Moderne Rehabilitation Nach Schlaganfall

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 Moderne Rehabilitation nach Schlaganf all E rhebliche Fortschritte im Wissen um die Mechanismen der Reorga- nisationsfähigkeit des Gehirns (Neuroplastizität) und die Entwicklung zunehmend evidenzbasierter funktioneller Therapien haben die Schlaganfallrehabi- litation in den letzten Jahren entschei- dend verändert. Basierend auf einer dif- ferenzierten Befundaufnahme erhält der Patient heute eine zielorientierte Behand- lung, die eine hohe Motivation erfordert, zumal die Patienten meist bereits wenige Tage nach dem Schlaganfall in die Reha- bilitationseinrichtung verlegt werden. Im nachfolgenden Beitrag werden die Details der modernen Schlaganfallrehabilitation dargestellt und betont, dass ein integra- tiver Ansatz und eine hohe Therapie- dichte für den funktionellen Zugewinn des Patienten von entscheidender Bedeu- tung sind. Folgenschweres Krankheitsereignis In jedem Jahr erleiden circa 190.000 Menschen in Deutschland einen Schlag- anfall, die Letalität innerhalb der ersten 90 Tage nach dem Ereignis liegt bei 14,7% [20]. Jährlich müssen rund 800.000 Schlaganfallbetroffene betreut und versorgt werden [35]. Davon leiden circa 35% anschließend langfristig an einer funktionell erheblichen Beinparese und circa 65% können die betroffene Hand nicht zur Durchführung ihrer täg- lichen Aktivitäten einsetzen [14]. Tr otz immer besserer Notfall- und Akuttherapie verbleiben nach einem Schlaganfall oftmals gravierende Funktions- und Aktivitätseinschränkungen, die zu einer großen Belastung für die Betroffenen und Angehörigen, aber auch für das Gesundheits- system führen. Eine hochwertige Rehabilitation ist daher essenziell. T. HENZE Fortbildung 59 NeuroTransmitter  10.2007     ©     P    r    o     f  .     D    r  .     T     h  .     H    e    n    z    e  ,     N     i     t     t    e    n    a    u  Abbildung 1: Laufb andtraining mit Körpergewichtsentlastung

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Moderne Rehabilitation

nach Schlaganfall

Erhebliche Fortschritte im Wissenum die Mechanismen der Reorga-nisationsfähigkeit des Gehirns

(Neuroplastizität) und die Entwicklungzunehmend evidenzbasierter funktionellerTherapien haben die Schlaganfallrehabi-litation in den letzten Jahren entschei-dend verändert. Basierend auf einer dif-ferenzierten Befundaufnahme erhält derPatient heute eine zielorientierte Behand-lung, die eine hohe Motivation erfordert,zumal die Patienten meist bereits wenigeTage nach dem Schlaganfall in die Reha-

bilitationseinrichtung verlegt werden. Imnachfolgenden Beitrag werden die Detailsder modernen Schlaganfallrehabilitationdargestellt und betont, dass ein integra-tiver Ansatz und eine hohe Therapie-dichte für den funktionellen Zugewinndes Patienten von entscheidender Bedeu-tung sind.

FolgenschweresKrankheitsereignisIn jedem Jahr erleiden circa 190.000Menschen in Deutschland einen Schlag-anfall, die Letalität innerhalb der ersten90 Tage nach dem Ereignis liegt bei14,7% [20]. Jährlich müssen rund800.000 Schlaganfallbetroffene betreutund versorgt werden [35]. Davon leidencirca 35% anschließend langfristig aneiner funktionell erheblichen Beinpareseund circa 65% können die betroffeneHand nicht zur Durchführung ihrer täg-lichen Aktivitäten einsetzen [14].

Trotz immer besserer Notfall- und Akuttherapie verbleiben nach einem Schlaganfall

oftmals gravierende Funktions- und Aktivitätseinschränkungen, die zu einer großen

Belastung für die Betroffenen und Angehörigen, aber auch für das Gesundheits-

system führen. Eine hochwertige Rehabilitation ist daher essenziell.

T. HENZE

Fortbildung

59NeuroTransmitter _  10.2007

    ©    P   r   o    f .    D   r .    T    h .

    H   e   n   z   e ,

    N    i    t    t   e   n   a   u

 Abbildung 1: Laufbandtraining mitKörpergewichtsentlastung

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Für die Betroffenen ergeben sichdurch die verbleibenden Symptome undFunktionsstörungen erhebliche Ein-schränkungen ihrer Fähigkeiten (in derICF-Klassifikation als „Aktivitäten“ be-zeichnet) [7] bei der Bewältigung basaler

 Alltagsaktivitäten wie Waschen, An- und Auskleiden, Toilettengänge, Einnahmevon Mahlzeiten, Kommunikation, Mo-bilität oder Versorgung ihres Haushaltes.Die Einschränkungen der Aktivitäten wiederum führen zu ebensolchen an der

Teilhabe am sozialen Leben. Betroffensind Partnerschaft und Familie, Freun-deskreis, Hobbies und Beruf. Die Akti-vitäten werden zusätzlich durch materi-elle, soziale und andere Umweltfaktorensowie durch personenbezogene Faktoren(Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit,

 Alter, weitere Gesundheitsprobleme, Fit-ness, Lebensstil etc.) beeinflusst (Abb. 2).

Probleme bei der Krankheitsbewäl-tigung sowie die häufige Post-Stroke-Depression vergrößern den ohnehinschon erheblichen Leidensdruck. Auchfür die Angehörigen ergeben sich in allerRegel erhebliche psychische und sozialeProbleme, besonders dann, wenn sie mitder Betreuung und Pflege der Betrof-fenen betraut, oft auch überfordert sind.

In den vergangenen Jahren wurde in weiten Teilen Deutschlands eine flächen-deckende und suffiziente Notfall- und

 Akutversorgung geschaffen, vor allemdurch zertifizierte Stroke Units und re-gionale telemedizinische Versorgungs-strukturen (z.B. TEMPIS in Südostbay-ern [2]). Auch diese können die ge-schilderten Funktionsstörungen und

 Aktivitätseinschränkungen jedoch nurbedingt verhindern. Umso wichtiger isteine ebenso effektive wie qualitativ hoch-

 wertige Rehabilitation, sei sie ambulantoder stationär durchgeführt.

Paradigmenwechsel vollzogenDie Schlaganfallrehabilitation hat durchzahlreiche neue wissenschaftliche Dateneinen „paradigm shift in neurorehabili-tation“ ausgelöst. Dazu zählen

— umfangreiche Erkenntnisse zur Re-

organisationsfähigkeit des ZNS (Neu-roplastizität) durch Intensiv-Training,

— neue Daten zur Funktion des deklara-tiven und prozeduralen Gedächtnissesund zu den Möglichkeiten, diese fürdie Rehabilitation zu nutzen,

— Erkenntnisse über biochemische Vor-gänge, die das Lernen und die Reorga-nisation von Neuronen beeinflussen,

— der Einfluss der evidenzbasierten Medi-zin auf die Rehabilitation,

— die Entwicklung verlässlicher Parame-ter und Skalen zur Beurteilung geschä-digter Funktionen sowie des Rehabili-tationserfolges [48].

Moderne Schlaganfallrehabilitation um-fasst demnach folgende Punkte:

— ein differenziertes und individuelles Assessment der bestehenden Funk-tions- und Aktivitätseinschränkungen;

— eine an den Funktionsstörungen desPatienten orientierte funktionelleTherapie;

— umfassende Informationen über dieErkrankung, ihre Ursachen und mög-lichen Folgen einschließlich Schulungbezüglich bestehender Risikofaktoren;

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NeuroTransmitter _  10.200760

Gesundheitsproblem(Gesundheitsstörung oder Krankheit)

Körperfunktionenund -strukturen Aktivitäten Teilhabe

personbezogeneFaktoren

Umweltfaktoren

Abbildung 2

Schematische Darstellung der Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,Behinderung und Gesundheit der WHO (ICF) [7]

— die Einleitung beziehungsweise Fort-führung der Sekundärprävention;

— Informationen und Hilfen für die Angehörigen;

— Hilfe bei der Regelung krankheitsbe-dingter finanzieller Probleme und— die Verordnung von Hilfsmitteln.Da die Patienten heute oft bereits wenigeTage nach einem Schlaganfall in die Re-habilitationsklinik verlegt werden, müs-sen dort auch bestehende oder drohendeKomplikationen (Pneumonien, andereInfektionen, eingeschränkte Aufnahmevon Nahrung und Flüssigkeiten, Deku-bitalulzera, Anfallsleiden, Spastik etc.)und Begleiterkrankungen (Hypertonus,Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörun-

gen, Lungenkrankheiten, Diabetes mel-litus, Tumorkrankheiten etc.) mitbehan-delt werden. Von erheblicher Bedeutungist außerdem die Depression, die bei20–50% [62] der Patienten auftritt undden Erfolg der Rehabilitation sowie dieLebensqualität der Betroffenen und ihrerBetreuungspersonen einschränkt. Eineprophylaktische Therapie bei noch nichtdepressiven Patienten ist nicht wirksam[1; 21]. Häufiges Weinen, jüngeres Alterund eine ausgeprägte Behinderung sind

 wichtige Prädiktoren für die Entwick-

lung einer Depression [9]. Bei manifesterDepression wurden die besten Behand-lungsergebnisse mit Serotonin-Wieder-aufnahme-Hemmern (z.B. Citalopram,Fluoxetin) erzielt [10; 21; 62].

Moderne Rehabilitationsklinikensind heute zumeist in der Lage, auchschwerstbetroffene Patienten aufzuneh-men, das heißt auch solche, bei denennoch intensivmedizinische Behandlungs-möglichkeiten vorgehalten werden müs-sen (Phase B, Frührehabilitation). In dernachfolgenden Phase C werden Patientenbehandelt, die bereits bei den einzelnenTherapien mitarbeiten können, jedochnoch eines hohen kurativmedizinischenund pflegerischen Aufwandes bedürfen.In der Phase D sind die Betroffenen dannfähig, sich im Stationsalltag selbstständig,gegebenenfalls mit kleineren pflegeri-schen Hilfen, zu versorgen.

Schlaganfallrehabilitation findetüberwiegend im Rahmen von Anschluss-heilbehandlungen (AHB) direkt nachdem akutstationären Aufenthalt statt. Indieser Phase sind auch die größten funk-tionellen Verbesserungen zu erwarten

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[37; 54]. Die AHB wird vom Akutkran-kenhaus eingeleitet, Kostenträger sinddann vor allem Rentenversicherungenund Krankenkassen. Eine Rehabilitation

ist aber auch bei Patienten sinnvoll, derenSchlaganfall bereits länger zurückliegt,die jedoch weiterhin an erheblichen Ein-schränkungen ihrer Aktivitäten leiden.Schwer betroffene Patienten bedürfenoftmals in regelmäßigen Abständen einerintensiven Rehabilitation. Bei ihnenkann ein Heilverfahren zu Lasten derKrankenkassen eingeleitet werden.

Reha-Ziel: NeuroplastizitätIn den vergangenen 15 Jahren hat sicheine umfassende Rehabilitationsfor-

schung entwickelt, die sich – neben ih-ren sozialmedizinischen Aspekten – be-sonders mit den biologischen Mechanis-men der Rehabilitation und der geziel-ten Entwicklung neuer Therapieformenbeschäftigt. Damit hat sich unter ande-rem die Physiotherapie mittlerweile zueiner wissenschaftlich untermauertenDisziplin entwickelt [25, 52].

Unter dem Eindruck zunehmenderEinsparungen im Gesundheitswesen istvor allem die Erprobung mechanischerund technischer Therapien, die mit

einem verringerten personellen Aufwandeinhergehen, von großer Bedeutung. Obderen breite Einführung jedoch zu einer

 Auflösung des immer eklatanter wer-denden Widerspruchs zwischen rapidezunehmenden Kenntnissen zur Neuro-plastizität und der sich daraus ergebendenNotwendigkeit einer hoch frequenten(d.h. auch personalintensiven) Behand-lung einerseits und dem bestenfalls – auf den einzelnen Patienten bezogen – stag-nierenden Kostenaufwand seitens derKostenträger andererseits führen kann,ist zweifelhaft.

 Wesentlicher Mechanismus der Re-habilitation ist die Neuroplastizität, alsodie „Reorganisation“ intakt gebliebenerHirnareale in der betroffenen Hirnhälfte,in homologen Arealen der kontralate-ralen Hemisphäre und in den einen In-farkt umgebenden Gebieten [53; 64].Diese Reorganisation wird heute vorallem mittels longitudinaler funktionellerKernspintomografie (fMRT) sowie kor-tikaler Stimulationsstudien (v. a. transk-ranielle Magnetstimulation) untersucht[24]. Die Reorganisation oder erfah-

rungsabhängige Neuroplastizität [14]beinhaltet eine verstärkte Exzitabilitätund Rekrutierung von Neuronen beiderHirnhemisphären, Aussprossung von

Dendriten in Richtung anderer Neuronesowie die Stabilisierung dieser synap-tischen Verbindungen. Wichtig ist dabeidie Intensität der Behandlung: Je höherdie Behandlungsfrequenz, desto besserist in der Regel der funktionelle Zuge-

 winn [36; 39; 40].Neben einem frühzeitigen Beginn

und einem funktionsorientierten Train-ing in hoher Frequenz ist auch eine aus-reichende Kontrolle aller bestehendenBegleiterkrankungen, insbesondere einerDepression, eines Anfallsleidens, von

Schmerzen sowie von Harn- und/oderStuhlinkontinenz für den Erfolg der Re-habilitation entscheidend. Inwieweiteinige Medikamente (z.B. L-Dopa-Prä-parate, Amphetamine, Piracetam oderCholinesterase-Hemmstoffe) zusammenmit funktionellen Therapien die beste-henden Einschränkungen der Aktivi-täten verbessern können, ist weiterhinGegenstand umfangreicher wissenschaft-licher Studien. Bislang ganz unzurei-chend untersucht sind außerdem die –eher negativen – Wirkungen zahlreicher

häufig eingesetzter Medikamente (u. a.Betablocker, Neuroleptika, Benzodiaze-

pine) auf die Mechanismen der Neuro-plastizität.

Befunderhebung und

BehandlungsplanZu Beginn der Rehabilitation erfolgt bei jedem Patienten eine umfassende Be-funderhebung mit dem Ziel, bestehendeEinschränkungen seiner Aktivitätenfestzustellen (Assessment). Es gilt – ent-sprechend den Leitgedanken der Inter-nationalen Klassifikation der Funktions-fähigkeit, Behinderung und Gesundheitder WHO (ICF) – dass nicht ein Symp-tom (z.B. eine Armparese) behandelt

 wird, sondern die sich daraus ergebende Aktivitätseinschränkung (z.B. die Unfä-

higkeit, sich zu waschen oder sich anzu-kleiden). Anhand der bestehenden Akti-vitätseinschränkungen wird nachfolgendder Behandlungsplan zusammengestellt(Abb. 3) und regelmäßig, zumeist in wö-chentlichen Abständen, durch das Reha-Team (Arzt, beteiligte Funktionsthera-peuten, Pflegekraft, Mitarbeiter des So-zialdienstes) überprüft und entspre-chend dem Rehabilitationsverlauf modi-fiziert. Umfassende Empfehlungen zuDurchführung und Inhalten der Schlag-anfallrehabilitation wurden jüngst von

der American Heart Association publi-ziert [16].

Moderne Rehabilitation nach SchlaganfallFortbildung

  NeuroTransmitter _  10.200762

Patient

Sozialdienst

Ergo-therapie

Physio-therapie

Sprach-therapie

Schluck-

therapie

Neuro-psychologie

Trainings-therapie

PhysikalischeTherapie

Neuro-Urologie

Ernährungs-beratung

Krankheits-

information

Abbildung 3

Inhalte der Schlaganfallrehabilitation

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Die Rehabilitation umfasst außer-dem Informationen zum Schlaganfall,Vorträge zu relevanten Themen (z.B.Vermeidung vaskulärer Risikofaktoren,

Ernährungsberatung, Diabetesschulung),Informationen für Angehörige, Bera-tungen bei sozialrechtlichen Problemen(Arbeitsplatz, gesetzliche Hilfen, Beren-tung, etc.) sowie die Versorgung miterforderlichen Hilfsmitteln. Entschei-dend sind auch der Beginn oder die Fort-führung der Sekundärprävention sowiedie Behandlung intermittierender Kom-plikationen und von Begleitkrankheiten.Nicht zuletzt bestehen bei zahlreichenPatienten Funktionsstörungen von Blase,Darm und Sexualorganen, sodass auch

diese für die Patienten oftmals sehr be-lastenden Einschränkungen innerhalbder Rehabilitation konsequent behandelt

 werden müssen [16].

Funktionelle TherapienPhysiotherapie: Neben den „traditio-nellen“ Techniken, zum Beispiel nach

„Bobath“, „Propriozeptive Neuromusku-läre Fazilitation“ oder „Vojta“, findenvermehrt auch Aufgaben-zentrierte, re-petitive Techniken (z.B. „TaubschesTraining“, Abb. 4a/b) sowie apparative

Methoden, besonders das Laufbandtrai-ning mit Körpergewichtsentlastung (Abb.

1), motorgetriebene Fahrräder (Abb. 5),Balancetraining (Abb. 6) oder die moto-rische Trainingstherapie Anwendung.Für einige der letztgenannten Techniken

 wurde in randomisierten Studien inzwi-schen eindeutig ihre Wirksamkeit belegt.

 Andere Techniken, beispielsweise derEinsatz von Hand-Arm-Trainern oderdie Anwendung virtueller Umgebungenfinden derzeit langsam Eingang in dieneurologische Rehabilitation.

 Wichtige Grundlage des TaubschenTrainings (Constraint-induced Move-ment Therapy, CIMT [58; 59]) ist dieFeststellung, dass der Nichtgebrauch ei-ner Hand/eines Armes aufgrund einerParese nach Schlaganfall die Schädigung

 weiter verstärkt („learned non-use“). Fällteinem Patienten nach einem Schlaganfallmehrmals ein Gegenstand aus der pare-tischen Hand, wird er diese künftig nochseltener einsetzen, möglichst viele Akti-vitäten mit der „gesunden“ Hand kom-pensieren und damit eine funktionelleBesserung der paretischen Hand verhin-

dern. Wird im Rahmen der CIMT nundie funktionsfähige Hand durch eineSchiene inaktiviert, muss der Patient dieparetische Hand verstärkt einsetzen. Die-

ser vermehrte Einsatz kann durch inten-sives, mehrstündiges (8 Stunden/Tag),funktions- beziehungsweise Aufgaben-orientiertes und genau strukturiertesTraining zu einer Erholung verloren ge-gangener Funktionen führen. Das Trai-ning ist außerordentlich anstrengend undauch personalintensiv. Aufgrund der inReha-Kliniken meist fehlenden Ressour-cen verkürzt sich die Trainingszeit leiderin der Regel. Reduzierte tägliche Thera-piezeiten [57], die Therapie in Kleingrup-pen von zwei bis drei Patienten [6] sowie

die telemedizinische Therapie [43] erzie-len aber ebenfalls oft ein besseres funk-tionelles Ergebnis als die konventionellePhysiotherapie [67]. Erfolgversprechendist die Behandlung, wenn beginnendeselektive Bewegungen von Arm, Handund Finger wieder möglich sind. Sind

 Arm und Hand vollständig plegisch, liegtdas Ziel der Physiotherapie vor allem in

der Vermeidung von Spastik, Kontrak-turen und Schmerzen.

Die Laufbandtherapie mit partiellerKörpergewichtsentlastung führt zu einer

deutlichen Verbesserung des Gehvermö-gens bei spastisch-paretischem Gangbild(u.a. [3; 23]). Die Patienten sind beiTherapieende insgesamt mobiler im Ver-gleich zu konventionell Behandelten undauch die kardiovaskuläre Fitness verbes-sert sich deutlicher [44; 50]. Problema-tisch ist bei dieser Behandlung der hoheEinsatz an therapeutischem Personal, derzukünftig eventuell mit Hilfe von me-chanischen Gangtrainern wieder verrin-gert werden kann [47].

Die tägliche Erfahrung beim Einsatz

motorgetriebener Fahrräder zeigt, dassdamit nicht nur bei paraparetischen, son-dern auch bei hemiparetischen Patienteneine bestehende Spastik reduziert werdenkann. Ebenso scheint eine Zunahme derMuskelkraft und der kardiovaskulärenFitness zu resultieren. Mittels eines neuentwickelten Balance-Trainers mit visu-ellem Feedback ist es möglich, Gewichts-

FortbildungModerne Rehabilitation nach Schlaganfall

65NeuroTransmitter _  10.2007

Schlaganfall 

Kompensation

Forced Use-Therapie

Verkleinerung der

kortikalen Repräsentation

Bewegungen

seltener

a

b

LearnedNon-Use

VerringertemotorischeAktivität

VermehrteNutzung

VermehrtesTraining

PositiveVerstärkung

ErfolgloserEinsatz +

Frustration

UnterdrückungmöglicherMotorik

Gebrauchsabhängigekortikale Reorganisation

VermehrtesTraining

Kein LearnedNon-Use

mehr

LearnedNon-Use

Abbildung 4a/b

a) Pathophysiologische Überlegungen zum Learned Non-Useb) Wirkung der Forced-Use-Therapie

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Fortbildung

  NeuroTransmitter _  10.200766

Moderne Rehabilitation nach Schlaganfall

verlagerungen zu trainieren. Das Gleich-gewicht und Stellreaktionen werdenverbessert, die Sturzgefahr reduziert unddie Mobilität erhöht.

Mithilfe der funktionellen Elek-trostimulation können bei Patienten mitausgeprägter Arm-/Handparese einigeHandfunktionen verbessert werden [33;65]; durch zusätzliches EMG-Biofeed-back ist eine Verstärkung dieses Effektsmöglich [27]. Die Wirkung der Elek-trostimulation beruht wahrscheinlichdarauf, dass vermehrt sensorische Reizenach zentral und damit auch in die mo-torischen Bahnen gelangen und somitdie Reorganisation dieser Netzwerke för-dern. Auch Stehen und Gehen könnenmit dieser Technik verbessert werden,insbesondere durch Stimulation der Mm.gluteus maximus und quadriceps [22].

Ein schwieriges klinisches Problemist die Pusher-Symptomatik, bei der diePatienten mit ihren nicht paretischenExtremitäten auf die paretische Seite drü-cken („pushen“). Bei dem Versuch desTherapeuten, die Körperhaltung zu kor-rigieren, verstärken die Patienten ihrenDruck zur paretischen Seite noch, so dassdie Mobilisierung im Rahmen der Phy-siotherapie und der Pflege erheblich er-schwert ist [12]. Ursache ist eine gestörte

Gleichgewichtskontrolle beziehungswei-se Störung der Körperwahrnehmung imRaum, die vor allem dem posteriorenThalamus zugeordnet wird [29; 31]. Hier

sind spezifische therapeutische Interven-tionen erforderlich [u.a. 30; 49].Ergotherapie: Ziel der Ergotherapie istes, die alltäglichen basalen (Waschen, An-und Auskleiden, Nahrungsaufnahme,etc.) sowie die instrumentellen Aktivi-täten (Haushalt, Einkaufen etc.), ebensoaber auch die Teilhabe am sozialen Lebenund die Ausübung sozialer Rollen zuverbessern und wiederherzustellen [63].Die Behandlung muss sich daher an den

 Aktivitätseinschränkungen des Patientenorientieren, die mittels Befragung sowieBeobachtung im Alltag festgestellt wer-den können [17]. Mithilfe spezieller As-sessment-Instrumente ist eine standardi-sierte Befunderhebung möglich (z.B.mittels Canadian Occupational Perfor-mance Measure, COPM [68]).

Mittlerweile konnte auch der Effektumschriebener rehabilitativer Interventi-onen, zum Beispiel Maßnahmen zur Ver-besserung einer Apraxie [18] oder einVerkehrstraining [42], belegt werden. Ineinem umfassenden Cochrane-Review 

 wurde dargestellt, dass die Chance derPatienten, nach einem Schlaganfall ein

möglichst unabhängiges Leben führen zukönnen, nach Durchführung einer kon-sequenten Ergotherapie deutlicher höherist [41]. Integrale Bestandteile der Schlag-

anfallrehabilitation sind daher das imPatientenzimmer durchgeführte Wasch-und Anziehtraining, das Frühstückstrai-ning im Speiseraum, das Schreibtrainingund viele weitere, auf einzelne Aktivitäts-einschränkungen fokussierte Behand-lungen. Werk- und kunsttherapeutische

 Aktivitäten, die zur Verbesserung vonPlanungsvermögen, Vorstellungskraft,Geschicklichkeit etc. durchaus ihre Be-rechtigung haben, treten gegenüber deneigentlichen Inhalten der Ergotherapiedagegen in den Hintergrund.

Sprachtherapie: Sie dient der möglichst weitgehenden Wiederherstellung derKommunikationsfähigkeit der Patientendurch Sprechen, Zeichnen, Schreibenund das Verstehen der Kommunikationanderer. Es werden

— die verschiedenen Formen der Apha-sie, das heißt die globale Aphasie, diemotorische oder Broca-Aphasie, diesensorische oder Wernicke-Aphasie,die transkortikale Aphasie, die am-nestische Aphasie und die Leitungsa-phasie (Boston Classification [19]),

— die verschiedenen Formen der Dys-arthrie, das heißt der Verstehbarkeitvon Sprache (spastische, hyperkine-tische, hypokinetische, ataktischeund schlaffe Dysarthrie [28])

— sowie die Sprechapraxie (gestörter Abruf motorischer Artikulationspro-gramme, Störung der zeitlichen undräumlichen Abfolge von Sprechbewe-gungen) behandelt.

Vor Beginn der Therapie ist immer ersteine genaue Diagnostik erforderlich, inDeutschland ganz überwiegend mit dem

 Aachener-Aphasie-Test [4; 26]. Die Be-handlung beinhaltet je nach Art undUmfang der pathologischen Befunde— störungsorientierte Therapiemethoden

(Erarbeitung rezeptiver und expressiversprachlicher Fähigkeiten, Korrekturpathologischen Sprach- und Sprechver-haltens, Hemmung pathologisch auto-matisierten Sprach- und Sprechverhal-tens, Stimulierung vorhandener,

 jedoch nicht verfügbarer Sprach- undSprechfähigkeiten, Vermittlung spra-chersetzender Techniken wie Gestik,Zeichnen, Bildsymbole)

 Abbildung 5: Motorgetriebene Fahrräder Abbildung 6: Balancetraining mit visuellemFeedback.

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67NeuroTransmitter _  10.2007

— und kommunikationsorientierte The-rapiemethoden (Rollenspiele, Kom-munikationstraining im Alltag, Dia-logtraining, Einsatz von Hilfsmitteln

im Sinne einer alternativen und aug-mentativen Kommunikation) [4].Die Wirksamkeit der Sprachtherapie istmittlerweile unbestritten [8; 55]. Hiergilt, dass intensive Sprachtherapie bei

 Aphasie wirksamer ist als eine niedrigerfrequente über einen längeren Zeitraum[5]. Verbesserungen können auch nochnach mehreren Monaten erzielt werden.Gegebenenfalls tragen auch pharmako-logische Interventionen (z.B. Piracetam,Donepezil, Amphetamine) zur Verbesse-rung einer Aphasie bei [28]. Eine allge-

meine Empfehlung für eine solche The-rapie ist bislang jedoch nicht möglich.Schlucktherapie: Der Terminus Dyspha-gie bezeichnet alle Störungen oder Be-schwerden beim Transport der Nahrungaus dem Mund in den Magen. GestörteSchluckfunktionen nach Schlaganfallsind erst in den letzten Jahren vermehrtbeachtet worden. Eine Dysphagie wird– abhängig vom diagnostischen Aufwand– bei bis zu 78% (mittels Videofluoro-skopie oder Endoskopie) der Patientenfestgestellt [46]. Dysphagien führen nicht

nur zu einer gestörten Aufnahme vonNahrung und Flüssigkeit und damit zueiner eventuellen Mangelernährung undExsikkose, vielmehr besteht für die Be-troffenen ein außerordentlich hohes Ri-siko für eine Pneumonie und Aspirati-onen. Weitere Folgen sind oftmals eineeingeschränkte Lebensqualität durchVerlust des Ess- und Trinkgenusses, so-ziale Isolation und Beeinträchtigung derSelbstversorgung. Ein besonderes Pro-blem ist die stille Aspiration („silent as-piration“), zumeist als Folge einer pha-ryngealen Hyposensibilität, sodass diePatienten nicht reflektorisch abhustenkönnen.

Neben der gezielten klinischen Un-tersuchung (Einzelheiten siehe [51])umfasst die Diagnostik vor allem einen

 Wasserschlucktest durch den Schluckthe-rapeuten, einen Arzt oder speziell ge-schultes Pflegepersonal. Beim Vorliegenvon vier der sechs Befunde „Husten nachdem Schlucken“, „Stimmänderung nachdem Schlucken“, „abnormes willkür-liches Husten“, „abnormer Schluckre-flex“, „Dysphonie“ und „Dysarthrie“

liegt mit großer Wahrscheinlichkeit eineSchluckstörung vor [56]. Die Verdachts-diagnose wird mittels endoskopischerPharyngolaryngoskopie oder Videofluo-

roskopie verifiziert. Bei pathologischemBefund erfolgt die Schlucktherapie mit-tels nachfolgender Verfahren, die zumeistkombiniert eingesetzt werden:

— restituierende Verfahren (Fazilitationoder Hemmung von Bewegungsfunk-tionen durch vorbereitende Stimuli,Stimulation mit Thermosonden, Mo-bilisationstechniken an Gesicht, Mundund Zunge, motorisches Funktionstrai-ning der Zunge und Lippen, Sprech-

 Atem- und Stimmübungen, Kopfhebe-übungen u.a. Techniken),

— kompensatorische Verfahren (Kopf-haltungsänderungen, supra-glottischesSchlucken, kraftvolles „effortful“-Schlu-cken, Mendelsohn-Manöver u.a.)

— adaptive Verfahren (Diät-Maßnah-men, kleinere Bolusmengen, Ess- undTrinkhilfen, aufrechte Sitz- und Kopf-haltung, Pausen sowie regelmäßigesRäuspern und Husten u.a.) [38; 51].

Bei nicht ausreichender Ernährung undFlüssigkeitszufuhr oder schwerer Aspira-tion trotz Schlucktherapie muss gegebe-nenfalls eine perkutane endoskopische

Gastrostomie (PEG) angelegt werden.Neuropsychologische Therapie: Nacheinem Schlaganfall treten in bis zu 80%der Fälle kognitive Funktionsstörungenauf [13], insbesondere Neglect, Gesichts-felddefekte, Störungen der Aufmerksam-keit sowie des Gedächtnisses, Akalkulieetc. [8]. Diese Symptome führen in allerRegel nicht nur zu erheblichen Ein-schränkungen der Mobilität, sie behin-dern oder erschweren vielmehr auch dierehabilitativen Therapien selbst, insbe-sondere bei ausgeprägtem Neglect oderdeutlichen Antriebs- und Aufmerksam-keitsstörungen. Zu Beginn der Rehabili-tation ist daher eine differenzierte Be-fundaufnahme erforderlich, die vor allemPaper-Pencil-Tests sowie eine umfang-reiche computergestützte Diagnostik umfasst. Deren Ergebnisse sind dannGrundlage für eine ebenso differenzierteBehandlung, die meist mit PC-gestütz-ten Programmen stattfindet (z.B. Cog-pack, RehaCom) und von den Patienten,

 wenn nötig auch zu Hause weiter geführt werden kann. Bei Gesichtsfelddefekten werden hauptsächlich das Sakkaden-,

das Explorations- und das Lesetrainingeingesetzt. In der Therapie des Neglects

 werden das visuelle Explorationstrainingmit Üben von Augenfolgebewegungen,

systematischem Suchen, Zeilensprung,Erhöhung des Suchtempos, die limb ac-tivation (Aktivierung des vernachlässi-gten Arms), die optokinetische Stimula-tion (Darbietung von Mustern aus Ein-zelsymbolen, die sich zur vernachlässig-ten Seite hin bewegen), ein Awareness-Training, die Nackenvibration sowie weitere Techniken und spezielle PC-Pro-gramme eingesetzt [32; 45].Neuro-Urologie: Bis zu 44% der Pati-enten leiden in den ersten Wochen nachdem Schlaganfall, also meist auch bei

Beginn der Rehabilitation, unter Stö-rungen der Blasenentleerung [11; 34].Circa 30% leiden auch noch ein Jahrspäter [34] unter Inkontinenz, impera-tivem Harndrang, Nykturie, Restharn-bildung und verzögerter Blasenentlee-rung. Diese Symptome beinhalten dieGefahr rezidivierender Cystitiden, auf-steigender Infekte, Hautschäden etc.,und somit auch eine erhebliche Ein-schränkung der Lebensqualität. Währendder Rehabilitation muss daher – am bes-ten im Rahmen eines spezifischen Inkon-

tinenzmanagements – der Typ der Stö-rung identifiziert werden (Harnstatus,Miktionsprotokoll, Urosonografie, gege-benenfalls Uroflowmetrie, Urodynamik).

 Anschließend erfolgt eine gezielte Thera-pie, zum Beispiel mittels Toilettentrai-ning („timed voiding“), Beckenboden-training und medikamentösen Interven-tionen (z.B. Anticholinergika, Alphablo-cker). Größere systematische Untersu-chungen hierzu fehlen bislang noch [15;61]. Eine spezielle fachliche Qualifizie-rung sowie eine auf die Inkontinenz be-zogene interdisziplinäre Zusammenarbeitzwischen Pflegedienst, ärztlichem Teamund Physiotherapeuten sind jedoch we-sentliche Voraussetzung für eine erfolg-reiche Inkontinenztherapie [66].

LITERATURbeim Verfasser

Prof. Dr. med. Thomas HenzeReha-Zentrum Nittenau

Eichendorffstr. 21, 93149 Nittenau

E-Mail: [email protected]

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