaupt, wenn Du schreibst?H: Die Briefe fließen ... ich hatte vor zwei Jahren ein ganzpositives Erleben, als ich über eine Veranstaltung geschrie-ben habe ... da wußte ich: das ist es und in einer halbenStunde habe ich es geschrieben gehabt. Druckreif.Th: Warum wußtest Du: ‚Das ist es‘?

H: Das war klar. Das war die Frage und da hatte ich et-was dazu.Th: Wie ist das Erleben, wenn Du so etwas niederschreibst?H: Ich muß mich nicht zwingen. Es macht Spaß, ich habemeine Konzentration, ich kann es fertig machen, es istüberschaubar und hat einen Anfang und ein Ende.Th: Das ist etwas Wichtiges, daß es überschaubar ist!H: Das empfinde ich auch so. Sonst zerfleddert es, es zer-fließt. Das ist das Problem bei der Diplomarbeit: ich mußes schon fertig im Kopf haben, bevor ich es schreiben kann.Th: Das ist ganz wichtig, sonst hast Du eine Schreib-hemmung.H: Das ist bei jedem Brief so. Wenn ich innerlich weiß,was ich schreiben will, dann geht es. Aber da sage ich mir:das ist ganz normal, wenn ich so schreibe. Wenn ich abereine Diplomarbeit schreibe, dann muß ich ganz andersherangehen.Th: Das ist auch wieder etwas Wichtiges.H: Genau das stimmt eben nicht! Ich glaube, wenn ich eineDiplomarbeit schreibe, dann muß es ganz etwas anderessein, weil es sonst banal ist! Und das ist der Anspruch!Th: Und das ist eine Hemmung. Ich kann ja nicht andersschreiben als ich schreibe. Ich muß es in meinem Stilschreiben oder es lassen! Die Banalität ist somit der feh-lende Mut zu mir!H: Da das schon so lange dauert, habe ich mir das ganzeSelbstvertrauen genommen. Ich bereue es schon seit Jah-ren, daß ich das nicht kann. Und ich kann jetzt nicht ein-mal mehr Seminararbeiten schreiben.Th: Das kann ich mir gut vorstellen, daß sich das so aus-weitet ... ein Teufelskreis. Der hat ein paar Weichenstel-lungen, auf die wir gerade draufkommen. (...)Th: Du sagst, an eine Diplomarbeit müßtest Du anders her-angehen als an eine Seminararbeit oder an einen Brief.Wie glaubst Du, mußt Du herangehen?H: (lacht): Wenn ich das wüßte!Th: Wie gehst Du an einen Brief heran?H: Das ist für mich eine andere Form des Sprechens, dasist eine direkte Kommunikation mit der Person, an die ichdas Schreiben richte. – Aber ich bin jetzt versucht zu sa-gen: Das ist alles etwas ganz anderes, was hat das mit derDiplomarbeit zu tun? (Pause) Aber ich weiß schon, wor-auf es hinaus soll: Wahrscheinlich kann ich anders schrei-ben, wenn es etwas mit mir zu tun hat.Th: Das ist das eine, denke ich. Und das andere ist: Mitwem kommunizierst Du innerlich, wenn Du die Diplom-arbeit schreibst? An wen richtest Du Dich innerlich?H: Genau das ist die Frage. Keine Ahnung.Th: Kollegen, Direktoren, an die Generaldirektion, an dieUni, an den Professor?H: Ich weiß es nicht.Th: Stellst Du Dir den Professor vor, daß er daneben sitztund das Geschriebene kommentiert?H: Ja, möglicherweise. Aber da ist noch eine andere Ebe-ne. An wen ich es richte, das habe ich mir noch nicht über-legt. Ich weiß nicht, für wen es interessant sein könnte.Th: Halten wir das einfach mal als ein Thema fest: An

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wen richte ich mich, wenn ich schreibe? Weil wenn Dudas hast, dann kannst Du diese Kraft, die Du beim Brief-Schreiben kennst, nützen, und Dich auf den Fluß auf-setzten.

Wir fassen zusammen, unter welchen Umständen siedas Schreiben als gut erleben kann:a) wenn sie einen Adressaten hatb) wenn der Inhalt im Kopf gegliedert und überschau-

bar istc) wenn sie sich nicht nach anderen richtet, sondern

so schreiben kann, wie es in ihr ist.Bei der Besprechung des letzten Punktes wird ihr deut-

lich, daß sie bei der Diplomarbeit versucht, nach einer ganzdiffusen Vorstellung, wie eine Diplomarbeit sein müßte,vorzugehen, jedenfalls anders, als sie andere Texte undBriefe verfaßt. Sie schreibt gewissermaßen “gegen sich”.

H: Die Sache mit dem Adressaten ... mir wird langsamklar, daß ich die ganze Zeit versuche, die Arbeit so zuschreiben, daß sie möglichst “müllerianisch” (Müller istihr Professor) ist.Th: Dann ist das Dein Adressat!H: Das sage ich nicht. Ein Adressat ist für mich etwasanderes.Th: Für wen machst Du das, die Arbeit so hinzubiegen,daß sie müllerianisch ist? Mir kommt jetzt vor, daß DeinAdressat “Müller” ist, und das ist Dir schrecklich, graus-lich; und Du willst es Dir nicht eingestehen.H: Vielleicht bin ich jetzt vernagelt, aber ein Adressat istfür mich jemand, der mit der Arbeit etwas anfangen kann.Der eine Information daraus nimmt, was er vorher nichtwußte, der daraus lernen kann.Th: Das ist jetzt auch wieder etwas sehr Wichtiges.

Wir finden, daß Herta den ersten Teil für Müllerschreibt, den zweiten Teil aber nicht für ihn, weil er da-von alles kenne und sie nichts Neues erfunden habe. Die-se widersprüchliche Position spiegelte sich kurzfristig inunserem Gespräch und führte zu dem kleinen Mißver-ständnis von vorhin: “Ich schreibe für Müller, Müller kannmir aber nicht der Adressat sein.”

H: Trotzdem muß ich über seine Leiche, weil sonst meineArbeit nicht anerkannt wird.

Herta kann in diesem Abschnitt eine Brücke schlagenzwischen ihrer Fähigkeit, ihrer Ressource und Freude amSchreiben einerseits und dem blockierten Terrain der Di-plomarbeit andererseits. Das Aufdecken einer in sich wi-dersprüchlichen Position (einerseits für, andererseits nichtfür den Professor zu schreiben), das Fühlen, daß sie ge-gen sich schreibt und die Entscheidung, zu ihrer eigenen“Banalität” zu stehen, somit für sich selbst zu schreiben,löst viele Elemente der Blockade. Die Entdeckung, daß sieeigentlich keinen Adressaten hat, leitet bereits über zumnächsten Schritt.

4. Sinnhorizont

Th: Was ist die Frage, um die es Dir mit dieser Arbeitgeht? Was ist das Anliegen, das Du mit dieser Arbeit ver-bindest?H: Das werde ich mir zu Hause noch überlegen müssen.... vielleicht such‘ ich doch ein neues Thema ... da wäredann auch ein Adressat zu finden ... weil wenn ich soschreibe, wie der Müller, dann liest es eh keiner.Th: (lacht) schlimm! Das ist wirklich grauslich.H: Alle sagen: Bei dem schreibst Du? Das ist doch einFossil! Und da muß ich immer Ehren retten.(Ende der eineinhalb-Stunden-Gesprächsdauer)

Drei Wochen später kommt Herta zur nächsten Sitzung.Sie hat inzwischen einen anderen Professor angesprochenund ein neues Thema gewählt, das auch “einen Adressa-ten” hat. Sie spürt nicht mehr den Widerstand, wenn siesich an die Arbeit setzt. Das Thema ist überschaubar undbringt etwas. Es enthält etwas Neues, zu dem sie etwassagen kann.

H: Und es ist nicht mehr der Müller, vor dem ich michunsicher und minderwertig fühle, was mich beim Schrei-ben lähmt.Ihr Selbstwert bekommt durch das gute wissenschaftlicheThema wieder Auftrieb. Wir versuchen das Projekt weitermit dem Sinnhorizont ihres Lebens abzustimmen.Th: Das Thema stimmt nun für Dich. Aber möchtest Dufür die Wissenschaft soviel Zeit verbringen und Dein Le-ben auf sie so abstimmen?H: Ich habe den Beruf zum großen Teil meines Lebenswerden lassen.Th: Stimmt das so für Dich? Möchtest Du dafür die Jahreund die Kraft aufbringen?H: Es ist ein irrsinniges Hasten und Beschleunigen. Ichweiß nicht, ob es gut war.

Herta entdeckt eine Unsicherheit bezüglich ihres gros-sen beruflichen Einsatzes. – Ob sie dann noch für die Di-plomarbeit Zeit aufbringen mag?

H: Diplomarbeit ... gutes Gefühl ... ich hab es mir ange-nehm gestaltet, den Schreibtisch schön hergerichtet ...Th: Hast Du das Gefühl, ich mag meine Kraft und Zeitdafür hergeben? – Diese Frage kann Wochen an Streß undviel Zeit einsparen!H: Ein reines ‚ich mag‘ ist es nicht. Es ist schon vielPflicht. Wenn ich an den Sommer denke, muß ich sagen:Ich mag nicht. ... Im Horizont des Lebens - noch vierzigSommer vor mir - relativiert es sich ... aber es ist kein ‚ichmag‘. Es ist Überlegung, Kopfentscheidung, Kalkül ...Th: Kannst Du das vor Deinem Leben verantworten, wennDu etwas tust, woran Dein Herz nicht hängt? Wenn Du esfast aus einer Getriebenheit heraus tust? Ist das gut fürDich und für andere Menschen? Ist es wichtig? Wird esgebraucht?

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H: Da kann ich eher und leichter ja dazu sagen als zum,ich mag‘.Th: Und was ist es nun wirklich? ... da ist eine Weisheitin Dir, die klüger und weiser ist als aller Verstand -H: - und die sagt dann auch: Es wird weder die Bankennoch mein Leben verändern.Th: Ist es vielleicht interessant für Dich?H: Die Einzelstudien haben mich fasziniert. Und jede die-ser Studien hat eigentlich viel bewirkt! Das stimmt ja garnicht, was ich eben sagte. (Herta beginnt ganz lebendigund begeistert ein Beispiel zu erzählen, wie durch eineStudie ein Mitarbeiter in einer Abteilung integriert wer-den konnte.)H: Wenn es schon sein muß, dann ist dieses Thema nochdas Wertvollste für mich.

Wie dieser Gesprächsabschnitt bereits ankündigt, kom-men wir jetzt an das größte Problem, das ihren Willens-vollzug blockiert. In der Vertiefung der Sinnfrage wirddeutlich, daß sie eigentlich nie Karriere machen wollte. Inlogischer Konsequenz führen uns die Fragen an den An-fang ihres Studiums. Warum wollte sie studieren? Ist ihrder Protest gegen den damaligen Chef heute noch wichtiggenug, um so viel Lebenszeit zu investieren? Auch in derfolgenden Doppelstunde (drei Wochen später) geht es umdieses Thema. Da kann sie gleich am Beginn schon deut-lich sagen, daß sie für die Wissenschaft nicht leben wolle.Das sei zu abgehoben. Sie möchte nicht aus fünf Büchernein neues machen.

Th: Warum tust Du Dir das mit der Diplomarbeit an?H: Die Frage provoziert mich.Th: Erleichtert es Dich nicht?H: (wiederholt die Argumente vom letzten Mal)Th intoniert das ‚Lassen-Können‘. Es könnte als Kontrastdie Sinnhaftigkeit des Wollens erhellen:Th: Wie wäre es für Dich, wenn Du diesen Sommer wie-der nichts schreiben würdest?H: Schrecklich. Dann hätte ich mir selber vorgeführt, wieunfähig ich bin. Was schon so viele geschafft haben mitweniger Aufwand und ohne Beratungsstunden.Th: Das ist eine schreckliche Sackgasse: Du kannst es nichtmehr lassen und wehrst Dich gegen den Druck. Und daswar doch eine richtige Entscheidung damals.H: Damals! Vor wie vielen Jahren? - Vor sieben!Th: Brauchst Du es noch zum Überleben?H (nach längerer Pause): Wahrscheinlich nicht. Ich habe alleSituationen überstanden. ... aber es würde manches einfa-cher machen, wenn ich den akademischen Titel hätte.Th: Du sagst ‚wahrscheinlich‘. Mein Eindruck ist: Dubrauchst es nicht. Sicher nicht. Es wäre nur manchmaleinfacher ...H: Nein. Für meinen Seelenfrieden brauche ich den Ma-gister.

Hier findet eine starke, direkte Konfrontation statt.Sie macht ihre Verzweiflung spürbar, ruft aber auch ein

wenig Trotz hervor und provoziert eine überraschendeKlarheit. Sie wehrt sich gegen den Gedanken, die Arbeitzu lassen. Wir verstehen beide noch nicht, warum sie soan ihr hängt. Herta erzählt, wie sie die Tage verbringt, diesie sich für das Schreiben vornimmt. Sie geht stundenlangins Kaffeehaus, macht Sport, geht einem “Bedürfnis nachLeben” nach.

Th: Du würdest gegen Dich arbeiten, wenn Du an der Di-plomarbeit schreiben würdest. Wenn Du sie nicht lassenkannst, kannst Du sie nicht bejahen. Wo kein Nein mög-lich ist, gibt es auch kein freies Ja.H: Ich stell es mir viel unangenehmer vor, bis zu meinemTod leben zu müssen ohne Diplomarbeit, als mich einhalbes Jahr hinzusetzen und mich zu überwinden.

Das Gespräch bringt Selbstwertzweifel auf, gepaart mitdem kämpferischen Drang, es den vielen “Tussies” undDirektoren zu beweisen, was sie kann.

H: (beginnt zu weinen) Ich kann es nicht aufgeben.Th: Ist das Deine Unfähigkeit? Mir kommt vor, daß DuDich und Dein Leben mißbrauchst, um einen Titel zu be-kommen. Vielleicht geht es Dir da doch mehr um die Ei-telkeit, als um die Diplomarbeit?H: Da sind wir wieder beim alten Thema.Th: Gehen wir doch noch einmal der Frage nach: Was gehtDir verloren, wenn Du die Diplomarbeit läßt?H: Ich weiß keine Antwort darauf ...Th: Ich hätte verstanden, daß Dir eine tolle Idee verlo-ren geht, Ansehen, Selbstschutz, Mächtigkeit (‚denen zeigich es ...‘).H: Ein bißchen von alledem. Irgendwie stell ich es mirschön vor, wenn das alles fertig ist. Wozu habe ich dasStudium sonst gemacht? Ich habe vor Jahren eine Ent-scheidung gefällt, in der Bank zu bleiben, und habe dar-um das Studium begonnen, sonst wäre ich gegangen(weint). Und ich möchte nicht diese Entscheidung revidie-ren. Das war eine Überlebensstrategie. Das Studium wareine Befreiung, und daraus habe ich meine Kraft gekriegt.Th: Was hat Dir das Studium bis jetzt gegeben?H: Schutz in der Arbeit, Befreiung, neue Kreise, Beförderung.Th: Somit hat es sich bereits gelohnt, auch wenn es nichtbeendet wird. Das ist ein fester Boden, der Dir auf jedenFall bleibt.

Wir beenden diese Sitzung mit der Aufgabe, den näch-sten Monat paradoxerweise nicht an der Arbeit zu schrei-ben, sondern sich mit dem Sein-Lassen der Arbeit zubeschäftigen und die Zeit zu genießen.

Drei Monate später kommt Herta wieder. Sie hat sichnicht an die Abmachung gehalten, sondern unmittelbarnach dem letzten Gespräch mit der Diplomarbeit angefan-gen. Sie hat nun zwar ein “schlechtes Gewissen”, aber sieerlebte eine starke paradoxe Wirkung: Da sie nicht schrei-ben sollte, mußte sie schreiben. - Sie war in dieser Zeitklarer geworden:

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H: Daß ich beneidet werde, davon habe ich nichts. Darumhatte ich auch Widerstand beim Schreiben der Diplomarbeit:ich habe nichts von der Diplomarbeit, von so viel Eitelkeit.

5. Festigen und Vorbauen

Es ist nun, als wäre der Sturm vorüber, die Krise überstan-den. Herta kommt in ein zügiges Arbeiten, ihre Handbrem-sen sind gelöst. Dennoch ist das Problem mit der Sinn-haftigkeit der Arbeit noch nicht ganz geklärt und könnte beieiner schwierigen Stelle die Arbeit blockieren. Aus diesemGrunde arbeiten wir als Hausaufgabe für sie heraus, daß siesich weiterhin mit dem Lassen-Können beschäftigen soll:“Welches Problem habe ich, wenn ich die Diplomarbeitlasse? – Wenn ich dieses Problem weiß - könnte ich estragen und annehmen?” – Erst danach würde es um dieFrage gehen, ob sie die Arbeit lassen mag oder zu Endeführen will.

Die ursprüngliche Problematik der Überschaubarkeitder Arbeit hatte sich inzwischen gelöst, vor allem durchdas neue Thema und die geänderte Haltung, mit der sienicht mehr alle Fragen des Managements in ihrer Arbeitbeantworten mußte. Herta ist strukturiert genug, um sichden Arbeitsplan selbst erstellen zu können und die Arbeiteinzuteilen (Anm. 3).

Wieder ein Viertel Jahr später kommt Herta zu einerDoppelstunde, wo wir die Problematik, die mit ihrer Ar-beit aufgebrochen war, besprechen. Zwei Monate späterhat sie die Diplomarbeit abgegeben und es geht ihr gut. DieReflexion ihrer beruflichen Situation in der vorangegange-nen Stunde brachte neuen Schwung in die Diplomarbeit.Diese und die nächste Doppelstunde geht es noch um einebiographische Abrundung ihres Lebens.

Herta legt drei Monate später auch die Prüfungen ab underhält den heiß erkämpften Magistertitel. Wir beenden dieGespräche. Herta führt ein gutes Jahr später noch immer einzufriedenstellendes Leben, wie ich von ihr erfahre.

Diskussion

Die Anwendung der Willensstärkungsmethode bei HertasProblem zeigt, wie eine schwer durchschaubare Problema-tik durch ein schrittweises Vorgehen stufenweise bewäl-tigt werden kann. Daß es bei größeren Problemen - hierhandelte es sich ja bereits um eine jahrelange Schreib-hemmung – auch zum Aufdecken tieferliegender Pro-blembereiche kommt, ist nicht verwunderlich. HertasProblematik war an der Grenze der rein beraterischenDurchführung. In den letzten beiden Doppelstunden wur-de die Arbeit vorwiegend therapeutisch. Wir konnten da-durch eine Abrundung ihrer persönlichen Entwicklung er-reichen, die aber auch auf rein beraterischer Ebene zu ei-

nem guten Stück durchführbar gewesen wäre. Für dieAnwendung der WSM selbst und für die Verankerung desWillens war der therapeutische Abschnitt nicht erforderlich.

Wichtig in der Anwendung der Methode ist, dieFragen klar und mit Beharrlichkeit zu stellen und siein der Konkretheit zu halten. Dies kann natürlich zu einerKonfrontation führen, wie sie im Gespräch mit Herta auchzu Tage trat. Wichtig ist dabei nur, daß der Berater/Thera-peut den Klienten Bewegungsfreiheit läßt und es auf kei-nen Fall auf einen Machtkampf hinauslaufen darf. Dannwürde der Beratungszweck entfremdet. Dafür ist wohleinige Selbsterfahrung für den Anwender erforderlich.

Gerade dieses Beispiel zeigt auch, wie komplex dasWillensgeschehen des Menschen ist, und wie umfassendes das Leben beeinflußt. Wie viele Vorentscheidungen, Hal-tungen, Einstellungen, psychodynamische Kräfte und äu-ßere Zwänge spielen in der Willensfindung zusammen! Icherlebe es immer wieder als ein Abenteuer, den Menschenin das Dickicht und in die Tiefe dieser Strebungen folgenzu dürfen und mit den Fragen, Eindrücken und Überle-gungen etwas Licht in das Dunkel der Existenz zu brin-gen.

Dr. med. Dr. phil. Alfried LängleEduard Sueßgasse 10

A -1150 Wien

Literatur

Frankl, V. E. (1982a): Die Psychotherapie in der Praxis. Wien:Deuticke

Frankl, V. E. (1982b): Ärztliche Seelsorge. Wien: Deuticke.Frankl V. E. (1984): Diskussion mit V. Frankl. In: Längle A., Vessely

G. (Hrsg.): Der Wille zum Sinn. Wien: GLE-Verlag, 41-51Herkner, W. (1978): Einführung in die Sozialpsychologie, Bern: HuberKolbe, Ch. (2000): Perspektiven-Shifting. In: Existenzanalyse 17, 1,

17-20Längle, A. (1984a): “Anatomie” einiger psychotherapeutisch wichti-

ger Barrieren. In: Längle A., Vessely G. (Hrsg.): Der Wille zumSinn. Wien: GLE-Verlag, 4-15

Längle, A. (1984b): Der Wille zum Sinn. In: ebd., 28-33Längle, A. (1984c): Gibt es “Sinn-Barrieren”? In: ebd. 52-57Längle, A. (1986): Einstellungsänderung. Unveröffentlichtes Manu-

skript für AusbildungslehrgängeLängle, A. (1988): Wende ins Existentielle. Die Methode der Sinner-

fassung. In: Längle, A. (Hrsg.): Entscheidung zum Sein. Viktor E.Frankls Logotherapie in der Praxis. München: Piper, 40-52

Längle, A., Probst, C. (1997): Was sucht der Süchtige? Beweggründeund Ursachen aus existenzanalytischer Sicht. In: Längle A., ProbstC. (Hrsg): Süchtig sein. Entstehung, Formen und Behandlung vonAbhängigkeiten. Wien: Facultas, 71-90

Anm. 3: Es mag interessieren, daß Herta in der Existenzskala ein halbes Jahr zuvor folgende Werte (Prozentränge) hatte:SD 34 ST 62 P 46 F 61 V 26 E 37 G 38Dabei fällt der niedere Wert in V und die relativ hohen Werte in ST und F auf – ein Bild, wie wir es vom Narzißmus kennen: hohesEinfühlungsvermögen, gute Fähigkeit, sich Freiräume und Möglichkeiten aufzutun, wenig Verbindlichkeit und relativ wenig Selbst-Distanz.

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Perspektiven-ShiftingMethode zur Arbeit mit primärer Emotionalität

und unbewußten StellungnahmenChristoph Kolbe

Diese Methode kann helfen, mit abgewehr-ter primärer Emotionalität und unbewuß-ten Stellungnahmen zu arbeiten. Dabei setztsie zunächst innerhalb der Existenzanalysebeim Einstieg in die Personale Existenz-analyse an: der phänomenologischen Ana-lyse. Die Methodik beruht darauf, aus eineranderen als der vertrauten Perspektive einEreignis anzuschauen. Damit kann es mög-lich werden, über die bislang verfestigte In-terpretation zu diesem Ereignis den Ein-drucksgehalt in seiner Wirkung neu zu erle-ben bzw. wahrzunehmen, um anschließendzu neuen Stellungnahmen zu gelangen.

Schlüsselwörter: Methodik zur Arbeit mitprimärer Emotionalität, Selbstdistanzierung,Biographie, Stellungnahme, Einstellungs-modulation

Folgende Beobachtung innerhalb meiner psychothera-peutischen Praxis war Ausgangspunkt für ein Vorgehen, dasich zunächst intuitiv anwandte und schließlich als metho-disches Vorgehen entwickelte:

Innerhalb der biographischen Arbeit berichteten Patien-tinnen und Patienten merkwürdig gefühllos von Erfahrun-gen und Erlebnissen ihrer Kindheit. Die Art dieser Berich-te auf dem Hintergrund der Kenntnis des betreffendenMenschen machte auf mich den Eindruck, daß hier Erfah-rungen in ihrer Bedeutung für das eigene Erleben nicht er-faßt worden waren, sondern vielmehr abgewehrt wurden.

Die Patienten berichteten zum Beispiel davon, daß siegeschlagen wurden, allein gelassen wurden, in ihrer Hilf-losigkeit nicht gesehen wurden und dann zusehen mußten,wie sie mit ihrem Erleben und ihren Bedürfnissen alleinezurecht kamen. Zu diesen Erlebnissen und Erfahrungenerfolgte oft jedoch eine bagatellisierende oder sehr distan-ziert anmutende Stellungnahme. In der Art der Schilderungwurde die Bedeutung, die dieses damalige Erlebnis für die-sen Menschen hatte, gar nicht deutlich. Es schien abge-wehrt. Dies mag wichtig gewesen sein für das Kind, umangesichts der Erfahrungen und Erlebnisse damals nichthoffnungslos ausgeliefert und hilflos zu sein. Abwehr istdann der Schutz, angesichts der Folgen eines Eindrucksnicht verzweifeln zu müssen. Wo dieser Schutzmecha-

nismus der Abwehr sich jedoch verfestigt, behindert er dieEntwicklung und Reifung des erwachsenen Menschen.

Diese Blockaden zu erkennen und aus dem Weg zuräumen, ist eine der Hauptaufgaben der psychotherapeuti-schen Arbeit. Hierzu soll die jetzt vorgestellte Methodikhilfreich sein.

Die Beobachtung war nun die: Wo eigentlich eine Be-troffenheit aufgrund eines Erlebnisses oder einer Erfah-rung hätte vorliegen müssen, konnte dies möglich werden,wenn die Perspektive des oder der Betreffenden verändertwurde.

Ein Beispiel:

Eine Patientin, Anfang 50, berichtete von ihrer Mutter.Diese war inzwischen pflegebedürftig, und die Patientinwunderte sich selbst, daß sie als einziges Geschwisterkindso gut mit der Mutter umgehen konnte. Bei genaueremHinsehen zeigte sich jedoch, daß die Pflege vornehmlichauf Pflichtgefühl und der Erfahrung beruhte, endlich ein-mal der Mutter gegenüber überlegen zu sein. Diese hattedie Patientin insbesondere in der Kindheit terrorisiert, esgab viel Schläge, sie fühlte sich als Kind weder angenom-men noch in ihren Bedürfnissen gesehen. Aggressive Im-pulse gegen die Mutter wurden nie gewagt (sog. Abwehr-

This method may help in working on sup-pressed primary emotions and subcon-scious forming of opinions. The pheno-menological analysis, which is the starting-point in the Personal Existential Analysis,serves as an entrance here as well. Themethod consists in looking at an event froma new perspective. This makes it possibleto experience its phenomenological contentin a new way, i.d. beyond the accustomedinterpretation, and, finally, to form alteredopinions.

Key-words: method of working with primaryemotions, self-distancing, biography,forming of opinions, modification ofattitudes

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mechanismus der Reaktionsbildung, d.h. nicht Aggressi-on, sondern Fürsorge wurde gelebt). Die Patientin wußtejedoch genau, daß sie zu ihren eigenen Kindern anders seinwollte, als ihre Mutter zu ihr. Das gesamte Erscheinungs-bild der Patientin war stark depressiv. In der Folge wurdedeutlich, daß sie ihre ganze Wut gegen die Mutter bislangkaum wahrgenommen hatte. Siedurfte nicht sein. Dies hindertesie auch, sich anderen gegen-über deutlich abzugrenzen. Soschien es ratsam, im therapeu-tischen Prozeß an diese Wut zugelangen. Auf meine Frage, wiesie sich als Kind gefühlt habe,antwortete sie rational, indem siezwar ihr Ausgeliefertsein als et-was Schreckliches schilderte,aber ansonsten sich sehr schnellin Verständnisbeteuerungen ge-genüber ihrer Mutter erging. Ichbat sie nun, sich vorzustellen,dies alles hätte ihre Enkeltochter,die sie sehr liebte, erlebt. Und ich bat sie, sich einzufüh-len, wie es ihr wohl gehen mochte, was sie gegenüber ihrerMutter empfinden würde etc. Mit diesem Hinweis kam siezuerst an das Gefühl der Hilflosigkeit, im Laufe des Ge-sprächs dann auch an ihre Wut gegen eine solche Behand-lung, an das Aufbegehren gegenüber einem so ungerech-ten Umgehen. Schließlich bat ich sie, sich nochmals selbstals fünfjähriges Mädchen, als kleine Martha (der Name istfrei gewählt) vorzustellen. Plötzlich wurde das Erlebenihrer Wut immer lebendiger. Sie konnte sie zum ersten Malselbst sehr deutlich spüren, ohne sie gleich wieder weg-schieben zu müssen. Wir haben anschließend die Gründefür diese Verdrängung bearbeitet, die depressiveSymptomatik verschwand zusehends. In einer der letztenSitzungen berichtete sie mir, wie sie ihre Rechte gegen-über einer Kollegin öffentlich vertreten konnte - zum er-sten Mal ohne Schuldgefühle.

I. Vorgehensweise / Anwendung

Die Methodik beruht darauf, aus einer anderen als derbislang vertrauten Perspektive ein Ereignis anzusehen (zueiner ähnlichen Idee der Perspektivenverschiebung imKontext biographischer Arbeit, der Futur-II-Perspektivevgl. auch Blankenburg, 1989, 76-84). Damit kann es mög-lich werden, über die bislang verfestigte Interpretation zudiesem Ereignis den Eindrucksgehalt in seiner Qualität undWirkung neu zu erleben bzw. wahrzunehmen.

Methodisch sind hier verschiedene Nähegrade möglich.Zunächst ist Abstand zu nehmen von der gewohnten

Bewertung. Dies ist jedoch vom Therapeuten bzw. derTherapeutin nicht mit dem Patienten zu diskutieren. Er odersie bietet vielmehr dem Patienten eine neue Perspektive an.Dabei ist das Gespür wesentlich, wo und wie der Patientansprechbar ist.

Ist beispielsweise das Kind, das er mal war, sehrbewußtseinsnah, so kann man ihm diese Perspektive an-bieten: Was mag der kleine Junge oder das kleine Mädchendamals empfunden haben? Wie mag es der kleinen Elisa-beth oder dem kleinen Manfred dabei gegangen sein? Diedirekte Anfrage über den eigenen Namen mit der

Attribuierung des oder der Klei-nen grenzt den Kontext der Ein-drücke ein. Die Patientin oderder Patient können es erleben,einmal nur als bspw. bedürftigesoder auch vermögendes Kindfühlen zu dürfen. Außerdem er-möglicht diese Art der Anspra-che eine gewisse Unmittelbar-keit, der nicht ohne weiteresausgewichen werden kann. VomTherapeuten wird also sehr be-wußt ein Blickwinkel angebotenund festgehalten, über den derPatient selbst in seiner für ihngewohnten Weise in der Regel

schnell hinweggehen bzw. hinwegsehen würde. Somitnimmt er sich in einem für ihn bedeutsamen Bereich nichtadäquat wahr.

Das bislang geschilderte Vorgehen präzisiert also die an-sonsten häufig in der Therapie gestellte Frage „Wie ist esIhnen damals damit gegangen?“ zur Frage „Was hat die kleineElisabeth dabei empfunden?“. Damit ergeht ein klaresIdentifikationsangebot, mit dem der Patient neu erspürenkann, wie es ihm ging, welche Bedeutung ein Ereignis fürihn hatte. Bestimmte bislang gültige Gesichtspunkte (Werte)werden im Augenblick ausgeblendet oder zurückgestellt, damitneue Wertberührungen ins Bewußtsein treten können. (Die-ses Vorgehen findet sich in der Regel ebenso bei aktiv ge-führten imaginativen Zugängen. Die Imagination ist dannquasi „das Kleid“ dieser Methodik. Ziel ist damit das Erhel-len vorbewußter Empfindungen.)

Nun ist im therapeutischen Arbeiten relativ häufig zubeobachten, daß der bislang beschriebene Blickwinkel nochals zu gefährlich erlebt und deshalb abgewehrt wird. Hierbietet sich jetzt die Möglichkeit, die Perspektive so zuverschieben, daß eine Bezugnahme zum Ereignis und da-mit zur primären Emotionalität möglich werden kann.

Einige Fragestellungen sollen als Beispiele dienen:Stellen Sie sich vor, der Sohn oder die Tochter Ihrer

Freundin (der Neffe oder die Nichte) würde dies erleben?Wie würde es ihm oder ihr wohl gehen? Oder wieder et-was dichter: Wie würde es Ihrem Sohn oder Ihrer Toch-ter gehen, wenn sie das erlebten? - Das Einfühlen in dieErlebnisweise eines nahestehenden Menschen, der auf Hilfeund Verständnis angewiesen ist, fällt oft leichter, da mannicht wie selbstverständlich voraussetzt, daß man selbstan allem Schuld sei und sich nur zu helfen wissen solle.

Weiterführende Fragen könnten sein: Was wäre IhrImpuls als Mutter oder Vater dieses Kindes? Was brauch-te es? Was würden Sie ihm am liebsten geben? - Mit die-

PERSPEKTIVENSHIFTING

Methodik- Angeleitete Perspektivenverschiebung zu

einem Sachverhalt oder Ereignis in der Bio-graphie oder der aktuellen Lebenssituation,so daß eine Neubewertung möglich wird

Ziel- Hinführung zu primärer Emotionalität- Ermöglichung personaler Stellungnahme

zu einem Sachverhalt oder Ereignis auf-grund eines erweiterten Eindrucksgehaltes

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sen Fragen können Bedürfnisse nach Geborgenheit,Gehaltensein und Beistand geborgen werden, die für ein‘fremdes’ Kind unmittelbar einleuchten, sich selbst aberoftmals nicht eingestanden werden - vielleicht aus derErfahrung und der daraus erwachsenen Angst, genau dasnicht zu bekommen, wonach man sich im Grunde sehnt.

Ein anderer Fragehorizont wäre: Würden Sie so mitIhrem Kind umgehen, wie Ihre Mutter oder Ihr Vater esgetan haben? Warum nicht? Was würden Sie den Elterndann am liebsten sagen? Oder: Was würden Sie IhrerFreundin sagen, wenn sie so mit ihrem Kind umginge? -Mit dieser Frage können aggressive Impulse gegen bislangunantastbare Bezugspersonen geborgen werden. Zum Bei-spiel: „Ich fände es unmöglich, wenn meine Freundin somit ihrem Kind umgehen würde. Ich würde sie zur Redestellen.“ In der psychotherapeutischen Arbeit würde danndaran zu arbeiten sein, was es so schwer macht, diesenImpuls z.B. den eigenen Eltern gegenüber wahrzunehmenund wahrzumachen.

In der Anwendung dieser Methodik habe ich nun imwesentlichen zwei Reaktionen beobachten können: Die ei-nen Patienten konnten sofort einen entsprechenden Bezugzum eigenen Erleben herstellen. Über die Identifikation mitdem ‘fremden’ Kind war der Bezug zum eigenen Erlebenhergestellt, was sich plötzlich in starker Betroffenheit, Trä-nen o.ä. äußerte. Dies geschah mehrfach völlig unmittel-bar. Eine Patientin, die an ihr emotionales Erleben als Kindzunächst gar nicht herankam, äußerte nach diesem metho-dischen Vorgehen spontan: „Jetzt bin ich gepackt!“ Fürandere Patienten wurde es möglich, die eigene Betroffen-heit zu bergen, als ihnen die Diskrepanz zwischen demmitfühlenden Verstehen mit dem Kind und dem distanzier-ten eigenen Erleben deutlich wurde. Dieses distanzierteeigene Erleben verlor aufgrund der in der Therapie gemach-ten Erfahrung seine bislang gültige Selbstverständlichkeit.

II. Wirkweise

Die Methodik beruht auf folgenden Grundideen:

1. Um ein Phänomen in seinen verschiedenen Facettenbetrachten zu können, ist es notwendig, unterschiedlichePerspektiven einzunehmen. Dies ist möglich aufgrund derFähigkeit des Menschen zur Selbstdistanzierung, wie siein der existenzanalytischen Literatur beschrieben wird (vgl.u.a. Frankl, 1987, 61ff.). Innerhalb der Verarbeitung vonErfahrungen sind bestimmte Aspekte oft abgewehrt. Einneuer, anderer Blickwinkel ermöglicht einen Zugang zudiesen bis jetzt abgewehrten Aspekten. Damit wird die bis-her gültige Verarbeitung der Erfahrung nicht diskutiert oderweggeredet, sondern vielmehr anders angeschaut. Dies istentängstigend, da die eigene Position nicht zwangsläufigaufgegeben werden muß. Es braucht vielmehr nur eineandere Position eingenommen zu werden.

Der erste Wirkfaktor basiert also auf einer Selbstdistan-zierung von der gewohnten Betrachtungs-, Beziehungs-und vor allem Vorstellungsebene. Es handelt sich deshalbum eine Distanzierung von bislang üblichen Stellungnah-men (zur Bedeutung unbewußter Stellungnahmen für diebiographische Arbeit vgl. auch C. Kolbe, 1994, 41ff.).

2. Wenn der Spielraum für die mögliche Wirkung vonPhänomenen auf die Person vergrößert ist, wird - im Bildgesprochen - auch die Plattform für die verschiedenenmöglichen Bedeutungsgehalte eines Phänomens größer.Anders ausgedrückt: Je weniger bedroht ein Mensch sicherlebt, desto mehr kann er es sich leisten, in Ruhe undGelassenheit (nicht: Gleichgültigkeit) ein Ereignis in sei-ner Wirkung auf sich wahrzunehmen. Es entsteht im the-rapeutischen Arbeiten auf diese Weise ein geschützterRaum, der nicht gleich wieder diskutiert, angegriffen, in-terpretiert, rationalisiert etc. wird. Aus der Angst, diesenRaum der Wirkwahrnehmung nicht halten zu können, wirder ja in der Regel verdrängt. Der Patient kann jetzt dieErfahrung machen: „Das, was ich wahrnehme, darf sein,darf ich so erleben!“.

FRAGEMÖGLICHKEITEN

* Perspektive unmittelbarer Betroffenheit (Nähegrad I)

Aus dem direkten Blickwinkel des Betroffenenfragen:- Wie hat der kleine Junge / das kleine Mädchen das

wohl erlebt? (ggf. mit Namensnennung, um esnoch konkreter werden zu lassen)

- Was hat er / sie dabei gefühlt?- Was hätte er / sie gebraucht?- Wonach hat er / sie sich gesehnt?

* Perspektive mittelbarer Betroffenheit (Nähegrad II)

Aus einem sich mit dem Betroffenen identifizieren-den Blickwinkel fragen:- Wenn das Ihrem Kind geschähe, wie mag es

dieses Kind empfinden?- Wie würde es reagieren? Was würde es tun?- Wie würde es Ihnen anstelle des Kindes gehen?

* Perspektive erweiterter mittelbarer Betroffenheit (Nähegrad III)

Aus einem für den Betroffenen Sorge tragendenBlickwinkel fragen:- Wie würden Sie als Geborgenheit gebende Mutter

bzw. gebender Vater auf dieses Ereignis reagieren?Was würden Sie für das Kind tun?

- Wenn Sie der Anwalt dieses Kindes wären, waswürden Sie ihm geben? Was würde es Ihrer Mei-nung nach brauchen? Wie mag sich das Kind ohnedas fühlen?

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Der zweite Wirkfaktor arbeitet mit einer Vergrößerungder personalen Eindrucksebene. Die Dinge und Ereignisseerhalten mehr Raum, in ihrer persönlichen Wirkung undBedeutung wahrgenommen werden zu können. Dies ent-spricht dem ersten (Deskription) und zweiten (phäno-menologische Analyse) Schritt der Personalen Existenz-analyse (vgl. Längle, 1993, 149).

3. Das therapeutische Arbeiten hat deshalb die Aufga-be, dem Patienten einen solchen geschützten Raum anzu-bieten, der von ihm akzeptiert und angenommen werdenkann. Dies setzt ein gutes therapeutisches Gespür voraus.Deshalb helfen hier methodisch-mechanistische Vorgabennicht weiter. Der Therapeut bzw. die Therapeutin hat zuspüren, wo ein Patient steht, welche Perspektive zu of-fen, welche zu weit, welche zu bedrohlich oder welche zuwenig relevant wäre. Um diesen Raum zu schaffen, arbeitetdie hier vorgestellte Methodik nun mit verschiedenen Hal-tungen, die Menschen anderen Menschen oder der Welt ge-genüber einnehmen und die eine gewisse Eindeutigkeithaben und dem Patienten deshalb therapeutisch angebotenwerden. Zum Beispiel die Haltung des bedürftigen Kindes,der väterlichen oder mütterlichen Fürsorge, der Freundinoder des Freundes, des Anwalts oder des Verteidigers. DerRaum für die personale Eindrucksebene wird also nichtbeliebig erweitert, sondern um persönlich bedeutsameBlickwinkel ergänzt und anschließend einer neuen Stellung-nahme zugeführt. Dies ermöglicht dann die sog. integrier-te Emotionalität innerhalb der Personalen Existenzanalyse(vgl. Längle, 1993, 143).

Der dritte Wirkfaktor arbeitet also mit unmittelbar ein-leuchtenden Haltungen, die dann in ihrer Relevanz, in ih-rem persönlichen Bedeutungsgehalt angeschaut werdenkönnen. Es ist also nicht so, daß die Haltung den Eindruckmacht! Sie bietet vielmehr eine Voraussetzung, auch ein-mal unter dieser Perspektive zu schauen und sich berüh-ren zu lassen.

4. Das entscheidende Moment dieser Methodik bildetnun die Möglichkeit, die Dichte des Raums für Betroffen-heit zu gestalten. Phänomene, die ichnah als überaus ge-fährlich erlebt werden, werden mit einem erweitertenIdentifikationsangebot zugänglicher, beobachtbarer, in ih-rer Bedeutung als ungefährlicher erlebt: Wenn ich mir vor-stelle, daß es nicht um mich geht, sondern um das Kindmeiner Freundin, spüre ich vielleicht deutlicher, wie schutz-bedürftig es ist, wie es u.U. leidet, wie es sich nicht auto-matisch selber helfen kann, wie es auf Beistand angewie-sen ist, wie schwer es ist, dem Erwachsenen etwas deut-lich zu machen. Ich spüre vielleicht auch deutlicher, daßich mich mit meiner Freundin besser und selbstverständ-licher auseinandersetzen kann als mit den eigenen Eltern.

Als vierter Wirkfaktor wird deshalb das Phänomen derSelbsttranszendenz bedeutsam. Gleichzeitig werden diepersonalen Grundmotivationen transparenter. Das heißt:Störungen auf der Ebene der personalen Grundmotivationentreten deutlicher zutage. Z.B. Warum leuchtet es mir für

einen anderen Menschen unmittelbar ein, daß er ein Rechthat, so sein zu dürfen, aber für mich nicht? Diesem The-ma kann dann in der therapeutischen Arbeit nachgegangenwerden.

5. Nicht fremde Perspektiven oder Lebenssituationensind zu diskutieren oder zu erwägen, vor dieser Gefahr istzu warnen. Sie bilden lediglich die Folie, einmal vor die-sem Hintergrund das eigene Erleben anzuschauen. Diessetzt die Fähigkeit des Patienten voraus, sich selbst in dieserWeise einlassen und einfühlen zu können, einen solchenWeg mitgehen zu können - samt anschließender Übertra-gung auf das eigene Leben. Hier zeigt sich ansonsten noch-mals, ob die Perspektive gut oder unzutreffend gewählt waroder ob die Abwehr immer noch sehr groß ist.

III. Indikation

Indikationsfeld ist die Störung der Eindrucksebene auf-grund abgewehrter primärer Emotionalität. Dies zeigt sichin der Unfähigkeit, mit einem Ereignis Beziehung aufzuneh-men, sich einlassen zu können. Weitere Indikation für denEinsatz dieser Methodik sind fixierte Stellungnahmen, diedem phänomenalen Gehalt eines Ereignisses nicht oder nurteilweise gerecht werden.

Erfahrungen mit der Anwendung dieser Methode desPerspektiven-Shifting habe ich bislang vornehmlich inner-halb biographischer Arbeit gesammelt. Es bleibt zu beob-achten, inwieweit sie über diesen Rahmen hinaus Anwen-dung finden kann. Theoretisch ist dies denkbar, praktischnoch zu erproben.

Dr. Christoph KolbeBorchersstr. 21

D-30559 Hannover

Literatur

Blankenburg, W. (1989): Futur-II-Perspektive in ihrer Bedeutung fürdie Erschließung der Lebensgeschichte des Patienten. In: Blanken-burg, W. (Hrsg.): Biographie und Krankheit. Stuttgart New York,76-84

Frankl, V. E. (1987): Logotherapie und Existenzanalyse. MünchenKolbe, C. (1994): Stellungnahmen aufgrund biographischer Erfahrun-

gen in ihrer Bedeutung für das aktuelle Handeln. In: Kolbe, C.(Hrsg.): Biographie. Verständnis und Methodik biographischerArbeit in der Existenzanalyse. Wien: Tagungsbericht Nr. 1/1992der GLE, 34-46

Längle, A. (1993): Personale Existenzanalyse. In: Längle, A. (Hrsg.):Wertbegegnung. Phänomene und methodische Zugänge. Wien:Tagungsbericht Nr. 1 und 2/1991 der GLE, 133-160

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Phänomenologische Dialogübung (“Sesselmethode”)

Alfried Längle

Die Suche nach einer gezielten Übung zurMobilisierung der Selbsttranszendenz(Frankl) führte im Rahmen der logo-therapeutischen Praxis zur Entwicklung der“Phänomenologischen Dialogübung” (PD),die sich bei den Studenten unter dem Na-men “Sesselmethode” eingebürgert hat. ImVerständnis der heutigen Existenzanalyse istihr Aufgabenbereich in der ersten Grund-motivation angesiedelt.Das Ziel der Methode ist, die Weltoffenheitin einem überschaubaren Rahmen zu üben.Dabei wird die Wahrnehmung und Wirkungdes unmittelbaren Weltbezuges ausschnitt-haft vertieft und mit Hilfe der Dialogik ver-ankert. Über diese phänomenologischeWeltrepräsentanz können diagnostische,therapeutische und pädagogisch-übendeAufgaben angegangen werden. Klarheit,Ruhe, Vertrauenszuwachs und Sicherheit inder Wahrnehmung sowie eine fühlbare Nähedes Weltbezuges sind die unmittelbaren undangestrebten Ergebnisse der Anwendung.

Schlüsselwörter: phänomenologische Hal-tung, Wahrnehmung, Weltoffenheit, übendeVerfahren

In the search of methods for mobilizing thehuman capacity of self-transcendence(Frankl) as the anthropological potency forexistence, the ”Phenomenological DialogueExercise (PDE)” has been developed.It has been dubbed by students as the ”Arm-Chair Method”. According to the currentunderstanding in existential analysis it findsits application in the first fundamentalmotivation. The purpose of this method isto practice perceptivity (openness to theworld) within a limited framework. Throughthe exercise the perception and the effect ofthe direct world-contact can be deepenedand anchored in a personal dialogic attitude.This phenomenological representation ofthe world opens the way for approaching(tackling) diagnostical, therapeutical andpedagogical-training tasks. The immediateand desired results of this process areclarity, tranquility (calmness), gaining of con-fidence, security of perception as well as asensible grasp of one’s relation to the world.

Key-words: phenomenological attitude,perception, openness to the world, trainingmethods

Problemstellung und Entstehungsgeschichte

Fast gleichzeitig mit der Entwicklung der Willens-stärkungsmethode (Längle 1986a, 2000) wurde die Metho-de der Phänomenologischen Dialogübung entwickelt(Längle 1987). Anlaß dazu war das Problem fehlenderSelbsttranszendenz bei Patienten. Es fanden sich nämlichin der Praxis oft Menschen, deren zugrundeliegende Pro-blematik in einem gestörten Weltbezug verwurzelt war. Siewaren ständig mit ihren Erwartungen, Forderungen, Wün-schen und Vorstellungen beschäftigt, litten an einem Man-gel an Vertrauen und Sicherheit, Einfühlung und dialogi-scher Offenheit. Wie konnte ihnen zu einem sinnvollenExistenzvollzug verholfen werden?

Solche Patienten sind nicht in der Lage, den existenti-ellen Sinn der Situation ausfindig zu machen. Sie verwech-

seln Sinn regelmäßig mit ihren Projektionen, Zielvorstellun-gen und Wünschen und orientieren sich in ihren Entschei-dungen vorwiegend an ihren intrinsischen Vorgaben. DieSinnthematik prallt daher an ihrer Verschlossenheit und/oderängstlich besorgten Intransingenz regelrecht ab, ohne eineinnere Bewegung auszulösen. Doch geht es den Patientendabei nicht gut, und ihr Verhalten wirkt ängstlich, manipu-lativ oder zielautonom. Auch die Umgebung leidet häufigunter der fehlenden Abstimmung mit den situativen Ansprü-chen. Die Patienten haben diverse Symptome wie Angst,Einsamkeit, Abhängigkeiten und nicht selten psychosoma-tische Beschwerden. Neben diesen diffusen und zumeistschwer klassifizierbaren “Symptomschwebungen” führt dergestörte Weltbezug natürlich auch zu eindeutig klassifizier-baren Störungen der Neurosen, Psychosen, Persönlichkeits-störungen und Süchte. Dort steht jedoch in der Praxis die

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problemorientierte, diagnosespezifische Behandlung im Vor-dergrund. Für jene Fälle hingegen, die “verwaschene” Bil-der boten, hatten wir früher in der Logotherapie keinen auf-bauenden und die personalen Fähigkeiten mobilisierendenZugang.

Unter der logotherapeutischen Maxime der Sinnsucheund Zukunftsorientierung widmeten wir uns noch Mitte der80iger Jahre weniger den Problemanalysen und ihrer bio-graphischen Aufarbeitung. Dieser methodischen Restrikti-on gemäß lag das Augenmerk darauf, dieSelbsttranszendenz auf direktem Weg zu mo-bilisieren. Doch Kognition, Gespräch über ihreBedeutung und Reflexion des Verhaltens führ-ten zu wenig greifbaren Ergebnissen, obwohloft rationale Einsichten durchaus erzielbar wa-ren. Aber sie “griffen” nicht. Wir brauchteneinen erfahrungsbezogenen Zugang, mit dem das Konzeptder Selbsttranszendenz geübt werden konnte.

Nach dem Prinzip der Eingrenzung des Horizontes aufden gut überschaubaren und beherrschbaren Rahmen, dasvielen psychologischen und psychotherapeutischen Metho-den zu Grunde liegt und auf das ich mich auch schon inmeiner ersten fachspezifischen Publikation über denGrundwert bezog (Längle 1984), begann ich die Patientenauf das unmittelbare “In-der-Welt-Sein” hinzuweisen undin diesem Rahmen mit ihnen zu arbeiten. Bei allen Gesprä-chen über die Probleme sollte dadurch der aktuelle Welt-bezug nicht außer Acht gelassen werden und zumindestzwischendurch miteinbezogen werden, was gleichzeitigeine Einübung der Selbsttranszendenz darstellte.

Der unmittelbare, direkt erlebbare Weltbezug des Pati-enten ist natürlich der Sessel, auf dem er während despsychotherapeutischen oder beraterischen Gesprächs sitzt.Ich begann daher Übungen einzuschalten, in denen diePatienten auf diesen ihren unmittelbaren Weltbezug auf-merksam gemacht wurden und Bedacht nehmen konnten.Es ergaben sich beruhigende Effekte, Klärungen und neueEinstiege in die Problemfelder. Daneben traten aber auchSchwierigkeiten mit den Übungen, Widerstände oder zu-nehmende Unruhe auf. Sie boten ebenfalls Stoff für wei-tere Gespräche, führten aber zu einer raschen Beendigungder Übung.

Das Erleben und der Umgang mit der “Welt”, symbo-lisiert im Sessel, bot eine neutrale Projektionsfläche inner-psychischer Vorgänge und Schemata. Mit der Zeit wurdedas methodische Vorgehen präziser und umschloß basaleElemente des In-der-Welt-Seins: Das Ruhen, die

Offenständigkeit, die Ansprechbarkeit, die Stellungnahme,die Anwort, den Dialog. Die viel spätere Ausformulierungder Personalen Existenzanalyse - PEA (Längle 1993) stell-te dann eine Präzisierung der Grundvariablen des Existenz-vollzuges dar. Im Konzept der Phänomenologischen Dialog-übung (PD) war sie bereits 1987 angelegt (Anm.1).

Die Gesprächstechnik der Existenzanalyse hat sich imVerlauf der Jahre gewandelt. Wir sind heute nicht mehrbemüht, die Selbsttranszendenz direkt zu stärken und zu

fördern. Wir arbeiten in der Psychotherapiesehr problemorientiert – vielleicht manchmalzu wenig ressourcenorientiert – und bindendie biographische Entwicklung selbstverständ-lich mit ein. Dadurch wird die Selbst-transzendenz und Existentialität des Menschen“wie von selbst” aus den krankhaften Blok-

kaden befreit. Die PD hat für diesen Zweck ihre Aufgabeverloren. Heute hat sie die Funktion in der Einübung indie phänomenologische Offenheit und Dialog-bereitschaft, in dem sie von einer äußerlichen Wahrneh-mung zu einer verinnerlichten Wahrnehmung (“Tiefen-schau”) führt. Sie ist außerdem ein existenzanalytischesDiagnostikum durch ihr Vermögen, Projektionen zu mo-bilisieren. Daneben ist sie ein Instrument zur Einübung vonVertrauen, Ruhe, Halt, Präsenz, wichtiger Elemente derersten Grundmotivation. Somit bereitete die ursprüngli-che logotherapeutische Aufgabenstellung den Weg zu ei-ner tieferen Struktur der Existenz vor, in deren Folgeselbsttranszendentes Menschsein möglich wird.

Hat die PD eine Verwandtschaft zu den klassischenlogotherapeutischen Methoden? – Eine Nähe zurDereflexion ist leicht erkennbar. Ich habe sie oft als einePräzisierung und Übung von Dereflexion bezeichnet, wasaber nicht ganz richtig ist. Viktor Frankl (1986, 160) defi-nierte die Dereflexion als “Abstellung alles bewußtenIntendierens”, also allen Hyperreflektierens (ebd. 54), umsich dadurch den Forderungscharakter zu nehmen. Dasgibt den Menschen wieder frei für das Sich-Einlassen aufSinn und Werte, denen er sich in der Dereflexion zuwen-den soll. Die PD hat nicht primär die Hyperreflexion oderdie Behandlung des forcierten Intendierens eines Zieles imVisier, von denen nun “dereflektiert” werden soll. Auchgeht es nicht um die Zuwendung zu Sinn und Werten, aufdie hin die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Sie istdaher keine “Dereflexion” im eigentlichen Sinn. Die PDstellt vielmehr eine “Übung” dar, durch die der Weltbezugintensiviert, die Erreichbarkeit der Person gefördert und

Kognitive Zugänge„greifen“ bei

fehlender Selbst-transzendenz

oft nicht.

Anm. 1: Erstmals wurde die Methode der Phänomenologischen Dialogübung 1987 auf einem Psychotherapiekongreß in Monte Cattini Termein Beisein von Viktor Frankl vorgestellt. In der Diskussion wurde von Kennern der Logotherapie kritisch angemerkt, daß sich das Konzeptder Methode von der klassischen Sinnfindung entferne, weil sie nicht mehr kognitiv sei. Es wäre erst noch zu prüfen, ob die darin angespro-chenen Elemente für die Sinnfindung substantiell seien. Frankl konnte sich an der Diskussion leider nicht beteiligen, da sie, wie auch derVortrag, auf italienisch stattfand. Im nachfolgenden Referat änderte Paul Watzlawick spontan seine Thematik, weil er den in meinem Referatangesprochenen Realitätsbezug als unvereinbar mit seinem konstruktivistischen Ansatz fand. Er stellte der subjektiven Erfahrbarkeit vonWelt, in der ein objektivistischer Zug enthalten ist, das konstruktivistische Konzept entgegen, das jeglichen Realitätscharakter von Welt inFrage stellt.

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das Erleben basaler Strukturelemente der Welt ermöglichtwerden soll.

Indikation

Aus der Einleitung ergibt sich bereits das Anwendungs-gebiet, das folgendermaßen gegliedert werden kann:

1. Funktionale Indikation:Übung zur Erweiterung, Vertiefung und inneren Veranke-rung der Wahrnehmung- Festigung der Evidenz- Ich-Verhaftetheit (verhaftetsein in Ansprüchen, Erwar-

tungen, Forderungen, Wünschen ...)- Hyperreflexion, Gedankenkreisen- Schwierigkeit, in Beziehung zu treten bzw. Beziehung zu

halten

2. Bei Problemen mit Vertrauen:- Mangel an Selbstvertrauen (Ich-Schwäche)- Vertrauensschwäche- Ängstlichkeit- Mißtrauen- Unsicherheit- Zwänglichkeit- Therapieresistenz

3. Bei klinischen Störungenwie Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Psychosen,Süchten, Ich-Schwäche

4. Diagnostische Hilfezur Abklärung von Störbereichen

Als Kontraindikation ist vor allem die akute Psycho-se zu nennen, die durch eine solche Methode intensiviertwerden kann. Es gibt jedoch eine Sonderform, die in derakuten Psychose Verwendung finden kann (Anm. 2). Alsrelative Kontraindikation sind schwere Neurosen undschwere Persönlichkeitsstörungen anzusehen, bei denen dieMethode entweder nicht greift oder starke Unruhe auslö-sen kann.

Mit dieser Methode soll die phänomenale Repräsentanzder Welt im unterschwelligen Wahrnehmungsbereich spür-bar und emotional erlebbar gemacht werden (vgl. Kasten).Es soll jene Weltoffenheit geübt bzw. gelernt werden,durch die die Dinge zu uns “sprechen” können, und durchdie wir sie in ihrer tieferen Bedeutung verstehen lernen.Nicht in den Griff sollen sie genommen werden, sondernin ihrer Aussage und Bedeutung aus sich heraus verstan-den werden, um ihnen auf dieser Ebene begegnen zu kön-

nen. Rilke beschreibt dieses Phänomen des nicht zu sich“Sprechen-lassen-Könnens” so meisterlich in dem Gedicht„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.Sie sprechen alles so deutlich aus:Und dieses heißt Hund und jenes heißt Hausund hier ist Beginn, und das Ende dort.......Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fernDie Dinge singen hör ich so gernIhr rührt sie an: sie sind starr und stumm.Ihr bringt mir alle die Dinge um.

R.M.RILKE

Manchen in der Psychotherapie erfahrenen Patientensind Übungen von diesem Charakter z.B. aus der Gestalt-therapie, dem Fokusing oder anderen Richtungen bekannt.Auch besteht eine gewisse Ähnlichkeit zum AutogenenTraining. Das, was die PD unseres Wissens von den an-deren Übungen unterscheidet, ist die Weiterführung undZuspitzung im dialogischen Austausch, mit einer klaren,inneren Stellungnahme (vgl. Punkt 4 der Übung). DieserSchritt ist charakeristisch für die Existenzanalyse.

Vorbereitung der Übung

Zur Einleitung der Übung kann es hilfreich sein, denKlienten/Patienten darauf aufmerksam zu machen, daß essich um ein Entspannungsverfahren handelt, das vielleichtetwas ungewohnt ist. Manche Klienten und Patienten neh-men Anstoß daran, daß etwas so Banales wie der Sessel,

Anm. 2: Lilo Tutsch hat schon 1987 eine Sonderform der Anwendung der PD bei schizophrenen Psychosen entwickelt und praktiziert. DerUnterschied liegt vor allem darin, daß bei der Psychose die Weltstruktur nicht angefragt wird, sondern auf sie hingewiesen wird, was einenberuhigenden Effekt beim Psychotiker hat: z.B. “Sie fühlen die Sitzfläche, ... die Grenze zwischen Ihnen und dem Stuhl, die Härte desSitzens ... Sie spüren, wie Sie der Sessel hält, wie Sie ihm ihr Gewicht überlassen können ...”

Ziel der Übung:

Verstärkung des Weltbezugs und Haltfindungdurch:- Öffnung auf Welt- intentionales Erleben der Gegebenheiten der Welt

in ihrer Phänomenalität- Entwickeln eines Gespürs für die unterschwelli-

ge Bedeutung der Gegebenheiten, insbesondereihres Halts (“Einfleischung”)

- Stellungnahme und dialogischen Austausch auchaußerhalb der Worte (die Dinge zu sich “spre-chen” lassen)

- Fühlbarmachen von Vertrauen-Können undSelbst-Transzendenz

- Einüben einer Haltung des Dialogs- Kennenlernen innerer Prozesse und Dynamiken

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auf dem sie sitzen, zu ihnen “sprechen” können sollte –eine Vorstellung, die allenfalls aus der Märchenwelt bekanntist und daher als “kindisch” oder unrealistisch abgetanwerden kann. So ist der Hinweis, daß eine vielleicht unge-wohnte Schwelle bei der ersten Durchführung der Übungzu überwinden sei, hilfreich, sofern man mit solchen Me-thoden nicht vertraut ist. Wichtig ist die Information, daßdie Übung völlig ungefährlich ist und bewußt im Alltägli-chen angesiedelt ist und daher nichts Spektakuläres, son-dern nur ganz Schlichtes und Natürliches zu erwarten ist.Manche Patienten können der Übung besser folgen, wennder Erfolgsdruck genommen wird durch die Mitteilung, daßbei dieser Methode “nichts falsch gemacht” werden kann.Es gehe nicht darum, was sie erleben, sondern wie sie eserleben und wie es ihnen bei der Übung geht.

Eine Einleitung der PD kann daher etwa folgenderma-ßen lauten:

Um ... [Indikationsbereich angeben] ... vertiefen undetwas praktizieren zu können und vielleicht auch einenanderen Zugang dazu zu bekommen, möchte ich Ihnen eineÜbung vorschlagen, bei der es um Ihr Erleben in einementspannten Zustand geht. Sie können dabei nichts falschmachen, weil es nur darum geht, wie es Ihnen geht undwie Sie die Übung erleben. Die Übung dreht sich um et-was ganz Alltägliches, nämlich um die Wahrnehmung desSessels, auf dem Sie sitzen. Sie ist daher völlig ungefähr-lich. Wir werden versuchen, uns ganz zu entspannen (Anm.3) und in diesem entspannten Zustand den Kontakt mit demSessel zu vertiefen, indem wir uns auf ihn konzentrieren.Die ganze Übung dauert vielleicht 10 bis 15 Minuten. -Möchten Sie es versuchen? – Haben Sie noch Fragen? –Kennen Sie solche Übungen?

Wenn von Seiten des Klienten alles klar ist (und dasTelefon abgeschaltet ist, falls ein solches im Raum ist),kann mit der Einleitung des Hypnoids begonnen werden.Dies ist ein leicht entspannter Zustand bei wachem Bewußt-sein. Er erleichtert die Übung, weil das rationale Denkenzurückgeschaltet ist und eine Distanz zu den Alltagsbe-schäftigungen eingebaut wird. Dadurch wird mehr die re-zeptive Seite des Erlebens als die aktive Seite des Handelnsin den Vordergrund gerückt. Das Hypnoid ist bei den sen-sorischen Anwendungsformen der Übung hilfreich, wiedies bei der “Sesselmethode” der Fall ist, wird aber bei An-wendung mit Bildmaterial meistens weggelassen.

Das Hypnoid kann etwa so eingeleitet werden:

Setzen Sie sich nun bitte bequem hin, nehmen Sie dieArme von der Lehne, legen Sie sie auf die Oberschenkel,die Hände sollen sich möglichst nicht berühren, die Beine

nebeneinander auf dem Boden aufruhen. Achten Sie dar-auf, den Kopf in Mittelposition zu halten. Sie können diesaustesten, indem Sie den Kopf etwas nach vor- und rück-wärts beugen und darauf achten, in welcher Position Sieam wenigsten Kraft benötigen. Schultern sollen herabge-zogen sein. Die Sitzposition darf nicht drücken, Sie soll-ten das Gefühl haben, stundenlang so sitzen zu können.

Wenn Sie mögen, schließen Sie nun die Augen. AtmenSie tief aus. Beginnen Sie nun tief und ruhig zu atmen.Sie werden dabei spüren, wie Sie entspannter werden, wieSie ruhig werden, immer ruhiger, wie alles weit weg rücktund gleichgültig wird. – “Ich werde immer ruhiger. - Tiefund ruhig geht der Atem – es ist ganz angenehm – ich fühleeine wohlige Müdigkeit, in die ich mich sinken lasse – binganz ruhig – ganz angenehm – spüre eine gewisse Schwe-re aufkommen – alles wird gleichgültig und ist weit weg –angenehm – müde – immer ruhiger – tief und ruhig gehtder Atem.”

Nach etwa ein bis drei Minuten Entspannung (Achtung:das erste Mal brauchen die Patienten meistens länger, alsder wenig erfahrene Therapeut annimmt – achten Sie dar-auf, daß Sie selbst eine gewisse Entspannung zu spürenbeginnen) kann mit den Schritten der PD unmittelbar an-geschlossen werden.

Durchführung von PD

1. Feststellung des Faktischen (Orientierung und Ein-finden):“Ich bin da. Ich sitze. Ich sitze auf einem Sessel. Auf ihmsitze ich und bin ganz da.”Ruheverstärkung einstreuen: “Ich bin ganz ruhig; ganz an-genehm; alles andere ist ganz gleichgültig und weit weg.”

2. Kontaktaufnahme zur festgestellten Welt:das Hinfühlen [um das Wahrgenommene zur “Wirklich-keit” werden zu lassen]“Spüre ich das, worauf ich sitze? - Was fühle ich?Wie fühlt sich der Sessel an: die Sitzfläche, die Lehne? -Hart oder weich, warm oder kalt, weit oder eng, groß oderklein, hoch oder nieder, stabil oder wackelig?Was spüre ich vom Sessel, von seinem Bau, von seinem Ma-terial, von seiner Stabilität?”

[Im Einzelsetting: Beginn des Gesprächs an dieser Stelle:“Können Sie mir schildern, was Sie empfinden?”]

3. Semantik: Bedeutung erfassen, Heben des phäno-menalen Gehalts und Erspüren der Tiefenstruktur“Was gibt mir der Sessel zu verstehen? Was bedeutet erfür mich?Was bedeutet es für mich, wenn ich auf ihm sitze?

Anm. 3: Die Übung kann vom Therapeuten sowohl im Einzel- wie im Gruppensetting mitgemacht werden. Neben einem erholsamen Effektauf einen selbst hat dies auch den Vorteil, die Geschwindigkeit der Vorgangsweise besser abstimmen zu können. – In der Variante, wo mitdem Patienten ein Gespräch im Hypnoid begonnen wird, muß der Therapeut an der Stelle aus der Übung aussteigen.

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Wenn er sprechen könnte, was würde er mir sagen?Was sagt es, daß er da ist und ich darauf sitzen kann?Was macht er mit mir? Was tut er für mich?”

Zusammenfassende Rückfrage: “Spüre ich, was der Ses-sel jetzt für mich bedeutet?”Ev. wieder Verstärkung des Hypnoids: “Ich bin ganz ru-hig, ganz da, tief und ruhig geht der Atem.”

4. Stellungnahme: existentielles Sich-Einbringen“Kann ich das annehmen, was er mir sagt und was er mirbedeutet?Mag ich das? Ist es mir recht?- Was halte ich persönlichdavon?Was will ich ihm zur Antwort geben? Was möchte ich ihmsagen?”

Verstärkung: vor dem Übergang zum nächsten Punkt:“Spüre ich den Sessel noch?” [damit Aufmerksamkeit nichtin der Innenwelt bleibt]

5. Rückantwort und dialogischer Austausch“Wie ‚reagiert‘ der Sessel auf meine Stellungnahme? Was‚gibt‘ er mir nun zu verstehen? Was ‚sagt‘ er darauf? -Was sagen wir einander?Können wir in einen Austausch treten?”

6. Schlußphase: der existentielle Akt“Kann ich mich ihm überlassen? - Gerne? - Freiwillig?Spüre ich das Vertrauen?Will ich es auch geben? - Tue ich es auch: Überlaß ichmich dem Sessel, mit meinem ganzen Gewicht?”

7. Ausklang:“Wir bleiben noch einige Zeit in dieser Verbundenheit mitdem Sessel, bis es gut ist für mich.Wenn ich das innere Erleben dann gut sein lassen kann undich das Gefühl habe, daß es genug ist, dann öffnen wirwieder die Augen und strecken uns fest durch.”

8. Rücknahme des Hypnoids:Wenn die Augen wieder geöffnet sind: sich dreimal festdurchstrecken.

Erfahrungen und Kommentare in der An-wendung der PD

Zum Hypnoid:

Manche Patienten tun sich schwer in der Entspannung,manche haben Angst, können die Augen nicht schließen,andere beginnen zu lächeln oder zu lachen. Es bietet sichan, sich über diese Erfahrung sogleich auszutauschen bzw.noch einmal die Bereitschaft zur Übung zu klären. Es istoft auch möglich, einfach fortzufahren und dem KlientenZeit zu lassen sich einzufinden. Darüber soll das Finger-

spitzengefühl und die Erfahrung des Therapeuten/Beratersbefinden.

Ad 1. Einfinden und Feststellen des Faktischen:

Der Übergang von der (regressiven) Entspannungs-phase in den Weltbezug stellt eine kleine Unebenheit der,die als kleine “Erschütterung” empfunden werden kann.Es ist wie geistiges Aufwachen, da ein Versinken in derWortlosigkeit der psychischen Entspannung gestoppt wird.Darum ist es gut, den Einstieg langsam zu beginnen, umdem Klienten ein Sich-Umsehen zu ermöglichen. Die mei-sten Berater/Therapeuten geben nach der Hypnoid-Anlei-tung eine kleine Pause, um den Einstieg abzusetzen. An-dere bevorzugen einen lückenlosen Übergang und setzengleich nach der letzten Entspannungsformel mit dem er-sten Satz an: “Ich bin da. Ich sitze”. Da dieser Satz einegroße Selbstverständlichkeit darstellt, löst diese Feststel-lung nach ihrer Meinung keine größere Unruhe aus. Nacheiner kurzen Pause wird jedenfalls das intentionale Objektder Handlung (des Sitzens) miteinbezogen: “Ich sitze aufeinem Sessel.” Damit wird die Brücke zum Weltbezug ge-schlagen.

Anders als beim Autogenen Training, wo die Aufmerk-samkeit in der Binnenhafigkeit der Leiblichkeit und despsychischen Erlebens verbleibt, wird mit dieser Vorgabedie Aufmerksamkeit auf die Welt gelenkt. Man ist nun nichtmehr mit sich allein in wohliger Entspannung, sondern hatdie Spannung zu einem Pol von Andersartigkeit gefühls-mäßig zu bewältigen. Dieser Schritt ist für viele Patienteneine Hürde, kann Instabilität, Störung, Bedrohung bedeu-ten. Dies muß man sich als Therapeut bewußt halten, weilman sonst Phänomene wie Aussteigen, Lachen, Unruhe,Gedankenabweichen, Konzentrationsverlust nicht verstehenkann. Wenn diese Phänomene in der Beratungssituationwiederholt auftreten, empfiehlt es sich, von der weiterenAnwendung der Methode abzusehen, weil sie zu viel “Ma-terial” zu Tage befördert.

Nach diesem Schritt ist unbedingt wieder eine Ruhe-verstärkung einzustreuen. Es empfiehlt sich, in der erstenHälfte der Übung immer wieder Ruheverstärkungen zugeben, weil manche Patienten zu leicht ins Kognitive ab-gleiten oder unter andere Anspannungen geraten können.

Ad 2. Kontaktaufnahme:

In diesem Schritt wird die Wahrnehmung auf denSinneskanal des Fühlens konzentriert. Dadurch muß sichder Patient/Klient körperlich in die Welt einbringen und dieWelt an seinen Körper heranlassen. So leicht sich kognitivstrukturierte Menschen beim vorangegangenen Schritt tun,so schwer fällt ihnen dieser Schritt. Sie kommen nicht soleicht zu einem Erleben, sondern halten sich gerne weiter-hin im Denken über den Sessel auf. Gerade für dieseMenschen ist es wichtig, beispielhaft Konkretionen anzu-

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bieten, auf was sie beim Hinfühlen beim Sessel achtenkönnen.

Im Einzelsetting kann an dieser Stelle das Gespräch mitdem Patienten begonnen werden, ohne daß aus demHypnoid ausgestiegen wird oder die Augen geöffnet wer-den müßten. Das Gespräch stört die Entspannung nicht underlaubt ein individuelleres Eingehen und Vorgehen und einepräzisere Nachbesprechung.

Im Gruppensetting muß auf die direkte Aussprache ver-zichtet werden, weil der Bericht unterschiedlicher Erlebnis-weisen den Einzelnen aus seinem Prozeß reißen würde.

Die Rückmeldung der Klienten muß keineswegs derRealität entsprechen. Es ist wichtig und versteht sich vonselbst, daß durch den Berater/Therapeuten keinerlei Kor-rekturen angebracht werden oder dem Erleben des Klien-ten in irgendeiner Weise widersprochen würde. Es ist viel-mehr alles so zu nehmen, wie es der Übende sagt, und miteinem wohlwollenden “Mmh” in Empfang zu nehmen.Wenn man will, kann man sich auch Notizen machen,während der Patient spricht, wenn dadurch keine stören-den Geräusche entstehen.

Ad 3. Semantik:

Dieser Schritt führt nicht selten zum Erstaunen, wases hier alles zu vernehmen gibt. Manchmal entsteht aberauch Enttäuschung, weil nichts vernommen wird, weil allesstumm bleibt. Vereinzelt ärgern sich Klienten über dasAnsinnen, daß ein Sessel “sprechen” können soll. Manbleibt dann trotzdem in der Übung und wiederholt ruhigdie Frage in der Art: “Was sagen Ihnen die Tatsachen, dieSie am Sessel wahrgenommen haben? – Wenn der Sesseleine Sprache hätte, wenn er reden könnte, was würde erIhnen vermutlich sagen? Was glauben Sie?”

Manche Menschen tun sich sehr schwer mit den selbst-transzendenten Fragen (die Systemiker sprechen von “zir-kulären Fragen”), weil es von ihnen verlangt, daß sie ihrePosition vorübergehend verlassen und von der anderenSeite durch eine fremde Brille auf sich zurückschauen. Dieskann manchmal geradezu als Zumutung und narzistischeKränkung empfunden werden.

Findet der Klient/Patient bei Wiederholung der Fragenund einigem Verweilen keine Aussagen, können ihm Bei-spiele angeboten werden, die das vorher Empfundene zu-sammenfassen: “Könnte der Sessel zum Beispiel meinen,daß er Ihnen viel Platz einräumen will und daß Sie ihmwillkommen sind? Oder ist eher das Gegenteil der Fall ...?”

Manche Patienten, die sich sehr in ihrer Vorstellung undGefühlswelt aufhalten, bringen immer wieder ihre eigenenUrteile und Gefühle: “Er gibt mir Ruhe; ich bekomme Frie-den; es tut wohl, da so zu sitzen ...”. Hier empfiehlt essich, die Fragen ruhig noch einige Male zu wiederholen mitBetonung auf das, was der Sessel sagt. Früher oder spä-ter findet jeder zu seiner Aussage.

Je schwerer sich Menschen mit dem Erfassen der Se-mantik tun, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie ihre

Lebenswelt stumm erleben und daß die Lebensbezüge fürsie gleichsam tot, weil “nichtssagend”, sind.

Im Gruppensetting kommt es an dieser Stelle nicht sel-ten vor, daß Teilnehmer einnicken. Dies ist ohne weitereszu tolerieren und in der Nachbesprechung zu beleuchten.

Ad 4. Stellungnahmen:

Sowohl der letzte als auch dieser Schritt ist typisch fürexistenzanalytisches Vorgehen. Beide werden bei den ent-sprechenden Methoden anderer Psychotherapie-Richtungenselten angeleitet. Es geht darum, sich selbst in die Situati-on zu stellen und sich zu zeigen, sich “heraus zu bemü-hen” aus dem rein passiven Erleben, das mehr ein Erleidender Welt darstellt. Diese Haltung kann selbst bei einer ba-nalen und alltäglichen Situation geübt werden, und zwar umso mehr, als sie nicht bedrohlich ist.

Die Stellungnahme beinhaltet natürlich eine Konfronta-tion mit dem, was der Sessel “gemeint” hat. Kann es an-genommen werden? Ist der Patient bereit, mit diesen Tat-sachen zu leben oder weicht er ihnen aus? Wie geht er mitdem um, was ihm aus der Welt vermittelt wurde? Dies sinddichte Passagen in der Übung, die viel über den Patienten,seine Person, sein Können und seine Problematik (Ich-Schwächen!) zeigen.

Ad 5. Rückantwort, Dialog:

Auch in diesem Schritt zeigt sich viel von der innerenStruktur des Patienten. Zwar bietet der Sessel mit seinerRealität einen objektiven Rahmen, aber die Bandbreite mög-licher Antworten und Projektionen ist groß. Wenn keinDialog entsteht, ist das ein Zeichen dafür, daß sich derPatient schwer tut im Einlassen auf die Welt. Andererseitsentstehen oft stille Dialoge, die mit einem Gefühl desEinswerdens, der Geborgenheit, des selbstverständlichenIneinanderruhens begleitet sind.

Ad 6. Existentieller Akt:

Dieser Schritt ist mehr der Vollständigkeit halber einge-baut, denn die meisten Patienten/Klienten haben ihn schonspontan in der Dialogphase selbst durchgeführt. Es kommtaber vor, daß Personen zwar in den Dialog getreten sind,aber noch immer an sich festhalten und sich nicht ganzdem Sessel überlassen haben. Für diese ist dieser Schrittnun explizit angeführt, während er für die anderen mehreine Anfrage an die bewußte Zustimmung ihres spontanenAktes darstellt.

Wie leicht zu verstehen ist, symbolisiert der Schritt dastatsächliche In-die-Welt-Gehen und sich der Welt überant-worten.

Ad 7. Ausklang

Die Übung sollte nicht abrupt beendet werden, sondernmit Bedachtnahme auf die Emotionalität, um die es in ihr

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Phänomenologische Dialogübung (“Sesselmethode”). In den Jahren 1986/87 von A. Längle entwickelte Me-thode der Existenzanalyse/Logotherapie zur schrittweisen, an der unmittelbaren Erfahrung gehaltenen Einübung einerHaltung von dialogischer Offenheit zur Welt. Im Kontext der Logotherapie können die methodischen Schritte zurEinübung der Selbsttranszendenz angewandt werden. Im Rahmen der Existenzanalyse besteht ihre Bedeutung inder Einübung der phänomenologischen Offenheit (Tiefenwahrnehmung), der Verstärkung des Weltbezugs und derHaltfindung. Dadurch kann sich die dialogische Haltung unter Anleitung entwickeln und festigen. Das Resultat derÜbung ist zumeist eine größere innere Ruhe, innere Festigkeit, Verstärkung des inneren Dialogs und vertrauendeOffenheit zur Welt. Die PD kann mit Einschränkungen als Sonderform der Dereflexion angesehen werden.

Die Übung wird meist im Hypnoid im Sitzen durchgeführt und auf den Sessel bezogen, auf dem der Klientsitzt. Nach dem Feststellen des Faktischen geht es um die gefühlsmäßige Kontaknahme, (“hinfühlen”), um dasWahrgenommene zur Wirklichkeit werden zu lassen. Der nächste Schritt betrifft die Erfassung der Semantik imErfassen der Tiefenstruktur. Danach soll der Klient zum Wahrgenommenen Stellung beziehen und auf die mögliche“Rückantwort des Sessels” auf die eigene personale Stellungnahme achten. Daraus kann ein dialogischer Austauschfolgen, der im existentiellen Akt des Vollziehens der Stellungnahme endet. Nach einer beliebigen Zeit des Ausklin-gens wird das Hypnoid zurückgenommen und das Erlebte nachbesprochen.

Literatur:Längle, A. (1987): Recenti sviluppi dei metodi logoterapeutici. In: Peresson, L. (Ed.): Lineamenti per una Classificazione delle Psicoterapie.

Padova: Edizioni CISSPAT, 111-118

zentral geht. Emotionalität braucht bekanntlich ihre Zeitund hat ihren individuellen Rhythmus.

Sollte in dieser Phase jemand einnicken, was hier nocheinmal häufig zu beobachten ist, so ist es gut, ein oderzwei Minuten dieser Entspannungsform zu gewähren. Die-ses Einnicken hat einen großen Erholungswert.

Ad 8. Rücknahme:

Eine gute Rücknahme ist bekanntlich wichtig, damit eszu keinem Hang-Over des Hypnoids kommt. Es könntensonst die hinlänglich bekannten Folgen eintreten wie z.B.eine Einschränkung der Verkehrstüchtigkeit.

Nachbesprechung:

Nach Beendigung der Übung, die meistens zwischen 10und 30 Minuten dauert (in manchen Fällen auch länger),wird das Erlebte nachbearbeitet. Wichtig ist dabei diephänomenologische Grundhaltung des Beraters/Therapeu-ten. Die verstehende Offenheit ist gepaart mit dem Vermei-den, fremde Informationen oder Interpretationen in dasErlebte hineinzugeben. Der Patient/Klient soll sich selbstverstehen, soll Unverstandenes formulieren und für späte-re Bearbeitungen bereitstellen.

Am besten beginnt man die Nachbesprechung mit ei-ner möglichst offenen Frage, wie z.B.: “Wie haben Sie daserlebt?” – “Wie ging es Ihnen bei der Übung?” Danach kannauch konkreter gefragt werden: “Ist Ihnen etwas aufge-fallen? Beschäftigt Sie noch etwas? Was war der stärksteEindruck? Hatten Sie ein Problem? usw.”

Die Nachbesprechung in der Gruppe hat zwar denNachteil, daß sie nicht auf eine so individuell zugeschnit-tene PD Bezug nehmen kann, aber sie hat dafür den Vor-teil, daß viele unterschiedliche Erlebnisse zu Tage treten,

was den Reichtum und die Vielfalt der Erlebnisformen deut-lich macht. Viele Teilnehmer werden dadurch inspiriert undschätzen das Selbsterlebte mehr, erhalten Anregungen zurWahrnehmung von Details, die ihnen bei sich selbst ent-gangen sind.

Erlebnisberichte aus dem Gruppensetting

a) unmittelbare Auswirkungen:

Häufig beziehen sich die Rückmeldungen auf das Wohl-befinden und die Zunahme der Wachheit. Manche fühlenkörperliche Schmerzen stärker (Rückenschmerzen, Kopf-weh), unterschwellige Körperschmerzen können bewußtwerden (z.B. chronische Knieschmerzen).

b) Beispiel für Selbsterkenntnis:

Ontologisches Urerlebnis: “Ich bin ganz aufgewirbelt.Der Sessel sagte ganz klar: ‚Ich bin da für dich.‘ Das habeich noch nie so erlebt. Und dann habe ich gemerkt: Da istimmer etwas da für mich, ich bin eigentlich nie allein. Dashat mich ganz tief berührt, ich bin jetzt noch ganz aufge-regt. Dieses Gefühl habe ich in meinem Leben noch niegehabt.”

c) Beispiele für das Welterleben:

- “Ich bin am richtigen Platz; ich bin ganz o.k., soll esgenießen und mich langsam in die Welt hinaus entwickeln.- Ich dankte dem Sessel für diesen Schutz.”

- “Ich habe die ganze Zeit über keine gute Beziehung zumSessel aufbauen können: Er war drückend, unsympathisch,kalt, hart. Sessel hat sich bei mir beschwert, daß ich zuschwer bin, und ich sagte ihm: Das muß er aushalten, dazu

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ist er da. Ich habe es dann nicht geschafft, beim Sesselzu bleiben. Wurde sehr müde, hätte mich zwingen müs-sen, habe die Augen aufgemacht.”

- “Ich bin spontan in Dialog getreten, viel früher, als dusagtest: ‚Was sagt er dir?‘ Wir haben uns begrüßt wie zweialte Bekannte ... Wir kennen uns schon recht gut, warumsuchst du dir immer diesen Sessel aus? Und ich sagte,warum ...”

- “Ich habe die Bank gut gefühlt, weich, meinem Po an-gepaßt. Beim Dialog kamen Schwierigkeiten auf. Sofort einUnsicherheitsgefühl: Kann ich das, mag ich das, will ichdas? Dann hörte ich von der Sitzfläche: ‚Ich bin da.‘ - Dasreichte mir. Wir verstehen uns, ohne daß wir sprechen, undich hatte ein Problem mit dir (Gruppenleiter), da ich michfragte: Will ich mir das vorschreiben lassen, daß ich insGespräch trete?”

Erlebnisbericht und Nachbesprechung auseiner Einzelsitzung

Die 50jährige Frau mit depressiven Störungen hat diePD gleich beim ersten Durchgang problemlos mitmachenkönnen, worüber sie anfänglich wegen der leichtenVersagensängste sehr froh war. Schon gleich nach demEnde der Übung berichtet sie auf die Frage, wie es ihr jetztgehe, daß sie sehr ruhig geworden sei. Sie mußte währendder ganzen Übungen nicht denken, konnte in der Entspan-nung bleiben und kam zu einer für sie ungewohnten Ruhe.– Ob sie eine Ahnung habe, wodurch diese entstanden sei(sie könnte z.B. durch die Entspannung eingetreten sein)?

P: Ich habe ein starkes Empfinden von Getragen-Seinbekommen. So ein Gefühl von Gehalten-Sein hat sich inmir breit gemacht.

Sie möchte die Übung zu Hause wiederholen (was sieeinige Male tut, aber mit einer viel schwächeren Wirkung).Sie stellt im weiteren Gespräch fest, daß die Sinne vielschärfer geworden sind.

Ob ihr sonst noch etwas aufgefallen sei bei dieserÜbung? – Ja, und darüber sei sie besonders glücklich,nämlich erlebt zu haben, daß der Sessel mit ihr rede. Daskenne sie nicht, es sei ganz ungewohnt für sie. Es sei ihrschon klar, daß der Sessel nicht wirklich reden könne, aberdaß er mit ihr überhaupt rede und sie so wichtig nehme,gefalle ihr gut.Th: Sie haben natürlich recht, daß der Sessel nicht redenkann. Er spricht natürlich in ihrer Sprache, er sagt dasSeine ganz in ihren Worten, aber er sagt es aus der Bezie-hung heraus.

An dieser Stelle wird das Gespräch tiefer. Die Bedeu-tung und Wichtigkeit des Bezogen-Seins beschäftigt sie.

Der Therapeut bestätigt die Ansicht, wie wichtig es sei,die Dinge zu sich sprechen zu lassen, damit echte Bezie-hungen entstehen können.P: Dann spricht auch Kunst und Natur und alles spricht

dann zu mir! Mir fällt auf, daß ich schon bei den Blumenmeine Schwierigkeiten habe. Meine Blumen zu Hause wer-den nur ‚betreut‘. Sie ‚sprechen‘ nicht zu mir. Das kannich mir von dieser Übung jetzt mitnehmen: daß ich dieBlumen mit offenen Augen anschau und zu mir sprechenlaß‘ und dann die Augen schließe und sie weiter mit mirsprechen lasse. Weil die Augen schließen ist schon etwasWichtiges.

PD bei einem Patienten mit Borderline-Störung

Zum Abschluß soll hier die PD bei einem Patienten miteiner (schon weitgehend behandelten) Borderline-Störungwiedergegeben werden. Unmittelbarer Anlaß zur Anwendungder Übung waren wiederholte Schwierigkeiten, Ruhe zu fin-den. Er frage sich dann immer: “Wer bin ich eigentlich?”

Die Beschäftigung mit dieser Frage (die natürlich eineGrundfrage der Borderline-Störung ist) könnte ihn von sei-nem Erleben der Unruhe wegführen und es ihm nicht erlau-ben, an der Ursache der Unruhe zu arbeiten. So frage ichihn gemäß der Theorie der ersten Grundmotivation, was ihmeigentlich Halt gebe, sodaß er den Boden hat, um zur Ruhezu kommen? – Nach einigem Zögern findet er, daß er Haltnur in der “Geborgenheit Gottes” finde. Bei sich selbst oderin der Welt gebe es keinen Halt. Er kennt das Gefühl nicht,daß er einfach sein kann, in Ruhe sein kann. Er ist ein aus-gezeichneter Sportler, aber er könne auch den Sport niegenießen, weil er immer kämpfen müsse. Es sei nie Ruhedarin. Er zittere oft, wenn er zum Vergnügen auf den Sport-platz gehe, als ob er einen Wettkampf vor sich hätte. Dabeiwird ihm schlecht, er beginnt regelmäßig zu schwitzen, be-vor er mit dem Sport beginnt. Er hat nie das Gefühl, daß ersich auf sein Können verlassen kann. Hier ist die PD indi-ziert, um das Halterleben zu wecken und Ruhe in der Weltfinden zu können, mit der ein Dialog aufzunehmen ist. Daskönnte der Patient an dieser Stelle lernen.

Wir gehen die Übung durch, von der kurzen Entspan-nung zum Kontakt-Aufnehmen bis zur Dialogsituation:Th.: Was sagt Ihnen der Sessel?P.: Der Sessel sagt mir spontan: ‚Warum bist du so eineschwere Last? Warum trägst du so schwer? Warum mußtdu so viel tragen?‘

An der Stelle öffnet der Patient unwillkürlich die Au-gen. Auf meine Bitte steigen wir wieder in die Methode ein,gehen allerdings eine Stufe zurück zur Beschreibung desSessels:

Der Patient empfindet den Sessel als groß, nicht weichund nicht hart. Der Abstand vom Boden ist nach seinerEmpfindung hoch; die Sitzfläche ist weit, der Sessel gibtihm fast zuviel Platz (obwohl er kaum in den Sessel hin-einpaßt), er spürt daher wenig Geborgenheit von beidenSeiten her. “Da ist er leer. Er meint es nicht gut mit mir.Da fühl ich eine Kälte.” Die Rückenlehne ist instabil, aber

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gibt Wärme. Den Sessel empfindet er als ganzen labil, “ichmuß jederzeit rechnen, daß etwas passieren könnte. Erkönnte nach hinten kippen oder in sich zusammenbrechen,in der Mitte einknicken.” [Man merkt die Verzerrung in derWahrnehmung]

[Der nachfolgende Dialog macht den gefühlsmäßigenWeltbezug deutlich, der langsam in die damit verbundeneDynamik mündet:]Th: Wenn der Sessel sprechen könnte, was würde er Ihnensagen?P: Er meint es nicht so gut mit mir, er könnte hinterlistigsein. Ich muß vorsichtig sein. Diese Wärme, die er hintenausstrahlt, wird jetzt auch immer kühler, wie wenn er michbestrafen täte für das, was ich gesagt habe; weil ich ihnaufgedeckt habe. Die letzte Energie, die ich noch habe,entzieht er mir jetzt auch. Er bleibt zwar stabil, er wirdnicht zusammenbrechen, aber er nimmt mir die letzte Ge-borgenheit, die er mir vorher gegeben hat. Er wird jetztzum Gerüst, ganz kalt wird er, wie ein Gerüst. Ich habeseine Absichten aufgedeckt, und er kann mir nichts tun,weil er aufgedeckt ist und muß sich zurückziehen, wie wenner vom Bösen gekommen wäre und seinen Auftrag nichtausführen konnte, weil ich ihn aufgedeckt habe.Th: Wenn der Sessel sprechen könnte, was würde er wohlsagen?P: Er würde mich beschimpfen. Wie wenn er zum Bösenzurück müßte und Rechenschaft ablegen müßte und erhabe es nicht geschafft und dort bekommt er eines auf denDeckel und er ist auf mich daher böse. Jetzt bin ich wie-der ganz allein, nur Metall ist um mich, wie ein Gerüst.Der Sessel ist wie wenn er ein kleiner Teufel wäre, aberein metallener. Er muß zum Bösen zurück und wird dortbeschimpft, weil er es nicht geschafft hat, mich in einerfalschen Geborgenheit zu wiegen. Und ich stehe da ein-fach und bin unsicher und weiß nicht, was ich tun soll.Th: Was würden Sie ihm antworten?P: Ich möchte ihm nichts antworten. Er ist am Verschwin-den und hat nur Angst, dort hineinzugehen, weil dort dieHölle ist. Mir tut es irgendwie leid für ihn, aber ich binjetzt leer. Ich könnte ihn gut als Freund haben. Aber erverschwindet dahinter. So etwas Dämonisches. Mir ist kalt– einzig die Sitzfläche spüre ich noch, die ist angenehm(macht die Augen auf). Die Nase ist jetzt auch zu, wie wennich einen Schnupfen hätte.[Der Abschnitt zeigt seine personale Unreife durch dasFehlen einer Stellungnahme, was mit einer Passivierungeinhergeht, die dann zu emotionalen Ausbrüchen führt.]

Nachbesprechung:

Th: Wie war das jetzt?P: Eigenartig. So wie mein Leben eigentlich. Daß ich

Falsches erhoffe, und dann enttäuscht werde. Ich glaube,er meint es gut mit mir und dann ist es schlechter undschlechter geworden. Das böse Erwachen dann. Aber ichweiß nicht, was er vorgehabt hatte mit mir. Er hat mir seineWärme entzogen, weil ich ihn aufgedeckt habe.Th: Wie geht es Ihnen jetzt?P: Ein bißchen enttäuscht bin ich. Die gute Stimmung istjetzt weg. Ich könnte mich jetzt schütteln wie ein nasserHund, aber ich möchte es nicht tun, ich möchte in dieserStimmung heimfahren, weil sie mich nachdenklich stimmt,ein wenig traurig macht. – Mir geht es jetzt nicht gut, aberich fühle jetzt eine Liebe zu meiner Frau. Ich hoffe, daßsie mir lächelnd und lieb entgegenkommt.

Das Beispiel zeigt, wo der Patient aktuell steht undwieviel Weg er noch vor sich hat. Die Übung macht ihmseinen Weltbezug greifbarer und deutlicher und verschafftihm die dazugehörigen Gefühle, an denen dann wiedergearbeitet werden kann (Anm. 4). Der anfängliche leichteWiderstand (spontanes Öffnen der Augen) konnte bei die-ser ersten Durchführung der PD durch die Anfrage desTherapeuten (“Könnten sie die Augen nochmals schlie-ßen?”) überwunden werden. Doch war der Patient darinnicht ganz freigelassen (wie z.B. mit der Formulierung“möchten Sie”). Es war spürbar, daß er bei einer solchen,die Emotion ansprechenden Anfrage vielleicht abgelehnthätte. Aber hätte er sich damit nicht auch einer möglichenpositiven Erfahrung beraubt? Der Patient fühlte sich imAnschluß an die Übung für drei Wochen sehr ruhig undvoller Kraft, ein außergewöhnlicher Zustand für ihn. Trotzder positiven Erfahrung mit der Übung wollte der Patientaber die Übung nicht so bald weiterführen. Es sei ihm ein-fach alles zu unangenehm, wo er die Augen geschlossenhalten müsse. Dies ist angesichts der Abgründe des Er-lebens, die bei der Übung deutlich wurden, leicht verständ-lich. Ich glaube auch, daß die triste, spannungsreiche Stim-mung des Bildes trotz der haltenden Struktur gegen die bal-dige Wiederholung sprach.

Sowohl der Verlauf der Übung wie auch diese Schutz-reaktion in der nächsten Stunde zeigen, daß die Anwen-dung der PD bei klinischen Diagnosen dem erfahrenenPsychotherapeuten vorbehalten sein soll und keinesfalls vonPersonen angewandt werden darf, die nicht über ausrei-chende Kenntnisse der Psychopathologie und therapeuti-schen Interventionen verfügen.

Diskussion:

Vielleicht wird die Bezeichnung “PhänomenologischeDialog-Übung” dem Vorgang nicht ganz gerecht, hat dieÜbung doch die Schritte einer Methode in sich. In unse-rer Praxis überwog jedoch bisher die übende Indikation,sodaß der Namen vorerst bleiben kann. Sollte die Anwen-

Anm. 4: Die Entwicklung der existentiellen Erfüllung des Patienten ist noch sehr zurückgeblieben, was aus den Prozentrang-Werten derExistenzskala ersichtlich ist:SD=4, ST=0, P=0, F=2, V=10, E=2, G=1

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dung künftig jedoch mehr im methodisch-therapeutischenRahmen geschehen und entsprechend publiziert werden,kann die Bezeichnung natürlich überdacht werden.

Die Übung hat natürlich ihre Grenzen und sie ersetztkeine Psychotherapie oder Beratung. Sie ist nur ein zusätz-liches Werkzeug in der Hand von geschulten Beratern undPsychotherapeuten.

Eine Systematisierung von Erfahrungen und empiri-schen Forschungen z.B. durch Nachbefragungen mit ob-jektivierenden Meßverfahren sowie ein systematischer Ver-gleich mit Methoden anderer Richtungen könnte wertvollewissenschaftliche Arbeiten (auch Abschlußarbeiten, Di-plomarbeiten) ergeben und mehr Wissen über die Metho-dik und ihrer Wirkung an den Tag bringen. In der Praxishat die Übung ihre Bewährung erbracht – in der Wissen-schaft steht sie noch aus.

Dr. med. Dr. phil. Alfried LängleEduard Sueßgasse 10

A -1150 WIen

Literatur:

Frankl, V. (1986): Die Psychotherapie in der Praxis. München: PiperLängle, A. (1984): Das Seinserlebnis als Schlüssel zur Sinnerfahrung.

In: Sinn-voll heilen. Freiburg: Herder, 47-63Längle, A. (1986a): Die Willensstärkungsmethode. Unveröffentliche

Unterlage für AusbildungslehrgängeLängle, A. (1986b): Einstellungsänderung. Unveröffentliche Unterla-

ge für AusbildungslehrgängeLängle, A.(1987): Recenti sviluppi dei metodi logoterapeutici. In:

Peresson, L. (Ed.): Lineamenti per una Classificazione dellePsicoterapie. Padova: Edizioni CISSPAT, 111-118

Längle, A.(1988): Wende ins Existentielle. Die Methode der Sinner-fassung. In: Längle A. (Hrsg.): Entscheidung zum Sein. Viktor E.Frankls Logotherapie in der Praxis. München: Piper, 40-52

Längle, A. (1993): Personale Existenzanalyse. In: Längle, A. (Hrsg.):Wertbegegnung. Phänomene und methodische Zugänge. Wien:Tagungsbericht Nr. 1 und 2/1991 der GLE, 133-160

Längle, A., Probst, Ch. (1997): Was sucht der Süchtige? Beweggrün-de und Ursachen aus existenzanalytischer Sicht. In: Längle A.,Probst Ch. (Hrsg): Süchtig sein. Entstehung, Formen und Behand-lung von Abhängigkeiten. Wien: Facultas, 71-90

Längle, A. [1986](2000): Die Willensstärkungsmethode. In: Existenz-analyse 17, 1, 4-16

DEREFLEXION

Eine lexikalische Kurzfassung

Ein im Rahmen der Logotherapie von V. Frankl entwickeltes therapeutisches Prinzip, erstmals 1947 in seiner“Psychotherapie in der Praxis” beschrieben. Die Dereflexion ist eine praktische Umsetzung von M. SchelersEmotionalitätslehre, wonach bestimmte Gefühle und Erlebnisse durch die Aufmerksamkeitszuwendung beeinträchtigtoder gar zerstört werden.Dereflexion ist bei (ängstlichen) Fixierungen der Aufmerksamkeit (Hyperreflexion) auf Erfolg, auf normalerweiseunbeachtet ablaufende (vegetative) Funktionen oder bei forcierter Selbstbeobachtung indiziert (vorwiegend beiSchlaf- und Sexualstörungen sowie bei Ängsten). In der Dereflexion wird die Aufmerksamkeit des Patienten vonden hyperreflektierten Vorgängen abgezogen und auf Sinnmöglichkeiten hingelenkt, um beengende und neuroti-sche bzw. neurotisierende Teufelskreise aufzubrechen. Es geht dabei nicht bloß um eine Ablenkung, sondern primärum die Zuwendung zu lebenswerten Inhalten. “Etwas ignorieren ... kann ich nur, ... indem ich auf etwas andereshin existiere” (Frankl 1982, 177). Durch die Dereflexion soll die Person aus der selbstschädigenden Selbst-beobachtung herauskommen und wieder in die Weltoffenheit finden. Die Dereflexion beruht auf der Selbst-Tran-szendenz des Menschen und seiner Fähigkeit zur Selbst-Distanzierung. Die Vorschaltung der PersonalenPositionsfindung kann manchmal hilfreich sein. Dereflexion soll nicht dazu verwendet werden, Probleme (innereKonflikte, Schuld ...) in Abrede zu stellen oder zu übergehen.

Beda Wicki

Literatur:Frankl, V. E. (1986): Die Psychotherapie in der Praxis. München: Piper, 5°Frankl, V. E. (1982): Theorie und Therapie der Neurosen. München/Basel: Reinhardt, 5°Kühn, R. (1985): Freiraum durch Selbstdistanzierung. Zur religionsphilosophischen Grundlegung der “Dereflexion”. In: Längle, A.

(Hrsg): Wege zum Sinn. München/Zürich: Piper

ORIGINALARBEIT

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Anleitung für die biographischeArbeit in der Existenzanalyse

Biographische Existenzanalyse – BEA

Lilo Tutsch & Karin Luss

Der Artikel gibt auf dem Hintergrund dergrundlegenden Thesen zur biographischenArbeit in der Existenzanalyse eine Handan-weisung für die Vorgehensweise Biographi-scher Existenzanalyse in der therapeuti-schen Praxis.

Schlüsselwörter: Biographie, PersonaleExistenzanalyse, Biographische Existenz-analyse

This article gives an instruction in theapplication of biographical work in thera-peutical practice according to the fundamen-tal theories of biographical existentialanalysis.

Key-words: biography, personal existential-analysis, biographical existential-analysis

I. Grundsätzliche Anmerkungen

Schreibt ein Mensch seine Biographie, so lesen wirdarin jene Ereignisse im Leben dieses Menschen, die ihnausmachen, auszeichnen und verständlich machen.

Beschrieben wird nicht jede Lebenserfahrung sondernEin-drückliches, Wesentliches, was geprägt, geformt, be-wegt hat und wie die Person es wiederum gestaltet hat.Bühler (Bühler 1986, 114f.) betont, daß Biographie “nichtnur als eine Aneinanderreihung von Daten, sondern als eineGestalt, die einem Prinzip oder einem Plan entspricht” zuverstehen ist.

Eine Biographie zeigt den Dialog mit dem Essentiellen imLeben. Es sind “ausgewählte Kapitel” in der Lebensgeschichteeines Menschen. Als solche bringen sie sich als positiv odernegativ Erlebtes sowie in ihrer Auswirkung auf den weite-ren Lebenslauf und im Kontext des Lebens insgesamt zur An-schauung.

Diese “ausgewählten Kapitel” erhalten ihre Bedeutsamkeitaus der mit ihnen verbundenen emotionalen Qualität sowiedem Zusammenhang und Horizont in dem sie stehen.

In der therapeutischen Praxis beschäftigt uns die Bio-graphie eines Menschen dort, wo sie “festgefahren” oderaber noch nicht fertig “geschrieben” ist. Wesentliche Text-stellen der Lebensgeschichte können fehlen, weil sie ver-gessen oder verdrängt sind. Oder sie sind (noch) nicht alswesentlich erkannt worden, weil sie emotional fern sind,

die Person mit ihnen nicht in Berührung ist, oder sich nichtdazu gesellt und gestellt hat, oder weil vielleicht noch et-was offengeblieben ist.

Das Ausstehende in der Biographie liegt meist darin be-gründet, daß frühere Erfahrungen einen zu “starken Ein-druck” gemacht haben, d.h. daß diese Erfahrungen Ver-letzungen und Mängel der personal-existentiellen Grund-strebungen, des Dasein-Könnens, des Wertsein-Mögens,des Sosein-Dürfens sowie des Strebens nach Sinnvollembewirkt haben.

Sie können sich als Grundfolien des Selbst- und Welt-erlebens (tiefe Störungen, Persönlichkeitsstö-rungen) mas-siv einprägen und das Erleben umfassend verändern oderin Teilbereichen (Fehlsichten, sensible Stellen, Neurosen)Erleben und Verhalten beeinflussen.

Verletzungen und Mängel “brennen” sich sozusagen einund verhindern an dieser Stelle Neuerfahrungen, indem sieWahrnehmung, Verhalten und Reaktion in einer bestimm-ten Weise einstellen und über die gegenwärtige Realität legen(Übertragung). Dadurch entstehen Wiederholungsmusterund Reinszenierungen. In ihnen drängt die Person im Sin-ne der Korrektur der schlechten Erfahrung auf “Wieder-gutmachung”. Aber Altes findet nicht ein Jetzt, sondernwieder nur das Vergangene. Die alten Wahrnehmungs-, Er-lebens- und Verhaltensweisen bleiben so gegenwärtig unddrängen sich in die aktuellen Situationen hinein. Die Folgeist, daß der personale Dialog ausbleibt.

PRAXIS

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II. Wann ist biographische Arbeit in derExistenzanalyse angezeigt?

“Weil sich das Wesen auch in einzelnen Phänomenenzeigen kann, bedarf es in der existenzanalytischen (phäno-menologischen) Psychotherapie keiner vollständigen Re-konstruktion der Lebenshistorie, um verstehen zu können.Denn was wesentlich ist, ist gegenwärtig und in jeder le-bendigen Äußerung enthalten. Als solche ist es phänomeno-logisch zugänglich.” (Längle 1994, 11)

Biographische Arbeit steht in der Existenzanalyse dahernur zur Diskussion, wenn der personal-existentielle Voll-zug (s. auch Personale Existenzanalyse, Längle 1993, inder Folge PEA) eingeschränkt ist. Sie ist unumgänglich,wenn die Einschränkung nicht überwunden werden kannund/oder der personale Akt nicht in der Tiefe der Persongründet.

Biographische Arbeit ist kontraindiziert, wenn die psy-chische Struktur (s. auch personal-existentielle Grund-motivationen, Längle 1997) der Person so wenig stabil ist,daß sie eine Aufhebung der Blockade (Abwehr) despersonalen Dialoges und damit einer Verdichtung der Emo-tionalität durch größere Nähe zum Erfahrenen nicht stand-halten kann. Hier muß zuerst durch Neuerfahrungen in denpersonal-existentiellen Grunddimensionen strukturbildendgearbeitet werden bzw. muß die biographische Arbeit mehrkognitiv, erklärend geführt werden.

III. Was gibt Hinweise auf die Notwendig-keit biographischer Arbeit imtherapeutischen Prozeß?

- Wahrnehmungsverzerrungen, Erinnerungslücken in deraktuellen Wahrnehmung

- Störungen in der Emotionalität (unangemessen starkeoder fehlende bzw. unpassende Emotionen)

- Impulsstörung (Hemmung, mangelnde Kontrolle)- Unverständlichkeit von Reaktionen- Uneinfühlbarkeit in andere, mangelhafte Wahrnehmung

anderer- Ausbleibende, vorschnelle, wechselhafte, oberflächliche

Stellungnahmen- Handlungsblockaden

IV. Die Schritte in der biographischenAnalyse

Die methodischen Schritte in der biographischen Ana-lyse „sind jene der personalen Existenzanalyse (PEA). DerUnterschied liegt darin, daß in der Biographischen Existenz-analyse (BEA) zunächst ein Zugang zu jenen biographi-schen Inhalten zu schaffen ist, die für das Verständnis deraktuellen Lebensbezüge, Entscheidungen und Empfindun-gen relevant sind. (...) biographische Inhalte (...) sind inihrer Wirkung auf die heutige, erwachsene Person zu se-

hen, aber auch in ihrer Wirkung auf die damalige Person,die im unmittelbaren Geschehen stand und dieses zunächstzu bewältigen hatte.” (Längle 1994, 23)

(Zur Erinnerung an die Schritte der Personalen Existenz-analyse wird auf den Artikel von A. Längle 1993 verwie-sen.)

1. Der Einstieg:

Der unmittelbarste Einstieg in die biographischen The-men ist die primäre Emotion. Sie ist der Schlüssel zum Torder Kernszenen in der Biographie und damit der “Einstiegs-schacht in die tieferen Stollen des menschlichen Bergwer-kes”. Andere Einstiegsstellen “unter Tag” (Deskription,Verstehen, Stellungnahme, Handlung) bieten sich ebenso anund sind wichtig, wenn die Emotionalität in der Gegenwartfehlt oder wie oben erwähnt, die Verdichtung der Emotionnicht indiziert ist. Jede “Einstiegsstelle” führt zur Beschrei-bung der ursächlichen Szene und damit zum ersten Schrittder BEA.

Die jeweiligen Einstiegsfragen:

Deskription: Woran erinnert Sie diese Situation, Szene?Woher kennen Sie so eine Konstellation?(unterstützend wirken z.B. folgende Metho-den: Szenen aufzeichnen, Aufstellungen,Visualisationen,...)

Emotion: Kennen Sie dieses Gefühl von früher / ausanderen / früheren Situationen?Wohin führt Sie dieses Gefühl?In welche Situation führt Sie diesesGefühl? (→ zurück zur Deskription, BEA 0)

Impuls: Woher kennen Sie diesen Impuls, dieseReaktion? (→ Deskription, BEA 0)

Verstehen: Erinnert Sie diese Person an jemanden, derIhnen auch so unverständlich war / so nahewar?Erinnern Sie sich an ähnliche Situationen?(→ Deskription, BEA 0)

Stellung- Was hätten Ihre Eltern dazu gesagt?nahme: (Hinlenken auf die Ursachen [Urmodelle]

der heutigen Stellungnahme)Handlung: Was haben Sie früher in solchen Situatio-

nen getan?Erinnern Sie sich an eine Situation?(→ Deskription, BEA 0)

Ist der Einstieg gelungen und die Beziehung zum ur-sprünglichen Ereignis hergestellt, so ergibt sich die Mög-lichkeit, daß die Person den personalen Akt im Vergange-nen vollzieht und so das noch Ausständige vervollständigt.

Methodisch erfolgt dies nach den Schritten der PEA.Zum Dialog damals kommt der Dialog über die bzw. zwi-schen den Zeiten.

PRAXIS

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EXISTENZANALYSE 1/00 33

BEA 0

BEA 1

BEA 2

BEA 3

Was war damals? → → → → → → → →“Ins Bild Gehen”

Was war es, was fühlen Sie? → → → → →Welche Gefühle sind jetzt da?

Ist es noch das Gefühl von vorhin? → → →(Check up fällt aus, wenn zu ablenkend)

Was hätten Sie damals gerne getan / gesagt? →Was würden Sie jetzt ganz spontan gerne sagen /tun? (sofern Impuls in der Vergangenheit fehlt)

Was sagt es Ihnen ? → → → → → → →(Botschaft, z.B.: “Du bist unfähig ...”)

Gibt es noch andere Botschaften? → → → →

Verstehen Sie Ihre damalige Situation? → → →

Verstehen Sie den anderen? → → → → →(z.B.: “Hat das mir gegolten, oderhat es mich nur ,getroffen‘?”)

Wie finden Sie es? Was halten Sie davon? → →(z.B.: ,,Wenn ich es so betrachte und nocheinmal hineingehe als dieses Kind ...”)

Wenn Sie es heute so betrachten, wie → → →finden Sie es?

Was haben Sie damals getan? → → → → →

Was hätten Sie damals tun wollen / sollen? →

Was hätten Sie aus heutiger Perspektive am → besten getan? Was wäre gut gewesen?

Können und wollen Sie heute noch etwas tun? →

Was? Wann? Wie? → → → → → → → →

Welche Auswirkungen haben dieses Erleben,diese Erfahrungen auf Ihr heutiges Erlebenund Verhalten? Wo sind sie lebendig?

Erinnern

Wiedererleben / Heben der ursprünglichen Emotion

Differenzieren der primären Emotionin Vergangenes und Aktuelles

Lösung in Gang bringen

Erheben der Grundfolien (frühe Ein-stellungen, Grundlage der Differenzierungvon der aktuellen Botschaft)

Erweitern auf Neues hin(noch nicht Wahrgenommenes)

Integration des Unverständlichen

erste Befreiung vom Eingeprägten,Heben neuer Sichtweisen

Stellungnahme aus derPosition des “Kindes”

Stellungnahme aus derPerspektive des Erwachsenen

führt zum Herausheben / Heraus-lösenaus der Gefangenschaft des früherErlebten durch erneute Stellungnahme

Wehrhaftigkeit, Schutzverhalten heben(Das Gute daran bergen und bewahren)

Fehlendes, Ausgebliebenes feststellen

die “richtige” Antwort geben

noch Mögliches oder Notwendiges nachholen

Anmessen an die Gegenwart

Ausstieg

2. Der Ablauf:

PRAXIS

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34 EXISTENZANALYSE 1/00

3. Der Ausstieg:

Der “biographische Tauchgang” findet seinen jeweili-gen Abschluß, indem der Bezug zum Jetzt angefragt, her-gestellt, festgestellt und benannt wird.

Was sagt Ihnen das Erlebte / Erfahrene für die Gegen-wart?

Zusätzlich geht es darum, die Bedingungen und Auslö-ser der Aufrechterhaltung solcher Muster und Übertragun-gen ausfindig zu machen (z.B.: Was fördert diese Über-zeugungen? Wann kommen sie ins Spiel?).

Damit der Mensch aufgeschlossen wird für seine Ge-genwart und das Kommende, braucht er das Erschließendes Verhindernden und das Abschließen des Vergangenen.Dann geschieht Los-lösung, der Mensch wird unabhängig(autonom), Person authentisch und existentiell.

V. Lösen sich Störungen im personalenVollzug durch biographische Arbeit?

Biographisches Vorgehen läßt die Person verstehen,weshalb sie so erlebt, lebt und handelt. Sie wird sich inihrem Lebenskontext verständlich.

Nicht immer (eher selten) werden durch das Verstehendie Probleme auch schon gelöst, sondern biographischeArbeit ist in der Therapie meist Spurensicherung und “Re-konstruktion”, ein erster exemplarischer Rundgang, deroftmals beschritten werden muß. Lösung von Blockadenund Fehlverhalten bedarf eines mehrmaligen “Löschvorgan-ges”. Er besteht aus:

· Bewußthalten des Verstandenen und der damit verbun-denen apersonalen Abläufe (Wiederholungsmuster,Reinszenierungen, Ausbleiben des personalen Dialoges);

· wiederholten aktuellen Stellungnahmen zum Vergange-nen (vgl. Kolbe 1994);

· verstärkter Bewußtmachung der aktuellen Realität (Dif-ferenzierung zwischen “Übertragenem und Aktuellem”).

Die Interpretation von Zusammenhängen (Spiegeln derWiederholung, z.B.: “Sie verhalten sich in dieser Beziehungso wie damals dem Vater gegenüber.”) und Ansprechen vonWiderstand dienen fallweise der Erleichterung des Zugan-ges zum Vergangenen. Erklärungen des therapeutischenVorgehens können angstreduzierend sein.

VI. Biographische Arbeit undfrühe Beziehungen

Biographische Arbeit führt oft in frühe Beziehungen(meist Mutter / Vater). Warum?

Frühe Eindrücke sind prägender, da das Kind sich Ein-schränkungen und Verletzungen meist noch nicht stellung-nehmend widersetzen kann. Das Kind ist anvertraut und da-her ausgeliefert. In seiner Stellungnahme dominiert der re-

aktive Anteil. Es reift erst zur Stellungnahme heran und istvorerst mehr auf seine Schutzmechanismen angewiesen. Die-se stärken jedoch wiederum den reaktiven Anteil der Stel-lungnahme (später kann die Person auch gegen die ReaktionStellung nehmen, der reaktive Anteil ist oft nur noch Anspornzur Stellungnahme) und hindern den personalen Dialog.

VII. Ein Beispiel

Die Patientin schildert eine Situation aus ihrem Urlaub.Sie war mit ihrem Mann in ein sehr schönes Hotel gefah-ren. In der Hotelhalle erlebte sie einen Panikzustand mitdem starken Impuls – “Ich muß hier weg, hier gehöre ichnicht hin unter lauter so feine, gewandte Menschen, hierfalle ich peinlich auf.” (PEA 0/1)

Th: Wenn Sie noch einmal in Ihrer Vorstellung, vorIhrem inneren Auge, hineingehen in diese Hotelhalle undsich umsehen, die Menschen dort ansehen, ihnen ins Ge-sicht schauen, wie sehen sie Sie an?

Pat: Die anderen sehen mich nicht wirklich an, aberich habe dieses Gefühl. (PEA 1, Primäre Emotion)

Th: Welches Gefühl?Pat: Panik, ich fühle mich unbeholfen, tolpatschig, ich

gehöre nicht in so eine Umgebung, habe nicht die Größe.... Ich fühle mich minder, denke nur noch daran, was dieanderen über mich denken könnten ...

Th: Kennen Sie dieses Gefühl auch aus anderen Situa-tionen? (Frage nach Generalisierung, Ablösung von deraktuellen Situation, Vorbereitung zur Hinwendung auf dieursprüngliche Situation)

Pat: Ja, in fast allen, in denen ich mit anderen Men-schen zusammentreffe.

Th: Wenn Sie es so zurückverfolgen, gab es diese Ge-fühle auch früher schon? (Einstieg in BEA 1 über die pri-märe Emotion)

Pat: Ja, ... schon als Kind ...Th: Erinnern Sie sich an so eine Situation, in der Sie

sich so fühlten?Pat: Ja, ja, mein Vater sagte immer, benimm dich doch

ordentlich, alle schauen schon auf dich.Th: Können Sie eine Situation herholen? (nach Einstieg

in die früheren Erfahrungen V BEA 0)Pat: Viele, z.B. sonntags beim Essen im Gasthaus: Patz

nicht, trink ordentlich, du kannst das nicht, alle schauenschon her; einmal, erinnere ich mich, ist mir der Apfel-saft umgefallen, mein Kleid war naß ... (BEA 0) mein Vaterschimpfte und machte mich runter ...

Th: Wie ging es Ihnen in dieser Situation?Pat: Ich habe mich sehr klein und unfähig gefühlt,

Angst, panisch, Angst, alles falsch zu machen ... Am lieb-sten wäre ich aufgestanden und weggerannt, ich war sehrunglücklich und habe mich so geschämt, aber auch totalunverstanden gefühlt. (BEA 1, Primäre Emotion und Im-puls). Die Pat. ist jetzt sehr bewegt. An dieser Stelle giltes, ausreichend lange zu verweilen, um die Bewegungaufzunehmen und der Emotionalität Zeit zu geben. KeinWunder, daß ich in öffentlichen Situationen so verkrampftbin? Die Pat. beginnt zu verstehen (Verbindung zur Ge-

PRAXIS

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EXISTENZANALYSE 1/00 35

genwart geschieht).Th: Verstehen Sie das Verhalten Ihres Vaters?Pat: Nein, aber er war zu allen Menschen so, er kann

nicht anders ... Er ist immer darauf bedacht, nicht aufzu-fallen. Alle müssen sich nach ihm richten. (BEA 2, Fremd-verständnis)

Th: Wie finden Sie das Verhalten Ihres Vaters? (BEA 2)Pat: Es ist unmöglich von ihm, so einem kleinen Kind

so viele Komplexe zu schaffen. Und das wegen solch un-bedeutender Ereignisse!

Th: Hätten Sie damals etwas tun können?Pat: Ich hatte nicht wirklich eine Möglichkeit damals,

er kritisierte immer, ich hätte seinen Ärger nur verstärkt ...Th: Was würden Sie ihm jetzt sagen / tun? (Stellung-

nahme und Handlungssprungbrett; Handlungsvorbereitung,Überleitung zu BEA 3)

Pat: Du bist verletzend, es ist nicht wahr, daß ich tol-patschig bin. So etwas kann ja passieren. Wahr ist, daßDu unsensibel und uneinfühlsam bist und ängstlich ... (DiePerson bringt sich stellungnehmend ein und befreit sichdamit von der Fremdeinschätzung.)

BEA 3 erscheint hier nicht wichtig (d.h., der Schrittnoch etwas real zu verändern), sondern die neue Stellung-nahme wird in die Gegenwart hereingeholt (integriert) unddamit der Ausstieg aus der BEA zurück in die aPEA (aktu-elle PEA) vorbereitet.

Ausstieg:

Th: Was davon ist in Ihnen lebendig geblieben? Wasdavon begleitet Sie heute noch? (BEA → PEA)

Pat: Meine Meinung von mir, daß ich tolpatschig undunfähig bin, mich nicht in Gesellschaft bewegen kann ...

Th: Wenn Sie noch einmal zurück in die Hotelhalle

gehen ... ? (PEA 1) Worin lebt diese Einschränkung, wospüren Sie sie? (PEA 2)

Pat: Wenn ich mich so klein und minder fühle ...Th: Und wie ist es wirklich? Wenn Sie noch einmal in

die Hotelhalle zurückgehen und sich von außen ansehen,wie haben Sie sich tatsächlich verhalten? ... Was davonist tolpatschig, klein und minder?

Pat: Ich falle eigentlich gar nicht auf, ich kann nurnicht gut Konversation betreiben, wenn mich jemand an-spricht.

Th: Schlimm?Pat: Nicht in der Hotelhalle ...

Dr. Liselotte Tutsch Dr. Karin LussEinwanggasse 23/10 Seckendorfstrasse 6/1/6

A-1140 Wien A-1140 Wien

Literatur

Bühler, K. E. (1986): Die Biographie als integrierendes Element inder Psychotherapie. In: Integrative Therapie 1-2, 110-126

Jaspers, K. (1973): Allgemeine Psychopathologie. Berlin: Springer, 9°Kolbe, C. (1994): Stellungnahmen aufgrund biographischer Erfahrun-

gen in ihrer Bedeutung für das aktuelle Handeln. In: Biographie.Verständnis und Methodik biographischer Arbeit in der Existenz-analyse. Wien: Tagungsbericht 1992 der GLE, 34-36

Längle, A. (1993): Personale Existenzanalyse. In: Wertbegegnung. Phä-nomene und methodische Zugänge. Wien: Tagungsbericht 1991der GLE, 133-160

Längle, A. (1994): Die biographische Vorgangsweise in der PersonalenExistenzanalyse. In: Biographie. Verständnis und Methodik bio-graphischer Arbeit in der Existenzanalyse. Wien: Tagungsbericht1992 der GLE, 9-33

Längle, A. (1997): Modell einer existenzanalytischen Gruppenthera-pie für die Suchtbehandlung. In: Süchtig sein. Entstehung, For-men und Behandlung von Abhängigkeiten. Wien: Tagungsbericht1993 der GLE, 149-169

Biographische Methode

Eine lexikalische Kurzfassung

In der Existenzanalyse wird unter Biographie die Lebensgeschichte verstanden, anhand der das Wesen des Men-schen (seine Person) “wie ein Muster auf einem sich abrollenden Teppich” (für ihn und für andere) erkennbarwird (Frankl). Die Biographie besteht aus der im heutigen Verstehenshorizont interpretierten Erlebensgeschichte(Eindrucksebene), Lebensgeschichte (Aktivität, Bewältigung) und dem im selben Verstehenshorizont erwachsenenLebensentwurf für die Zukunft (“wofür ich leben will”) und umspannt somit den gesamten Lebensbogen inklusiveSterben und Tod (Blankenburg). Die in der Biographik erfaßte Geschichte des (kranken) Menschen (Psychohistorie)stellt den Hintergrund dar für die Geschichte der Krankheit (Psychogenese).Als b.M. wird eine spezielle Anwendungsform der Personalen Existenzanalyse bezeichnet, mit deren Hilfe biogra-phische Inhalte therapeutisch bearbeitet werden können. Im ersten Abschnitt werden die derzeit aktuellen Lebens-themen zusammengetragen, phänomenologisch verdichtet und auf biographische Inhalte bezogen (fokussiert). Imzweiten Teil wird der Inhalt mit Hilfe der Personalen Existenzanalyse durchgearbeitet und schließlich in seinerTransparenz bezüglich Selbstverständnis, Fremdverständnis und Aktualitätsbezug durchleuchtet.

Literatur: Alfried LängleBlankenburg, W. (Hrsg), (1989): Biographie und Krankheit. Stuttgart: ThiemeKolbe, C. (Hrsg), (1994): Biographie. Verständnis und Methodik biographischer Arbeit in der Existenzanalyse. Wien: GLE-VerlagLängle, A. (1994): Die biographische Vorgangsweise in der Personalen Existenzanalyse. In: Kolbe, C. (Hrsg): w.o., 9-33

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Schritte zum Sinn

Die Sinnerfassungsmethode wird mit ihrenSchritten “Wahrnehmen – Werten – Ent-scheiden – Durchführen” vorgestellt. An-hand von 3 Fallbeispielen werden die An-wendungsbereiche und die detaillierte Ar-beitsweise mit den einzelnen Schritten illu-striert.

Schlüsselwörter: Sinn , Sinnerfassung, Sinn-verlust, logotherapeutische Methode

Martha sitzt im Café; eigentlich nur weil sie wartet bisihr Mann mit einer Besorgung fertig ist; sie liest ein paarZeilen in der Zeitung, dann läßt sie sie sinken; sie blicktverloren durch den Raum; die Zeit scheint ihr endlos;

Früher um diese Uhrzeit ... früher? Erst vor einigenWochen noch stand sie um diese Zeit in der Praxis. Siehätte nicht einmal einen Blick auf die Uhr getan und wahr-scheinlich wieder bis in die späten Abendstunden gearbei-tet. Es konnte nie zuviel werden.

Jetzt fühlt sie sich so leer, so nutzlos. Nach dem Schi-unfall war alles aus: die rechte Hand gelähmt; “ein Krüp-pel”, wie sie sagt. Was soll sie jetzt noch? Im Kaffeehaussitzen und auf ihren Mann warten?!

V. Frankls zentrale Überzeugung war es, daß die tief-ste Sehnsucht des Menschen sein Streben nach einem Sinnim Leben ist. Geht ihm dieser verloren, stellen sich Leere,Langeweile und Ohnmacht ein, die in das “existentielleVakuum”, wie Frankl es nannte, und im schlimmsten Fallin die Depression münden.

Frau Martha S. sitzt mir in einer ersten Stunde gegen-über und klagt: “Ich will nichts mehr im Leben! Es ist sosinnlos und leer, den ganzen Tag häng´ ich herum! Undam Abend häng‘ ich am Fenster und schau, ob mein Mannschon kommt!”

V. Frankl hat seine Erkenntnis, daß Sinn immer gege-ben ist, eine objektive Größe darstellt, daß es in jeder Si-tuation immer Möglichkeiten gibt, dem Leben Sinn zu ver-leihen, in all seinen Schriften betont und in seinen Redenin leidenschaftlicher Form vorgetragen. Doch wie vermit-telt der Therapeut das nun einer Klientin wie Martha S.?

Hier sind wir schon am Problem bei der Vermittlung vonSinn angelangt:

- Sinn mag zwar eine objektive Realität darstellen, aberer ist nicht allgemein gültig, nicht verschreibbar, nichtbeliebig machbar. Jeder Mensch ist ganz auf sich gestelltdarin, was für ihn sinnvoll erscheint und was nicht.

- Sinn ist immer nur eine Möglichkeit, die auftaucht

und wieder entschwindet. Es gibt zwar wie Frankl betontin jedem Augenblick unzählige Sinnmöglichkeiten für jedenMenschen, aber er muß sich dafür offen halten, bereit sein,sich auf die Möglichkeiten zuzubewegen und sich auf sieeinzulassen, um Sinn erleben zu können. Aus der Distanzmit halbem Herzen gibt es keinen Sinn!

- Sinn ist auch nie etwas Gegenständliches, nach demman greifen kann. So können wir ihm nur mit all unserenSinnen auf die Spur kommen im Erspüren der Möglich-keiten, die auf uns zukommen.

Angesichts solcher Bedingungen erscheint es nur allzuverständlich, daß das Erfassen von Sinn Schwierigkeitenbereiten kann; besonders verständlich, wenn Menschendurch Krisen, Verluste und Entscheidungsnöte ohnehinbelastet sind.

A. Längle hat eine Methode entwickelt, die eine Hilfe-stellung im Heranführen von Menschen an das Erleben vonSinn gibt. Er nannte sie in einer ersten Publikation (1988)“Schritte zum existentiellen Sinn”. Geläufiger ist sie heuteunter der Bezeichnung “Sinnerfassungsmethode”. DieMethode, die Längle aus seiner langjährigen Erfahrung mitPatienten entwickelte und die wichtige Elemente der Sinn-theorie Frankls beinhaltet, faßt den Prozeß der Sinnfindungin 4 Schritte.

1. Schritt: Wahrnehmen

Am Beginn eines Sinnfindungsprozesses steht dieInformationsaufnahme und Orientierung. In alltäglichengewohnten Situationen ebenso wie bei schwierigen Ent-scheidungen oder gar dann, wenn kein Weg mehr gese-hen und alles sinnlos wird, ist der erste Schritt, der zuneuen Sinnmöglichkeiten führen kann, das Wahrnehmen derSituation – zuerst der Gegebenheiten, dann der darin offe-nen Möglichkeiten. Bei den Gegebenheiten geht es vor al-lem um die Frage “Was liegt vor; was ist geschehen, wassind die Rahmenbedingungen?” Es geht darum, möglichst

Helene Drexler

Die Methode der Sinnerfassung

This paper presents the Method for FindingMeaning and explains and exemplifies itsfour steps: perception, evaluation, decision,realisation. The indication for and the appli-cation of this method are demonstrated indetail in three case studies.

Key-words: meaning, meaning findingprocess, loss of meaning, logotherapy

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vorurteilsfrei die Fakten einer Situation zu erfassen. Hin-sichtlich der Möglichkeiten stellt sich die Frage “Was isthier jetzt möglich, worum geht es da, was ist zu tun?”

Schon bei diesem ersten Schritt zeigt sich oft dieSchwierigkeit, sich von Wahrnehmungsverzerrungen durchbiografische Prägungen, Traumatisierungen oder durchfixierte Vorstellungen zu lösen und sich auf das tatsäch-lich Wahrgenommene zu beschränken.

2. Schritt: Werten

Um Klarheit darüber zu gewinnen, ob eine wahrgenom-mene Möglichkeit tatsächlich eine Sinnmöglichkeit darstel-len kann, bedarf es des Erfassens ihres Wertes.

Wie kann der Wert einer Möglichkeit erfasst werden?Durch die emotionale Beziehungsaufnahme, durch welchedie Bedeutung einer Sache im sich spontan und unreflek-tiert einstellenden Gefühl erkannt werden kann. Längle be-schreibt diesen wichtigen Prozeß so: “Dabei geht derMensch geistig aus sich heraus, läßt sich auf die Situati-on, den Gegenstand, die Handlungsmöglichkeit oder denanderen Menschen einfühlend ein und kann dann in sichselber fühlen, welchen Wert der Gegenstand für sein Le-ben und für sein Lebensziel hat. Je mehr wir uns auf denGegenstand einlassen, desto mehr erfassen wir ihn in sei-ner Wertigkeit. Die reine, sachliche Wahrnehmung geht überin ein Wertfühlen, bei dem die Emotion beteiligt ist”. (2000,16) Unterstützende Fragen dazu sind: “Was empfinden Siedabei? Wie erleben Sie das? Wie wirkt es auf Sie?”

3. Schritt: Entscheiden

Wenn nun verschiedene Sinnmöglichkeiten in ihrer un-terschiedlichen Werthaftigkeit erspürt wurden und dadurchgefühlsmäßig die in der konkreten Situation beste Möglich-keit offenliegt, bedarf es noch eines wichtigen geistigenAktes: dem der Entscheidung. Es braucht das “Ja”, dasSich-dazu-Stellen zur als richtig erkannten Möglichkeit, umdie Voraussetzung dafür zu schaffen, das Wahrgenomme-ne und Erfühlte ins Handeln bringen zu können.

Vor allem wenn die als beste Möglichkeit erkannte Hand-lung für die betreffende Person schwierig umzusetzen istoder schwerwiegende Konsequenzen mit sich bringt, ist derbewußte Akt der Entscheidung besonders wichtig. DerAkt erhält dann quasi Vertragswirkung, als ob man seineUnterschrift unter diese eine Sinnmöglichkeit setzen wür-de. Die Fragen zum Schritt der Entscheidung: “Sage ichja dazu? Will ich es so entscheiden?”

4. Schritt: Durchführen

Ich mache oft die Erfahrung, daß die Realisierung ei-ner Möglichkeit oft kein Problem mehr bedeutet, wenn dieEntscheidung tatsächlich aus vollem Herzen gefallen ist. Esist, als ob durch die Entscheidung die Handlung nur mehreine logische, nicht mehr aufzuhaltende Konsequenz dar-stellt. Natürlich gibt es auch Situationen, in denen der

Schritt von der Entscheidung zur Tat nicht einem fließen-den Übergang entspricht (vor allem in schwierigen Situa-tionen wie Kündigung, Scheidung, Durchhalten einesAlkoholverzichts etc.). In diesen Fällen dient der vierteSchritt der Sinnerfassungsmethode dazu, Mittel und Wegezu finden, die Realisierung des gewählten Weges zu un-terstützen. Dazu gehören: einen Handlungsplan entwerfen(genaue Abfolge der Schritte, die zur Durchführung nötigsind), Durchspielen der Situation, Belohnungen, Imagina-tionen etc.

(Die 4 Schritte können auch – zur leichteren Merkbar-keit – als 4 W’s formuliert werden: 1. Wahrnehmen, 2.Werten, 3. Wählen, 4. Wirklich machen)

Im folgenden möchte ich die Arbeit mit der Sinner-fassungsmethode anhand von drei Beispielen aus der Pra-xis darstellen. Ich habe sie ausgewählt, um die recht un-terschiedlichen Situationen, Themenschwerpunkte undZiele vermitteln zu können, die mit dieser Methode behan-delbar sind.

1. Wahrnehmen

Martha S.In den ersten Stunden stand für sie im Vordergrund,

daß alles, was sie früher erfüllt hatte, nun durch denSchiunfall nicht mehr möglich war, durch die Arbeitsun-fähigkeit. Während sie darüber klagte, fiel mir dazwischenimmer wieder auf, daß sie Dinge erwähnte, die ihr wich-tig waren: der Haushalt, der zwar mühsam zu bewerkstel-ligen war, aber laut ihrer Aussage immer “tip-top”, Stik-kereien, wo sie nur eine Hand benötigte, das Ritual desfestlichen Sonntagmorgen Frühstücks – und die Besucheim Kaffeehaus. (Dabei blitzte sogar etwas in ihren Augen.)

Obwohl aus ihren Erzählungen immer wieder die Be-deutung dieser Tätigkeiten spürbar war, sprach sie davonmeistens beiläufig, oft abwertend, so als wäre das alleszwar nettes Beiwerk, aber ohne ihren Beruf als Hauptpfei-ler wertlos.

Nach einigen Stunden, in denen die Trauer um ihrenBeruf und Fähigkeiten, die ihr nun nicht mehr zugänglichwaren, im Vordergrund gestanden war, begann ich hinsicht-lich dieser möglicherweise wichtigen Tätigkeiten nachzu-fragen. Ich fragte nach dem “Wer”, “Was”, “Wann”, “Wo”,um für mich selbst ein genaues Bild zu bekommen und zusehen, welchen Raum diese Dinge im Leben der Klientineinnahmen; bzw. eine Ahnung entstehen zu lassen, ob ihretwas im Haushalt, bei den Handarbeiten oder auch imKaffeehaus wichtig werden könnte.

Am Beispiel “Kaffeehaus” möchte ich die Schritte, diewir mit Hilfe der Sinnerfassungsmethode durchwanderten,genauer schildern.

Ich ließ mir ihr bevorzugtes Kaffeehaus schildern. An-fangs brach sie diese Erzählungen rasch ab mit dem Hin-weis, daß es ohne Bedeutung sei, daß sie dort “eh nur siehtwie die anderen alle so geschäftig sind”. Dennoch erzähl-te sie von Stunde zu Stunde mehr, was sie dort beobach-tete, welche Zeitungen sie laß, welche Torten sie bestellte

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er sagt, “Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinem Sohn.” Doch nun war sein Sohn wegen eines Jobs nach Au-

stralien übersiedelt und hatte dem Vater angeboten, ihn “mit-zuverpflanzen”, wie Herr Hans es ausdrückte.

Hans F. konnte sich bis jetzt nicht entscheiden, und wirbeschlossen uns diese schwierige Frage gemeinsam anzu-sehen: “Wenn ich hier bleibe, sehe ich ihn nur mehr ein-mal, höchstens zweimal im Jahr. Das wäre schon eine gro-ße Umstellung!” Bisher waren die beiden jede Woche ein-mal miteinander unterwegs gewesen – zum Fischen oderbeim Heurigen und hatten viel miteinander geredet. “InAustralien könnten wir es so weitertun, allerdings ohneHeurigen und mit dem Fischen wird’s auch eher nichts: esist sehr trocken dort, wo mein Sohn jetzt wohnt.” Hier inWien hatte Herr Hans F. seine gewohnten Dinge um sichund konnte seinen gewohnten Hobbies nachgehen.“Wissen’s da kenn ich mich aus, da sind halt meine Wur-zeln! – Aber halt ohne meinen Sohn!”

Soweit die Fakten, die Herr Hans F. schon selbst ge-nau betrachtet hatte, die ihm jedoch wie er verwundertfeststellte, bisher nicht zu einer Entscheidung verhelfenkonnten.

2. Werten

Martha S.Wir sind bei Frau Martha S. stehengeblieben, als sie

begonnen hatte, ausführlicher und genauer über ihreKaffeehausbesuche zu erzählen.

Nun war es Zeit zu erforschen, welche Gefühle FrauMarthas Beobachtungen und Erfahrungen begleiteten. Ichfragte nun nicht mehr nur nach dem “Was”, sondern nachdem “Wie”; ich fragte nach der Atmosphäre im Kaffeehaus,wie sie sich dort fühlte, was ihr dort besonders gut tue.Auf meine Frage, ob sie sich’s im Kaffeehaus bequemmachte, erfuhr ich, daß sie mittlerweile einen Lieblingsplatzhatte, von dem aus sie das Treiben gut beobachten konn-te. Sie schilderte, wie sie sich in die gepolsterte Sitzbankfallen ließ und ihren Kaffee bestellte. Kaffee trinken warimmer eine wichtige, aber hastige Gewohnheit gewesen.Nun war Gelegenheit, dieser Gewohnheit mehr Raum zugeben und sie ins bewußte Erleben zu bringen. Ich bat sie,mir genau zu schildern, was sie macht, wenn der Kaffeeschließlich vor ihr steht:

K: “Ich gebe zwei Löffel Zucker hinein, rühre um undtrinke ihn.”

Th: “Haben Sie die Tasse auch schon mal ganz bewußtin die Hand genommen und gespürt? Haben Sie schon ein-mal dran gerochen?”

K: “Nein.”Th: “Wir können uns jetzt mal in der Phantasie vor-

stellen, das zu tun. Stellen Sie sich mal vor, Sie nehmenIhre Kaffeetasse in die Hand, was spüren Sie?”

K: “Sie ist warm, schön warm.”Th: “Gehen Sie einmal mit Ihrer Nase ganz nah an die

Schale!”K: “Feucht, der Dampf steigt mir in die Nase. Aber es

und worüber sie mit einer Freundin, die sie dort immerwieder traf, plauderte.

Bald ließ sich beobachten, daß ihre Wahrnehmung brei-ter und differenzierter wurde.

Karola M.Frau Karola M. ist eine sehr attraktive junge Frau. Ihre

Attraktivität zeigt sich vor allem in ihrer Weise, auf Men-schen zuzugehen, in ihrer kultivierten, warmen Art auf die-se einzugehen, die einen sehr für sie einnehmen kann.

Karolas größter Wunsch war eine Familie. Die Vorstel-lung, mit 30 Jahren sollte man eine Familie gegründet ha-ben, nur dann sei das Leben sinnvoll, nur dann wäre sieihrer Bestimmung als Frau gefolgt, durchwirkte ihre Wahr-nehmung. Aus ihrer Familiengeschichte war ein Festhal-ten an dieser Vorstellung durchaus verständlich. Ihre El-tern hatten sich scheiden lassen, als Karola 2 Jahre alt war.Die Mutter, die die Scheidung nicht verwinden konnte, gabihr als wesentliche Botschaft von klein auf mit auf denWeg, daß Ehe und Familie den Lebenssinn darstellen.

Zur Zeit hatte sie sich recht zurückgezogen, fast et-was depressiv; einerseits weil sie sich “eh nicht zu etwasProduktivem aufraffen” konnte, andererseits weil sie nichtmehr all die glücklichen Menschen ständig vor der Nasehaben wollte. Egal ob sie im Park saß oder essen ging,überall sah sie glückliche Paare. Am schlimmsten erlebtesie es am Sonntag Vormittag, wenn sie ins Café ums Eckfrühstücken ging: da saßen dann rund um sie glücklicheFamilien. Vater und Mutter verliebt ineinander und zufrie-den und erfüllt über ihren Nachwuchs.

Wir verweilten beim Schritt “Wahrnehmen”. Die Ver-zerrungen stachen mir ins Auge und so legte ich den er-sten Schwerpunkt auf eine genaue Beschreibung der Wahr-nehmungen. Wir besprachen ihre Sichtweise, rund um sichnur glückliche Paare bzw. Familien zu sehen. Ich fragtesie nach Beispielen, woran sie das Glücklichsein erkennenkönne. Sie wollte schon zur Antwort ausholen, da stutztesie und schüttelte im nächsten Augenblick den Kopf über“so eine Einbildung”. Es war überraschend, wie schnellKarola M. diese Idealisierung aufgeben konnte.

Wir wandten uns der Beschreibung ihres eigenen Le-bens zu, das von vielseitigen Interessen und Tätigkeiten ge-kennzeichnet war. Ich versuchte zu einer möglichst sach-lichen Beschreibung ihrer Lebensweise zu gelangen. Dennegativen Seiten sollte genauso Raum gegeben werden wieden positiven. Zwar drängte sich die Klage über ihr Lebenimmer wieder in den Vordergrund, aber mit Fortdauerunser Bemühung gelang es ihr besser, nicht nur den Schat-tenseiten ihres Singlelebens Augenmerk zu schenken, son-dern auch ihren Aufgaben, Freizeitaktivitäten und befreun-deten Menschen.

Hans F.Herr Hans F. ist Pensionist. Von seiner Frau lebt er seit

Jahrzehnten getrennt. Er ist mit seinem bescheidenen Le-ben ganz gut zurechtgekommen. Er wandert und liest gern,er pflegt seine Heurigenrunde und “das Wichtigste”, wie

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EXISTENZANALYSE 1/00 39

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riecht gut, ich mag den Kaffeegeruch sehr.”Th: “Und nun?”K: “Ich nehme vorsichtig den ersten Schluck. Er

schmeckt mir.”Th: “Wie schmeckt er genau?”K: “Mollig, süß, das Warme ist angenehm.”Th: “Und wenn Sie ihn schlucken?”K: “Die Wärme geht bis in den Magen.”Th: “Tut das gut?”K: “Ja, schon, wenn ich mir das so vorstelle, wird mir

wohlig und warm.”Immer wieder stockte sie und wertete diese positiven

Erfahrungen mit dem Hinweis ab, daß das alles ja keinenwirklichen Wert hätte. “Was ist das schon...?”

An solchen Punkten wechselten wir die Blickrichtung.Ich fragte sie: “Was wäre, wenn Sie diese Tätigkeiten undErlebnisse, wie den Kaffeehausbesuch und Ihre Handar-beiten, nicht hätten?”

Anfangs wehrte sie sich, auf diese Alternative hinzu-schauen: “Na da wäre auch nicht viel anders!”

Mit der Zeit wurde sie bei diesen Fragen stiller, bis sieschließlich sagte: “Ich weiß, da würde ich schnell depres-siv werden, ich würde dahinsumpern, vor dem Fernsehersitzen.”

Einmal sagte sie: “Ich weiß, das wäre keine gute Vari-ante. Da wär‘ mein Leben wirklich aus.”

Danach wurden die Abwertungen ihrer Situation weni-ger und sie wandte sich den neuen Bereichen intensiverzu – allen voran ihren Kaffeehausbesuchen, mit denen sieso manchen Nachmittag verbrachte. Ihre Erzählungenwurden ausführlicher und bedeutend emotionaler. So schil-derte sie nun den Genuß ihres Kaffees folgendermaßen:“Schon wenn der Kellner kommt, rieche ich den Duftmeines Kaffees und freue mich drauf. Ich löffle immerzuerst vorsichtig die Schlagobershaube weg. Die lasse ichmir auf der Zunge zergehen. Und dann nehme ich denersten Schluck vom Kaffee. Ich lasse ihn die Kehleruntergleiten, atme tief durch und denke ‘gemütlich hab‘ich’s jetzt’!”

Karola M.Im 1. Schritt “Wahrnehmen” war bereits eine reichhal-

tige Palette von Tätigkeiten, Hobbies, Leistungen angespro-chen worden, Bereiche, für die sie viel Zeit und Einsatzaufbrachte. Anhand des geleisteten Einsatzes versuchte ichden Wert dieser Dinge mit ihr zu erarbeiten. Zum Beispieldas Klavierspiel: Aus dem Erzählen wußte ich, daß sie damitrecht intensiv und begeistert begonnen hatte. Nach 4Monaten hatte sie ihren ersten Boogie gespielt. Ich fragtesie, wie sie das Spielen erlebt hatte. Ihre Antwort: “Daswar recht schön, aber die Luft war ja bald raus. Wozu sollteich spielen, so für mich allein?”

Zu einem späteren Zeitpunkt versuchte ich wieder, das,wie ich annahm, positive Gefühl zu bergen, das sie beimBoogie hatte, als es ihr gelang, ihn gut zu spielen. Dochihre Antworten blieben immer gleich. Sie fügte noch hin-zu: “Gut wäre es erst dann, wenn ich mit meinen Kindern

am Klavier spielen könnte!” Mir wurde deutlich, daß dieBotschaften ihrer Kindheit und ihre verfestigten Vorstellun-gen ein Hinfühlen zu den Werten ihrer Situation nicht er-laubten.

An diesem Punkt verließen wir das direkte Arbeiten mitder Sinnerfassungsmethode und wendeten uns der Aufar-beitung von Karolas biografischen Hindernissen zu.

Hans F.Wir nahmen die Bewertung der beiden Alternativen,

zwischen denen Herr Hans F. pendelte, in Angriff. Ich regteihn dazu an, sich das Leben in Australien genau auszuma-len. Er schilderte: “Wir würden gemeinsam in einem Hausam Rand einer kleineren Stadt wohnen. Das Haus siehtsehr nett aus auf den Fotos. Wir hätten´s dort recht ge-mütlich. Am Wochenende auf der Terrasse frühstücken,vielleicht einen Ausflug machen...” Wir vertieften die At-mosphäre eines solchen Wochenendes in den Gesprächenbis zu dem Punkt, wo er – aber auch ich als Zuhörerin –spüren konnte, wie wohl er sich im Zusammensein mitseinem Sohn und seiner Schwiegertochter fühlen würde:“Die Welt ist einfach in Ordnung, wenn wir so sitzen undreden, was trinken...”

Mir fiel auf, daß sich Hans F. bei seinen Schilderungenimmer auf das Wochenende, auf das Zusammensein mitSohn und Schwiegertochter konzentrierte; und so fragteich langsam auch nach, wie er sich sein Leben in Austra-lien unter der Woche vorstellte.

Die Stimmung von Hans F. schlug bei dieser Vorstel-lung deutlich um. Er wirkte bedrückt, nur stockend ka-men Bilder: Er sah sich allein auf der Terrasse in einemSchaukelstuhl. Ein Gefühl des Verlorenseins breitete sichaus. Er konnte sich Aktivitäten kaum vorstellen. Es stelltesich heraus, daß er nicht Englisch sprach und sehr daranzweifelte, es noch lernen zu können. So sah er sich diemeiste Zeit sehr zurückgezogen am Grundstück des Soh-nes. Zögernd – so als würde er das nicht gern ausspre-chen – gestand er sich ein, schon auch einen Aktionsradi-us und eigenen Bereich zu brauchen, in dem er sich rüh-ren konnte. Je länger wir uns diesem Bild widmeten, de-sto eingesperrter und gleichzeitig orientierungsloser fühlteer sich.

An diesem Punkt angekommen kehrte er in Gedankennach Wien zurück. Hier sah er sich ganz und gar nichtuntätig herumsitzen. Verwundert stellte er fest, daß seineWoche hier recht ausgefüllt war. Das war ihm bisher nieaufgefallen. Wir beleuchteten die einzelnen Tätigkeiten nä-her, und es stellte sich heraus, daß Hans F. zwar nur miteinigen wenigen Menschen in Verbindung stand, mit die-sen verband ihn aber eine jahrzehntelange Freundschaft.

“Natürlich hab´ ich mit diesen Menschen nicht so einenges Verhältnis wie mit meinem Sohn, aber sie sind alteKumpel. Ich kann mit ihnen etwas unternehmen, und siewaren auch zur Stelle, wenn ich sie gebraucht hab‘.” “Undwenn Sie nach Australien gingen...?” “Ich würde sie sehrvermissen” antwortet Hans F. rasch und ist im nächstenMoment auch darüber erstaunt. “Ich war mir dessen noch

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PRAXIS

nie bewußt: sie würden mir fehlen! Bei meinem Sohn wardas immer ganz klar...” Er dachte nach. “Es geht nicht nurum die Freunde, es geht um das, was wir miteinander tun,z. B. beim Heurigen, wie der Schmäh rennt, wenn uns derWein schmeckt. Es ist die ganze Atmosphäre – ich kannmir das nicht woanders mit anderen Leuten vorstellen.”

Je länger wir in dieser Fantasie blieben, umso spürba-rer wurde die Bindung von Herrn Hans F. an seine Hei-mat.

3. Entscheiden

Martha S.Durch unsere Bemühungen, verschiedene Tätigkeiten

hinsichtlich ihres möglichen Wertes für sie anzufühlen undabzuwägen, konnte sie nun recht gut unterscheiden, wasihr wichtig war und Freude bereitete und was nicht – undvor allem, wie sie sich im Falle des Hängenlassens fühlenwürde. Wie in dem herausgestellten Beispiel des Kaffee-hauses, so war auch in einigen anderen Bereichen Freudezurückgekehrt. Dennoch: Wenn bisher das Gespräch dar-auf gekommen war, diese Dinge als ihren Lebensinhalt zuakzeptieren, so hatte sie das strikt von sich gewiesen. Dasalles sei nett, aber mit dem Wert ihres Berufes konntendiese neuen Erfahrungen nicht mithalten.

Doch eines Tages war es soweit. Sie kam und erzähl-te, sie habe sich Fotos aus der Arbeitszeit angesehen: “Ichbin erschrocken, wie gestreßt ich ausgesehen habe. Da habeich mir gedacht, eigentlich eine tolle Chance, ich kann esmir jetzt gut gehenlassen. Ich habe schon so viel gearbei-tet im Leben, so viele Überstunden gemacht, jetzt darf ichdas Leben genießen.”

Die Entscheidung, die neue Lebenssituation als wert-voll anzunehmen, war somit spontan gefallen.

Hans F.Je weiter wir den Fantasien gefolgt waren, wie ein

Leben hier und in Australien aussehen würde, desto ver-änderter erschien mir seine Stimmung. Das Depressive,Leblose, war einer Stimmung gewichen, in der ich ihnzwar traurig, aber gleichzeitig lebendiger erlebte. Ich teil-te ihm meine Beobachtung mit, er nickte: “Ja, es stimmtschon.” Er kämpfte mit den Tränen. “Wissen’s, je längerich drüber nachdenke, umso klarer wird mir, wie ich michentscheiden muß. Eigentlich weiß ich’s schon die ganzeZeit. Ich bin hier verwurzelt, alles was ich tu und denk,gehört hierher. Das kann man nicht einfach verpflanzen.”

Dadurch zeichnete sich die Richtung der Entscheidungab. In den darauf folgenden Stunden stand die Trauer überdie künftige Entfernung von seinem Sohn im Mittelpunktund half bei der Festigung der Entscheidung.

4. Durchführen

Martha S.Für die Durchführung gab es bei Frau Martha S. kein

Hindernis mehr. Schon im langen Prozeß des Wertens hatte

sie begonnen, sich den neuen Lebensbereichen zunehmendzuzuwenden und sie mit Leben zu erfüllen. Die schließlichgefallene Entscheidung verlieh ihr die dafür nötige Kraftund Überzeugung.

Hans F.Die Entscheidung war gefallen, für ein überzeugtes

Tragen dieser Entscheidung benötigte Herr Hans F. jedochnoch einige Unterstützung. So stand nun bevor, die Ent-scheidung dem Sohn mitzuteilen. Ich unterstützte ihn beimVerfassen des Briefes. Eine große Sorge war, nun mit demSohn in keinem Austausch mehr zu stehen. Das Bewußt-sein, nicht nur regelmäßig Briefe schreiben, sondern auchErlebnisse und Gedanken am Telefon spontan mitteilen zukönnen, beruhigte ihn sehr. Er kalkulierte, wie oft eineReise nach Australien möglich wäre.

Der Gestaltung der Wochenenden schenkten wir beson-deres Augenmerk, um ein depressives Versinken an denTagen, an denen er bislang mit seinem Sohn zusammengewesen war, zu verhindern. Wir besprachen auch, seineFreunde bei einem großen Treffen von der Entscheidungzu informieren. Ihre Unterstützung und der intensive Kon-takt mit ihnen würde nun sehr wichtig für ihn sein.

3 Schicksale – 3 Wege – 3 Ausgänge

Martha S. und Hans F. konnten mit Hilfe der Sinner-fassungsmethode gut zu einer Lösung ihres Problemesgelangen. Martha S. befand sich am Beginn der Gesprä-che in einer für das Hereinbrechen der Sinnfrage typischenSituation: einem radikalen Sinnverlust durch den Verlusteines großen Wertes in ihrem Leben. Verschiedene Berei-che ihres Lebens ließen eine neue Sinnerfüllung vermuten,doch es brauchte eine beratende Unterstützung, um ausMöglichkeiten reale Sinnerfahrungen werden zu lassen. DieSinnerfassungsmethode stellte das Handwerkszeug dafürdar, Schritt für Schritt von einer Sinnleere in einen neuenerfüllten Alltag zu gelangen.

Auch das Problem von Hans F. stellte eine typische Si-tuation dar, in der die Sinnfrage akut wird, ein Werte-konflikt. Zwei Möglichkeiten, sein Leben weiter zu gestal-ten, warteten auf eine Entscheidung. Ihre scheinbareGleichwertigkeit bzw. ihre deutlich spürbare Verknüpfungmit negativen Konsequenzen lähmten Herrn Hans F. undließen die Entscheidung immer länger ausstehen. Mit Hilfeder Sinnerfassungsmethode wurde Herr Hans F. aus derLähmung heraus- und zum Abwägen und Entscheiden derMöglichkeiten hingeführt.

Die Anwendung der Sinnerfassungsmethode ist abernicht nur durch die Thematik “Sinnproblem” vorgegeben,sondern auch durch die personalen Fähigkeiten der Klien-ten. Martha und Hans hatten vor dem Auftreten ihres Pro-blems die Anforderungen ihres Lebens gut gemeistert, hat-ten Fähigkeiten, die Realitäten zu sehen, sich auf sie ein-zustellen und mit den Gegebenheiten umzugehen.

Anders Karolas Situation. Wie sich bei der Schilderungihres Problems gezeigt hat, waren die Vorstellungen für ihr

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PRAXIS

Leben so fixiert, daß ein Hinspüren auf vielleicht Wertvol-les immer wieder fehlschlug. Wir verließen daher die di-rekte Arbeit mit der Sinnerfassungsmethode, um die Vor-erfahrungen der Klientin, die zu dieser hemmenden Fixie-rung geführt haben, aufzuarbeiten.

In Karolas Fall wird die Grenze der Sinnerfassungs-methode deutlich. Als logotherapeutische Methode liegt ihrSchwerpunkt in der Beratung von Menschen in konkretenProblemsituationen, deren personale Fähigkeiten relativ gutentwickelt sind. In Fällen pathologischer Verfestigung vonEinstellungen und Verhaltensweisen ist ein Wechsel zurtherapeutischen Ebene angezeigt.

Hier erweist sich die enge Beziehung zwischen derSinnerfassungsmethode auf der beraterischen Ebene undder ebenfalls von Längle entwickelten Personalen Existenz-analyse (1990b) auf therapeutischer Ebene als besondersvorteilhaft. Die Entsprechung der Schritte der beiden Me-thoden gibt dem Therapeuten die Möglichkeit, an demPunkt, an dem der Fortgang der Sinnerfassungsmethodestockt, direkt in den jeweiligen Schritt der PersonalenExistenzanalyse zu wechseln, um nach dessen therapeuti-scher Bearbeitung wieder zur Sinnerfassungsmethode zu-rückzukehren und den Weg zu einer sinnerfüllten Existenzweiter zu beschreiten.

Literatur

Frankl, V. E. (1980): Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychothera-pie für heute. Freiburg: Herder

Frankl, V. E. (1982): Ärztliche Seelsorge. Wien: DeutickeFrankl, V. E. (1984): Der leidende Mensch. Anthropologische Grund-

lagen der Psychotherapie. Bern: HuberLängle, A. (1985): Wege zum Sinn. Logotherapie als Orientierungs-

hilfe. München: PiperLängle, A. (1987): Sinnvoll leben. Angewandte Existenzanalyse. St.

Pölten: Niederösterreichisches PressehausLängle, A. (1988): Entscheidung zum Sein. Viktor E. Frankls Logo-

therapie in der Praxis. München: PiperLängle, A. (1990): Methode der existenzanalytischen Psychothera-

pie. Kasuistik. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psycho-path., Psychother. 38: 253–262

Längle, A. (1990): Personale Existenzanalyse. In: Wertbegegnung.Wien: Tagungsbericht 4 der GLE, 133–160

Längle, A. (1991): Was sucht der Mensch, wenn er Sinn sucht? In:Daseinsanalyse 8: 174–183. Basel: Hager

Längle, A. (1999): Existenzanalyse – Die Zustimmung zum Lebenfinden. In: Fundamenta Psychiatrica 12: 139–146

Längle, A., Orgler, Ch., Kundi, M. (2000): Die Existenzskala. Göt-tingen: Hogrefe

Sinnerfassungsmethode (SEM)

Eine lexikalische Kurzfassung

Von A. Längle im Rahmen der Logotherapie entwickelte Methode, die den Sinnfindungsprozeß in vier aufeinan-derfolgenden Stufen operationalisiert. Die Stufen beziehen sich auf die vier Grunddimensionen menschlicher In-teraktion mit der Welt:

- Wahrnehmen (Informationsverarbeitung, Erkennen)- Fühlen (Wert-Empfinden)- Denken (Urteilen, Entscheiden)- Handeln (Ausführung, Praxis)

Sinn nimmt zuerst Bezug auf die zu erkennende Realität (Gegebenheiten und Bedingungen) und den in ihr enthal-tenen Spielraum (Möglichkeiten). Durch das Erfühlen und Spüren der Wertigkeiten (Emotionstheorie,Wertetheorie)entsteht eine Hierarchie der wahrgenommenen Realitäten und Möglichkeiten. Diese bildet die Basis für den Wil-lensakt (Wille) des dritten Schrittes, in welchem sich die Person für den größten, durch sie jetzt realisierbarenWert entscheidet (Sinn). Die Umsetzung dieses Wertes und die tatkräftige Ausrichtung auf seine Realisierungmacht den Sinn erst vollständig: im Sich-Einsetzen erhält der Sinn sein existentielles Gewicht.Existentieller Sinn beinhaltet somit die Qualitäten:Realitätsbezug und Realisierbarkeit; Emotionalität; Kognition, Freiheit und Gewissenhaftigkeit; Verbindlichkeit, Ver-antwortung und Aktivität.Die Methode ist unter der Bezeichnung “4 W” geläufig: Wahrnehmen, Werten, Wählen, Wirken. Sie stellt dastheoretische Gerüst der Existenz-Skala dar und zeichnete die Entwicklung der Grundmotivationen der Existenz-analyse vor.

Alfried Längle & Silvia LängleLiteratur:Längle, A. (1988): Wende ins Existentielle. Die Methode der Sinnerfassung. In: Längle, A. (Hrsg): Entscheidung zum Sein. Viktor E.

Frankls Logotherapie in der Praxis. München: Piper, 40-52Frankl, V. E. (1987): Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Frankfurt: Fischer, 4°, 75ff.

Dr. phil. Helene DrexlerEinwanggasse 23/10

A-1140 Wien

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Die personale PositionsfindungDoris Fischer-Danzinger

& Ursula Janout

In der Einleitung wird kurz auf die Entste-hung- und Entwicklungsgeschichte derPersonalen Positionsfindung hingewiesen.Nach der Indikationsstellung werden die dreiSchritte der PP (PP1 – PP2 – PP3) detailliertbeschrieben und durch ein Fallbeispiel illu-striert.Abschließend werden Unterschiede undÄhnlichkeiten der Methode mit derPersonalen Existenzanalyse (Längle), derDereflexion (Frankl) und der ParadoxenIntention (Frankl) geschildert.

Schlüsselwörter: Personale Positions-findung, Existenzanalyse, Person

The introduction gives a brief outline of theorigin and development of the Method ofascertaining one’s Personal Position.After dealing with the question of indication,the three steps of the method (PP1 - PP2 -PP3) are described in detail, and illustratedby a case study.Finally the differences and similaritiesbetween this method on the one hand, andthe Personal Existential Analysis (Längle),the Dereflection (Frankl), and the ParadoxicalIntention (Frankl) on the other, are dis-cussed.

Key-words: method of ascertaining ones’spersonal position, existential analysis,personhood

PRAXIS

Die Personale Positionsfindung (PP) wurde in den Jah-ren 1984 bis 1987 von A. Längle entwickelt und 1994 imBulletin der GLE (Vorläufer der heutigen EA) publiziert. Dietheoretischen Grundlagen dafür waren die allgemeineExistenzanalyse Frankls, insbesondere das Konzept derFreiheit in seiner Aktualisierungsform der Stellungnahme.Aber auch anthropologische Weiterentwicklungen innerhalbder Existenzanalyse, die sich ebenfalls in diesen Jahrenanbahnten, wie die Beziehungstheorie, die Emotionstheorieund die damaligen Ansätze der Aggressionstheorie flossenin die Formulierung des Positionsfindungsprozesses mit ein(vgl. Längle 1994). Vor allem ist die Phänomenologie vongrundlegender Bedeutung und durchzieht die ganze Methodeder PP.

Als Indikationen sind anzugeben: Blockade in der Aus-führung angestrebter (sinnvoller ) Ziele, bei Gefühlen desAusgeliefertseins, der Ohnmacht und Passivität sowie beigeneralisierenden Annahmen und Überzeugungen(”beliefs“).

Im klinischen Bereich kommt die PP bei Ängstlichkeit,Hilflosigkeit, Selbstunsicherheit, Mutlosigkeit, Depressivi-tät und Hyperreflexion (Frankl) zum Einsatz.

Die Schritte der PP

Die einzelnen Schritte der Personalen Positionsfindungsollen hier – zur Erinnerung – nochmals in aller Kürzedargestellt werden; ausführlich beschrieben ist diese Me-thodik in dem Artikel “Die Personale Positionsfindung” von

A. Längle (siehe: Längle 1994).Die Methode der PP besteht aus 3 Schritten, bei denen

dreimal Position zu beziehen ist:

1. Schritt (PP 1): “Position nach außen”

Zunächst geht es um Realitätsprüfung (“fest”-stellen)und um Abgrenzung gegenüber Generalisierungen, nichtrealitätsgerechten Annahmen und Einschätzungen (z.B.:“Ich werde das nie schaffen”, “Ich mache alles falsch”etc.). Dazu bedarf es der offenen Wahrnehmung und Zu-wendung zur Situation (die einen in Bedrängnis geratenläßt). Es geht um das Infragestellen des scheinbarGewußten.

Der Störbereich wird fokussiert, indem der Blick vomSubjekt und seinem Erleben weggelenkt wird auf die Sach-lage. Es beginnt hier eine erste Aus-ein-ander-Setzung. Diegrundlegende Frage lautet: “Was ist wahrgenommeneWirklichkeit und was ist interpretierte Wirklichkeit?” oder:“Was habe ich gesehen und was habe ich mir dazu gedachtbzw. was für Erklärungen habe ich mir gegeben?”.

Ein Beispiel dazu: Ein Patient erzählt, dass sein heuti-ger Arbeitstag schon in aller Frühe schlecht begonnen hat,da sein Chef mit seiner Arbeit sicher nicht zufrieden ge-wesen ist...er hat ihn “so grantig” angeschaut, als er ihmin der Früh auf dem Gang begegenet ist und er hat auchkaum seinen Gruß erwidert. Den restlichen Tag hat besag-ter Patient damit verbracht, “sein Sündenregister” nach

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Fehlern zu durchforsten und ist selbst in seiner Arbeits-weise zunehmend unsicherer geworden. Gedanken wie“Ich mache ja doch immer wieder alles falsch”, “Nie istjemand mit meiner Arbeit zufrieden” haben immer mehrzugenommen und ihn fast völlig am Weiterarbeiten ge-hemmt. Auf die Frage, ob ihm sein Chef denn eine Rückmel-dung bezüglich seiner Arbeitsweise gegeben hat, meint er:“Nein...aber das liegt wahrscheinlich daran, dass ich michin meinem Zimmer verkrochen habe, um ihm möglichst garnicht zu begegnen”. Auch nach längerem Nachfragen bleibtes dabei, dass die wahrgenommene Wirklichkeit lediglichder ernste Blick und der kaum erwiderte Gruß des Vorge-setzten gewesen sind. Die interpretierte Wirklichkeit desPatienten, nämlich dass sein Vorgesetzter mit seiner Arbeits-weise nicht zufrieden ist, hat der Patient als Tatsache ge-nommen, ohne seine Interpretation auf die Realität hin zuüberprüfen, also ohne z.B. den Vorgesetzten zu fragen, ober etwas an seiner Arbeit auszusetzen hat.

Im ersten Schritt der PP geht es nun darum, den Blickvom Gefühl und von den Meinungen wegzulenken(“Epoché”) und zu jener Realität hinzuführen, die als be-lastend erlebt wird. Nun geht es darum, festzustellen, wasin dieser Situation tatsächlich festgelegt ist und was mög-licherweise noch offen ist (vielleicht hat sich sein Chefüber etwas anderes geärgert, vielleicht hat er auch nur ernstgeschaut, da er konzentriert nachdachte, vielleicht war ersehr in Eile und hat den Patienten daher kaum wahrgenom-men, etc.). Der Ausgang der Situation ist jedenfalls offenund keinesfalls so sicher negativ, wie die ängstliche oderdepressive Fixierung erwarten läßt.

Typische Fragen: “Was ist?”, “Was kann realistischer-weise passieren?”, “Stimmt das auch?”, “Woran kann ichdas sehen?”, “Was stimmt daran?”, “Woher nehme ich dieSicherheit, dass es so ist?”

2. Schritt ( PP 2): ”Position nach innen”

In diesem Schritt wird die Position zu den eigenenAnsprüchen, Erwartungen und Annahmen erarbeitet. Mantritt nun nicht der Welt, sondern sich selbst gegenüber.Generalisierungen, subjektive Theoriebildungen, Phantasi-en und Träume werden zurückgestellt (wiederum eine“Epoché”). Wichtig an diesem Schritt ist, dass die Situati-on konkret und in ihrer zeitlichen Begrenztheit (“Könnteich heute auf Anerkennung verzichten?”) gesehen wird unddass sie auf die situative Verfassung der Person und ihrKönnen bezogen wird. Es geschieht eine Auseinander-setzung mit den eigenen Zielen, Erwartungen, Ansprü-chen, den eigenen Wertvorstellungen und der Einschät-zung der eigenen Kraft, eine Situation emotional auszu-halten und durchstehen zu können. Indem nun die erlang-te Stellungnahme zu den Erwartungen, Wünschen, Ansprü-chen etc. auf die konkrete Situation bezogen wird, kanndie innere Distanz zur Situation (die durch die generalisie-rende Haltung entsteht), aufgegeben werden.

Typische Fragen: “Brauche ich die Anerkennung vondiesen Menschen heute oder könnte ich dieses eine Maldarauf verzichten?”, “Ist es wirklich so wichtig, dass esauch dieses eine Mal so sein muss, wie ich es erwarte?Könnte ich dieses eine Mal auch aushalten, dass es anderskommt?”, “Wenn die Realität so wäre (z.B. dass alle an-deren besser wären als ich), was würde mir heute da-durch verloren gehen?”

3. Schritt ( PP 3): “Position zum Positiven”

Die Person kann sich nun (nicht mehr hilflos äußeren(PP1) und inneren (PP2) Störeinflüssen ausgesetzt) aufihre eigenen und ursprünglichen Beweggründe bezie-hen und sich zu ihren Werten “dazustellen”. Es geht umein Sich–Einsetzen für die eigene Motivation, um ein Zu-sich-selber-Stehen. Das beinhaltet eine Wertprüfung undWertanalyse unter Zurückstellung abstrakter oder bloß ge-wünschter und nicht wirklich aktiv angestrebter Werte.

Typische Fragen: “Was ist Ihnen in dieser Situationwichtig?”, “Worum geht es Ihnen hier eigentlich?”, “Waszieht Sie an?”, “Was ginge verloren, wenn Sie es nichttäten?”

Dieses Freilegen der ursprünglich personalen Intentionführt prozeßhaft zu einer Haltung, die Frankl formal (abernicht methodisch) als “De-Reflexion” bezeichnet hat: sichvon den ängstigenden Gedanken lösen und sich dem Sinn,nicht dem Ängstigenden der momentanen Situation zuzu-wenden.

Fallbeispiel:

Ein 50jähriger Insasse einer Justizanstalt ist als “Haus-arbeiter” auf einer Gefängnisabteilung beschäftigt. Herr W.hat eine 16jährige Freiheitsstrafe wegen Mordversuchsabzusitzen. Von der körperlichen Statur her ist Herr W.groß und kräftig gebaut – in der Haftsituation an sich einVorteil, da man sich dadurch – normalerweise – leichtRespekt gegenüber den anderen Häftlingen verschaffenkann. Im Laufe der regelmäßigen Gespräche kristallisiertesich ein Thema heraus, das Herrn W.´s Leben im Haftraummaßgeblich beeinträchtigte: Herr W. ist ein exzellenterKoch, macht quasi “aus nichts etwas” und ist dazu vonseiner Einstellung her sehr freigiebig. Er teilt grundsätz-lich sein Eigentum mit seinen Zellengenossen. Seine Koch-künste beweist er in der Zubereitung des Abendessens füralle Kollegen im Haftraum, wobei er als Grundlage dasAnstaltsessen verwendet und dieses mit Zutaten verfeinert,die er vom Kaufmann bezieht (1mal pro Woche kommt einKaufmann in die Justizanstalt, bei dem die InsassenZusatznahrungs- und Genußmittel kaufen können). Zu ei-nem Stück Fleisch werden z.B. als Beilage ein besondersguter Reis und Zucchini gemacht. Herr W. kocht dannselbstverständlich für alle und erzählt mir immer wieder,was ihm alles gelungen ist – seltene Lichtblicke in seiner

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sonst sehr depressiven und oft genug verzweifelten Grund-stimmung, da er nicht verstehen kann, wieso es zu seinerschrecklichen Tat (Mordversuch) gekommen war (deswe-gen wollte er auch therapeutische Gespräche). Die Freu-de über ein gelungenes Nachtmahl wurde nun schon seiteiniger Zeit durch einen bestimmten Mitinsassen (“Ali”)getrübt, der in Herrn W.´s Zelle verlegt wurde und vonAnfang an Herrn W. gegenüber eine befehlende und ent-wertende Haltung einnahm. Dies äußerte sich darin, dasser Herrn W. Aufträge erteilte (“Du mußt das Bad aber auchputzen”) bis hin zum selbstverständlichen Mitessen des vonHerrn W. zubereiteten Nachtmahls, natürlich ohne auch nureine Silbe in ein “Bitte” oder “Danke” zu investieren. HerrW. litt zunehmend unter dieser Situation und erzählte mirimmer wieder, wie unverständlich ihm diese Haltung seiund dass er so nie sein möchte: “Man kann sich dochwenigstens bedanken, wenn einem jemand was schenkt?!”Nachdem die Atmosphäre im Haftraum immer angespann-ter wurde und Ali Herrn W. immer mehr zu sekkieren be-gann, war es notwendig “etwas zu tun”. Dass es um Ab-grenzung geht, war Herrn W. rasch klar – er wußte zumin-dest auf der kognitiven Ebene, dass es darum geht, Ali inseine Schranken zu weisen und dass Ali ihm als Haus-arbeiter nichts anzuschaffen hat. Trotzdem schaffte er diesenotwendige Begrenzung nicht, da er sich ihm gegenüberhilflos und ohnmächtig fühlte. “Der ist einfach stärker– ich weiss nicht, warum es nicht geht – wenn ich so mitIhnen darüber spreche, ist mir klar, was ich tun sollte, aberes geht irgendwie nicht”. Eine erste mögliche Abgrenzungfür Herrn W. würde darin bestehen, nicht mehr für Ali mit-zukochen. Ein direktes Ansprechen, dass er sich von Aliwünscht, dass dieser sein Kochen wertschätzt, war fürHerrn W. undenkbar. Er hatte zu sehr Angst vor dessenReaktion, vor einer Auseinandersetzung. Für ihn war vor-erst nur eine averbale Abgrenzung vorstellbar.

Wir schauten uns in der Folge einmal die Situation imHaftraum ganz genau an (PP1 – Position nach außen):Herr W. hat das Nachtmahl zubereitet und teilt normaler-weise die Portion auf alle auf. Es ging im ersten Schrittdarum, zu besprechen, ob Herr W. es einmal schafft, nichtfür Ali mitzukochen, wenn dieser ihn in dieser abwerten-den Weise behandelt. “Wie geht Ali mit dem für ihn zube-reiteten Nachtmahl um? Kann er es schätzen? Hat er sichschon einmal dafür bedankt? Was wird Ali machen, wenner einmal kein Essen von Ihnen, sondern nur das normaleAnstaltsessen bekommt? Was ist an seiner Reaktion zubefürchten? Müssen Sie das Essen auch für ihn zuberei-ten?” Herr W. begann nach und nach zu erkennen, dasses ihn sehr ärgert, wenn sich Ali nicht für das Essen (undauch für viele andere kleine Arbeiten, die Herr W. für dengesamten Haftraum übernommen hat) bedankt. Erwartun-gen, was eigentlich passieren könnte, wenn er nicht fürAli kocht, waren nicht konkret, nur ein Gefühl der undefi-nierten Furcht machte sich breit. Beim genauen Hin-schauen (trotz der Furcht – das war für ihn nicht leicht!)kam er zu dem Schluss, dass gar nichts passieren kann –

Ali wird im schlimmsten Fall verärgert sein, aber tun kanner ihm nichts. Vor einer körperlichen Auseinandersetzung(ein “gängiges” Mittel im Strafvollzug, Probleme mit Mit-insassen zu lösen – Ali hatte sich diesbezüglich schon ei-nen Namen gemacht) hatte Herr W. wegen seiner Statureigentlich keine Angst und dass Ali sich irgendwo beschwe-ren würde, war auch sehr unrealistisch: worüber sollte ersich denn auch beschweren können? Er kam zum Schluss,dass das Schlimmste was passieren könnte, war, dassAli aufmerksam wird, dass etwas nicht stimmt (was ihmGelegenheit bieten würde, seinen Unmut über die Unver-schämtheit von Ali anzusprechen) und dass Ali vielleichtverärgert sein würde.

Im 2. Schritt (PP 2 – Position nach innen) schautenwir uns an, ob es für Herrn W. heute – nur ein einzigesMal – möglich wäre, den Ärger von Ali auszuhalten. Könnteer es aushalten, ein einziges Mal als unhöflich und nichthilfsbereit eingeschätzt zu werden? Könnte er es eventuellauch aushalten, dass ihn dann die anderen Zimmerkollegenfür “gemein” und “unkollegial” halten? Die sehr starkeBetonung nur ein einziges Mal machte es für Herrn W.möglich, sich diese Situation in Gedanken realistisch vor-zustellen. So kam er zum Ergebnis, dass er es ein einzi-ges Mal wohl wagen könnte. “Nur ein einziges Mal....jaFrau Magister, ich glaube, das könnte ich schaffen” (da-bei atmete er ganz tief ein und ich konnte direkt sehen,was für ein grosser Berg da für ihn zu überwinden ist).Wir übten noch gemeinsam eine aufrechte Körperhaltungein, um den Mut für dieses eine Mal noch zu verstärken.Natürlich ist diese nach innen bezogene Position noch rechtschmal. Die Ansprüche von Herrn W.: ich möchte gemochtwerden, ich möchte jemand sein, dem niemand böse ist,ich möchte keine Auseinandersetzungen (denn Auseinan-dersetzungen, Kritik, Konflikte wurden von Herrn W. als“schlecht” bewertet, als etwas, das es zu vermeiden gilt),ich möchte nicht abwertend beurteilt werden, ich möchteein angenehmer Zeitgenosse sein etc. liessen zu diesemZeitpunkt noch keine grundsätzliche Bearbeitung zu. Die(mühsame, zeitlich viel aufwendigere) psychotherapeuti-sche Aufarbeitung wurde zurückgestellt und der Blick nurauf diese konkrete Situation mit den hier und jetzt ver-fügbaren Ressourcen gelenkt.

Im dritten Schritt (PP 3 – Position zum Positiven)schauten wir uns genau an, worum es ihm eigentlich geht,wenn er für andere kocht. “Warum kochen Sie für dieanderen und geben sich dabei solche Mühe? Worum gehtes Ihnen, wenn Sie bedenken, dass jeder Zimmerkollegeeinmal in der Woche etwas bekommen soll, was er sehrgerne ißt? Was ist Ihnen dabei wichtig?” Durch diese Fra-gen wurde sehr bald klar, dass Herr. W. gerne Freudebereitet, dass er gerne selber etwas Gutes ißt und dass ergrundsätzlich seine Freude auch gerne mit anderen Men-schen teilt. Und dass es ihm darum geht, die Haftsituationso oft wie möglich ein bisschen erträglicher für alle zumachen... Es geht ihm um das Miteinander im Haftraum,

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Welt/Vorstellung ICH PP 1

ICH ICH /Anspruch PP 2

ICH Werte - Welt PP 3

Welt ICH PEA 1

ICH Selbst PEA 2

ICH Welt PEA 3

um die Gemeinschaft in dieser sehr extremen Situation,auch darum, Abwechslung in den grauen, immer gleichverlaufenden Häftlingsalltag zu bringen. All dies sind Wer-te, die Ali offensichtlich nicht schätzen kann bzw. ihm auchgar nicht so wichtig sind. Herr W. hat in diesem Schrittdes Nicht-mehr-Kochens geschafft, eine Mitteilung zumachen: Er hat ein zumindest averbales Zeichen (Abgren-zung über Distanz) gesetzt, auch wenn es noch keinepersonale Auseinanderstzung (Abgrenzung in der gelebten,gestalteten Beziehung) ist. Das Positive an dieser Abgren-zung war für Herrn W., dass er nicht mehr enttäuschtwäre, wenn er keine Anerkennung, kein Danke von Alibekäme: er hat sich für ihn ja auch – bei diesem einen Malzumindest – keine Mühe gemacht. Diese Abgrenzung istein Einstehen für “seinen” Wert, Freude den Mitinsassenbereiten zu wollen; es geht um ein Schützen dessen, wasihm sehr wichtig ist.

Die Aufarbeitung der Fragen: “Wie tief trifft es mich,wenn all dies, was mir so wichtig ist, für jemand anderengar nicht wichtig ist?” “ Wie bedrohlich wird es für mich,wenn das Zusammenleben (im Haftraum) nicht harmonischist?” ist Aufgabe des weiteren therapeutischen Vorgehens.

Herr W. schaffte es tatsächlich, an diesem Abend nichtfür Ali zu kochen, was dieser vorerst gar nicht bemerkte.Erst die anderen Kollegen schnitten das Thema an undunterstützten Herrn W. dann im Gespräch mit Ali, dassdieser ja zu allen sehr unhöflich ist und Ali versprach dann,sich zu bemühen, sich in diesem Punkt zu ändern. “Na-türlich” verfiel er recht bald wieder in seine Unhöflichkeit,Herr W. kochte trotzdem für ihn, aber diese eine Erfah-rung von “ich muss mir nicht alles gefallen lassen” undvor allem das genaue Hinterfragen der realen Situationmachte es Herrn W. möglich, auch in anderen Situationen,in denen er sich ohnmächtig und hilflos fühlte (und da gabes viele), hin und wieder diese Gefühle zu durchbrechen,seine Werte zu verteidigen und sich so nach und nach auchmehr Respekt unter den Insassen (und nicht zuletzt mehrSelbstbewußtsein) zu verschaffen.

Reflexion der PP im Vergleich zu anderenMethoden

In der Durchführung der PP kommt es – wie schonder Name sagt – darauf an, daß der Patient in einerProblemsituation eine Position finden kann, die ihm einenpersonalen Umgang in der Situation ermöglicht, also einHandeln eröffnet, das sowohl der Situation wie auch derPerson angemessen ist. Das Auffinden dieser personalenPosition erfolgt in 3 Schritten: In der PP kommt es zuerstzu einer Auseinandersetzung der Person mit ihrer Situati-on. Daraufhin erfolgt die Stellungnahme der Person zu sichselbst, wobei sie sich von eigenen Erwartungen und An-sprüchen abgrenzt. Mit diesem Schutz nach außen und demgewonnenen inneren Freiraum kann sich die Person aufihre ursprüngliche Motivation beziehen und sich neu aufihre Situation (Werte-Welt) hin öffnen.

PP (PersonalePositionsfindung)

Ziel ist der Abbau vonHemmungen und Stär-kung des Selbst in emo-tional belastenden Situa-tionen.Inhaltlich geht es umdas Auffinden von Posi-tionen durch Mobilisierender vorhandenen freienKräfteressourcen.

Ebene des Könnens;stützende, wachstums-fördernde Methode(nur situativ aufdeckend)

PEA (PersonaleExistenzanalyse)

Ziel ist die Selbst-findung als Person: einLeben in Einverständnis,Zustimmung und Ach-tung.Inhaltlich geht es umdas Bergen von Emotio-nen und Einarbeiten indie personale Integritätund in authentischesVerhalten.Ebene der Emotionen,des Denkens, desHandelns; aufdecken-de, bearbeitende Me-thode.

PP und DEREFLEXION Frankls

Bei der Dereflexion (Frankl 1983) wird die Aufmerksam-keit von den Symptomen (von sich selbst) weg auf ein po-sitives Ziel gelenkt. Dies ist durch das prinzipielle Hin-geordnet- und Ausgerichtetsein des Menschen auf etwas(Idee, Werk, etc.) oder jemanden möglich. Frankl bezeich-net dies als “Selbst-Transzendenz” (z.B. Frankl 1982 35, 52).

Der Indikationsbereich der Dereflexion ist enger als derder PP und beschränkt sich auf Angst, Zwangs- undSexualneurosen, die durch Hyperintention bzw. Hyper-

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Hier fällt eine gewisse Ähnlichkeit des formalen Auf-baus mit der Grobstruktur der Personalen Existenzanalyse(Längle 1993) auf: Subjektiver Eindruck – persönliche,innere Stellungnahme – Ausdruck.

Um die PP im Kontext anderer Methoden der Existenz-analyse und Logotherapie besser einordnen zu können,wird im folgenden kurz auf Zusammenhänge, Ähnlichkei-ten und Unterschiede zwischen der PP und der PEA, derParadoxen Intention und der Dereflexion hingewiesen (vgl.dazu die lexikalischen Kurzfassungen S. 46 ff.).

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reflexion gekennzeichnet sind (Frankl 1982, 54-60, 147).Der Einsatz der Dereflexion ist abhängig von der Fähig-

keit der Person, ihre Aufmerksamkeit nach außen zu lenken.Die PP hingegen hat eher stützenden Charakter, inso-

fern sie den Patienten durch gezielte Auseinandersetzungmit der Realität, den eigenen Ansprüchen und der ur-sprünglichen Motivation stärkt und ermutigt in der neuenHaltung der phänomenologischen Offenheit.

Die PP ist eine methodisch gegliederte, auf den vorher-gehenden Schritten aufbauende, schrittweise Heranführungzur dereflektorischen Haltung, wobei der letzte Schritt, dasFinden einer authentischen Motivation und Hinwendungzur Situation (PP3) im Ergebnis bereits der klassischenDereflexion Frankls entspricht.

PP und Paradoxe Intention bei Angst

Die paradoxe Intention (z.B. Frankl, 1983) zielt aufeinen paradoxen Umgang mit sich selbst und so auf eineÄnderung der Einstellung zur Angst ab.

In der paradoxen Intention soll der Patient angeleitetwerden, sich genau das zu wünschen, wovor er sichfürchtet. Mit Einsatz des Humors gelingt es, zu sich selbstDistanz zu schaffen. An Stelle der Angst tritt, auch wennnur für einen Augenblick, die paradoxe Absicht und unter-bricht so den neurotischen Zirkel. Der Patient erfährt da-durch, daß ihm letztlich in den neurotisch befürchteten

Situationen doch nichts passieren kann.Die paradoxe Intention ist eine Methode der Angst-

konfrontation mit dem Ziel der Selbstdistanzierung. Sie ver-bleibt im Angstkontext.

Die PP ist auf die Angstauslöser gerichtet und kommtim Situationskontext zur Anwendung. Die Lösung vonängstlichen oder depressiven Fixierungen und die innereDistanzierung zur Situation erfolgt durch Konkretisierungder Realität und den eigenen Erwartungen. Die PP ist eineschrittweise Heranführung zu einer phänomenologischenHaltung in Situationen, wo die Offenheit durch Ängste,depressive Gefühle, Selbstwertzweifel, Oberflächlichkeitusw. verstellt ist.

Mag. Doris Fischer-Danzinger Mag. Ursula JanoutTilgnergasse 4 Furth 13

1238 Wien 4076 St. Marienkirchen

Literatur:

Frankl, V. E. (1982): Die Psychotherapie in der Praxis. Wien: DeutickeFrankl, V. E. (1983): Theorie und Therapie der Neurosen. München:

UTBLängle, A. (1993): Personale Existenzanalyse. In: Längle, A. (Hrsg.):

Wertbegegnung. Phänomene und methodische Zugänge. Wien:Tagungsbericht der GLE, 133-160.

Längle, A. (1994): Die Personale Positionsfindung (PP). Bulletin derGLE 11, 3, 6-21

Personale Positionsfindung (PP)

Eine lexikalische Kurzfassung

Phänomenologische Methode der Existenzanalyse zur Behandlung von Passivierungsgefühlen bei Angst, Depres-sion, generalisierenden Annahmen usw. Die Aktivierung der Person und Festigung ihres Willens geschieht überdas Beziehen von Stellungnahmen, wodurch die Methode zu den primär stützenden Verfahren zählt. Als Vorläu-ferin der Personalen Existenzanalyse teilt sie mit ihr eine formale Analogie, stellt aber inhaltlich eine Ausgestal-tung ihres 2. Schrittes (authentische Restrukturation) dar.Die Schritte im einzelnen (z.B. bei einem ängstlichen Gefühl: man könnte nicht ernst genommen werden; beieinem depressiven Gefühl: weil “alle anderen besser” sind, bleibe ich zu Hause):

PP1 - Position nach außen: “fest-stellen”, was real der Fall ist (“Stimmt es?” - “Woran sehe ich das?” - “Waskann real passieren?”). Die Realitätsprüfung führt zu Abgrenzung, situativer Entflechtung und Schutz.

PP2 - Position nach innen: “sich ein-stellen” auf die eigenen Kräfte/Fähigkeiten und Selbst-Distanzierung vonden eigenen Ansprüchen (“Könnte ich das Negative noch einmal aushalten?”). Führt zur inneren Freigabe.

PP3 - Position zum Positiven: “sich dazu-stellen” zum Wert, um den es einem in der Situation geht (authenti-sche Motivation, Selbst-Transzendenz) mit Fragen wie: “Um was geht es mir eigentlich? - Was ist mirwichtig? - Was will ich?”. Führt zur Stärkung der personalen Intentionalität.

Die PP3 deckt sich weitgehend mit V. Frankls Dereflexion.Alfried Längle

Literatur:Längle, A. (1994): Die Personale Positionsfindung (PP). In: Bulletin GLE 10, 3, 6-21Längle, A. (1997): Die personale Positionsfindung (PP) in der Angsttherapie. In: Hofmann et al. (Hrsg): Klinische Psychotherapie.

Wien/New York: Springer, 284-297

PRAXIS

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EXISTENZANALYSE 1/00 47

PRAXIS

Paradoxe Intention

Eine von Frankl 1929 entwickelte, erstmals 1938 publizierte Methode der existenzanalytischen Therapie der Erwartungs-angst, in welcher die Person angeleitet wird, sich paradoxerweise gerade das, wovor sie sich so fürchtet, zu wünschenoder vorzunehmen. Die Angstkonfrontation soll möglichst übertrieben, absichtlich übersteigert und humorvoll-spiele-risch ausgestaltet werden, damit es zu einer maximalen Entfaltung der Selbst-Distanzierung und zur Unterbrechung desneurotischen Vermeidungsverhaltens kommt. Dadurch ist die Paradoxe Intention mehr als eine bloße Methode der Angst-konfrontation. Sie stellt einen Einsatz der existentiellen Grundhaltung einer gewissen Todesmutigkeit dar und ist Aus-druck der “Trotzmacht des Geistes” (Frankl), die sich “frecherweise” sogar erlaubt, die Angstsymptome provozierendzu wünschen. Basis ist das Vertrauen in den Halt der Welt und das Rückgewinnen des “Urvertrauens ins Dasein” (Frankl).Ein Beispiel: Soziophobische Patientin hat Angst, sie könnte durch ihren (vermeintlich) torkeligen Gang auffallen und obihres Schwindelgefühls kollabieren. Sie lernt sich vorzunehmen, zunächst einmal täglich einen besonders auffälligenAusgang zu unternehmen, dabei am besten gleich mehrmals zu kollabieren, besonders vor der Wohnung ihrer “heuch-lerischen” Nachbarin, dann im Geschäft, natürlich auf der Straße. Wie ein Stehaufmännchen wird sie zum Schreckenaller Leute umfallen, alle sollen es bemerken und sich denken, welch eine arme, verrückte Person ...

Durch dieses Vorgehen wirda) der Erwartungsangst (Angst vor der Angst) durch mutiges und freiwilliges Provozieren der Boden entzogenb) der unrealistische (überhöhte) Anteil der Angst aufgedecktc) das realistische Scheitern-Können in der Existenz angenommend) die Grenze des Willens (Machbarkeit) und der Notwendigkeit des Lassens (Zulassens, Gelassenheit) geübte) das Erleben des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht vor der Angst aufgehoben.

Der Betroffene erfährt sich wieder als jemand, der dasein, den Selbstanforderungen standhalten und dem bedroh-lich Erlebten etwas entgegensetzen kann. “Die Angst wird unverrichteter Dinge nachgeben.” (Frankl 1983). DieseErfahrung stärkt wiederum das Grundvertrauen des Menschen. Die Paradoxe Intention ist demgemäß in ihrem Wesenkeine symptomorientierte Methode, sondern eine “grund-legende” strukturbildende Vorgangsweise.

Voraussetzungen für den Einsatz der Paradoxen Intention sinda) eine exakte Diagnose von Erwartungsängsten bzw. kontraindizierten generalisierten und psychotischen Ängstenb) eine Vertrauensbasis zwischen Therapeut und Klientc) eine verständliche Information über Entstehung und Aufrechterhaltung der unangemessenen Angstd) eine “ontologische Vorarbeit” (Grundvertrauen)

Indikationsbereich: Angst- und Zwangsstörungen, Schlafstörungen bzw. unangemessene Angst- und Absicherungs-phänomene. Letztlich ist die Indikation eine klaffende Differenz zwischen Wissen um einen Sachverhalt und Glauben /Vertrauen in seine Tragfähigkeit. Häufige Verwechslungen geschehen mit der Symptomverschreibung (Patient erhält Auftrag,das Symptom bewußt zu wiederholen, z.B. beim Waschzwang sich die Hände statt fünfmal jedesmal zwanzigmal zuwaschen) und der Paradoxen Intervention. Bei ihr “interveniert” der Therapeut paradox, indem er den scheinbar wider-sinnigen Auftrag (= Verhaltensanweisung) gibt, nicht gegen die Störung zu handeln, sondern das Problem zu erhalten.Im Unterschied dazu soll der Therapeut bei der Paradoxen Intention nicht mit Verhaltensanweisungen (von außen) in-tervenieren, sondern die (innere) Einstellung des Patienten zur Angst (die Erwartungs-Haltung) ansprechen und mit Hilfeseiner eigenen “Trotzmacht des Geistes” die Automatik der Vermeidungsreaktion durch eine ihr zuwiderlaufende “para-doxe” (eigene) Absicht (= Intention) durchbrechen (“jetzt reicht’s mir mit dem ewigen Davonlaufen; jetzt wünsch‘ ichmir, endlich einmal wirklich zu kollabieren, zu schwitzen ...” nach dem Muster: “Lieber ein Ende mit Schrecken als einSchrecken ohne Ende”).Erleichternd und die Effektivität verstärkend ist die Fähigkeit zum Humor auf Seiten des Patienten und des Therapeutensowie seine Bereitschaft die paradoxe Handlung vorzuspielen.

Lilo Tutsch, Alfried LängleLiteratur:Ascher, L. M. (1985): Die Paradoxe Intention aus der Sicht des Verhaltenstherapeuten. In: Längle, A. (Hrsg): Wege zum Sinn. Logo-

therapie als Orientierungshilfe. München: Piper, 130-141Ascher, L. M. (1989):Therapeutic Paradox. New York: GuilfordFrankl, V. E. (1983): Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Frankfurt: Fischer, 185f.Frankl, V. E. (1982): Psychotherapie in der Praxis. Wien: Deuticke, 4°, 155ff.Froggio, G. (1990): L’intenzione paradossa secondo Frankl. Analisi dei principi, indicazioni e risultati terapeutici. In: Orientamenti

Pedagogici 37, 6, 1290-1318

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Personale Existenzanalyse (PEA)

Eine lexikalische Kurzfassung

Bezeichnung der von A. Längle 1988 bis 1990 entwickelten zentralen Methode der Existenzanalyse. Sie stellteine Anleitung dar für den (psychotherapeutischen) Prozeß der Entwicklung einer autonomen, authentischen,emotional erfüllten, sinnvollen und personal verantworteten Existenz. Die Entwicklung der PEA markiert diepersonale Wende in der Existenzanalyse, durch die subjektives Erleben, Emotionen, personale Prozesse vor,während und nach dem Existenzvollzug (Grundmotivationen) und Biographie in den Mittelpunkt existenz-analytischer Psychotherapie rückten (parallel dazu entwickelte G. Funke im Rahmen der Existenzanalyse eine“personale” Pädagogik). Dadurch wurde das von Frankl als zentral für die Existenz angesehene Sinntheorem(Sinn, Logotherapie) den personalen Prozessen nachgeordnet und in seiner Bedeutung für die Psychotherapieals Ergebnisvariable erkannt. Es zeigte sich, daß sich das Sinnkonzept nur selten als unmittelbares psychothe-rapeutisches Instrument eignet.Die PEA basiert auf dem prozeßualen Personkonzept (Person) von A. Längle, wonach die Person ihr Sein imdialogischen Austausch mit der Welt über drei Schritte vollzieht. Sie markieren die drei Grundfähigkeiten personalerBegegnung, sind dafür konstitutiv und schaffen den inneren (subjektiv-intimen) als auch äußeren (begegnen-den) Zugang zur Person. Die drei Fähigkeiten bilden im dialogischen Geschehen wie im subjektiven Erlebenstets eine Einheit. Darin kommt die Offenheit, Selektivität und Interaktivität (Kommunikativität) des Person-seins zum Ausdruck.

verstehen

STEL- LUNG- NAHME

PERSON (Intimraum)

von außen: ansprechbar EINDRUCK AUSDRUCK antwortend

Abb.: Das prozeßuale Personmodell der PEA

Die Methode der PEA erfolgt in vier Schritten:

PEA 0 (deskriptive Vorphase): Inhaltliche Beschreibung der Fakten (Probleme).Beziehungsaufnahme [kognitive Haltung des Therapeuten].

PEA 1 (phänomenologische Analyse): Heben des Eindrucks (primäre Emotion und phänomenaler Gehalt).Therapeutische Haltung: Empathie.

PEA 2 (authentische Restrukturierung): Einarbeiten des Eindrucks zu bestehenden Wertbezügen (verstehen -entscheiden - entschließen): innere Stellungnahme (integrierte Emotion; Emotionstheorie).Therapeutische Haltung: konfrontativ-begegnend.

PEA 3 (Selbstaktualisierung): Erarbeiten des adäquaten Ausdrucks als handelnde Antwort(äußere Stellungnahme). Schützend-ermutigende Haltung des Therapeuten.

Alfried Längle

Literatur:Längle, A. (1993): Personale Existenzanalyse. In: Längle, A. (Hrsg): Wertbegegnung. Phänomene und methodische Zugänge. Wien:

Tagungsbericht der GLE, 133-160Längle, A. (1995): Personal Existential Analysis. In: Psychotherapy East and West. Integration of Psychotherapies. Seoul: Korean

Academy of Psychotherapists, 348-364

PRAXIS

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ÜBERSICHTSARTIKEL

Die Einbindung deskatathymen Bilderlebens

in die personale ExistenzanalyseBeda Wicki

Nach einem kurzen Abriß des KatathymenBilderlebens (KB) werden die Bezüge zwi-schen KB und der Personalen Existenz-analyse (PEA) aufgezeigt. Im weiteren wirddeutlich gemacht, dass es im Rahmen einerexistenzanalytischen Therapie recht schnellgelingen kann, mit Hilfe des KB zentraleThemen ins Gespräch zu bringen. Der Um-gang mit dem KB erfolgt dabei in derphänomenologischen Haltung. Anschlie-ßend folgen einige kritische Hinweise zumArtikel von C. Possel über das “Existentiel-le Bilderleben” (erschienen März 1998 in die-ser Zeitschrift).

Schlüsselwörter: primäre Emotion,imaginatives Verfahren, phänomenologi-sche Haltung

Einführung

Das Katathyme Bilderleben (KB) ist ein systematischespsychotherapeutisches Verfahren, das mit dem begleitetenTagtraum in der Psychotherapie arbeitet. Dieses Verfahrenwurde von H. Majer (Oberarzt bei Eugen Bleuler), C.Happich und vor allem durch H. Leuner entwickelt undarbeitet mittels der Bildsprache. Der Patient wird in dieEntspannung im Sinne des Autogenen Trainings geführtund dann wird ihm ein Motiv vorgegeben (Wiese, Bach,ein wildes Tier ...), zu dem der Patient ein inneres Bildentstehen lässt. Nach diesem Einstieg kommt ein emotio-nal erlebter Bildablauf in Gang, es stellt sich eine Abfolgevon szenischen Bildern ein, in denen der Imaginierendehäufig sich selber auch vorfindet. Der Patient teilt die auf-steigenden Bildinhalte dem neben ihm sitzenden Therapeu-ten mit. Dieser kann nachfragen und Impulse geben; in-terpretierende Interventionen sind jedoch untersagt.(Leuner 1988, 5) Die empathisch einfühlsame Begleitungdes Therapeuten ist bei diesem Vorgehen von großer Be-deutung. Was in den Imaginationen geschieht, hat meistens“quasi-realen” Erlebnischarakter. Die Imagination dauert

ca. 20 bis 25 Minuten.Was geschieht während eines Tagtraumes? In den ima-

ginierten Bildern und Szenen gelangen aktuelle oder ver-gangene Lebenssituationen mit den damit verbundenenGestimmtheiten, den darin enthaltenen Schwierigkeiten undCopings zur Darstellung oder es werden unbewußte odervorbewußte Inhalte (Konflikte, lebensrelevante Ansprüche,Selbstbilder, ...) abgebildet, die in der verbalen Sprache oftnur schwer zu fassen sind; ebenso werden manchmal in-dividuelle und kreative Lösungsmöglichkeiten für erlebteSchwierigkeiten sichtbar. Dabei ist die Bildsprache eng mitder Gefühlswelt verbunden. Entscheidend ist denn auch dasErleben und Fühlen, das im Tagtraum stattfindet. DiesesVorgehen ermöglicht oft einen Zugang zur Emotionalität desPatienten, d.h. zu dem, was den Patienten zutiefst bewegt,beschäftigt oder belastet.

Das KB ist ein eigenständiges therapeutisches Instrument,das in unterschiedlichen therapeutischen Konzepten eingebautwerden kann. Leuner selbst hält dazu fest, dass das KB derPsychoanalyse verbunden ist, praktisch kann jedoch “jedesKonzept der Tiefenpsychologie, z.B. auch die daseins-

After a short description of “Guided Affec-tive Imagery“ (GAI) various relations bet-ween GAI and the Personal Existential Ana-lyses (PEA) are shown. Furthermore, it willbe demonstrated that the use of GAI withinthe framework of an existential-analyticaltherapy makes it possible to introducecentral topics quite early. The application ofGAI is guided by a phenomenological atti-tude. This article closes with some criticalcomments on the article on “ExistentialGuided Imagery“ by C. Possel (printed inMarch 1998 in this journal).

key-words: primary emotion, imaginativeprocedure, phenomenological attitude

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ÜBERSICHTSARTIKEL

analytische Methode, der Bearbeitung des Tagtraummaterialszugrunde gelegt werden.“ (Leuner 1988, 6) Das KB geht vonfolgender Grunderfahrung aus: “Der Mensch kann phantasie-getragene Imaginationen entfalten, wie sie nicht nur alsNachttraum, sondern auch als Tagesphantasien bekannt sind.Durch seine Imaginationsfähigkeit vermag sich der Menschimmer wieder von neuem aus sich heraus zu entwerfen undsich in einem subtilen dialektischen Prozeß gegenüberzutre-ten.” (Leuner 1988, 5). In Abhängigkeit vom therapeutischenGesamtkonzept ist der Umgang mit den imaginierten Bildernund Szenen in dem der Imagination folgenden Gespräch, dieNachbearbeitung unterschiedlich. Psychoanalytisch orientierteAnsätze gehen damit meist deutend um, andere Ansätze wie-derum mehr erklärend; phänomenologische Verfahren gehendem nach, was für den betreffenden Patienten wesentlich undbedeutsam ist. Stets geht es jedoch darum, dass zuerst ge-fühlt werden muss, bevor Erkenntnisse und Einsichtenfruchtbar werden können. Im weiteren gibt es solche An-sätze, die ganz der Dynamik und heilenden Kraft der Bildervertrauen, die Imagination selbst für therapeutisch wirksamhalten und auf eine eingehende Weiterbearbeitung der Ima-gination verzichten.

Das Auffinden prägender Eindrücke undprimärer Emotionen

Im Rahmen einer existenzanalytisch ausgerichtetenTherapie (wie bei einer daseinsanalytisch ausgerichtetenauch) ist in der Nachbearbeitung ein phänomenologischerUmgang mit den imaginierten Bildern angemessen, da fürdie Existenzanalyse von ihrer Herkunft und ihrem Wesenher die phänomenologische Haltung grundlegend ist (vgl.Längle 1991). Betrachtet man die imaginierten Bilder undSzenen in der phänomenologischen Offenheit, so zeigensich darin unterschiedliche Facetten der Persönlichkeitbzw. aus der Lebenswelt des betreffenden Patienten: ZurDarstellung kommen z.B. Selbstbilder oder Erfahrungen mitBezugspersonen, unverarbeitete Erfahrungen, Copings,festgefahrene Wahrnehmungsweisen und Bewertungenbestimmter Situationen, an sich gestellte Anforderungen,aktuelle oder ältere innere Konflikte, Lösungsansätze fürsolche Konflikte, Wünsche und Sehnsüchte usw.: stetszeigt sich etwas von der konkreten Persönlichkeit und/oderden Lebensumständen, die diese bewegen. In einemphänomenologischen Rahmen ist von daher für die Wei-terbearbeitung der Imagination die Frage wegleitend, obund inwiefern der Patient in den imaginierten Bildern undSzenen sich selbst wiederfindet. Wo kommt etwas von ihmoder aus seiner Lebensumwelt oder aus seiner Lebensge-schichte zur Darstellung? Diese in den Imaginationengefunde Thematik wird im existenzanalytisch orientiertenGespräch weiter bearbeitet. Das Ziel solcher Arbeit mit demKB deckt sich mit dem allgemeinen Ziel der PersonalenExistenzanalyse, nämlich “den Menschen in die Begegnungzu führen mit dem, was ihn angeht: mit sich selbst undmit anderen. Mit sich und mit seiner Welt soll er in Dialogtreten können.” (Längle 1993, 137 f.)

Beispiel I

Zwei Beispiele sollen die bisherigen Ausführungen ver-anschaulichen: Das erste Beispiel betrifft eine 18-jährigejunge Frau, sie ist in der Ausbildung zur Lehrerin. Sie istsehr intelligent, arbeitsam und im allgemeinen hell ge-stimmt. Ihr großes Problem besteht darin, dass sie starkeAngst hat, in Gruppen vorzulesen, was sie in ihrer Ausbil-dung häufig tun müßte. Wenn sie vorlesen muß, bleibt ihrdie Stimme weg, sie spürt einen riesigen Druck auf derBrust und ihr Hals ist wie zugeschnürt. Sie ist von daherstets auf der Lauer, ob es im Unterricht wohl etwas vor-zulesen gibt und ob sie wohl drankommen würde und wiesie dies vermeiden kann. Auch freies Sprechen vor einerGruppe von Menschen bereitet ihr große Mühe, vor allemwenn Erwachsene zuhören. Sie hat keine Ahnung, vor wassie eigentlich Angst hat oder was Schlimmes passierenkönnte. Sie hat überhaupt fast keinen Zugang zu sichselbst, sie kann sich kaum spüren oder wahrnehmen. Imweiteren zeigt sie (aus der Sicht des Therapeuten) Ten-denzen zur Magersucht. Aus ihrer Sicht würde es ihr gutgehen, wenn sie nur die Lese- und Rede-Angst nicht hätte.

In der 4. KB-Sitzung gebe ich (ihr Therapeut) ihr alsMotiv einen Waldrand vor. In ihr entsteht das Bild einesWaldes, der an eine Wiese grenzt, wobei der Übergang vonder Wiese zum Wald unnatürlich abrupt ist. Es handelt sichum einen lockeren Tannenwald mit hohen Bäumen, die nuroben Äste haben. Die junge Frau steht genau auf der Gren-ze zwischen Wiese und Wald. Die Stimmung ist irreal,unlebendig; man hört nichts, es gibt nur wenig zu sehen,jeder Baum ist gleich wie der andere, alles ist so steril. Diejunge Frau erlebt nichts, sie möchte jedoch da stehen blei-ben, wo sie ist, weil sie da sein kann. Sie mag nicht inden Wald oder auf die Wiese gehen, weil sie sich nicht aufetwas Neues einlassen mag. Sie hat das Gefühl der Enge,d.h. es kommt ihr vor, als ob eine unsichtbare Wand sieumgeben würde, die wie eine Schwelle oder Grenze sieumgibt. Mit der Zeit äußert sie, dass sie doch nicht ewigda bleiben möchte, wo sie jetzt ist; da ist es ihr langweiligund eng. Es reizt sie, in den Wald hineinzugehen; sie hataber Hemmungen, weil sie nicht weiß, wie es sein wirdund sie sich vermutlich unwohl fühlen würde. So bleibtsie da stehen, wo sie jetzt ist.

Im Nachgespräch frage ich sie, ob sie sich oder etwasvon ihr in diesen Bildern wiederfindet. Ihr ist ganz klar,daß der Wald und die Bäume für die Erwachsenen stehen.So steril und vernünftig, ordentlich und langweilig stellt siesich die Erwachsenen vor. Und so möchte sie nicht wer-den, da möchte sie nicht hin.

Sie möchte ab und zu über die Schnur hauen. Sie merkt,dass sie in den letzten Jahren schon viel “vernünftiger”geworden ist, weniger Regeln durchbrochen hat, sich inein Schema gefügt hat und das mag sie eigentlich nicht.Das kommt ihr so leblos vor. Sie meint, in der Ausbildungzur Lehrerin, die sie absolviert, stets vorbildlich und ver-

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ÜBERSICHTSARTIKEL

antwortungsbewußt sein zu müssen; da könne sie gar keinerichtige Pubertät leben und dies würde sie einengen. Alldies, vor allem die selbstauferlegte Enge und die zur Spra-che gekommene abgelehnte Lebensart der Erwachsenen undder damit verbundene Widerstand gegen das Erwachsen-werden, gilt es in weiteren existenzanalytischen Gesprä-chen und weiteren Imaginationen zu bearbeiten. Diese eineerwähnte KB-Sitzung hat verschiedene für diese junge Fraubedeutsame Themen ans Tageslicht gebracht und machtdie Richtung ihrer Angst erahnbar.

Beispiel II

Im zweiten Beispiel geht es um einen 22-jährigen Mann,August, der an diffusen, z.T. massiven Ängsten leidet; erkann sich selbst kaum wahrnehmen. In seinem 12. KB wirder nach der Entspannung zunächst aufgefordert, sich ei-nen männlichen Vornamen vorzustellen. Er sieht den Na-men “Tom”. Dann wird er aufgefordert, sich jenen Men-schen vorzustellen, der zu diesem Namen gehört. Vor sei-nem inneren Auge sieht August einen ca. 27-jährigen Mannmit kantigem, kräftigem Gesicht, braunen Haaren undBürstenschnitt. Er ist ca. 190 cm groß, hat eine kräftigeStatur, trägt einen grauen Pullover und eine schwarze Le-derjacke. Bei genauerem Hinsehen bemerkt der Patient, daßTom unrasiert ist und braune Augenbrauen hat. Tom wirktzufrieden und gelöst. Er steht gerade und ruhig wie eineSchaufensterpuppe. Seine Hände sind kräftig und seineFüße sind groß und lang. Toms Art ist ruhig und etwasverbissen. Dann sieht der Patient Tom von hinten undbemerkt, daß Tom einen verzierten Dolch im Rücken hatund bei der Einstichstelle etwas blutet. Nach einer Weilezieht Tom den Dolch heraus und wirft diesen weg, als obdieser ihn nicht interessieren würde. Tom steht die ganzeZeit gleich da, er wirkt wie ein Spielzeugmännchen. Tomist unfaßbar, hat keine Gestik, ist ausdrucksarm, selbstsi-cher, unverwundbar und vermutlich auch intelligent. DerPatient wird dann aufgefordert, in Tom hineinzugehen undzu schauen, wie es in ihm drinnen aussieht. In diesemMoment läuft Tom weg.

Im anschließenden Gespräch ist dem Patienten zunächstnicht klar, was dies mit ihm zu tun haben könnte. Er spürtjedoch, daß Tom schon etwas mit ihm zu tun hat undkommt dann bald darauf, daß er sich so unverwundbargegeben hat, als seine Eltern sich scheiden ließen (derPatient war damals 10 Jahre alt). Sehr bewegt erzählt er,was ihm damals sehr weh getan hat, und wie er ohne jeg-lichen Halt war; er berichtet vom Wechselbad seiner Ge-fühle und wie er überfordert war durch die Spannungenin seinem sozialen Umfeld. Seine Familie war damals zer-brochen, und er hatte sich heimatlos gefühlt. Nach außenhat er sich jedoch nichts anmerken lassen und sich fol-gende Lebenseinstellung angeeignet: Sich stets an dem freu-en, was gerade kommt und sich da so weit wie möglichhineinsteigern. Die Freude konnte sich in ihm jedoch nierecht ausbreiten, und sie war nie von Dauer, also mußte

stets wieder etwas Neues kommen; von daher mußte stetsetwas laufen. Ihm wird klar, daß er auch heute noch lebtnach dem Motto: Stets aus dem Moment heraus leben undsich nicht mit Zukünftigem befassen.

Der unfaßbare und unverletzbare Tom beschäftigteAugust noch stark in der darauf folgenden Zeit. In dernächsten Sitzung berichtete er, daß er seit der Scheidungsich nicht anmerken läßt, wie es ihm geht. Dies hat zurZeit der Scheidung begonnen, weil “es mir zu nahe gegan-gen wäre, wenn ich mit offenen Augen und wachem Ge-spür gelebt hätte. Ich habe nichts an mich herankommenlassen.” Auf die Frage, was er denn nicht an sich heranließ, sagte er: “Es tat sehr weh, dass der Vater ging unddass die Familie auseinanderbrach; es war zu Hause leerund kalt, ich fühlte mich nicht geborgen. Es war auchschwer, eine Meinung zu finden zu dem, was vor sich ging.Ich wollte niemanden verletzten. Ich hatte dann aufgege-ben, auf mich zu hören. Und seither habe ich stets eineMaske angezogen, wenn etwas schwierig wurde. Der Un-zufriedenheit habe ich keinen Platz gegeben. Es ist bedenk-lich, erschreckend wie ich mit mir umgehe. Ich stelle michselbst ab und werte mich ab.” Auf die Frage, was er dennso bedenklich finde, meint er, dass er sich so in den Hin-tergrund stelle, sich nicht so richtig ernst nehme und sichdann so verliere. Im weiteren erzählt er, dass er sich jah-relang selber belogen habe, indem er etwas vorgegeben hat,was nicht ist. Er gab sich stets lustig und fröhlich und hatstets so getan, als ob alles in Ordnung sei; er ließ sichtreiben und schreckte vor dem Mühsamen zurück. Auf dieFrage, wozu er all dies gemacht habe, sagte er: “Ich mußtedas Schmerzhafte und Mühsame nicht spüren und michnicht damit auseinandersetzen, und ich konnte Beziehun-gen haben, ohne persönlich zu werden.” Zu all dem meinter, dass dies nirgendwo hingeführt habe, alles sei in ihmsehr kurzlebig gewesen und dass sein Leben nicht so wei-tergehen könne. Was und wie er es ändern möchte, ist dannInhalt des weiteren Gesprächs. Durch das KB war esmöglich, recht schnell die lebenshinderlichen Muster undSchwierigkeiten von August zu erfassen und ihren Ursprungzu finden; er konnte sich darin gut verstehen und alte, ab-gespaltene Emotionen konnten geborgen werden. Bei derschwachen Selbstwahrnehmungsfähigkeit von August wardas KB eine effiziente Hilfe.

Im Rahmen der Personalen Existenzanalyse (PEA) istdas KB eine sich anbietende Arbeitsweise. Ist doch die PEAim besonderen auch dort angezeigt, “wo eine innere oderäußere Sprachlosigkeit vorherrscht, sowie bei fehlenderWertberührung, die durch abgewehrten oder nicht voll-zogenen Eindruck entsteht (Längle 1993, 144). Gerade beisolchen Befindlichkeiten leistet die Bildersprache des KBund deren Zugang zur Emotionalität und zum Unbewuß-ten wertvolle Dienste. Im Rahmen der Personalen Existenz-analyse ist das KB vor allem im “2. Schritt” von Bedeu-tung, bei dem es um phänomenologische Schau, um dasBergen primärer Eindrücke und ursprünglicher Emotiona-

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ÜBERSICHTSARTIKEL

mit sich selbst. Dies trifft insbesondere in jenen Fällen zu,in denen über das Bilderleben (Primäre oder andere bedeu-tende) Emotionen oder Aspekte des Selbstbildes des betref-fenden Menschen Ausdruck finden. Manchmal kommt esim Bilderleben allerdings auch zu inneren Auseinanderset-zungen mit Bezugspersonen oder zu Probehandlungen, indenen der betreffende Mensch auf der Vorstellungsebenemit Aspekten seiner potentiellen Welt in Dialog tritt; hiersind durchaus Ansätze von Selbsttranszendenz vorzufin-den. Analog zur Selbsttranszendenz ist auch das Werter-leben in der Vorgangsweise des KB von untergeordneterBedeutung; hingegen kann das KB zu einem freieren, of-feneren und reichhaltigeren Werterleben hinführen; es istdafür eine sehr geeignete Vorgangsweise.

Es geht hier um die Frage, was das Besondere desExistentiellen Bilderlebens ausmacht im Vergleich zumKatathymen Bilderleben mit seinen breit angelegten Ver-tiefungsmöglichkeiten. Solange das Spezifische des „Exi-stentiellen Bilderlebens“ nicht ersichtlich und klar ist, istder Name „Existentielles Bilderleben“ eher verwirrend, weiler Erwartunngen weckt, die nicht erfüllt werden; diesesBesondere ist mir bis anhin nicht deutlich geworden. Esstellt sich die Frage, ob es überhaupt ein ExistentiellesBilderleben als methodisches Vorgehen gibt; oder ob esnicht viel mehr ein Katathymes Bilderleben gibt, das ge-nauso wie Nachtträume in existentieller Hinsicht nach-bearbeitet und vertieft werden kann, indem man mit demPatienten die imaginierten Bilder phänomenologisch betrach-tet und zu existentiellen Themen hinfindet. Dies ist eineHandhabung, die dem KB als Möglichkeit innewohnt undvon etlichen phänomenologisch orientierten KB-Therapeu-ten praktiziert wird. Denn das KB ist grundsätzlich offenfür die Nachbearbeitung durch unterschiedliche Ansätze.

Als bildhafte Darstellung von Vor- und Unbewußtembringt das KB auch viele existentielle Themen zur Spra-che. Über diese Bilder-Sprache lassen sich lebens-bestimmende Eindrücke von sich selbst und der Welt oftbesser fassen und ausdrücken als mit der verbalen Spra-che. In der phänomenologischen Nachbearbeitung derImaginationen gilt es zu den existentiellen Themen hinzu-finden. In den erwähnten Beispielen geschah dies durchdie Fragestellung, ob und inwiefern der Patient in denimaginierten Bildern etwas von sich selbst wiederfindetbzw. ob ihm etwas bekannt vorkommt. Im Bergen grund-legender Eindrücke, existentiell bedeutsamer Erfahrungenoder abgespaltener Emotionen liegt die Nähe des KB zurPersonalen Existenzanalyse, in die sich das KB integrierenläßt. Soll diese phänomenologisch-existentielle Arbeitsweisemit Imaginationen von einer dynamisch-konfliktorientiertenunterschieden werden, so möchte ich vorschlagen, von„Existentiell imaginativer Psychotherapie“ zu sprechen. DieExistentiell imaginative Psychotherapie ist dann eine Spezial-form der „Katathym imaginativen Psychotherapie“ (dies istdie gegenwärtig übliche Bezeichnung für die Arbeit mit demKB in der Psychotherapie).

gefärbten Eindrücke, um “unmittelbare, spontane Empfin-dungen” (Längle 1993, 141), die bestimmte Situationenoder Ereignisse beim Patienten aufgrund seiner persönli-chen Beeindruckbarkeit hinterlassen haben. (vgl. Längle1993) Gerade diese primären Eindrücke lassen sich in derGestalt von inneren Bildern behutsam fassen und klar aus-drücken. In der weiteren existenzanalytischen Bearbeitunggeht es dann darum, sich aus dem Bann der geborgenenGegebenheiten zu befreien, sie zu integrieren und so zueinem authentischen Existenzvollzug zu gelangen.

Im Nachgespräch sich selbst antreffen

Wie Claudia Possel in ihrem Artikel “Existentielles Bilder-leben” (Possel 1998, 45 ff.) festhält, ist der Gewinn anSelbstakzeptanz und Selbstfindung bei diesem Vorgehen vongroßes Bedeutung. Warum Claudia Possel die von ihr dar-gestellte Vorgangsweise “Existentielles Bilderleben” nennt,ist mir allerdings nicht einsichtig. In den Ausführungenunter dem Namen “Existentielles Bilderleben” kommt nichtsvor, was nicht schon im KB enthalten ist. Von daher stelltsich die Frage, wofür ein neuer Name eingeführt wird, ohneetwas Neues oder etwas Eigenständiges damit zu bezeich-nen. Im weiteren spricht gegen die Verwendung des Na-mens Existentielles Bilderleben die Tatsache, dass in derunter diesem Namen erläuterten Vorgehensweise Schrittevollzogen werden, die für die existenzanalytische Arbeit un-typisch und entbehrlich sind. Es handelt sich dabei um das“Assoziieren” (Formulieren aller Einfälle zum imaginiertenBild durch den Imaginierenden selbst und allenfalls anwe-sende Gruppenmitglieder) und “Amplifizieren” (alle Anwe-senden tragen zu den imaginierten Bildern Ideen, Weishei-ten ... aus Weltliteratur, Kunst, Bibel, Märchen, Sprichwör-tern usw. zusammen); dies sind spezifisch psychoanalyti-sche bzw. jungianische Vorgangsweisen. Die Wahrschein-lichkeit ist groß, daß das Assoziieren und Amplifizieren vonder Person und ihrer Welt wegführen statt zu ihr hin. Dieswird deutlich, wenn man sich vorstellt, man beginne beiden oben erwähnten Beispielen alle denkbaren Einfälle zuden imaginierten Bildern zu sammeln. Man würde jeweilsschnell von der Person und ihrer spezifischen Welt weg-kommen statt zu ihr hin.

Im weiteren ist es sehr fraglich, ob der Selbsttrans-zendenz im sogenannten Existentiellen bzw. KatathymenBilderleben die Bedeutung zukommt, die Claudia Possel ihrzuschreibt. Meint doch die Selbsttranszendenz den Bezugdes Menschen auf etwas oder auf jemanden, das nichtwieder er selbst ist (vgl. Frankl 1984, 52f., 171), wäh-rend das Katathyme/Existentielle Bilderleben Teile vomImaginierenden selbst zur Darstellung bringt. Wie ClaudiaPossel selbst festhält, setzt sich der Patient in der Imagi-nation und in deren Bearbeitung mit dem eigenen Unbe-wußten auseinander (Possel 1993, 46). Im KatathymenBilderleben läßt sich der Mensch in erster Linie auf sichselbst ein und nicht auf Andere(s), er tritt in den Dialog

lität geht. Es geht in diesem Abschnitt um die emotional

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EXISTENZANALYSE 1/00 53

Auch wenn das KB eine geeignete Vorgangsweise imRahmen der Personalen Existenzanalyse sein kann, gilt eszu sehen, daß dieses therapeutische Instrument (wie an-dere auch) eigene Qualitäten und eine eigene Dynamik insich enthält. Wer deshalb mit diesem Medium arbeitet, solltedamit auch vertraut sein und dafür braucht es Ausbildung.Sonst besteht die Gefahr einer Entgleitung zum Nachteiloder Schaden des Patienten. Die Merkmale des KB und diephänomenologische Arbeitsweise ergänzen sich jedoch inerstaunlicher Weise und von daher kann das KB im Rah-men einer existenzanalytischen Arbeitsweise hilfreich undbereichernd sein.

Dr. Beda WickiWeststraße 87

CH-6314 Unterägeri

ÜBERSICHTSARTIKEL

Literatur:

Amrein, J. (1998): Heilsam und wie im Schlaf. In: Die WeltwocheNr. 45, 5. November

Frankl, V. (1984): Der leidende Mensch. Anthropologische Grundla-gen der Psychotherapie. Bern/Stuttgart/Wien: Hans Huber

Längle, A. (Hg.), (1991): Selbstbild und Weltsicht. Wien: Tagungs-bericht Nr. 1/1989 der GLE

Längle, A. (1993): Personale Existenzanalyse. In: Wertbegegnung.Wien: Tagungsbericht Nr. 1 und 2/1991 der GLE

Leuner, H. (1989): Katathymes Bilderleben. Einführung in die Psy-chotherapie mit der Tagtraumtechnik. Stuttgart/New York: Thieme

Possel, C. (1998): Existentielles Bilderleben. In: Existenzanalyse 15,145/46

Phänomenologische Haltung

Eine lexikalische Kurzfassung

Psychotherapeutische Haltung in der Existenzanalyse, die in der Offenheit zum anderen besteht und ihn in seinerEigenart beläßt. Leitend dabei ist Heideggers hermeneutische Wende (vgl. 1967, § 7) von Husserls Phänomenologie,wonach “Phänomen” das ist, was sich von ihm selbst her zeigt. Dabei ist auch die privative Bestimmung vonErscheinung zu berücksichtigen, nach der sich etwas nie ganz zeigen kann, sondern nur so, wie es in Wechsel-wirkung mit dem Medium (teilverhüllt) in Erscheinung treten kann. Diese verdeckte Form des alltäglichen Seinsgilt es phänomenologisch aufzudecken, von ihm selbst her sehen zu lassen. Die Phänomenologie wird zu einerhermeneutischen, indem sie nicht von der Anschauung - von Objekten -, sondern vom Verstehen ausgeht (Exi-stenz).Als psychotherapeutische Haltung ist ihr Anliegen das Ansichtigwerden des Patienten von ihm selbst her. Diesvollzieht sich durch das Entstehen-lassen und im Blick behalten, eines interpersonalen Feldes, in dem das Wechsel-spiel zwischen den unterschiedlich organisierten Verstehensweisen des Patienten und des Therapeuten geschieht.Das erfordert vom Therapeuten, sich vom Patienten treffen zu lassen und in eins damit, sich von seiner eigenenBetroffenheit zu distanzieren, wodurch freier Raum für die Artikulation des Selbstverständnisses des Patientenentsteht. Es gilt also, die Bedeutung dessen, was ein Patient artikuliert, aus einer Perspektive innerhalb des Bezugs-rahmens des Patienten zu verstehen. Dies heißt Suspension des Urteils (Epoché) über eine vermeintlich “objekti-ve Realität”. Die einzige Realität, die phänomenalen Charakter aufweist, ist die subjektive Realität des Patientenund des Therapeuten; es ist die intersubjektive Realität des interpersonalen Feldes, aus dem “Realität konstituiert”wird.Die p.H. entfaltet sich in der Personale Existenzanalyse durch die “Deskription” in der sich das Selbstverstehendes Patienten in seiner Alltäglichkeit (Existenz) artikuliert; durch die “phänomenologische Analyse”, in der die Emo-tionalität freigelegt und das Selbstverstehen des Patienten in seiner Situation (Existenz) artikuliert wird; durch die“innere Stellungnahme”, in der sich das Verstehen der eigenen Existenz aus der jeweiligen Situation entwickelt,womit sich die Dimension des Handelns eröffnet.

Fernando Lleras

Literatur:Heidegger, M. (1967): Sein und Zeit. Tübingen: Niemayer, 11°Heidegger, M. (1997): Die Grundprobleme der Phänomenologie. Frankfurt: KlostermannHeidegger, M. (1988) Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). Frankfurt: KlostermannLängle, A. (1993): Personale Existenzanalyse. In: Längle, A. (Hrsg): Wertbegegnung. Phänomene und methodische Zugänge. Wien:

Tagungsbericht 1991 der GLE, 133-160Spiegelberg, H. (1985): Die Rolle der Phänomenologie in Viktor Frankls Logotherapie und Existenzanalyse. In: Längle, A. (Hrsg):

Wege zum Sinn. München: Piper, 55-70

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FORUM

Das 9 - Stufen - Modell

Vorliegender Artikel entstammt dem Buch “BEZIEHUNGsCOACHING” von Elisabeth Lindner und Kurt Wawra, wel-ches Mitte März im Eigenverlag erscheinen wird. Eine von den Autoren neu entwickelte Methodik einer existenz-analytischen Paartherapie wird im 9-Schritte-Modell erst theoretisch, dann anhand eines Fallbeispieles auch schritt-weise praktisch nachvollziehbar.

1. Aktuelle Problemstellung

Im Erstgespräch geht es primär umdie Klärung des Sachverhaltes und umInformationsgewinnung. Die Problem-felder im Paargeschehen werden erkun-det und die Geschehnisse strukturiert.Des weiteren soll die Qualität der Kom-munikation (zuhörend, abweisend, ent-wertend, aggressiv, verständnisvoll...)sowie die Lösungskompetenz des Paa-res festgestellt werden:

- Welche Lösungsversuche gab esbisher ?

In der von uns entwickelten exis-tenzanalytischen Paartherapie gehenwir von einem Stufen-Modell aus,wobei je nach Problemstellung ver-schiedene Stufen intensiver behandeltwerden als andere.

Beziehungscoaching

Das Modell sieht folgendenAblauf vor:

1. Aktuelle Problem-stellung (Erstgespräch)

2. Zielklärung3A. Standortbestimmung

des Paares3B. Persönliche Situation

des Einzelnen in derBeziehung

4. Herstellen der Dialog-fähigkeit durchStellungnahme

5. Wertearbeit6. Biografie der Beziehung7. Schicksal8. Perspektiven/Sehnsüchte9. Therapieabschluß

Elisabeth Lindner & Kurt Wawra

- Welche Konfliktstrategien werdenangewendet?

- Auf welcher Eskalationsstufebefindet sich das Paar?

Folgende Fragen sind zu klären:

- Worum geht es jedem Einzelnen?- Worum geht es dem Paar?- Was sind die Erwartungen an die

Paartherapie und diePaartherapeuten?

- Ergeben sich die Schwierigkeitenaus der Paardynamik oderresultieren sie aus persönlichenSchwierigkeiten eines derBeteiligten?

Der Abschluß des Erstgesprächs wäreeine genaue Zieldefinition.

2. Zielklärung

Wir vertreten in dieser Hinsichtgleichermaßen einen lösungsorien-tierten, kurzzeittherapeutischen alsauch einen phänomenologischen An-satz, indem wir uns ausschließlich aufdie Zieldefinition des Paares konzen-trieren.

Der gemeinsamen Zieldefinition istein wichtiger Platz einzuräumen, umsicherzustellen, daß therapeutisch indie richtige Richtung gearbeitet wird.Sind die Ziele ungenau, bleibt auch derErfolg diffus, sind die Ziele der Part-ner widersprüchlich, ist kein gemein-sames Arbeiten möglich. Aufgrundunserer Erfahrung wissen wir aber,daß eine endgültige Zielklärung oftnicht möglich ist, wenn Paare zu tiefim Konflikt verstrickt sind. In diesenFällen ist es ratsam, realisierbare Teil-

ziele zu formulieren, die zu einem spä-teren Zeitpunkt in ein umfassenderesZiel umgewandelt werden können.Allerdings ist es möglich, während dergesamten Therapie Modifikationen desvereinbarten Zieles vorzunehmen. Eskönnte beispielsweise ein Paar, wel-ches sich zum Ziel gesetzt hatte, dieBeziehung zu verbessern, im Laufeder Therapie zum Schluß kommen,daß eine Trennung die bessere Lösungwäre, oder im umgekehrten Falle einPaar beschließen, doch zusammenzu-bleiben.

Die Therapie beginnt erst nach derEinigung auf ein konkretes, nahelie-gendes und positiv geäußertes Ziel.Das kann einige Zeit in Anspruch neh-men, da die meisten Klienten ihr Pro-blem anstelle des Ziels definieren unddamit ihr Ziel negativ beschreiben(„Wir wollen das Problem loswer-den!“).

Das Paar definiert möglichst genaudie Erfolgskriterien und kann deutli-cher erkennen, wann und wodurch esdiesem Ziel näher gekommen ist.Durch ein gemeinsames Ziel verrin-gern sich die Ängste und Aggressio-nen, da nicht mehr aufgespalten wirdin „dein Problem“ und „mein Pro-blem“. Außerdem setzt die Absicht,gemeinsam an einer Lösung zu arbei-ten, viel kreative Energie frei.

3.A. Standortbestimmung desPaares

Die Standortbestimmung ergänztdie bisherige Informationsgewinnungund öffnet den Blick auf die Gesamt-situation des Paares. Es zeigt sich,welche Bereiche besonders negativbetroffen sind, aber auch, welche Be-

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FORUM

reiche gut und intakt geblieben sind.Fragen der Standortbestimmung hel-fen dem Paar, eine Bilanz seiner Be-ziehung zu erstellen und geben Auf-schluß über die Qualität der Beziehung:

- Wo stehen wir als Paar?- Was gefällt uns an unserer

Beziehung?- Haben sich unsere Wünsche und

Erwartungen erfüllt?- Würden wir heute einander noch

einmal wählen?- Leben wir unser eigentliches

Leben?- Wie sieht unser Alltag aus?- Welche Bereicherungen/welcheStörfelder gibt es?- Wie gehen wir mit eventuellenKonflikten um? (Tabuthemen,

Konfliktstile)- Lösen wir auftretende Probleme?- Besteht die Gefahr, daß wir uns

weiter auseinanderentwickeln?- In welcher Hinsicht fördern wir

uns gegenseitig?- Welche Möglichkeiten eröffnen

wir uns gegenseitig?- Was ist unsere gemeinsame Welt?- Welche Bilder haben wir vonein-

ander? Geben wir neuenBildern eine Chance?

- Auf welchen Ebenen können wirgut/nicht gut miteinanderkommunizieren?

- Können wir miteinander lachen?Worüber?

3.B. Die persönliche Situationdes Einzelnen in derBeziehung

Diese Standortbestimmung widmetsich dem Befinden des Einzelnen in derBeziehung, inwieweit er sich wohlfühltund in seinen Möglichkeiten durch denandern eingeschränkt oder unterstütztwird.

- Spüre ich in mir ein Potential, dasich in dieser Beziehung nichtleben kann?

- Wo fühle ich mich abhängig,allein gelassen, ausgenützt?

- Wo fühle ich mich gestärkt,unterstützt?

- Fehlt mir etwas, was mir meinPartner geben könnte?

4. Herstellen der Dialog-fähigkeit durchStellungnahme

Nach dieser weiteren Informa-tionsgewinnung folgt das Kernstückder existanzanalytischen Paartherapie:Die existentielle Paartherapie willdurch personales Anfragen und dieProvokation zur Stellungnahme dieDialogfähigkeit des Paares anregen.

Neben der Stellungnahme zumPartner soll vor allem Stellung zu sichselbst bezogen werden. Die jeweiligenStellungnahmen zu sich selbst in Ge-genwart des anderen ermöglichen denPartnern das gegenseitige Kennenler-nen und Verstehen ihrer Beweggrün-de. Dadurch entsteht eine existentiel-le Auseinandersetzung, die frei ist vonSchuldzuweisungen.

- Was könnte ich an meinem Ver-halten konkret ändern, um diePartnerschaft zu verbessern?

- Würde ich mit mir verheiratet seinwollen?

- Was würde mich stören?- Was würde mir gefallen?- Kann ich verstehen, warum sich

mein Partner/meine Partnerin soverhält?

- Woran merke ich meine Liebe?

5. Wertearbeit

Nachdem eine gewisse Dialog-fähigkeit hergestellt ist, findet eineVertiefung der Therapie statt, indemdas Paar mit verschiedenen Werten inBeziehung tritt.

Es werden einerseits verschütteteWerte geborgen, andererseits die Ent-stehung einer gemeinsamen Werteweltgefördert.

- Liebe ich meinen Partner/meinePartnerin und was liebe ich anihm/ihr?

- Woran merke ich seine/ihre Liebe?- Worauf bin ich stolz bei meinem

Partner/meiner Partnerin?- Was ist das Besondere an unserer

Beziehung?- In welcher Hinsicht kann ich mich

auf den anderen verlassen?- Was würde bleiben, wenn mein

Partner/meine Partnerin nicht

mehr wäre?- Was ist das Unverwechselbare an

ihm/ihr?-

Zur Unterstützung der Wertearbeitist es hilfreich, die Geschichte undden gemeinsamen Weg des Paareszu berücksichtigen.

6. Biografie

Biografische Fragen geben Auf-schluß über das Fundament der Bezie-hung, denn sie aktivieren die Erinne-rung, warum man gerade diesen Part-ner/diese Partnerin gewählt hat. Kon-takt mit den ursprünglichen Wertenwird aufgenommen:

- Was hat mich damals an meinemPartner/meiner Partnerin angezogen?

- Habe ich mich damals für meinenPartner/meine Partnerinentschieden?

- Wie hat unsere Beziehungbegonnen?

- Was war unsere gemeinsameVision?

- Was war unsere gemeinsame Welt,und wie hat sie sich entwickelt?

7. Schicksal

Wenn die Konfliktursache nichtveränderbar ist, werden Fragen nachdem Schicksalhaften von besondererDringlichkeit; sie sollen mehr Realitätin die Beziehung bringen und dem„Opfergefühl“ entgegenwirken.

Dem Schicksalhaften der Bezie-hung kann nur mit Akzeptanz oder miteiner Änderung von Einstellungs-werten begegnet werden.

Diese Fragen sind von Bedeutung,wenn Unabänderliches am Partnerkritisiert wird, beispielsweise körper-liche Attribute, Behinderung, Abstam-mung, Temperament, Intelligenz, oderauch familiäre Verpflichtungen, welchefaktische Schranken setzen:

- Mit welchen Gegebenheiten mußich leben?

- Wußte ich diese schon von Beginnder Beziehung an?

- Was hat sich verändert, daß ichjetzt nicht mehr damit leben

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Mut zu neuen Erfahrungen

kann?- Was daran ist die Schwierigkeit

für mich?

8. Perspektiven/Sehnsüchte

Gegen Ende einer Therapie wird dergemeinsamen zukünftigen Werteweltdes Paares Platz eingeräumt. Ein Teil-haben an den ungelebten Sehnsüchtenund zukünftigen Zielen des Partners läßtSpannung entstehen; Neues am Partnerkann entdeckt werden. Individuelle wieauch gemeinsame Perspektiven werdenerarbeitet, wodurch ein fruchtbarer, in-teressanter Dialog über Zukunft herge-stellt wird:

- Was kann ich noch entdeckenbeim anderen?

- Gibt es noch gemeinsameAufgaben, denen wir unswidmen wollen?

- Gibt es Aufgaben des Partners/derPartnerin, die mich interessieren?

- Weiß ich, ob mein Partner/meinePartnerin mich bei meinenzukünftigen Aufgaben fördernoder einschränken wird?

- Gibt es gemeinsame Sehnsüchte,die wir noch verwirklichenwollen?

- Welche Sehnsüchte sind leichtrealisierbar?

- Was bewirken die Sehnsüchte desanderen bei mir?

9. Therapieabschluß

Grundsätzlich ist das Ende derTherapie eine gemeinsame Entschei-dung des Paares und der Therapeuten.Von therapeutischer Seite ist einTherapieabschluß dann gerechtfertigt,wenn das Paar nachhaltig in der Lageist, auftretende Konflikte im Sinnebeider zu lösen, und wenn keine ein-schneidende Kommunikations-einschränkung mehr vorliegt.

Das Abschlußgespräch kann sichüber mehrere Stunden erstrecken,wobei Veränderungen nochmals nach-vollzogen werden und das Paar über-prüft, inwieweit diese bewußt erlebtenVeränderungen sich als stabil erweisen.

Wir sind in diesem Modell vom Zieleiner Verbesserung der Beziehung aus-gegangen; natürlich ist es auch mög-

lich, daß sich ein Paar zur Trennungentschließt und mit Hilfe der Thera-peuten eine gute Trennung anstrebt.In diesem Falle verläuft die Paar-therapie anders und wir verweisen aufdas Kapitel „Trennungsfähigkeit“ inunserem Buch.

Fallgeschichte: Ehepaar M.

Anhand eines Therapieverlaufsüber einen Zeitraum von acht Mona-ten sei unser existenzanalytisches Vor-gehen überblicksmäßig illustriert.Ausgangsposition:

Frau M. ersucht telefonisch um einberatendes Gespräch, da sie sich in ih-rer derzeitigen unerträglichen Situationan ihrer äußersten Belastungsgrenzebefinde. Als Hauptgrund ihrer Überfor-derung nennt sie ihren Gatten. Im Zugedes Gespräches wird Paartherapie an-geregt, ein Vorschlag, den Frau M. gutfindet und ihrem Gatten unterbreitenwill. Einige Tage später meldet sie sicherneut, um einen Termin für die Paar-therapie zu vereinbaren.

1. Aktuelle Problemstellung

Beim ersten gemeinsamen Ge-spräch gibt Frau M. an, von ihremMann in familiären Belangen kaumunterstützt zu werden, daß er kaumZeit für sie habe und auch, daß keinenennenswerte sexuelle Beziehungmehr bestehe. Herr M. gibt an, daßseine Frau nur noch aggressiv undunfreundlich sei und ihm ebenfalls zuwenig Zeit widme.

Übereinstimmend wird festgestellt,daß dieser Zustand schon eineinhalbJahre andauere und es nur noch einNebeneinanderleben wäre. Sie hättenin der letzten Zeit überhaupt keine Ge-meinsamkeiten mehr gehabt. Frau M.bemerkt dazu, daß sich ihr Mann ver-ändern müsse, sie sei sich keinerSchuld bewußt.

Frau M. ist 34 Jahre alt, von Be-ruf medizintechnische Assistentin, undbefindet sich derzeit in Karenz.Herr M. ist 39 Jahre alt, leitender An-gestellter einer Handelsfirma. Sie lern-ten einander vor 10 Jahren kennen,heirateten vor 7 Jahren, haben zweigemeinsame Kinder im Alter von 6und 3 Jahren.

Es zeigte sich sehr rasch, daß derKommunikationsstil hochgradig ag-gressiv war, das Paar große Problememit dem gegenseitigen Zuhören hatteund alle bisherigen Lösungsversucheerfolglos geblieben waren.

Der Konfliktstil zeichnete sichdurch kompromißloses Durchsetzeneinerseits, Verweigerung und Fluchtandererseits aus. Das Paar war in sei-nem Konflikt soweit gefangen, daßfast nur noch gegenseitige Schuldzu-weisungen stattfanden.

Beiden Partnern ging es um Aner-kennung und Entlastung durch denanderen, es war aber auch offenkun-dig, daß persönliche Probleme einegroße Rolle spielten.

Herr M. hatte zur Zeit enormeSchwierigkeiten in seinem beruflichenAlltag, die alle seine Kräfte in An-spruch nahmen, wodurch sich FrauM. vernachlässigt, mit der Kinderer-ziehung allein gelassen und zurückge-stoßen fühlte.

2. Zielklärung

Frau M., die auch mit Trennunggedroht hatte, konnte sich nach eini-gen Stunden mit ihrem Mann daraufeinigen, daß eine Verbesserung derBeziehung und nicht die Trennung dasZiel der Therapie sein sollte. Als Nah-ziel wurde vereinbart, daß die dauern-den, zermürbenden Streitigkeiten einEnde finden sollten und mehr Ruhe indie Beziehung kommen sollte.Der gemeinsame Wunsch nach demFortbestand der Ehe und die Ratlosig-keit hinsichtlich der Umsetzung bilde-ten die Grundlage der paartherapeu-tischen Arbeit.

3. Standortbestimmung

In dieser Phase wurde von unsnochmals überprüft, ob wirklich bei-de an einer Verbesserung der Bezie-hung interessiert waren und ob dieSchwierigkeiten tatsächlich aus derPaardynamik und nicht aus persönli-chen Schwierigkeiten eines der Betei-ligten resultierten.

Übereinstimmungen konnten hin-sichtlich ihrer Entscheidung zur El-ternschaft gefunden werden: beide lie-ben ihre Kinder sehr. In vielen ande-

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ren Bereichen (Sexualität, Zukunfts-perspektive, Interessen) gab es wenigAnknüpfungspunkte.

4. Herstellen der Dialog-fähigkeit / Stellungnahme

In diesem Therapieabschnitt wur-de versucht, ergänzend da und dorthilfreich einzugreifen, wo der Dialogunterbrochen wurde oder zu Streite-reien ausartete. Das Paar wurde er-muntert, Bedürfnisse und Wünsche ineindeutigen „Ich-Botschaften“ auszu-drücken:Frau M. (aufgebracht und aggressiv):„Du interessierst dich sowieso nichtfür mich und die Familie! Wenn duheimkommst, setzt du dich entwedervor den Fernseher oder schläfst hin-ter der Zeitung ein!“ (Du-Botschaften:Du bist ein schlechter Ehemann undVater...) Herr M. schweigt.Th: „Was möchten Sie Ihrem Manndamit sagen?“Frau M. versucht andere Ansätze,kann aber nicht genau sagen, worumes ihr geht. Es gelingt aber, den Re-deschwall einzudämmen. Sie versuchteine andere Formulierung zu findenund sagt etwas ruhiger zu ihremMann: „Es stört mich, daß du dichvor den Fernseher setzt, wenn du nachHause kommst!“Herr M. schweigt.Th. (fragt stellvertretend für HerrnM.): „Was stört dich so daran?“Jetzt antwortet Frau M. ruhig: „Michstört‘s, weil ich gerne mit dir redenwill.“Th.: „Worüber möchtest du gerne re-den?“Frau M.: „Ich bin den ganzen Tagzuhause allein mit den Kindern, wür-de dir gerne erzählen, was war, möch-te wissen, was du erlebt hast.“(Ich-Botschaft: Ich habe Interesse andir...)Herr M. schaltet sich ein: „Ich binmüde und gestreßt, wenn ich am Abendheim komme. Mich stört es, daß dugleich keppelst. Ich möchte mir ja nur´Zeit im Bild‘ anschauen.“ Des wei-teren gelang es, durch die Stellung-nahme zu sich selbst ein Verständnisfür die Beweggründe des anderen her-zustellen. Auf diese Weise konnten diegegenseitigen Schuldzuweisungen ver-

mindert werden. Frau M. erkannte,daß nicht einzig und allein ihr Mannfür Anerkennung zu sorgen hat undwie sehr ihre Nörgeleien Grund fürseinen Rückzug waren. Herr M.nahm sich vor, seine beruflichen Pro-bleme gezielt zu lösen und beschloß,sich zukünftig mehr Zeit für seineFrau und die Kinder zu nehmen.

Frau M. litt sehr unter der Unzu-verlässigkeit ihres Mannes, vor alleman seiner mangelnden Disziplin bei derEinhaltung von Terminen. In dieserPhase wurde auch von uns darauf ge-achtet, daß Vereinbarungen von bei-den Seiten verbindlich eingehaltenwurden, um neue Enttäuschungenund Rückfälle zu verhindern. MitHerrn M. wurde eingehend daran ge-arbeitet, daß er nur versprechen sol-le, was er auch halten könne. Um denAggressionen seiner Frau zu entge-hen, neigte er dazu, vorschnell „jaja“zu sagen, um kurzfristig seine Ruhezu haben (biografisch: ein Verhalten,welches er sich schon früh seineraggressiven Mutter gegenüber zuge-legt hatte). Ein Bumerang, der ihnjedesmal traf und die Beziehung stän-dig verschlechterte. Durch die Erfah-rung, ohne negative Konsequenzenauch „nein“ zu seiner Frau sagen zukönnen, hat sich die Lage insgesamtsehr entspannt.

5. Wertearbeit

Das Ehepaar hat große Schwierig-keiten, zu einem gemeinsamen Paar-verständnis zu finden. Sie definierensich eher über Rollenfunktionen alsüber die Liebe: Das Familien-bewußtsein ist stark ausgeprägt, dasPaarbewußtsein verkümmert. FrauM. ist stolz auf ihren Gatten, wo ersich als Unternehmer und Familienva-ter bewährt. Umgekehrt schätzt HerrM. seine Gattin hinsichtlich ihrerhausfraulichen und mütterlichen Qua-litäten.

6. Biografie der Beziehung

Da die Wertearbeit sich nicht alssehr fruchtbar erwies, versuchtenwir, in die Biografie zu gehen, um daszu heben, was Herrn und Frau M. alsPaar zu Beginn einmal zusammenge-

führt hat. Der Exkurs in die Anfängeder Beziehung dient der Vergegenwär-tigung von Gefühlen zur Unterstützungder Wertearbeit. Auf die Frage, war-um sie ein Paar geworden seien, gibtHerr M. an, daß er die Verläßlichkeitseiner Frau schätze, daß sie sehr aufihn eingegangen sei, daß er einenWunsch nach Familie verspürt habeund sie sich gut als Mutter seiner Kin-der habe vorstellen können. Frau M.hat ihren Mann als sehr selbstwert-steigernd erlebt, auch er sei intensivauf sie eingegangen, sie hätten gut mit-einander reden können und viel mitein-ander unternommen. An das Aufleben-lassen und Aktualisieren dessen, waseinmal schön und verbindend gewe-sen war, konnte das Paar anknüpfen:gemeinsame Abende, Veranstaltungenwurden geplant, Gespräche gesucht.

7. Schicksal

Dieser Punkt nahm insofern vielRaum ein, weil das Paar ein krankesKind zu pflegen hatte, was zum Teilmit den Karrierewünschen von FrauM. kollidierte. Grundsätzlich war siezwar mit ihrer häuslich-pflegerischenRolle einverstanden, doch war sie oft-mals überfordert. Ebenso hatte HerrM. eine schwierige Phase im Unter-nehmen durchzustehen. Dem Vor-schlag, daß ihr Gatte beruflichzurückstieg, konnte Frau M. nichtsabgewinnen, da sie den bisherigen Le-bensstandard und die gesellschaftlichePosition nicht verändern wollte. Durchdas Bewußtmachen, daß zur Aufrecht-erhaltung dieses sozialen Rahmens eingroßer persönlicher Einsatz und damitauch Überforderungssymptome ver-bunden sind, konnte eine deeska-lierende Wirkung erzielt werden.

8. Perspektiven und Sehnsüchte

Als zukünftiges Ziel wünschtensich beide ein halbwegs befriedigendesSexualleben sowie gemeinsame Aben-de und Theaterbesuche.

9. Therapieabschluß

Nach einigen Monaten entstandwieder eine Gesprächsbasis zwischenHerrn und Frau M., die langsam auch

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außerhalb der Therapie tragfähig wird.Die gegenseitige Einstellung ist wohl-wollender geworden, der andere wirdin seinen Wünschen und Bedürfnissenwahrgenommen. Vereinbartes wirdgrundsätzlich eingehalten und dasAlltagsmanagement konnte verbessertwerden.

Im Rahmen der Therapie konntedurch einige Coachingsequenzen er-reicht werden, daß Herr M. seine be-

ruflichen Probleme besser in den Griffbekam. Auf diese Weise fand er mehrZeit, seine Gattin zu unterstützen, waswiederum zu mehr Zeit für Gemein-samkeiten führte.

Die sexuelle Beziehung stellte sichwieder ein und führte zu einer Stabi-lisierung der Beziehung.

Als Defizit erwies sich noch immer,daß hinsichtlich der Zukunftsperspekti-ven keine konkreten Ansätze vorlagen.

IMPRESSUMMedieninhaber, Herausgeber und Hersteller:GESELLSCHAFT FÜRLOGOTHERAPIE UND EXISTENZANALYSE (Wien),GESELLSCHAFT FÜREXISTENZANALYSE UND LOGOTHERAPIE in München e.V.INTERNATIONALE GESELLSCHAFT FÜREXISTENZANALYTISCHE PSYCHOTHERAPIE SCHWEIZ„Existenzanalyse“, vormals „Bulletin“ der GLE, ist das offizielle Organ der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse und erscheint 3x jährlich.Die GLE ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Psychotherapie (IFP), der European Association of Psychotherapy (EAP), des Österreichischen Bundesverbandesfür Psychotherapie (ÖBVP), der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie e.V. Stuttgart, der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin, der Martin-Heidegger Gesellschaft e.V. und des Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs (VWGÖ).Die GLE ist nach dem österreichischen Psychotherapiegesetz als Ausbildungsinstitution zum Psychotherapeuten gemäß dem Psychotherapiegesetz anerkannt.Veröffentlichte, namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht immer die Meinung der Redaktion wieder.© by Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse.

Redaktion: C. Klun, S. Längle, A. LängleAlle: Eduard-Sueßgasse 10A - 1150 WienTel.: 01/9859566 FAX Nr. 01/9824845e-mail: [email protected]: B. Kainrath, C. SynekDruck: Druckerei Glos, Prag

OFFENLEGUNG NACH § 25 MEDIENGESETZ

Medieninhaber ist zur Gänze die Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse, Eduard-Sueß Gasse 10, A-1150 Wien. Die Gesellschaft für Logotherapie und Existenz-analyse ist ein gemeinnütziger Verein im Sinne der Bundesabgabenordnung. Dem Vorstand gehören folgende Personen an:

Vorsitzender: DDr. Alfried Längle. Stellvertretende Vorsitzende: Dr. phil. Liselotte Tutsch. Schriftführerin: lic.phil. Brigitte Heitger. Stellvertretender Schriftführer: Dr. med.Christian Probst. Kassier: Karl Rühl. Stellvertretende Kassierin: Dr. Silvia Längle. Beirat für BRD: Dr. paed. Christoph Kolbe. Beirat für die Schweiz: lic.phil. BrigitteHeitger. Beirat für Forschung: Dr. Silvia Längle und Dr. med. Christian Probst.

Grundlegende Richtung: “Existenzanalyse”, vormals “Bulletin der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse” ist das offizielle Mitteilungsblatt der genanntenGesellschaft. Die grundlegende Richtung der “Existenzanalyse” besteht in der Information der Mitglieder des Vereins über die Wahrnehmung und Förderung ihrer gemein-samen wissenschaftlichen, beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Belange durch die Redaktion, den Vorstand der Gesellschaft und der Mitglieder untereinander.

IMPRESSUM

BEZIEHUNGsCOACHING EMILIA VERLAGElisabeth Lindner/Kurt Wawra 1080 Wien,Emilia Verlag Tulpengasse 5/15ISBN 3-9501009-0-3168 SeitenATS 252,- / DEM 36,- / CHF 28,-Vertrieb: Libri

Der junge Verlag hat sich zum Ziel gesetzt, anspruchsvollepsychotherapeutische Literatur für Fachleute und interessierteLaien zu veröffentlichen und freut sich, sein erstes Buch vor-stellen zu können.

„Beziehungscoaching“ wird im books-on demand-Verfahrenbei Libri hergestellt und ist auch online unter „www.libri.de“erhältlich.

Rückfragen beantwortet:Mag. Elisabeth Lindner, Psychotherapeutin für ExistenzanalyseTel. & Fax 01-408 10 21e-mail: [email protected]

Dennoch wurde in beidseitiger Ab-stimmung die Paartherapie beendet,wobei vereinbart wurde, in größerenAbständen Reflexionsgespräche abzu-halten und daß wir selbstverständlichin besonderen Belastungssituationenzur Verfügung stünden.

Mag. Elisabeth Lindner & Dr. Kurt Wawra

Tulpengasse 5/15A-1080 Wien

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BUCHBESPRECHUNGEN

ANGELIKA SANDERMensch-Subjekt-Person. Die Dezentrierung des Subjektes in der Philosophie

Max Schelers.Bonn: Bouvier Verlag, 1996, 354 Seiten

In dieser Untersuchung wird zweierlei versucht: eineneue Bewertung des Denkens Max Schelers anhand derDiskussion der Frage nach der Dezentrierung des Sub-jekt und anhand der Rolle, die dieses Thema in der Philo-sophie Schelers spielt. Mit Dezentrierung des Subjektssei “die Relativierung der Zentralposition gemeint, die ... dasrationale Ego seit der Begründung der Erkenntnis in derseiner selbst gewissen Existenz des ‚cogitans sum‘ durchDescartes besass”. Die Idee der Selbstgenüg-samkeit undAutonomie der vernünftigen Subjektivität habe teils bei He-gel, teils bei Husserl den Höhepunkt erreicht, mit Heideggers‚Sein und Zeit‘ aber “erfuhr sie eine endgültige Erschütte-rung”. Seitdem verbreitete sich die Rede vom ‚Tod desSubjektes‘. Das Gemeinte ist mit diesem provokativen Ti-tel Thema einer bis heute andauernden Debatte.

Verantwortlich für die Dynamik der Auseinandersetzungmit dem Subjekt sei die Tatsache, dass “die Streichung desSubjektbegriffes als Verlust wahrgenommen wird”. DieVerfasserin meint, dass es nicht so leicht zu formulieren ist,worauf sich dieses Verlustgefühl bezieht. Man könne esjedoch nicht als pure Nostalgie erklären. Hier sind sachli-che und gewichtige Gründe hervorzuheben: das Subjekt,gesetzt als letzter Bezugspunkt des Denkens durchDescartes, “lieferte stets auch eine Möglichkeit der Selbst-interpretation der philosophischen Existenz”. Es ist nicht sosehr “die Entmächtigung des Subjektes als ‚fundamentuminconcussum‘ und die damit verbundene Relativierung derLeistungen, die es als Garant objektiver Erkenntnis zu er-bringen vermag, was Verunsicherung hervorruft”, sondernetwas, das alle, die sich damit beschäftigen, empfinden:nämlich, dass mit der Dezentrierung des Subjekts an-scheinend die Möglichkeit “menschlicher Selbstdeutung”verloren geht.

Meines Erachtens ging die Verfasserin – mit Recht – vonder Voraussetzung aus, dass die Cartesianische Auffassungdes Subjektes nicht mit dem Begriff des Subjekts überhauptgleichzusetzen ist. Heute geht es nicht um die “Rettung” desCartesianischen Ansatzes, sondern um die der Idee desSubjekts überhaupt, ohne welche ein richtiges Verständnisder menschlichen Existenz unmöglich ist. Die Verfasserinnimmt von den verschiedenen Fassungen und Modellen desSubjekts, die die Geschichte der Philosophie geliefert hat,das Gemeinsame heraus: “Die Gemeinsamkeit besteht dar-in, dass Subjektivität als etwas gedacht wird, dasgleichermassen über einen Bezug auf sich selbst, wie aufetwas anderes, als es selbst, beinhaltet”. Das Wesen derSubjektivität liegt darin – und “nur” darin, ein doppelterBezug - auf die Welt und auf sich selbst - zu sein. DerMensch bezieht sich auf die Dinge in der Welt und auf dieAnderen, “indem” er auf sich selbst bezieht. Ist dem so,dann “ist es für die Frage nach dem Subjekt von entschei-

dender Bedeutung, ob mit der Kritik der Art und Weise, wiediese Bezugnahme gedacht wird – Vorstellen, Wissen – dieIntuition konstitutiver Selbstbezüglichkeit menschlicher Iden-tität, die in den traditionellen Subjektmodellen ausgedrücktwird, gleicher-massen dekonstruiert wird“.

Wir meinen auch wie die Verfasserin, der Grund für Be-unruhigung sei “die Gegenüberstellung dieser Kritik (derIdee vom Subjekt) zu der als ‚Faktum‘ der Selbsterfahrunggespürten Besonderheit menschlicher Selbstbeziehung”. “DieMarginalisierung der Bedeutung subjektiver Selbstgewissheitfür die objektiven Leistungen der Vernunft ruft gleichzeitigeine ‚Leerstelle‘ für die Deutung menschlichen Selbst-verhältnisses hervor, deren Neuinterpretation als Desideratempfunden wird”.

Für die Verfasserin war eine Aufgabe sehr klar: wolleman heute die Frage nach dem Subjekt sinnvoll stellen, somüsse es darum gehen, wie diese Selbstbezüglichkeitmenschlicher Existenz adäquat zu denken ist. Drei Aspek-ten müsse gerecht werden: die präreflexiven Bedingungenmenschlicher Subjektivität, das Handeln – d.h. das tätigeLeben des Menschen – und die zwischenmenschliche Pra-xis. Diese Aspekte sind gerade die, die in der seit Descartes“vorstellungsorientierten” Auffassung des Subjekts systema-tisch ausgeklammert sind. Wir begreifen jetzt, warum dieVerfasserin an Scheler gedacht hat: “die Kritik eines vor-stellungsorientierten Subjektbegriffes wird gewöhnlich mitdem Namen Heideggers verbunden. Darüber wird biswei-len übersehen, dass Heidegger Vorgänger hatte, deren Wirk-kraft der beiden Anliegen in dieser Untersuchung: eine neueBewertung der Philosophie M. Schelers, welcher für vieleheute (die Verfasserin zitiert ein Wort von Gadamer) “einprominenter Unbekannter ist”.

Es sei eine Stelle wiedergegeben, wo die Verfasserin unserklärt, was sie bei der Lektüre der Werke Schelers gefun-den hat. Die Exposition alles dieser Dinge bildet den Inhaltdieses Buches: “Die philosophische Wende im Denken desSubjekts, für die das Erscheinen von ‚Sein und Zeit‘ wohldie einschneidendste Landmarke darstellt, ist nicht vorstell-bar ohne die vorhergehende Öffnung der Philosophie ge-genüber dem Leben, dem A-rationalen, dem (Mit)-Men-schen. Die De-zentrierung des Vernunftsubjekts war nichtzuletzt eine Folge der wachsenden Kon-zentrierung auf dieRelevanz ‚ausser‘-vernünftiger Faktoren. Wenn im folgen-den an eine Interpretationslinie angeschlossen wird, die imVersuch, Subjektivität praktisch zu denken, darum bemühtist, derartige Elemente in ihrer Bedeutung für die Konstitu-tion menschlicher Identität in sich aufzunehmen, so liegt dieBezugnahme auf Scheler nahe und darf eigentlich gar nichtübersprungen werden. Denn es war Max Scheler, der denfundamentalen Stellenwert der Emotionalität und derMitmenschlichkeit, der Bezogenheit auf ein Du, für die

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BUCHBESPRECHUNGEN

stes. Person und Dasein (hier ist wichtig die Behandlung desThemas: Vorprädikative Erkenntnis bei Scheler undHeidegger). Schelers ontologischer Begriff des Wissens.Wissen um das Selbst. Subjektivität und Transzendenz. Dieethische Dimension des Person-seins. Ich und Du. Der OrdoAmoris. Idealität und Faktizität. Emotionale Selbsterfahrungder Person. Im bibliographischen Verzeichnis findet man eineReihe von Büchern über den Themen: Subjekt, Tod desSubjekts, Überwindung der Philosophie der Subjektivität,Formen der Rationalität, Selbsterfahrung und andere, derenLektüre für die weitere Beschäftigung mit der Subjektivitäts-thematik sehr empfehlenswert sind.

Nolberto A. Espinosa

Entwicklung des ‚Selbst‘-Bewusstseins entdeckte und zuThemen der deutschen Philosophie machte” (von mir her-vorgehoben). Die Verfasserin versteht ihre Untersuchung“nicht als ein Beitrag zur Anamnese des Todes des Subjekts,sondern als ein Versuch, aus Schelers Denken ein Modellmenschlicher Subjektivität zu gewinnen, das an die heutigeDebatte anschlussfähig ist, und sich für die Interpretationmenschlichen Selbstverhältnisses als fruchtbar erweisenkann”.

Im folgenden bringe ich nur die Titel der Hauptpunktedieser Arbeit an, die für einen hervorragenden Beitrag zurKlärung des polemischen Begriffs vom Subjekt zu halten ist:Schelers Frage nach dem Menschen. Der Begriff des Gei-

IRVING D. YALOMExistentielle Psychotherapie

Köln: Edition Humanistische Psychologie, 1989, 628 Seiten, ATS 569,-

Im vorliegenden Buch geht es Yalom darum zu zeigen,daß der existentielle Ansatz ein wertvolles und effektivespsychotherapeutisches Paradigma darstellt. Es ist ihm daherein Anliegen den Fokus des Therapeuten von einem eheranalytisch-verhaltensmodifikatorisch geprägten Verständnisder Psychotherapie hin zu einem existentiellen Blickwinkel zuverschieben. Wobei er die Bedeutung der systematischen undplanvollen Arbeit in der Psychotherapie weder geringschätzt,noch aus den Augen verliert. Im Gegenteil, er gibt viele nütz-liche Hinweise auf Techniken der verschiedensten Therapie-richtungen, nicht zuletzt der Logotherapie und Existenz-analyse.

Welches nun sind die seiner Meinung nach zu beachten-den existentiellen Gegebenheiten, die oft außerhalb der Über-legungen zur formalen Theorie der Psychotherapie liegen,jedoch in der Existenz des Individuums verwurzelt sind? Ernennt hier den Tod, die Freiheit, die Existentielle Isolation unddie Sinnlosigkeit.

Weitere Kernaussagen des Buches sehe ich in folgendem:- Die existentiellen Gegebenheiten: Tod, Freiheit, Isolation undSinnlosigkeit stellen unangenehme, jedoch nicht zu leugnen-de Grundpfeiler der menschlichen Existenz dar. An ihnenentzünden sich die innerpsychischen Konflikte des Menschenund führen bei einer nicht ausreichenden Verarbeitung der-selben zu psychischen Störungen.- Die existentielle Psychotherapie ist eine dynamische Psy-chotherapie und unterscheidet sich damit nicht von anderendynamischen Psychotherapien. Der Unterschied liegt aus-schließlich in den Inhalten der pathogenetisch bedeutsamenKonflikte.- Das Ziel der Psychotherapie ist es, den Menschen dahinzu führen, wo er sich seiner Freiheit und Verantwortungbewußt wird und er so in die Lage versetzt wird, eine freieWahl zu treffen.- Das heilende Agens in der Psychotherapie ist die Beziehung.

Mit anderen Worten: der Autor geht davon aus, daß vieleder neurotischen Verhaltensweisen des Menschen durch ein

Ausweichen diesen Themenbereichen gegenüber zumindestunterstützt, wenn nicht sogar ausgelöst werden. Das hart-näckige Festhalten an den Verleugnungen und Abwehr-mechanismen bedingt eine Behinderung der menschlichenEntwicklung und fördert oder verursacht damit psychischeErkrankungen.

Yalom stellt in seinem existentiellen Paradigma, das auchdie Aspekte der Bewußtwerdung der menschlichen Verant-wortung, Freiheit und das Treffen einer freien Entscheidungzum Inhalt hat, eine Möglichkeit der Erklärung für die Ent-stehung und Aufrechterhaltung einer Vielzahl pathologischerVerhaltensformen zur Verfügung und macht diese einer bes-seren Verstehbarkeit und damit Behandelbarkeit zugänglich.

Um seine These zu stützen, bezieht er sich auf eine Füllevon Zitaten aus den unterschiedlichesten Wissenschafts- undLiteraturbereichen, sowie auf seine Erfahrungen als Thera-peut, indem er Einzelfalldarstellungen anführt. Diese Vielfaltwar es unter anderem, welche das Lesen dieses Buches fürmich so außerordenlich spannend gemacht hat.

Der Leser kann in dieser Mannigfaltigkeit wählen, wirdfür sich das eine oder andere Interressante finden und kannso Gedanken nachgehen, die ihm persönlich vielleicht neusind oder aber zu jenen gehören, an die er sich durch dieLektüre wieder erinnert sieht.

Die Spannung wird von einer weiteren wesentlichen Tat-sache genährt, daß nämlich Tod, Freiheit, Isolation und Sinn-losigkeit, die vier ‘letzten Dinge’ wie Yalom sie nennt, Be-standteil jeder menschlichen Existenz und somit für jedenMenschen von großer Aktualität sind.

Wer in seinem Buch einen systematisch ausgeführtenAnsatzt der ‘Existentiellen Psychotherapie’ oder ein fundier-tes anthropologisches Konzept, wie es der Titel des Buchesdem Leser nahelegt, sucht, wird enttäuscht werden. Beidesist scheinbar nicht die Absicht des Autors, wenn er schreibt,daß er nicht beabsichtige, die Theorie der Psychopathologieund Psychotherapie zu beschreiben. Statt dessen stelle er einParadigma, ein psychologisches Konstrukt vor, das dem

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HINWEISE AUF NEUERSCHEINUNGEN

BUCHBESPRECHUNGEN

Kliniker ein Erklärungssystem anböte, ein System, das es ihmerlaube, einer großen Serie klinischer Daten Sinn zu gebenund eine systematischere Strategie der Psychotherapie zu for-mulieren. Es sei ein Paradigma, das beachtliche Erklärungs-kraft habe; es sei sparsam, das hieße, die Annahmen basier-ten auf Erfahrungen, die intuitiv von jedem Individuum durchIntrospektion wahrgenommen werden könnten.

An manchen Stellen des Buches wird Yalom in seinenAusführungen widersprüchlich und in seinen Schlußfolge-rungen ungenau. Der Leser ist dann in Gefahr, den ‘rotenFaden’ zu verlieren. Das Buch weist auch Längen durchkaum enden wollende Aufzählungen auf. Diese stehen zwarinhaltlich im unmittelbaren Zusammenhang zum Thema desKapitels, der Autor unterläßt es jedoch, die von ihm gegebe-nen Anregungen in einer stringenten Argumentation in seine

Sicht der Dinge zu integrieren.Yalom ist inspiriert von der Existenzialontologie Heideggers

und versucht seine therapeutische Praxis daran zu orientie-ren. Sein Anliegen ist es die therapeutische Arbeit weder imSubjektivismus aufzulösen, noch auf ein objektiviertes Seinhin zu reduzieren. Das vorliegende Buch stellt eine lebhafteAuseinandersetztung mit den der unmittelbaren Praxis ent-nommenen, existentiellen Fragen dar. Wer sich eine vorwie-gend systematisch philosophische Annäherung an diesesThema erwartet, wird enttäuscht werden.

Es wird so eine Frage des persönlichen Geschmacks undder jeweiligen Erwartungen sein, ob man das Buch als ent-täuschend oder anregend empfindet.

Susanne Ivanek

An diesem Buch hat einer unserer Kollegen, ThomasFeichtinger, der vor Jahren die Beraterausbildung bei GünterFunke absolviert hat, mitgearbeitet. Der Einfluß seinerexistenzanalytisch-logotherapeutischen Haltung zieht sichspürbar durch das Buch durch. Das Kompendium (681 Sei-ten!) führt umfassend mit weitgehendem Lehrbuchcharakteran die Heilmethode Dr. Schüßlers heran. Besonders wohltu-end ist dabei die geistige Offenheit für die Vielfältigkeit ver-antwortungsbewußten Heilens und Helfens. Mit Umsichtwird nicht nur auf den körperlichen Anteil der Gesundheithingewiesen, sondern stets auf die psychische und geistigeKomponente aufmerksam gemacht. Gewarnt wird vor jeder

FEICHTINGER TH., MANDL E., NIEDAN S.Handbuch der Biochemie nach Dr. SchüßlerGrundlagen, Materia medica, Repertorium

Heidelberg: Haug, 1999

Einseitigkeit, vor Fanatismus und Ausgrenzungen. DerWechselbezug zur Schulmedizin ist im selben Geist der Of-fenheit und auf dem Stand der Zeit aufgezeigt.

Das Buch ist für den interessierten Laien, aber auch fürheilkundlich Interessierte und für medizinisches Fachperso-nal hilfreich und zu empfehlen. Ein Anwendungsteil erleich-tert es auch dem Laien, zu spezifischen Indikationen raschein passendes Heilmittel zu finden. Es ist zu wünschen, daßdie respektvolle Haltung vor der Person und der Komplexi-tät von Gesundheit und Wohlbefinden Schule macht.

Alfried Längle

SCHLANK DURCH SELBSTBEWUSSTSEIN

Emma Huber

Die Ursachen für Übergewicht liegen nur allzu oft tiefer als in scheinbarer Disziplinlosigkeit: in den Lebensproblemen,in den seelischen Verletzungen der Betroffenen.Solche Verletzungen aufzudecken und bewußt zu machen sowie die Lösungen anzubieten, hat sich dieses Buch zumZiel gesetzt. Es folgt dabei den Grundsätzen der auf Viktor Frankl zurückgehenden Existenzanalyse, die den Menschenbegreift als Ganzheit von Körper, Seele (Gefühlsleben) und Person, die auch zu ihren eigenen Erfahrungen Stellungnehmen kann. Auf diese Weise wird, wie dies die Autorin anhand zahlreicher Fälle aus ihrer psychotherapeutischenPraxis zeigt, der Weg frei von der Fremdbestimmung hin zu Selbstakzeptanz und damit Selbstbewußtsein.Denn fremdbestimmt sein macht dick!

Gebunden DM 27.- / ÖS 198,- / sFr 25,-St. Pöten: NP-Buchverlag

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WÖRTERBUCH DER PSYCHOTHERAPIE

Gerhard Stumm, Alfred Pritz (Hrsg.)

Ein konkurrenzloses Lexikon, das alle Gebiete der Psychotherapie in über 1350Stichworten beschreibt. Etwa 350 Autoren aus einem Dutzend Ländern und 50Fachgebieten haben sich an diesem einzigartigen schulenübergreifenden Werk be-teiligt, unter anderem auch die Existenzanalyse mit zahlreichen Stichworten.

Gebunden DM 158,- / ÖS 1.106,- / sFr 143,-Wien - New York: Springer

SINNSPUREN - DEM LEBEN ANTWORTEN

Alfried Längle

Fragen des Lebens, Fragen an das Leben, Lebensfragen.Was zählt im Leben? Wie können Zugänge zum Lebengefunden werden?In diesem Buch werden grundsätzliche Lebensthemen ne-ben Alltagsproblemen und Sinnfragen in kurzen, griffigenSätzen vorgestellt. Reflexionen und meditatives Fragenbinden die eigene Erfahrung mit ein und regen zu einerindividuellen und kreativen Auseinandersetzung mit demThema an - auf der Suche nach Leben, nach Erfüllung,nach Sinn.

Gebunden DM 19,90- / ÖS 145,- / sFr 19,-St. Pöten: NP-Buchverlag

DIE EXISTENZSKALA (ESK)A. Längle, Ch. Orgler, M. Kundi

Das inzwischen in dutzenden Unternehmen erprobte undbewährte Testverfahren zur Messung innerer Sinnerfüllungerscheint als komplettes Testverfahren mit ausführlichemHandbuch, erweiterter Statistik und breiter Interpretations-anleitung. Die ESK ist das einzige Instrument zur Erfas-sung der inneren Sinnerfülltheit, das theoriegeleitet aus derLogotherapie entwickelt wurde.

Göttingen: Beltz-Hogrefe

PUBLIKATIONEN

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PUBLIKATIONEN

NEUE ARBEITEN AUS DER EXISTENZANALYSE UND LOGOTHERAPIE

In dieser Rubrik wollen wir den großen Fundus an Bearbeitungen existenzanalytischer Themen bekanntmachen.Es sollen sowohl in anderen Medien veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten zur Existenzanalyse als auch dieAbschlußarbeiten zur Beratungs- und Therapieausbildung vorgestellt werden.

ABSCHLUSSARBEITEN

Das Phänomen des Todes in der Existenz-analyse

Mag. Maria Figl-Winkler

Auf dem Hintergrund der vier existentiellen Grund-motivationen werden Probleme und Chancen der philo-sophisch gedachten und der erlebten Todesmöglichkeituntersucht. Dabei kann festgestellt werden, daß Ver-drängungs- und Abwehrstrategien gegenüber dem exi-stentiellen Faktum des Todes zu erheblichen pathologi-schen Konsequenzen führen können. Wo es hingegenmöglich wird, die philosophische Todesdurchdringungin die Praxis und in das Spüren des Menschen zu brin-gen oder im eigenen Erleben in die Nähe des Todes zukommen, eröffnet es Leben: die Erfahrung des Grun-des, die Intensität des Lebens, das Spüren des Ande-ren, der Wandel der Werte, die Kraft aus der Leidens-fähigkeit und der ursprünglichen Einheit, das eigene au-thentische Sein. Defizite auf den vier Ebenen könnendadurch ausgeglichen werden. Es wird aufgezeigt, daßder von der Therapie nicht ausgeschlossene Tod demMenschen seine Grenzen geben und ihm seine Offen-heit ermöglichen kann.

Schlüsselwörter:der Andere, Angst, Augenblick, Authentizität, Gelassen-heit, Leidensfähigkeit, Schuld, Symbiose, Tod, Vergäng-lichkeit, Vorlauf

Laß dir von deiner Seele zeigen, was duwissen solltest – Wanderungen zu den

Schatzkammern des LebensMarcela Kozlovic

Der Geist, als Hort der unbewußten Dinge, ist die schöp-ferische Quelle, aus der alles Erscheinende im Leben ei-nes Menschen gespeist wird.Menschliches Sein ist geistiges Sein. Existenz ist etwas

wesenhaft Geistiges. Unbewußtes, Seele und Leiblichkeitsind durchdrungen von Geist.Aus der Tiefe des geistig Unbewußten – in der Tiefen-person als Zentrum geistiger Akte – entspringen Emotion,Intuition, Gewissen, Ethos, Eros, Logos und Pathos so-wie Inspiration, Fantasie, Kreativität und Humor.Die intentionalen Gefühle – als Urphänomene – wie Liebe,Freude, Mut, Vertrauen und Hoffnung rufen den Menschenin seine authentische Existenz, die in Freiheit und Verant-wortlichkeit – als Existentialien – gestaltet werden will.In welchen Lebensräumen des Menschen und wie sich derunbewußte Geist als Baumeister des Lebens und der Per-son erweisen kann, möchte ich anhand einiger Beispiele ausden Bereichen Tanz, Theater, Kunst, Literatur, Dichtungund Sprache sowie Emotion und Imagination – als Wegezum Sinn und deren Ausdruck - veranschaulichen.

Schlüsselwörter:das Unbewußte, das Geistige, Intuition und Gewissen, Sinnund Werte, das Leben und die Gefühle, Imagination

In guter Gesellschaft? – Versuch überVeräußerlichung und Disziplinierung

Anton Dorfinger

Ausgehend vom persönlichen Erfahrungsbereich soll durchProzeßanalyse wichtiger gesellschaftlicher Phänomene einbesseres Verständnis des Gesamtsystems gewonnen wer-den. Die Dynamik der evidenten und systemimmanentenAusweitung wird vom existenzanalytischen Blickwinkelbetrachtet und aus der Problematik des Wählens zu er-klären versucht. Wahlen sind es, die in der DemokratieHerrschaft legitimieren. Die Verdeutlichung der historischenEntwicklung der Herrschaftstechnik durch existenz-analytische Termini läßt den Schluß zu, daß in unserer Zeitdie 3. Grundmotivation die vorherrschende ist. Die Päd-agogik erhält in diesem Prozeß eine Schlüsselrolle: DerSozialtechnik “Disziplinierung” liegt heute ein bestimm-tes Bild vom Kind im gesellschaftlichen Bewußtsein zu-grunde, und dieses wirkt als ein aus dem System herauserklärbarer Antrieb zur Veräußerlichung.

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PUBLIKATIONENIN ZEITSCHRIFTEN

Psychotherapie im Krankenhaus Gmunden– Ein Erfahrungsbericht

Ursula C. Reischer

In: PSYCHOLOGISCHE MEDIZIN. 1999 Nr. 3, 19-25Wien: Facultas

Beschrieben werden die Erfahrungen einer Psychotherapeu-tin während eines einjährigen Praktikums an einem 250-Betten Allgemeinkrankenhaus und daran anschließend dieAufgabe, einen psychotherapeutischen Dienst in einemKrankenhaus einzuführen.Der Artikel reflektiert hauptsächlich Betrachtungen über:Einordnungen in das vorhandene Krankenhaus-Team, In-formation und Kooperation betreffend Psychotherapie,Anpassung des neuen psychotherapeutischen Dienstes andie vorhandene Struktur.

Schlüsselwörter:Psychotherapie im Krankenhaus, persönliche Erfahrungen,Gesetzeslage

Existenzanalyse - Die Zustimmung zumLeben finden

DDr. Alfried Längle

In: FUNDAMENTA PSYCHIATRICA. 1999 Nr. 12, 139-146 Wien: F.K. Schattauer VerlagsgmbH

Existenzanalyse (und ihr Teilgebiet der Logotherapie) isteine psychotherapeutische Methode, die vorwiegend überverbal induzierte Prozesse zur Ausführung gelangt. Auf-grund ihrer Methodik und des zugrundeliegenden Men-schenbildes kann sie definiert werden als einephänomenologisch-personale Psychotherapie mit dem Ziel,der Person zu einem (geistig und emotional) freien Erle-ben, zu authentischen Stellungnahmen und zu eigenverant-wortlichem Umgang mit ihrem Leben und mit ihrer Weltzu verhelfen. Als solche kommt sie bei psychosozialen,psychosomatischen und psychisch bedingten Erlebens- undVerhaltensstörungen zur Anwendung.Im Mittelpunkt der Existenzanalyse steht der Begriff der„Existenz“. Dieser meint ein sinnvolles, in Freiheit und Ver-antwortung gestaltetes Leben in der je eigenen Welt, mitder die Person in Wechselwirkung und Auseinandersetzungsteht.Ziel existenzanalytsicher Psychotherapie ist es, die Personaus den Fixierungen, Verzerrungen, Einseitigkeiten und

PUBLIKATIONEN

Traumatisierungen, die ihr Erleben und Verhalten beeinflus-sen, zu lösen. Der psychotherapeutische Prozeß läuft überphänomenologische Analysen zur Emotionalität als Zentrumdes Erlebens. Arbeit am biographischen Hintergrund undempathisches Mitgehen des Therapeuten tragen zum Ver-ständnis und zu einem besseren Zugang zur Emotionalitätbei. In der anschließenden Arbeit an personalen Stellung-nahmen und Entscheidungen wird der Patient frei für jeneInhalte, Ziele, Aufgaben und Werte, für die zu leben er sichauthentisch angesprochen fühlt.

DIPLOMARBEIT

Die Bedeutung von Sinn für Individuum undOrganisation

Eine vergleichende Betrachtung von Logotherapie undManagementlehre

Markus Classen

Die Arbeit befaßt sich vor dem Problemhorizont der inne-ren Kündigung mit der Bedeutung von Sinn für Individu-um und Organisation und vergleicht die Logotherapie miteiner Managementlehre, die an der Hochschule St. Gallenentwickelt wurde. Damit ist sie interdisziplinär zwischenPsychologie und Organisationslehre angesiedelt. Es wirduntersucht, inwieweit die beiden Konzepte geeignet sind,unter Einbeziehung des Faktors Sinn, dem Problem derinneren Kündigung zu begegnen. Aus den beiden zu ver-gleichenden Konzepten werden ein Menschenbild und einOrganisationskonzept entwickelt. Im weiteren wird auf derGrundlage des Menschenbildes ein Führungskonzept dis-kutiert und auf dem Hintergrund des Organisations-verständnisses ein Organisationskulturmodell erörtert.Die vergleichende Betrachtung vollzieht sich anhand be-stimmter Kriterien, die im Laufe der Arbeit entwickeltwerden. Der Vergleich zeigt, daß die von beiden Konzep-ten verwendeten Begriffe, wie z.B. Sinn und Werte, un-terschiedlich verstanden und in der Arbeitssituation umge-setzt werden. Als Fazit läßt sich die Logotherapie schlag-wortartig mit ‘Management als Sinnfindung möglichmachen’ und der St. Galler Ansatz mit ‘Management alsSinnvermittlung’ kennzeichnen. Beide Konzepte stoßenauf unterschiedliche Grenzen. Als Ausblick wird deshalbversucht, die beiden Konzepte zu verknüpfen, um so einneues Modell zu entwerfen.

Die Diplomarbeit im Studiengang Wirtschaftswissenschaf-ten (FernUniversität Hagen) kann als Vollversion auf derHomepage unterhttp://psychologie.fernuni-hagen.de/pdf/Classen.pdfheruntergeladen werden (370kb).

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AKTUELLESEin Projekt auf Basis der Existenzanalyse findet internationale Beachtung

Suizidprävention in SalzburgMit Anfang 1999 wurden erste

konkrete Schritte zu einem Projekt fürumfassende Suizidprävention in Salz-burg getan. In intensiver Auseinander-setzung mit der Problematik und inkollegialer Zusammenarbeit mit demärztlichen Leiter des Kriseninterven-tionszentrums der Christian-Doppler-Klinik (LNK-Salzburg), ReinholdFartacek konnte ein erster Entwurferstellt werden, dessen anthropologi-sche Implikationen in der Existenz-analyse gründen.

Anläßlich unserer Mitgliedschaftim EU-Projekt “Suicide and Life-Threatening Behavior” organisiertenwir im März 1999 eine Tagung inSalzburg, in deren Rahmen ichexistenzanalytische Kernannahmenund deren Bezug zum ThemenkreisSuizidalität vorstellte. Die teilnehmen-den Wissenschafter/Innen zeigten andiesem – den meisten nicht bekannten– Ansatz großes Interesse.

Auch beim 9. Linzer Gesund-heitssymposium wurden unsereÜberlegungen interessiert aufgenom-men, die Medical Tribune titulierte ih-ren ganzseitigen Bericht zur Suizid-prävention mit der existenzana-lytischen Prämisse “Am besten istein sinnvolles Leben”.

Im Mai 1999 konnten wir inTrondheim/Norwegen die erweiterteenglische Version unseres Entwurfesvorlegen. An dieser Stelle sei Bettyund Daniel Trobisch für die einfühl-same Übersetzung des existenz-analytischen Abschnitts nochmals ge-dankt.

Auf regionaler Ebene konnte ich die existenzanalytische Per-

spektive in Seminaren und Workshopszu Krise und Suizidalität, sowie inVorträgen in der Christian-Doppler-Klinik und in der Salzburger Ärztekam-mer darstellen.

Im Rahmen der Jahrestagung derDeutschen Gesellschaft für Suizid-prävention im Oktober 1999 inBayreuth fiel der Dialog zwischen

Psychoanalyse und Existenzanalyseauf viel Zustimmung, die sich unteranderem am Publikationsangebot fürden existenzanalytischen Beitrag durchden Mitherausgeber der “Suizidpro-phylaxe” M. Heinrich zeigte. Mittler-weile habe ich im Februar 2000 inPecs/Ungarn die englische Versiondes “TEM” (Test für existentielleMotivation / Längle & Eckhardt) vor-gestellt.

Verschieden Zentren aus unseremEU-Projekt sind an einer wissenschaft-lichen Zusammenarbeit sehr interes-siert. Im Rahmen unseres Treffens inVästeras/Schweden im Mai 2000 sol-len Forschungsstrategien unter beson-

derer Berücksichtigung der existenti-ellen Dimension konkretisiert werden.Die internationalen Bemühungen habensicherlich mitgeholfen, daß mit April2000 Suizidprävention als gesundheits-politisches Anliegen im BundeslandSalzburg etabliert wird. Der breite Kon-sens über die Wichtigkeit dieser An-strengung und die vielen positivenRückmeldungen zum anthropologi-schen Hintergrund machen ziemlichMut, existenzanalytische Überlegun-gen zu vertiefen und zu verbreiten.

Mag. Anton NindlThumegger Bezirk 7/1

A-5020 Salzburg

Am 13. März 2000 fand eineVerbandskonferenz des Hauptverbandesder Sozialversicherungsträger statt. Aufder Tagungsordnung stand auch dieendgültige Beschlußfassung über dieInkraftsetzung des Gesamtvertrages fürPsychotherapie, der in allen Details undunterschriftsreif vorlag.

Die von der ÖBVP dominiertenKassen inklusive Vertreter der Bundes-wirtschaftskammer drohten mit Aus-zug aus der Sitzung, wenn der Punkt“Psychotherapiegesamtvertrag” aufder Tagesordnung bliebe. Damit wäredas Abstimmungsquorum nicht er-reicht worden; der Tagesordnungs-punkt wurde daher abgesetzt.

Derzeit führen wir Gespräche mitdem Hauptverband, wie die weitereVorgangsweise sein wird. Faktum ist,daß der Hauptverband ungesetzlich han-delt, wenn der ausverhandelte Gesamt-

vertrag nicht umgesetzt wird. Es wur-de uns am 14. März 2000 vom Haupt-verband bestätigt, daß von unserer Seitealle Voraussetzungen erfüllt wurden.

Für Sie als PsychotherapeutIn be-deutet es in jedem Fall eine Verzöge-rung in der Umsetzung des Gesamt-vertrages; für manche auch eine Er-leichterung. Nichtsdestoweniger wer-den aber die notwendigen Um-setzungsschritte fortgeführt. Am24.03.2000 findet die erste Instruk-torInnenschulung statt. Anschließendwerden wir die Liste derInstruktorInnen veröffentlichen.

Als InstruktorInnen der GLE wer-den Rudolf Wagner und Mag. KarinSteinert Ansprechpartner für Fragen zuden Kassenverträgen sein.

Der österreichische Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP) in-formiert, daß als voraussichtlicher Vertragsbeginn zwischen dem Haupt-verband der Sozialversicherungsträger und dem ÖBVP mit dem 1. Ok-tober 2000 zu rechnen ist.

Vertragsumsetzung verzögert

aus: Psychotherapie News März 2000 /Nr.20, S. 2

AUS DEN ÖBVP - NEWS