Mit chemischer Bildung und Chemieunterricht steht es nicht ... · Viele Probleme waren...

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ver und emotional ansprechender Lernvorgänge umzusetzen, zu über- prüfen und gegebenenfalls zu kor- rigieren. Fachsystematisch-metho- disch-experimentelle Denkansätze dominieren gegenwärtig schülerbe- zogene – alltagsorientierte – lernpsy- chologische Arbeitszusammenhänge. Beide Richtungen versuchen, sich über konzeptionelle Anregungen mit unterrichtlicher Praxis zu ver- zahnen, auf Lernbedingungen der Schüler ein- und aufeinander zuzu- gehen. Daraus resultierende Syner- gieeffekte bringen Chemiedidaktik und Chemieunterricht voran – im Interesse fachlicher und individuel- ler Ansprüche. Diese Polarisierung war, historisch betrachtet, nicht un- bedingt zu erwarten. Programmati- sche Absichtserklärungen (Abbil- dung 1) haben nichts von ihrer Ak- tualität verloren, so die Aspekte Bil- dung, Schüler- und Lehrerverhalten, Lehre, Institutionalisierung, Imple- mentations- und Umsetzungsvor- gänge oder die Notwendigkeit, Che- miedidaktik als differenzierte Hand- lungswissenschaft zu akzentuieren. Heute kann das Modell eines situati- ven, methodisch und/oder konzep- Der Trendbericht „Fachdidaktik Chemie“ ist ein Novum in den „Blauen Blättern“. Er ist als erster seiner Art vom Konzept her ein Sta- tusbericht, rückblickend auf gut 30 Jahre chemiedidaktische Arbeit in Deutschland, akzentuiert aber, wo es sinnvoll erscheint, Tendenzen in Forschung und Lehre. Dazu werden elektronische Datenbanken (Tabelle) und archivähnliche Dokument- sammlungen über den Gegenstands- bereich der Disziplin zugrundegelegt. Publikationen sind bibliographisch und inhaltlich bewertend erfasst, also durch Abstracts und ein Spektrum von ca. 300 Kriterienbegriffen. Chemiedidaktik: Denkrichtungen Fachdidaktik Chemie beschäftigt sich mit chemischen Lehr- und Lernprozessen unter Randbedingun- gen, also auch mit Chemieunter- richt. Chemiedidaktik hat wie jede Wissenschaft eine systematische, modellierende und prognostische Funktion. Die Einheit von chemie- didaktischer Theorie und unter- richtlicher Praxis verpflichtet, For- schungsleistungen im Fokus effekti- Mit chemischer Bildung und Chemieunterricht steht es nicht zum Besten – national wie international. Viele Probleme waren vorhersehbar. Kurzfristige Erfolge sind nicht zu erwar- ten, doch das Ziel ist klar: Für junge Menschen darf Chemie als Kulturleistung nicht negativ besetzt bleiben. Vor allem allgemein bildender Chemieunterricht muss entsprechende Potenziale und dadurch auch Schülerlernen mobilisieren. Chemiedidaktik 2003 Trendbericht tionell geöffneten, fachübergreifen- den und allgemein bildenden Che- mieunterrichts als Konsens fixiert werden, immer mit Blick auf unter- richtliche Gestaltungsvorgänge, in- dividuelle Lernvorgänge und Ver- mittlung grundlegender Fachkennt- nisse. Lange Zeit präferenzierte Che- miedidaktik dafür vorrangig die Aspekte „Planung von Chemieunter- richt“ und „Methode als Artikulati- on von Chemieunterricht“ (Abbil- dung 2), angelehnt zwar an all- gemeine Unterrichtsmodelle, aber unter Vernachlässigung von Lern- voraussetzungen. In der letzten Zeit gelingt es immer mehr, den Beson- derheiten von Chemielernen und -lehren zu entsprechen. Antworten auf die Problematik, wie der Teil- chenaufbau der Materie, die Diskon- tinuität stofflichen Geschehens, Ler- nenden plausibel zu machen oder zumindest nahe zu legen ist und wie dazu im Wechselspiel zwischen stofflicher Anschauung, modellhaf- ten Deutungsversuchen und kogni- tiven Lernmöglichkeiten Verstehen erzeugt werden kann, sind als For- schungsaufgaben zu intensivieren. Bisherige Strategien waren ins- Tabelle. Elektronische Quel- len zur Chemiedi- daktik (Stand November 2003, Paderborn). 344 Nachrichten aus der Chemie | 52 | März 2004 | www.gdch.de

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ver und emotional ansprechender Lernvorgänge umzusetzen, zu über-prüfen und gegebenenfalls zu kor-rigieren. Fachsystematisch-metho-disch-experimentelle Denkansätze dominieren gegenwärtig schülerbe-zogene – alltagsorientierte – lernpsy-chologische Arbeitszusammenhänge. Beide Richtungen versuchen, sich über konzeptionelle Anregungen mit unterrichtlicher Praxis zu ver-zahnen, auf Lernbedingungen der Schüler ein- und aufeinander zuzu-gehen. Daraus resultierende Syner-gieeffekte bringen Chemiedidaktik und Chemieunterricht voran – im Interesse fachlicher und individuel-ler Ansprüche. Diese Polarisierung war, historisch betrachtet, nicht un-bedingt zu erwarten. Programmati-sche Absichtserklärungen (Abbil-dung 1) haben nichts von ihrer Ak-tualität verloren, so die Aspekte Bil-dung, Schüler- und Lehrerverhalten, Lehre, Institutionalisierung, Imple-mentations- und Umsetzungsvor-gänge oder die Notwendigkeit, Che-miedidaktik als differenzierte Hand-lungswissenschaft zu akzentuieren. Heute kann das Modell eines situati-ven, methodisch und/oder konzep-

� Der Trendbericht „Fachdidaktik Chemie“ ist ein Novum in den „Blauen Blättern“. Er ist als erster seiner Art vom Konzept her ein Sta-tusbericht, rückblickend auf gut 30 Jahre chemiedidaktische Arbeit in Deutschland, akzentuiert aber, wo es sinnvoll erscheint, Tendenzen in Forschung und Lehre. Dazu werden elektronische Datenbanken (Tabelle) und archivähnliche Dokument-sammlungen über den Gegenstands-bereich der Disziplin zugrundegelegt. Publikationen sind bibliographisch und inhaltlich bewertend erfasst, also durch Abstracts und ein Spektrum von ca. 300 Kriterienbegriffen.

Chemiedidaktik: Denkrichtungen

� Fachdidaktik Chemie beschäftigt sich mit chemischen Lehr- und Lernprozessen unter Randbedingun-gen, also auch mit Chemieunter-richt. Chemiedidaktik hat wie jede Wissenschaft eine systematische, modellierende und prognostische Funktion. Die Einheit von chemie-didaktischer Theorie und unter-richtlicher Praxis verpflichtet, For-schungsleistungen im Fokus effekti-

Mit chemischer Bildung und Chemieunterricht steht es nicht zum Besten – national wie

international. Viele Probleme waren vorhersehbar. Kurzfristige Erfolge sind nicht zu erwar-

ten, doch das Ziel ist klar: Für junge Menschen darf Chemie als Kulturleistung nicht negativ

besetzt bleiben. Vor allem allgemein bildender Chemieunterricht muss entsprechende

Potenziale und dadurch auch Schülerlernen mobilisieren.

Chemiedidaktik 2003

�Trendbericht�

tionell geöffneten, fachübergreifen-den und allgemein bildenden Che-mieunterrichts als Konsens fixiert werden, immer mit Blick auf unter-richtliche Gestaltungsvorgänge, in-dividuelle Lernvorgänge und Ver-mittlung grundlegender Fachkennt-nisse. Lange Zeit präferenzierte Che-miedidaktik dafür vorrangig die Aspekte „Planung von Chemieunter-richt“ und „Methode als Artikulati-on von Chemieunterricht“ (Abbil-dung 2), angelehnt zwar an all-gemeine Unterrichtsmodelle, aber unter Vernachlässigung von Lern-voraussetzungen. In der letzten Zeit gelingt es immer mehr, den Beson-derheiten von Chemielernen und -lehren zu entsprechen. Antworten auf die Problematik, wie der Teil-chenaufbau der Materie, die Diskon-tinuität stofflichen Geschehens, Ler-nenden plausibel zu machen oder zumindest nahe zu legen ist und wie dazu im Wechselspiel zwischen stofflicher Anschauung, modellhaf-ten Deutungsversuchen und kogni-tiven Lernmöglichkeiten Verstehen erzeugt werden kann, sind als For-schungsaufgaben zu intensivieren. Bisherige Strategien waren ins-

Tabelle.

Elektronische Quel-

len zur Chemiedi-

daktik (Stand

November 2003,

Paderborn).

344

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• dass Experimente als zentrale chemische Erkenntnismethode als Thema unumstritten sind und

• dass experimentelle Lernmotive erst durch geeignete Problemstel-lungen erzeugt werden, mithin von Lehrerverhalten abhängig sind. 2. Seit Mitte der 80er Jahre des

vorigen Jahrhunderts wird Che-mieunterricht zunehmend unter-richtswissenschaftlich, also in einer über das Fachliche hinausgehenden Komplexität begründet. Aus solchen Überlegungen heraus wurden (und werden) Konzepte für die Praxis des Chemieunterrichts konkretisiert (Abbildung 2). Zugleich lösten Che-miedidaktiker ihre eigenen Ansprü-che (Abbildung 1) ein, auf Unter-richt konstruktiv einzuwirken. In-wieweit solche komplexen Program-me in der Unterrichtsrealität wirken, ist schwer abzuschätzen. Möglicher-weise sind auch Probleme von (Hochschul)Lehre, Schulalltag, Leh-rervorstellungen und -wissen be-deutsam. Die Konzepte sind vielfäl-tigst zu nutzen – zur motivierenden Aufweitung fachsystematisch aus-gerichteter Lehrpläne und Unter-richtskonzepte.

3. „Mutterwissenschaft“ ist Che-mie (Abbildung 1 und 2). Kristalli-sationspunkte von Chemiedidaktik sind, fachlichen Entwicklungen ent-sprechend, „neue“ Themen, „neue“

gesamt nicht sehr erfolgreich – ge-messen an Schülerleistungen.

Chemiedidaktik: Schärfung von Trends

� 1. Chemiedidaktik hat sich erst sehr spät in einem wissenschaftstheo-retischen Sinne mit der eigenen Ge-schichte beschäftigt. Seit vielen Jahr-zehnten zusammengetragene Er-kenntnisse wurden vereinzelt syste-matisiert.1,2) Chemiedidaktik hat sich inhaltlich und forschungsmetho-disch (natürlich) an Bezugswissen-schaften ausgerichtet (Chemie, Päda-gogik, allgemeine Didaktik, Psycho-logie u. a). So hat die Orientierung an der Leitlinie „structure of discipline“ wie auch die Fokussierung auf all-gemeindidaktische Modelle zur Be-schreibung und Planung von Che-mieunterricht die Chemiedidaktik als Lernwissenschaft nicht profiliert. Fachstrukturen haben Lernstruktu-ren der Schüler, allgemeine Planungs-modelle vor allem die lern- und ent-wicklungspsychologische Problema-tik abstrakter Lerninhalte unter-schätzt. Es war und ist für Chemiedi-daktiker nur schwer möglich, unter-richtliche Modellaspekte oder -vor-stellungen in Unterrichtspraxis oder praxisnahen Zusammenhängen zu „testen“ oder aus modellierten Lern-/Lehrstrukturen prognostizierte Un-terrichtsabläufe zu überprüfen. Vor allem sind Forschungen über Unter-richtsprozesse (juristisch) erschwert und (erkenntnistheoretisch) auch problematisch. Für Chemiker dage-gen ist stoffliche Praxis prinzipiell zu-gänglich. Reaktionsabläufe sind ma-nipulier-, modellier- und auch vor-hersagbar. Diese Forschungsproble-matik verpflichtet Chemiedidaktiker im besonderen Maße zu einem kon-zentrierten Gedankenaustausch – im Interesse einer chemiedidaktischen Theorienbildung. Derzeit erscheinen eben deshalb chemiedidaktische Er-kenntnisse mitunter unverbunden – selbst zum zentralen Forschungs-gegenstand „Experiment“. Aner-kannt ist natürlich, • dass experimentelles Tun als Me-

thode für Lernprozesse förderlich ist,

Experimente und „neue“ Stoffe. Die Sache, der Gegenstand, das Thema an sich wird als Reiz im behavioristi-schen Sinne zur Geltung gebracht, Verstehensprozesse werden aber nicht mehr ausgeklammert. Dazu sind vielfältigste und unterrichts-praktisch verwertbare Ergebnisse dokumentiert (Tabelle und Abbil-dung 3). Unterrichtsstrategien, zwi-schen „naiven“ und „wissenschaftli-chen“ Vorstellungen zu vermitteln, werden die massiven Lernprobleme der Schüler sowie daraus resultie-rende negative Einschätzungen ab-mildern. Allerdings sind Deutungen der Reaktionsabläufe, also moleku-lare Prozesse zwischen Anfangs- und Endzuständen von Reaktionen, für Laien (Schüler) wahrlich nicht ein-fach verständlich zu vermitteln (Sie-gen). Sie sind aber charakteristisch für Chemie. Forschungsziel muss zunächst sein, im Unterricht Vor-stellungen der Lernenden eben dazu zu rekonstruieren.

Kognitionen haben bislang Vor-rang vor Emotionen. Schon sehr lan-ge werden – als Reaktion auf die ge-ringe Beliebtheit von Chemieunter-richt – Forderungen nach Interes-senförderung erhoben – eben im In-teresse von Lernenden. Noch 1970 heftig umstritten, etwa im Zusam-menhang mit Gerda Freises Thesen zum integrierten Naturwissen-schaftsunterricht, fokussierten in

Abb. 1.

Profile von Chemie-

didaktik.

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siskonzepte der Chemie (Stoff, Bin-dung, Struktur, Reaktion, Energie) verlangen eine weit entwickelte Abs-traktionsfähigkeit und scheinen auf-grund kurzer Lernzeiten Lernende zu überfordern – kognitiv wie emo-tional. Speziell für die Klassenstufen 7 – 10 (erst recht für die Grundschu-len) ist zu überlegen, abstrakte Lern-inhalte quantitativ und vor allem di-daktisch zu reduzieren – auf dem Hintergrund des Spannungsverhält-nisses von spezieller und allgemei-ner Bildung.

Nicht immer hat ein rein fachli-cher Chemieunterricht (auch in den „Blauen Blättern“) Zustimmung ge-funden, und viele Chemiker haben im Zusammenhang der Oberstufen-reform in den 70er Jahren vor über-frachteten Lehrplänen gewarnt. All-tagspointierte Konzeptionen (Abbil-dung 2) setzen bei dieser Kritik an und orientieren sich an lebensweltli-chen Begründungen für Chemieun-terricht um 1960: Im Sinne einer volkstümlichen Bildung waren da-mals chemische Orientierungshilfen für die Weltaneignung als notwen-dig erkannt. Diskussionen über scientific literacy werden in der For-scherszene angestoßen (Kiel) – auf der Metaebene wohl mit ersten Fol-

halb schon von der Chemiedidaktik als Auftrag verstanden (Abbildung 3). Die Gefahr bleibt, dass Methode konsumiert wird. Chemiedidaktiker haben schon immer davor gewarnt, prognostizierte Wirkungen metho-discher Arrangements zu überschät-zen. Zu einmalig ist Chemieunter-richt. Für Lernfragen sind metho-dische Perspektiven lediglich ein Rahmen, der nach lernpsychologi-schen Bedingungen „vor Ort“ immer wieder zu gestalten ist. Solche schon immer geltend gemachten Bedenken gegen eine „Vorherrschaft“ von plausibler Methode haben schon im-mer zu kontroversen Diskussionen geführt. Theoretisch ist es deshalb unumstritten, Chemiedidaktik als Lernen unter individuellen Bedin-gungen, fachlichen und metho-dischen Entscheidungen zu intensi-vieren. Die methodische Orientie-rung resultiert sicherlich aus dem Anspruch an Chemieunterricht, Chemie möglichst vollständig und korrekt abzubilden. Immer wieder und immer noch geht es darum, mit methodischem Raffinement die Dis-kontinuität des stofflichen Gesche-hens zu lehren. Es ist allerdings mehr als zweifelhaft, ob dies in ei-nem verstehenden Sinne gelingt. Ba-

Abb. 2.

Chemiedidaktische

Konzeptionen –

Auswahl.

zeitlicher Folge Forschergruppen Emotionen über das sozialpsycholo-gische Konstrukt „Einstellungen“ (Paderborn, Siegen). Heute wird ei-ne pädagogische Interessentheorie für naturwissenschaftlichen Unter-richt insgesamt und mit großem Ressourceneinsatz bemüht (Kiel). Eben dort sind um 1975 Lehrgänge entworfen worden, die sich an Ver-stehens- und Lernfragen schwieriger Grundkonzepte orientiert und auch emotionale Aspekte „angedacht“ hatten. Sie haben möglicherweise im Ansatz „Chemie im Kontext“ (Dort-mund) eine Fortführung gefunden, zumindest hinsichtlich unterrichts-praktischer Ansprüche und der vor-rangig kognitiven Erschließung der Fachinhalte im (Lebens)Kontext und/oder hinsichtlich individueller Alltagsorientierung (Essen) (Abbil-dung 2).

4. Chemiedidaktik hat weiterhin eine starke methodische Komponen-te. Es muss offen bleiben, inwieweit durch die deutsche Vereinigung die DDR-Methodik in diesem Sinne mo-dellbildend gewirkt hat (und warum nicht). Die methodische Ausrich-tung wird zwar im Sinne zeitöko-nomischer Unterrichtsvorbereitung von der Praxis gewünscht und des-

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Abb. 3.

a) Schwerpunkte

chemiedidaktischer

Forschungen (1945

– 2003): Lehrvor-

gänge.

b) Forschungs-

schwerpunkt „Schü-

ler“; Trend: Zunah-

me.

c) Forschungs-

schwerpunkt „Leh-

ren“; Trend: Rück-

gang auf hohem

Niveau.

gerungen. In einer größeren Studie über chemische Bildung wird erst-mals im Sinne eines gesellschaftli-chen Konsens nach Antworten auf die Dialektik von allgemein und spe-ziell gesucht (Hamburg). Daraus sind Impulse für eine notwendige Legitimationsdebatte und eine er-neute Diskussion über außerfachli-che Zielvorstellungen im Chemieun-terricht zu erwarten.

Selbst Alltagsorientierungen wer-den gelegentlich so konzipiert, dass sie nur Rahmen und Anlässe für Chemielernen vorgeben, sie sollen chemische Deutungen lediglich il-lustrieren und motivieren. Che-mische Experimente als zentrales Moment von solchen Ansätzen kom-men im Alltag nicht vor, allenfalls stoffliche Erfahrungen. Dennoch sind Zusammenhänge zwischen Chemie und Alltag zu verdeutlichen (Essen, Siegen). Zu bedenken ist, dass selbst Phänomene formale An-forderungen an Lernende stellen, wenn Tätigkeiten wie beobachten, beschreiben, wahrnehmen, verall-gemeinern, schlussfolgern, anwen-den, hantieren oder formulieren und vor allem Arbeit am Begriff (Bre-men) Ziele sind. Folgerichtig wird Lehrerverhalten bedeutsam. „Te-achers thinking“ über Lehre zu be-einflussen (München, Paderborn) oder in Forschungszusammenhänge einzubinden (Dortmund), vermag immer die Lehrkompetenz „Selbst-vergewisserung“ (BLK) zu stärken (Kiel). Das ist gut für Chemieunter-richt.

5. Über FADOK (Tabelle) wird der Trend „Lehren“ und „Methode“ quantitativ belegbar (Abbildung 3a). Von 1945 – 2003 haben sich entspre-chende Aktivitäten auf weiterhin ho-hem Niveau verringert (Abbildung 3c). Dies kann als (Trend)Wende hin zu komplexen unterrichtswis-senschaftlichen Forschungsstrate-gien gedeutet werden. Neben spe-ziellen Aspekten wie Übungsfor-men, Elementarisierung, Methoden-kompetenz, Sozial- und Aktionsfor-men, Unterrichtsprinzipien usw. (Abbildung 3a, Balken „Methode“) interessieren vor allem Experimente, Lehrer- mehr als Schülerversuche

(Abbildung 3a, Balken „Lehren“). Die Überlegungen werden oftmals mit Aspekten von Unterrichtspla-nung, -durchführung und -analyse gekoppelt. Experimentelles Lehrer-verhalten wird berücksichtigt (Ab-bildung 3a, Balken „Lehren“). Stan-dardversuche werden fachlich und methodisch aufgeweitet bzw. präzi-siert (Rostock) sowie wahrneh-mungspsychologisch (Dortmund) optimiert, für moderne Inhalte der Chemie werden schulgeeignete Ex-perimente entwickelt (Duisburg, Frankfurt, Heidelberg, Kassel, Nürn-

berg, Oldenburg, Weingarten, Würz-burg, Wuppertal). Der Erkenntnis-stand wird in Handbüchern zur ex-perimentellen Schulchemie systema-tisiert (Bindlach, Dortmund, Olden-burg, Siegen). Lehrerverhalten wird vor allem hinsichtlich fachlicher und experimenteller Kompetenzen berücksichtigt. Beiträge über unter-richtliche Konzeptionen (Abbildung 2) und zum „Konzeptwechsel“ (das ist die Überwindung der Konkur-renz „naiver“ und „fachlicher“ Denkmuster eines chemischen Phä-nomens aus Sicht der Lernenden)

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a)

b)

c)

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reflektieren schon das Verhältnis „Sache/Schüler“ (Abbildung 2). For-schungen zu Schülervorstellungen, zu Lernprozessen und -bedingungen (Essen, Kiel, Münster) sind seit den 80er Jahren grundsätzlich und the-matisch intensiviert worden (Abbil-dung 3b) – auch in geschlechtsspezi-fischer Perspektive. Curriculare Ent-wicklungen setzen dies praxisrele-vant, zeitgemäß, offen oder kon-textuell um (Dortmund, Essen, Jena, Nürnberg, Würzburg). Neue Medien („Telepräsenz“) sollen Lern- und Verstehenschancen von chemischen Modellvorstellungen unterrichtlich optimieren (Köln). Einige Projekte werden von DFG, VCI und GDCh unterstützt – als Reaktionen auf TIMSS und PISA. Zum Teil werden entsprechende Forschungsergebnis-se in außerschulische Bildungs- und Fortbildungsinitiativen (Bielefeld, Essen, Frankfurt) integriert, die wie-derum Anlass für konzeptuelle Lern-forschungen mit Kindern sind (Pa-derborn).

6. Die Forschungsmethodik ist konstitutiv für Wissenschaft, den-noch wird darüber kaum publiziert (Abbildung 3). Gelegentlich werden methodologische Forschungsansät-ze selbstkritisch hinterfragt (Bonn) oder aus mehreren Perspektiven be-leuchtet. Die „partikularistische Ak-tionsforschung“ (Dortmund) kann Kontroversen zwischen empirisch-analytischen und hermeneutisch-in-terpretativen Verfahren überwinden. Sie hat Erfolg, wenn sie z. B. aus Un-terricht hermeneutisch „Hypothe-sen“ rekonstruiert und dann empi-

risch kontrolliert. Somit wird eine chemiedidaktische Heuristik über-wunden. Das Dilemma, inwieweit die unter speziellen Schul- oder La-borbedingungen ermittelten Ergeb-nisse als generelle Handlungsanwei-sung für andere Zusammenhänge nutzbar sind, wird (zunächst) blei-ben. Gerade in der Vergangenheit haben Generalisierungen „prak-tisch“ enttäuscht. Dies war für das Renommee nicht sonderlich förder-lich und hat auch Interaktionen zwi-schen „Theoretikern“ und „Prakti-kern“ gestört.

Chemiedidaktik: Das Lehren von Forschung

� Lehre vermittelt Forschungs-resultate, Wissenschaft ist auf Lehre angewiesen. Chemiedidaktische Lehre findet statt – an den jeweiligen Hochschulstandorten mit unter-schiedlichen Lehrprofilen2) und in unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen. Zumindest in Ansätzen wird ein Fundamentum des chemiedidaktischen Wissens-stands gelehrt, so das Ergebnis einer Konsistenzanalyse (Paderborn) von realen Lehrangeboten (1985 bis 1996) und von chemiedidaktischen Ansprüchen. Diskussionen über hochschulübergreifende Standards der chemiedidaktischen Lehre kom-men allerdings in Gang, wie GDCP-, GDCh- und MNU-Initiativen zeigen. Hochschuldidaktisch ist zu berück-sichtigen, dass ein theoretisches Lehrgebäude immer wieder auf „chemische Lehr- und Lernpraxis“ bezogen bleibt, etwa in didaktisch ausgerichteten Experimental- oder Unterrichtspraktika im Schulfach „Chemie“. Um chemiedidaktisches Wissen anwendungsbezogen und somit effektiv zu vermitteln, müssen studentische Vorstellungen von Chemielernen, die sich an eigenen Erlebnissen als Schüler orientieren, im Studium rekonstruiert, also be-wusst gemacht werden: Nur dann sind sie zu ändern. Reflexionsanläs-se helfen Studierenden, chemiedi-daktische Wissenselemente so zu verinnerlichen, dass sie als Einstel-lungen (vielleicht) handlungswirk-

sam werden. Dies ist einfacher ge-sagt als getan. Forschende Lehr-ansätze binden zwar Praxisbegeg-nungen ein, stellen sich auch der Theorie-Praxis-Problematik, sind aber zeit-, betreuungs- und ressour-cenintensiv, wie das Projekt FIDL (F(orschung) I(n) D(er) L(ehre)) gezeigt hat (Paderborn). Lehrinhalte sind „Experimente im Chemieunter-richt“, zunächst „Demonstrations-experimente“. „Lernbedingungen“ (Schüler, Lehrpläne, Organisation, Schulart, Schultyp, Ausstattung u.a.) scheinen in der Ausbildung erst all-mählich den Stellenwert einzuneh-men, den unterrichtsmethodische Fragen schon immer hatten. Mediale Aspekte sind auf dem Hintergrund von aktuellen Forschungsinitiativen zu Neuen Medien (Köln, Münster, Nürnberg) und ihrer generellen Be-deutung für Chemieunterricht un-terrepräsentiert. Chemiedidaktik wird zunehmend ihrer Aufgabe ge-recht (vgl. Abschnitt „Chemiedidak-tik: Schärfung von Trends“), den zentralen Lehrinhalt „Lernen von Chemie“ regelhaft, gesetzmäßig, vielleicht schon theoriegeleitet zu vermitteln. Ein immer wieder geäu-ßerter Vorwurf, Chemiedidaktik sei Abbilddidaktik, orientiere sich le-diglich an den Inhalten und der Struktur von Chemie, ist heute nicht mehr aufrechtzuhalten. Chemiedi-daktik ist auf einem guten Weg. Dies stärkt eine professionelle Chemie-lehrerausbildung.3)

Chemiedidaktik: ein Ausblick auf Probleme

� Jede Wissenschaft lebt von Pro-blemen, und sie ringt um Lösungen. Dazu sind nationale und internatio-nale Kooperationen zu forcieren, aber auch Traditionsbildung „von innen heraus“ ist notwendig. Eine gesamteuropäische Bildungsbewe-gung wird dies einfordern. Gegen-wärtig ist noch schwer abzuschät-zen, inwieweit internationale Ko-operationen die chemiedidaktische Forschungspraxis insgesamt und in Deutschland bereichern. In der Ver-gangenheit hat dies (auf der Makro-ebene) nicht unbedingt funktioniert.

Hans-Jürgen Becker

war Lehrer an unter-

schiedlichen Schul-

typen, Fachseminar-

leiter (2. Phase), Wiss.

Assistent, Hochschul-

assistent, Studienrat,

Privatdozent und ist jetzt Professor für

Didaktik der Chemie an der Universität

Paderborn. Er promovierte 1978 (Che-

miedidaktik, Chemie, Soziologie) und ha-

bilitierte sich 1992 an der FU Berlin bei

Wolfgang Glöckner mit einer systemati-

schen Bestandsaufnahme von Chemie-

didaktik.

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Auch Chemiedidaktik ist eine Kul-turwissenschaft (Heidelberg). An einzelnen Hochschulen (Dortmund, Essen) werden Kontakte aufgebaut.

Zunächst bleibt Ausbildung ge-fragt, ihre Effektivität ist durch mehr Ressourcen zu steigern. Es ist sicher-lich nicht verkehrt, von Chemiedi-daktikern „Praxiserfahrungen“ als Qualifikationsmerkmal einzufor-dern. Aus Untersuchungen ist be-kannt, dass Chemiedidaktiker der ersten Generation in der Mehrzahl das Geschäft Chemieunterricht nicht aus innerer Anschauung kann-ten. Chemiedidaktische Lehre ist hochschulübergreifend auf ein curri-culares Niveau anzuheben und muss Lernprozesse lehren (Siegen). Che-miedidaktische Weiterbildung ist „weiter“ – im doppelten Sinne – zu fördern. Die an einer Reihe von Hochschulorten institutionalisierten Weiterbildungszentren mögen eben Versäumnisse der Vergangenheit auszugleichen helfen. Chemiedidak-tische Lehre wird ja durchaus unter-schiedlich bewertet.4) Es ist aber ei-ne große Herausforderung für Lehre, Auffassungen und Vorstellungen der Studierenden (wie „etwas“ gedacht

wird?) an konsensfähige Prinzipien, Einsichten, Theorien (wie „etwas“ gedacht werden kann?) heranzufüh-ren. Vor allem muss Lehrerverhalten ein Gespür für Schülerverhalten wi-derspiegeln. Dazu sind in der Lehre „realistische“ Handlungsempfehlun-gen zu vermitteln. Eine wichtige Aufgabe wird sein, wie das Interesse an der Chemie und am Chemieun-terricht (Bielefeld, Kiel, Paderborn) zu steigern ist. Es ist zu hoffen, dass ein Chemieunterricht schon in der Grundschule entsprechende Impul-se vermittelt. Ebenso ist die Suche nach sinnvollen Möglichkeiten zur Überprüfung von chemischen Lern-vorgängen und natürlich von Wis-sensvorräten zu intensivieren, zumal ja Wissen immer im Zusammenhang mit Problemlöseverhalten zu sehen ist. Etwa seit 1980 ist dieser For-schungszusammenhang abgebro-chen. Zu vermuten ist, dass diese Forschungsproblematik auf dem Hintergrund gegenwärtiger Diskus-sionen um Leistungsstandards wie-der aufgenommen wird. Chemiedi-daktische Überlegungen müssen aber gleichzeitig das Ziel „allgemein bildender Chemieunterricht“ im

Blickfeld behalten. Leistungsstan-dards sind in ausgewogene Bil-dungsstandards zu überführen. Dies wäre dann die eigentliche Herausfor-derung für chemiedidaktische Akti-vitäten – zukünftig.

Dank gilt Henry Hildebrandt, Pader-

born, der die FADOK-Recherchen durch-

geführt und die Daten quantifiziert hat.

Hans-Jürgen Becker, Paderborn

Anfragen nach weiterführender Literatur

nimmt der Autor per E-Mail entgegen

([email protected])

1) H.-J. Becker, Chemiedidaktische Entwick-

lungen in der Bundesrepublik Deutsch-

land – Situationsanalyse und Bilanz,

Lang, Frankfurt a. M., 1994.

2) H. Hildebrandt, Chemiedidaktik und Un-

terrichtswissenschaftlichkeit. Zur Ana-

lyse der chemiedidaktischen Lehre an

deutschen Hochschulen. Lang, Frankfurt

a. M., 1998.

3) Konkrete Fachdidaktik Chemie 3. Aufl.

(Hrsg.: P. Pfeifer, B. Lutz, H.-J. Bader),

Oldenburg, München, 2003.

4) V. Woest, ChemKon 2002, 9, 110–112.

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