N 271 Heft 3 2007

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    I

    DAS ARGUMENT 271/2007

    Editorial; Verlagsmitteilungen ..........................................................319

    Ines PhilippRuinen ..........................................................................324

    Gerhard Schoenberner Die groe Hoffnung....................................327

    Zu Politik und Theorie einer neuen Linken

    Ingar SoltyTransformation des deutschen Parteiensystems undeuropische historische Verantwortung der Linkspartei.................. 329

    Frigga HaugRosa Luxemburg und die Kunst der Politik......................................348

    Wolfgang Fritz HaugAxiome eines Neuanfangsber die philosophische Aktualitt von Karl Marx..........................363

    * * *

    Fredric Jameson

    Kulturrevolution ...............................................................................375Darko Suvin

    Im Innern des WalfischsoderWie leben, wenn der Kommunismus eine Notwendigkeit,aber keine Gegebenheit ist? .............................................................383

    DASARGUMENT271 49. JA H R G A N GHE F T 3 / 2007

    Redaktion dieser AusgabeWolfgang Fritz Haug (Koordination),Daniel Fastner, Frigga Haug,Peter Jehle, Ingar Solty

    RezensionsredaktionenMario Candeias (konomie)Claudia Gdaniec (Frauenredaktion)Wolfgang Fritz Haug (Philosophie)Peter Jehle (Literatur)

    Erwin Riedmann (Soziologie)Ingar Solty (Soziale Bewegungen und Politik)Thomas Weber (Kultur)Gerhard Zimmer (Pdagogik)

    Gesamtkoordination Vanessa Lux

    RedaktionsbroReichenberger Strae 150 D-10999 BerlinTel. +49-(0)30-611 41 82 Fax -611 42 [email protected] www.inkrit.org

    BuchhandelsauslieferungProlit VerlagsauslieferungTel. +49-(0)6 41-4 30 71 Fax -4 27 73

    Einzelbestellungen und Abonnementsverwaltung

    Argument VersandReichenberger Strae 150 D-10999 BerlinTel. +49-(0)30-6 11 39 83 Fax -6 11 42 [email protected]

    Fortsetzung auf S. II

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    II Inhalt

    DAS ARGUMENT 271/2007

    Loc WacquantTerritoriale Stigmatisierung im Zeitalter

    fortgeschrittener Marginalitt .........................................................399

    Mario CandeiasDas unmgliche Prekariat. Antwort auf Wacquant......................410

    Personenangaben; Zeitschriftenschau; Summaries........................... 468

    Besprechungen

    Philosophie

    Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Neuauflage (Thomas Marxhausen) ....................... 424Levine, Norman,Divergent Paths. Hegel in Marxism and Engelsism.Vol. 1: The Hegelian Foundations of Marxs Method(Andreas Arndt) ............. 424

    Musto, Marcello (Hg.), Sulle tracce di un fantasma. Lopera diKarl Marx trafilologia efilosofia(Frieder Otto Wolf) ......................................427

    Hsle, Vittorio,Der philosophische Dialog. Eine Poetik undHermeneutik(Manfred Hinz) ............................................................................ 429

    Hartle, Johan Frederik,Der geffnete Raum. Zur Politik der

    sthetischen Form(Tilman Reitz) ..................................................................... 431

    Sprache und Literatur

    Galster, Ingrid (Hg.), Sartre devant la presse doccupation.Le dossier critique des Mouches et Huis clos(Peter Jehle) .......................... 433

    Galster, Ingrid (Hg.), Sartre et les juifs(Peter Jehle) ......................................... 433

    Maas, Utz, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachigerSprachforscher 1933-1945(Clemens Knobloch).............................................. 436

    SoziologieKurz-Scherf, Ingrid, Lena Correll u. Stefanie Janczyk (Hg.),

    In Arbeit: Zukunft. Die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsforschungliegt in ihrem Wandel(Ingrid Jungwirth) ........................................................... 438

    Rerrich, Maria S.,Die ganze Welt zu Hause. Cosmobile Putzfrauenin privaten Haushalten (Ingrid Jungwirth) ........................................................ 438

    Lutz, Helma, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuenDienstmdchen im Zeitalter der Globalisierung(Ingrid Jungwirth) ................ 438

    Blickhuser, Angelika, u. Henning von Bargen,Mehr Qualittdurch Gender-Kompetenz. Ein Wegweiser fr Training und

    Beratung im Gender Mainstreaming(Ulrike Gschwandtner) ........................... 442Fortsetzung auf S. V

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    DAS ARGUMENT 271/2007

    Editorial

    Anlass dieses Heftes ist die Grndung der Linkspartei. Was geht das eine Zeitschrift

    fr Philosophie und Sozialwissenschaften an? Hegemonie, heit es bei Gramsci, isteine philosophische Tatsache (vgl. Gefngnishefte, H. 10.II, 12). Entsteht eineim Parteiensystem relevante sozialkritische Kraft, drckt sich darin ein zuvor nochinstabiles gegenhegemoniales Feld aus, das seinerseits eine Erosion des Macht-blocks anzeigt. Die Neugrndung wirkt ihrerseits wie ein kollektiver Intellektueller,der, auch wenn den Machtpragmatikern Gramscis Sprache zunchst merkwrdigvorkommen mag, eine Reform der Bewusstseine und der Erkenntnismethodenbewirkt (ebd.). Damit verndern sich auch die Bedingungen kritischer Wissenschaft.Ihre Fragen und Vorschlge erhalten eine Chance, aus dem Schattendasein heraus-

    zukommen.Wer die Gegenwart geschichtlich denkt, begreift die Neugrndung als historischen

    Einschnitt. Ein kaum mehr fr mglich gehaltenes, in der alten BRDimmer wiedergescheitertes Projekt, eine sozialistische Partei links von der SPDzu etablieren, istdamit Wirklichkeit geworden. Noch vor der formellen Grndung hat sie bereits dazubeigetragen, nicht nur die sozialdemokratische Rhetorik nach links zu verschieben,sondern auch der Forderung nach einem Mindestlohn Nachdruck zu verleihen.

    Die Argument-Editorials der letzten Jahrzehnte spiegeln die Entwicklung,die nun in die neue Partei eingemndet ist. Im Rckblick taucht zunchst die

    Vorgeschichte der rot-grnen Regierung auf. Als der bergang zum High-Tech-Kapitalismus dem fordistisch geprgten sozialdemokratischen Zeitalter einEnde bereitet hatte, war die Partei der Grnen entstanden. Die SPDversuchte eineModernisierung ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik. Dies ohne Selbstverleugnungzu tun, war Anspruch des Wahlprogramms von 1989/90, das wir unter dem TitelLafontaine-Projekt analysiert haben (siehe das gleichnamigeArgument-Heft174 vom Frhjahr 1989). Was diesen Politikentwurf um seine Chancen gebrachthat, war die kurze Euphorie der Wiedervereinigung. Wenn die Deutschendamals momentan als das glcklichste Volk der Welt (Momper) wirkten, so war

    das in der noch bestehenden DDRdurch die Whrungsunion, im Westen durchdie konomische Wiedervereinigungskonjunktur befrdert. Doch die abrupteEinfhrung der D-Mark zerstrte die DDR-konomie und damit Millionen vonBerufsperspektiven. Die bis heute aufzubringenden gigantischen Folgekosten,auf die Lafontaine vergeblich hinwies, wurden zur Belastung fr Staat und Wirt-schaft.

    Knapp zehn Jahre spter wirkte Lafontaine als Architekt der rot-grnen Regie-rung unter Gerhard Schrder. Der aber vollfhrte gegen ihn die neoliberale Wende,und Lafontaine legte sein Ministeramt zusammen mit dem SPD-Vorsitz nieder.

    Austritt aus der Sozialpolitik Eintritt in den Krieg, titelte unsere Analyse (Arg.230, Frhjahr 1999). Die Bedingungen linker Politik hatten sich verbessert, indemsie sich unmittelbar verschlechterten: Der rot-grne Marsch in den Krieg gegen

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    Jugoslawien, heit es im Editorial, hat ein Vakuum hinterlassen, das eine gerichteteInstabilitt in die Parteienlandschaft gebracht hat. Die Niederlage der Rechten hatteder Linken bei den Wahlen den Sieg beschert. Nun besiegte das Wahlergebnis dieLinke. Die in deren Namen an die Macht Gelangten regierten nicht in deren Sinn.

    Ohne viel Federlesens traten sie in einen Krieg ein und drngten in neoliberale Posi-tionen. Musste man nicht, wie Ignacio Ramonet meinte, die Linke neu erfinden?Die PDSwar als einzige Gegnerin der Verbindung von Sozialabbau und Kriegbriggeblieben. Doch die Erwartung, die von ihrer Partei verlassenen Sozialdemo-kraten wrden in nennenswertem Umfang zur PDSbertreten oder sie wenigstenswhlen, und die Hoffnung, die Massenstimmung gegen den Krieg wrde sich inStimmenmassen fr die Antikriegspartei uern, wurden enttuscht. Zuletzt war esder Widerstand gegen den Irakkrieg, was der Regierung Schrder noch einmal eineknappe Mehrheit eintrug, whrend sich die PDSauf den marginalen Status zweier

    dank Direktwahl ins Parlament gelangter Abgeordneter zurckgeworfen fand.Wenig spter haben die Hartz-Gesetze als neoliberale Antwort auf die Massen-

    arbeitslosigkeit und die Erosion der Sozialsysteme das Protestpotenzial anschwellenlassen. Wie ein Lauffeuer breitet die Unzufriedenheit sich aus, registriert dasEditorial im Sommer 2004 (Arg. 256). Innerhalb von zwei Jahren hat sich dieZahl derer, die von den Parteien enttuscht sind, fast verdoppelt. [] Die vier imBundestag vertretenen Fraktionen unterscheiden sich in der sozialen Hauptfrageeinzig darin, ob ihnen die sozialen Einschnitte tief genug sind oder nicht. Daherwchst die Zahl derer, die sich von keiner von ihnen mehr vertreten fhlen. []

    Die SPDhat so viel von ihrer Stammwhlerschaft [] links liegen lassen, dass dasVakuum der politischen Vertretung dieser Potenziale in Hohlform eine neue Parteierkennen lsst.

    Ein Jahr spter war es so weit. Die Hohlform fllte sich. Untergang der deut-schen Linksregierung Aufstieg der Linkspartei diagnostizierte die berschrift desEditorials (Arg. 262/2005). Das Wahlbndnis aus PDSund WASG-Mitgliedern warmit mehr Sitzen als die Grnen in den Bundestag eingezogen. Wenn die Exponentender organisatorisch erst noch zu schaffenden Linkspartei sich als lernfhig erweisenund weiterhin so geistesgegenwrtig handeln, wie sie es beim Wahrnehmen dieser

    geschichtlichen Chance getan haben, werden sie den neu gewonnenen Platz imParteiensystem auf Dauer behaupten. Es hat zwei weitere Jahre gebraucht, bis diebeiden Parteien ihre Vereinigung formell vollzogen. Nun geht es darum, sich in denWidersprchen zu bewegen, ohne sich von ihnen zerreien zu lassen. Das Problemder Probleme auf diesem Wege, die Vermittlung von Nah- und Fernzielen, auch dieVerbindung von Demokratie und Sozialismus, ohne eines dem andern zu opfern, istnirgends so radikal vorgedacht wie bei Rosa Luxemburg. Dies auszuleuchten ist einBeitrag zur Diskussion ber einen Weg, der nicht schon wieder, wie bei den Grnen,mit der Aufsaugung durch den Neoliberalismus enden soll. Auf diesem Weg sind

    viele Hrden zu nehmen. Nicht zuletzt gilt es, der notorischen parlamentarischenEntfremdung von den sozialen Bewegungen zu widerstehen. Dabei muss die neuePartei Anforderungen gerecht werden, die zum Teil so widersprchlich sind, dass

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    political correctness, insofern sie dem klaren Durchsprechen von Widersprchen imWeg steht, genauso an ihnen scheitern msste wie jeder Fundamentalismus. Verlangtist jenes Operierenknnen mit Antinomien (Brecht), das den Sozialismus-Gesprchen des InkriT von 2002 als methodische Richtschnur zugrunde liegt.*

    In Gestalt der Linkspartei hat diese Ost-West-Beratung ber Handlungsmglichkeitenund die Methodik sozialistischer Politik heute ihren Adressaten gefunden. Ob er sichihrer bedienen wird, ist eine andere Frage. Wir wissen nur Eines: Ohne kritischeKapitalismusanalyse und konkret in die Probleme und Konfliktfronten eingreifendelinke Theorie und permanente Kritik der Limitationen der parlamentarischen Demo-kratie wird es keine linke Politik geben, die von Dauer ist. Und erst die Geschichtewird erweisen, wie tief der historische Einschnitt ist, der momentan in der Grndungder Linkspartei seinen Ausdruck findet. An Frankreich lsst sich beobachten, wieeine im entwickelten Kapitalismus unbertroffene Strke sozialer Bewegungen in

    schlimmsten Katzenjammer umschlagen kann. Die Bewegung der Bewegungen,die den neoliberalen Verfassungsentwurf zu Fall brachte und die rechte Regierungbeim Entlassungsgesetz in die Knie zwang, versagte vor der Aufgabe, ihre Anliegenins Feld des Politischen zu bersetzen. Die Parteienlandschaft links der SPist inSekten zerfallen und die SPselbst wird zerrieben. Das gibt einen Eindruck davon,was uns blhen knnte, sollte die Linkspartei an der Aufgabe scheitern, Brcken zuschlagen und Widersprchliches zusammenzufhren. Gelingt ihr das aber, wird ihrErfolg auf ganz Europa ausstrahlen.

    Eric Hobsbawm zum Neunzigsten

    Eric Hobsbawm, dessen politisch-ethischer Haltung wir nicht weniger verdankenals seinem grandiosen Werk marxistischer Geschichtsschreibung, ist am 9. Junineunzig geworden. Im Kriegs- und Revolutionsjahr 1917 geboren, hat er Zeitseines bewussten Lebens als unbestechlicher Apostel im Klassenkampf (PatrickBahners in der FAZ) gewirkt zuerst im Sozialistischen Schlerbund in Berlin,dann als Mitglied der britischen Kommunistischen Partei bis zu ihrer Auflsung1991, seither als der groe alte Mann kritisch-marxistischer Geschichtsschreibung.

    Die von ihm zusammen mit Christopher Hill und Edward P. Thompson gegrndeteZeitschriftPast and Presenthat schon vor vierzig Jahren Tim Mason in denArgu-ment-Zusammenhang eingebracht. Das Institut fr kritische Theorie (InkriT) undseinHistorisch-kritisches Wrterbuch des Marxismuswerden von Hobsbawm alsMitglied ihres Kuratoriums ebenso untersttzt, wie der Argument-Verlag ihm fr dieEinleitung zu seinem politisch-theoretischen Bestseller, der Modernen Ausgabe

    * Unterhaltungen ber den Sozialismus nach seinem Verschwinden, hgg. v. Wolfgang Fritz Haugund Frigga Haug, unter Mitwirkung von Erhard Crome, Frank Deppe, Jutta Held, Wolfgang

    Kttler, Susanne Lettow, Peter von Oertzen, Lothar Peter, Jan Rehmann, Thomas Sablowski,Christoph Spehr, Jochen Steinhilber, Christoph Trcke und Frieder Otto Wolf. Erhltlich ist dasBuch fr 8 (portofrei) beim Argument-Buchladen; frei zugnglich ist es als Online-Ausgabeunter www.inkrit.de.

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    desKommunistischen Manifestsund dessen Hrbuchfassung zu danken hat. DerKommunismus, um es noch einmal in der Sprache derFAZzu sagen, in der zynischeIronie mit unwillkrlicher Anerkennung kmpfen, war und ist fr Eric Hobsbawmeine Art Exzellenzinitiative zur Weltrettung. In der Tat zeugt es von eigentlicher

    Exzellenz, sich wie Hobsbawm den herrschenden Eliten zu verweigern und densozialen Bewegungen, zumal der demokratisch-kommunistischen und linkssozialis-tischen die Treue zu halten. Der Atem, der ihn dabei beseelt, kommt von weit her.Dies kam in einer Sendung zum Ausdruck, die der BBC vor Jahren zu seinen Ehrenveranstaltete und in der er, der in den 1950er und 60er Jahren unter dem PseudonymFrancis Newman die Jazzrubrik desNew Statesmanbetreut hatte, aus seinem Lebenerzhlen und dazwischen Musikwnsche uern konnte. Nun kommt etwas wirklichKmpferisches, sagte er, und lie den ersten Satz von Bachs KantateEin feste Burgist unser Gottauflegen. Wer diese kmpferische, die Vielstimmigkeit der Gemeinde

    in ihrer Polyphonie unvergleichlich zum Ausdruck bringende Musik gehrt hat,sprt, was ihn dabei bewegt haben muss. Hobsbawm wei, dass eine Befreiung, dienur im Jetzt anheben und keine rettende Kritik an den Gestalten der Vergangenheitben wrde, keine wre. WFH

    Themenausschreibung

    Argument273 wird Ende 2007 unter dem TitelLiebesverhltnisseals Doppelheft

    erscheinen. Gesucht sind noch Beitrge ber literarische und filmische Verarbei-tungen von Liebe in unterschiedlichen Kulturen und historischen Epochen; eineUntersuchung zum Liebesbegriff der Kritischen Theorie und ein Text zur Positi-onierung von Liebe in feministischen Utopien. Liebesverhltnisse nennen wirdieses Buch, weil wir nicht hauptschlich ber Liebesbeziehungen nachdenken,sondern mit Liebe sowohl in sich als auch untereinander artikulierte und zusam-mengehaltene gesellschaftliche (familiale, politische, religise usw.) Verhltnisseuntersuchen wollen. Angebote oder Exposs bitte an Frigga Haug [email protected], Gundula Ludwig [email protected] und Thomas Pappritz

    [email protected].

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    Verlagsmitteilungen

    Wissenschaft

    Erschienen ist das lange erwartete Buch von Bob Jessop,Kapitalismus, Regulationund Staat(Theoretische Schriften, hgg. von Bernd Rttger und Victor Rego Diaz,Berliner Beitrge zur kritischen Theorie 5, Argument Sonderband 302, ISBN978-3-88619-332-5). Der Staat bildet ein umkmpftes Terrain. Einerseits steht er alsspezifischer Ausdruck gesellschaftlicher Krfteverhltnisse am Ende einer Kettesozialer Auseinandersetzungen, andererseits fungiert er als integraler Bestandteil dergesellschaftlichen Kmpfe selbst. Staatstheorie steht daher zu Recht im Mittelpunkteiner kritischen Gesellschaftsanalyse, die die sozialen Kmpfe um die Reproduk-

    tion und Transformation von Herrschaft beschreibt. Robert Jessop nimmt die Kriseder dem Fordismus immanenten Staatsprojekte, die Tendenzen der Aushhlung,Internationalisierung und Dezentralisierung der keynesianischen Sozial- undWohlfahrtsstaaten und die Herausbildung neuartiger Governance-Strukturen zumAnlass fr eine kritische Ortsbestimmung materialistischer Staatstheorie. In viel-fltigen Anschlssen an die staatstheoretischen berlegungen von Karl Marx oderAntonio Gramsci, die formationstheoretischen Analysen von Nicos Poulantzas oderdie konomietheoretischen Bestimmungen der franzsischen Regulationstheorieentwickelt Jessop einen strategisch-relationalen Ansatz, um die Vernderungen

    von Staatlichkeit, die Dynamiken der Beziehungen von Staat und Gesellschaftund die Verhltnisse von konomie und Politik im aktuellen Kapitalismus exakterbestimmen zu knnen.

    Erschienen ist auchForum Kritische Psychologie51: Sozialpsychiatrie / Persn-liche Assistenz, Empowerment / Beschftigungsverhltnisse in der Sozialen Arbeit /Evaluationsforschung, Erinnerungsarbeit. Dieses 51. Heft wurde von einer externenRedaktionsgruppe, Schlern der bisherigen Redaktionsgruppe gestaltet. Maximeauch ihrer Arbeit ist das inFKP3 aufgestellte Programm, Kritische Psychologie nichtals fixierten Kanon von Kategorien und Methoden, sondern als eine bestimmte

    Art wissenschaftlicher Entwicklung unter fortwhrender kritischer berprfungund Vernderung der bisherigen Prmissen zu begreifen. Das umfasst sowohl diekritische Weiterentwicklung der Theorie als auch die zum Eingreifen befhigendeErforschung der empirischen Wirklichkeit mit dem Ziel, zur Befreiung von fremderVerfgung und eigener Unterwerfung beizutragen. Es schreiben: Erich Wulff, HeinerKeupp, Ulrike Eichinger, Michael Zander, David Vossebrecher, Karin Jeschke, GesaKbberling, Vanessa Lux, Jochen Kalpein, Morus Markard, Frigga Haug.

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    Nachrichten aus dem Patriarchat

    Ruinen

    Nach der Wende verschwanden die politischen Diskussionen aus unserer Familie.Da sie einen groen Teil der Gesprche bestimmt hatten, blieb nicht viel zu sagen.Stumm und unglubig blickten meine Eltern auf das Werk ihrer neuen Nachbarn. Wowir gestritten und einander Meinungen an den Kopf geworfen hatten, solange Sozia-lismus uns trotzdem alledem als lohnende Aufgabe erschien, schlich sich in unsereMitte, was wir als das ewig Gestrige zu beurteilen gelernt hatten. Ich schlucktemein Entsetzen hinunter, als ich zum ersten Mal meinen Vater dieBildzeitungund die

    Super Illulesen sah. Auf meine sich nach oben kmpfende Frage, ob dies nun seinenHorizont darstelle, gab es nur ein hingemurmeltes: Naja, so ist das jetzt eben.

    Der Blick meiner Mutter verengte sich auf alte Rollenmuster: Haushalt undEssen, Krankheit und Kleider. Nur einmal seufzte sie: Ach, du hast doch gar keineAhnung, wie man sich fhlt, wenn alles, was man bisher getan hat, Mist ist.

    Obwohl ich den Grad der Zerstrung erahnte, verweigerte ich das Verstndnis undbte mich in der Ungerechtigkeit alleingelassener Kinder. Fortan beobachtete ichvon auen die zaghaften Versuche meiner Eltern sich im wiedererstandenen Kapi-talismus einzurichten. Da sie gebildete Menschen waren und zudem Marxismus-

    Leninismus in Parteihochschulen studiert hatten, rechnete ich damit, dass sie dieMachenschaften geldgieriger Eroberer durchschauen wrden. Aber sie glaubtenwohl doch eher deren Versprechungen, wonach das neue Glck auf der Strae liegeund nur noch ergriffen werden msse.

    Meine Mutter, damals 47, Ingenieurkonomin, Abteilung Auenhandel, undmein Vater, 53, Diplomingenieur fr Eisenhttenkunde, Abteilungsleiter, hattenmehr als 20 Jahre ihres Lebens im Stahlwerk verbracht. Jeder Stein des Betriebeswar ihnen vertraut. Sie kannten jeden aus der Belegschaft und waren ausgefllt vonden Problemen rund um ihre Arbeit. So zumindest war es mir vorgekommen, wenn

    ich ihre Gesprche beim Abendbrot verfolgte. Als sie die Arbeit verloren, wurde allesanders. Meinen Vater, ich wei nicht mehr genau, ob gleich oder etwas spter, schicktedie neue Betriebsleitung mit einer bergangsregelung ins Frhrentnerdasein.Meine Mutter war eine von viertausend anderen Entlassenen ohne Abfindung. Da sieaber beide nicht zu Hause herumsitzen wollten, mein Vater zudem leidenschaftlicherStahlwerker war, begaben sie sich auf den Weg in die Selbstndigkeit. Dieser fhrtezunchst in den Vertrieb von Elektroden. Die guten Kontakte meines Vaters in Stahl-werken der ehemaligen Bruderlnder nutzte ein Hndler aus Nrnberg. Er schicktemeine Eltern durch die Lande und tat sich schwer mit der Bezahlung. Sie aber hatten

    alle diese Fahrten vorfinanziert und ihr Geld verbraucht. Sie warfen das Handtuchund meinten lakonisch: Da kannst du nichts machen. Wir haben eben nichts mehrzu sagen. Sie sattelten auf zwei andere Pferde um. Beim einen ging es um den

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    Verkauf von Amway-Produkten. ber ein Schnellballsystem versprach die Firmagigantische Aufstiegschancen. Fr meine Eltern ergaben sie sich nicht, obwohl siean Treffen teilnahmen, wo sie erfuhren, sie mssten nur fest daran glauben undimmer wieder potenzielle Kufer ansprechen. Beim zweiten Job ging es darum, dass

    eine Modegestalterin ihre Sachen in die Geschfte zu bringen versuchte. Whrendmein Vater im Elektrodengeschft die Verhandlungen und meine Mutter die Bchergefhrt hatte, bernahm meine Mutter nun beides. Klamotten waren nichts fr meinenVater. Er fuhr nur noch das Auto. Der Vertrieb lief schleppend, aber meine Muttergab nicht auf. Optimistisch lobte sie sich die Sachen schn. Sie war selbst begeisterteHobbyschneiderin. Doch so gut meine Mutter ihre Bcher im Griff hatte, so wenigklappte es offenbar bei ihrer Fabrikantin. Als ich eines Tages meine Eltern besuchte,fehlten die vollen Kleiderstnder, die sonst die Wohnung verstellten. Meine Mutterschwrmte jetzt von einem eigenen Laden. Welche Art dieser denn sein solle, fragte

    ich voller Zweifel. Sie klrte mich auf, dass die Bank einem Bekleidungsgeschftmit kleiner Schneiderei angesichts der Marktlage nicht zustimme, wohl aber einerLadengalerie mit Wohnzubehr, wie Geschirr, Besteck und allerlei teurem Plunder,der fremde Wohnungen verschnern sollte. In der kleinen Galerie htten mein Bruderund andere hoffnungsvolle junge Adepten der Kunst die Mglichkeit, ihre Bilderzu verkaufen. Meiner Mutter leuchteten die Augen. Ich konnte mir nicht vorstellen,dass sich die Leute unserer Kleinstadt, die schnell gelernt hatten, hinter Schnppchenund Billigangeboten herzujagen, fr Wohnaccessoires oder Kunst interessierten. DieSachen waren zudem viel zu teuer fr sie. Aber ich wollte meiner Mutter den Elan

    nicht nehmen und flchtete in Detailfragen: Standort, Miete usw. Ich erfuhr, dass siebereits einen Zehnjahresmietvertrag unterzeichnet hatte. Die Miete war angesichtsder zu erwartenden Einnahmen viel zu hoch.

    Mein Vater sagte nichts. Jetzt, da er nicht mehr der Impulsgeber der elterlichenZweisamkeit war, whrend die beiden doch zugleich von seiner Rente lebten, stander in den ersten Jahren ziemlich mrrisch im Laden herum. Die Kasse klingelte indiesem nur zu Weihnachten und Ostern. Meine Mutter hatte nicht nur damit zu tun,ihre wachsende Verzweiflung zu verbergen, sondern jetzt auch noch meinen Vaterbei Laune zu halten. Hin und wieder eingestreute Bemerkungen, wie Auf deinem

    Konto ist ja nichts, lieen mich ahnen, dass das kollegiale Miteinander sich in einpatriarchales Verhltnis verwandelt hatte, in dem der nutzlos gewordene Stahlwerkermeine Muter spren lie, wer noch Geld ins Haus brachte und also das Sagen hatte.Er half ihr nicht. Wir stritten uns. Ich warf ihm Boykottversuche und Erpressungvor. Als er keine Worte mehr fand, sprang ihm meine Mutter zur Seite. berhauptklammerten sich meine Eltern immer verzweifelter aneinander, je weniger siemiteinander verband und je nutzloser sie in der neuen Gesellschaft waren. Das gingso weit, dass mein Vater, der frher im gesamten Osten umhergereist war, das Hauskaum noch verlie und auch meiner Mutter sogar verwehrte, mich in der nur sechzig

    Kilometer entfernten greren Stadt zu besuchen. Ich gab auf und hielt mich ausihren Angelegenheiten heraus. Mein Vater verlegte sich schlielich aufs Bilder-rahmen, was nur dann von Interesse ist, wenn die dazugehrigen Bilder es sind.

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    Die jungen Knstlerinnen und Knstler jedenfalls verkauften kaum etwas. Meist

    gab es nur interessierte Nachfragen. Manchmal kamen Kunden, die zu ihrer grnen

    Couch oder dem Perserteppich den passenden Rahmen fr ein Bild suchten, das sie

    nach demselben Kriterium ausgesucht hatten.

    Eines Tages, als ich meine Eltern im Laden besuchte, der das Haus mit einemMbelgeschft namens Schne neue Wohnwelt teilte, hrte ich, wie jemand

    meinem Vater, der fr mich nie wirklich aufgehrt hatte, Leiter im Stahlwerk zu

    sein, kleine Reparaturaufgaben zuteilte. Als meine Mutter mir verriet, dass er sich als

    Hausmeister in der schnen neuen Wohnwelt etwas dazuverdiente, war dies das Ende

    zugleich meiner Familie und des Sozialismus. Mein Vater als Hausmeister in einem

    Mbelgeschft, meine Mutter verschuldet in einem Laden, den keiner brauchte!

    Letzten Sommer atmeten wir auf. Meine Mutter ging in Rente. Mit dem Alptraum,

    der mehr als zehn Jahre gedauert hatte, lste sich das Schweigen. Meine Mutter rief

    mich an und redete mehr als eine Stunde darber, dass keinesfalls alles falsch war,was sie frher gelernt hatte. Ich kam kaum zu Wort. Siebzehn Jahre nach der Wende.

    Jetzt wollen sie reisen. Ines Philipp

    Im Buchhandel oder vom Argument-Versand: Reichenberger Str. 15010999 Berlin Fax: 030 / 611 42 70 [email protected]

    Argumentwww.argument.de

    Frigga HaugRosa Luxemburg und dieKunst der PolitikArgument Sonderband 300ISBN 978-3-88619-350-916,50[D]

    Von Rosa Luxemburg lernenIch habe das Bedrfnis, so zu schreiben, dass ich

    auf die Menschen wie ein Blitz wirke, sie am Schdelpacke durch die Weite der Sicht, die Macht der ber-zeugung und die Kraft des Ausdrucks.

    Rosa Luxemburg

    Die meisten Menschen kennen den Namen RosaLuxemburg. Bekannt ist auch, dass sie ermordetwurde, im Landwehrkanal ertrnkt. Einige erinnernihr berhmtes Wort von der Freiheit, die stets dieFreiheit der Andersdenkenden sei. Schon wenigewissen, dass sie in der Geschichte der Arbeiterbewe-gung eigentlich nie wirklich zum Zuge kam und vorallem dass in ihren politischen Vorschlgen, ihrenzahlreichen Texten Unabgegoltenes steckt fr ge-genwrtige Politik. Das Buch rckt einiges ins Lichtder Diskussion, vermisst Gegenwart im Spiegel RosaLuxemburgs. Unter dem Vergangenen und Unwie-derholbaren arbeitet Frigga Haug die Aktualitt vonRosa Luxemburg heraus.

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    Gerhard Schoenberner

    Die groe Hoffnung

    Traum der Armen

    Hoffnung der Besten

    versteinert, da leblos

    zerbrochen, da unbiegsam

    Staub geworden, da zertreten

    Welche Entwicklung

    Sie war vermeidbar

    Sie war folgerichtigSie ist unumkehrbar

    Die schon am Ende schienen

    lngst widerlegt und berfhrt

    ffentlich angeklagt

    ihrer Verbrechen

    aber noch an der Macht

    natrliche Feinde aller Besitzlosennennen sich Sieger der Geschichte

    Der Untergang der anderen

    sagen sie, sei ihr Verdienst

    Die Verbrechen der anderen

    sind ihr Argument

    Die jetzt am Ende scheinen

    ffentlich angeklagtder Unbelehrbarkeit

    Anhnger der groen Hoffnung

    trotz allem, sind nicht widerlegt

    Eine Jahrhundertchance

    ging verloren. Die Geschichte ist

    noch nicht am Ende. Sie geht weiter

    Und weiter gehen die Kmpfe

    nicht um das Paradies. Aberum ein menschenwrdiges Leben.

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    Im Buchhandel oder direkt vom Argument-Versand:Reichenberger Str. 150, 10999 Berlin, Fax: 030 / 611 42 70, [email protected]

    Argumentwww.argument.de

    Berliner Beitrge zur kritischen Theorie

    Band 1

    Institut fr kritische Theorie

    Brecht Eisler Marcuse 100 Fragen kritischer Theorie heute

    Argument Sonderband 266 ISBN 978-3-88619-266-3 (vergriffen)

    Band 2

    Jan Rehmann

    Postmoderner Links-NietzscheanismusArgument Sonderband 298 ISBN 978-3-88619-298-4

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    gefolgt von Sondierungen zu Marx / Lenin / LuxemburgISBN 978-3-88619-329-5

    Band 4

    Frigga Haug

    Rosa Luxemburg und die Kunst der PolitikArgument Sonderband 300 ISBN 978-3-88619-350-9

    Band 5

    Bob Jessop

    Kapitalismus, Regulation, Staat Ausgewhlte SchriftenArgument Sonderband 302 ISBN 978-3-88619-332-5

    Band 6

    Richard Heigl

    Oppositionspolitik Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen LinkenArgument Sonderband 303 ISBN 978-3-88619-333-2

    Band 7

    Mario Candeias

    Neoliberalismus Hochtechnologie HegemonieGrundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und LebensweiseArgument Sonderband 299 ISBN 978-3-88619-299-1 (2., verbesserte Auflge)

    Band 9

    Domenico Losurdo

    Nietzsche, der aristokratische Rebell

    Intellektuelle Biographie und kritische BilanzArgument Sonderband 304 ISBN 978-3-86754-304-0 (in Planung)

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    Transformation des deutschen Parteiensystems und

    europische historische Verantwortung der Linkspartei

    Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts geschieht, und Wochen, in denen Jahrzehntegeschehen. (Lenin) In solchen historischen Momenten steigt nicht blo die Bedeu-tung von Ideenkmpfen und die Freiheit der sozialen Akteure, die sie bestimmendengesellschaftlichen Strukturen zu verndern, sondern hngt auch der Fortlauf derGeschichte hufig von Zufllen und Einzelpersonen ab. In unserer Epoche desPessimismus, Relativismus und derposthistoire, in der die mediale ffentlichkeiteinschlielich der warensthetisch Wissen produzierenden Universitten ihremPublikum gleichzeitig fortlaufend Ereignisse mit historischem Charakter und Nieda-

    gewesenes vorgaukelt und der Revolutionsbegriff allenfalls noch in der Werbung,weniger als ernsthafter Begriff eine Rolle spielt, ist es nicht einfach, historisch zudenken und historische Zeitverdichtungen zu erfassen. Solcherart Denken gilt es denkulturvernichtenden Medien, die selbst noch unsere geschichtliche Verantwortungund Verortung zum quotenheckenden Spektakel machen, abzuringen. Im Folgendensoll ein solcher Versuch gemacht und die Aufmerksamkeit auf die historischeUmbruchsituation gelenkt werden, in der wir uns allem Anschein nach befinden.

    1. Neoliberale Transformation der Sozialdemokratie und Aufstieg der Linkspartei:Ein Rckblick

    Ein Symptom dieses Umbruchs ist der Aufstieg einer politischen Linkskraft inDeutschland. Nach nicht ganz zwei Jahren Prsenz im deutschen Bundestag alsgemeinsame Fraktion der im Westen von SPD-Dissidenten und Linksgewerkschaf-tern initiierten Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit(WASG) mit derostdeutschen Volkspartei PDSseit September 2005, dem erstmaligen souvernenEinzug in ein westdeutsches Landesparlament (die Bremer Brgerschaft) im Mai2007, der Grndung zweier Jugend- und Studierendenverbnde (die linksjugend

    [solid]mit ca. 3 000 Mitgliedern und der neue SDS:Die Linke.SDS) im selbenMonat sowie der Grndung einer gesamtdeutschenLinkspartei am 16. Juni 2007 inBerlin erscheint der Prozess, der bis hierhin fhrte, als beinahe unausweichlich oderzumindest geradlinig. Ungeachtet der Geburtswehen dieses groen historischenProjektes, d.h. jenseits der rechtlichen Bedenken insbesondere die westdeutschenVorbehalte gegen die neoliberale Regierungsbeteiligung und fiskalkonservativeArmutsverwaltung der PDSin Berlin und die ostdeutsche Kritik an der vermeint-lichen westdeutschen sozialstaatsillusionren Rckwrtsgewandtheit und Absagean das Endziel einer demokratisch-sozialistischen berwindung des Kapitalismus,

    lie die hohe Erwartungshaltung gegenber der Linkspartei wenig Raum fr denGedanken an ein doch nicht ganz abwegiges Scheitern des Projektes. Tatschlichwar die Entstehung einer gesamtdeutschen Partei links von der SPDkeineswegs

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    unausweichlich. Ganz im Gegenteil. Es erscheint mir daher als sinnvoll, den Aufstiegder Linkspartei vor dem Hintergrund der vergangenen Dekade noch einmal und imZeitraffer Revue passieren zu lassen, um sich die historische Transformation derdeutschen Parteienlandschaft, welche die kommenden Jahrzehnte prgen wird, zu

    vergegenwrtigen.Als 1998 nach 16 Jahren konservativ-liberaler Regierung die erste und historisch

    zuvor an der Wiedervereinigung gescheiterte rot-grne Koalition die Bundesregie-rung stellte, da war dies die deutsche Linksregierung unterm Neoliberalismus(vgl. Haug 2005, 452ff). Dies zeigte sich schon besonders deutlich anhand dervollstndigen Umkremplung der politischen Biographien im Regierungspersonal,denn die neue Regierung war gespickt mit ehemaligen radikalen Linken (undsozialen Aufsteigern, die zum Teil nicht einmal ein Studium absolviert hatten).1Diepolitischen Kommentare in Deutschland stellten diesen Regierungswechsel somit

    zurecht in den Kontext einer allgemeinen Linkswende in den kapitalistischenMetropolen: In den Vereinigten Staaten hatte derNew-Economy-Boom dem miteiner integrativen sozialpopularen Rhetorik ins Amt gewhlten Demokraten BillClinton eine zweite Amtsperiode beschert und in 11 von seinerzeit 15 EU-Mitglieds-lndern waren Mitte-Links-Regierungen an die Macht gelangt. Im selben Jahr,in dem die internationale Politkonomin Susan Strange die gewachsene Machtder Finanzmrkte ber das Industriekapital und die von ihrer Whrungskontrolleabgekoppelten Nationalstaaten in ihrem BuchMad Money(1998) scharf kritisierte,schien auch die Politik zumindest jenseits der angloamerikanischen Finanzmarkt-

    kapitalismen zu reagieren. So stellte der von der britischen BoulevardzeitungThe Sunals gefhrlichster Mann Europas dmonisierte damalige deutsche SPD-Finanzminister, Oskar Lafontaine, eine Reregulierung der Finanzmrkte in Aussicht.Und whrend nach dem Ausstieg Lafontaines aus der Regierung Schrder diese sichanschickte, die berchtigten Hedgefonds zu ihren persnlichen Htschelfonds zumachen, indem sie das ursprngliche Hedgefondverbot aufhob und auch heute nachder heftigen Heuschrecken-Debatte die G8-Regierungschefs nicht ber die Bitteum freiwillige Selbstkontrolle der Hedgefonds hinauskommen, war das Scheiterndieses Vorhabens seinerzeit noch lange nicht ausgemacht.

    So drehte sich auch in Teilen der ansonsten als dauerpessimistisch verschrienenLinken die Diskussion weniger um die Frage, ob eine neokeynesianische Wende zuerwarten, als vielmehr darum, ob diese fr bare Mnze genommene Entwicklungbegrenswert sei.2Auch in Georg Flberths 1999 erschienener Rekapitulation der

    1 In staatliche Fhrungspositionen avancierten nun ehemalige RAF-Anwlte wie Otto Schily undGerhard Schrder (die beide das RAF-Mitglied Horst Mahler vertreten hatten) oder Hans-ChristianStrbele sowie ehemalige Protagonisten der sogenannten Spontiszene (Auenminister JosefFischer) oder ehemalige Mitglieder des Kommunistischen Bundes (Umweltminister Jrgen Trittin).

    Personell war diese Generation mithin der Vorgngerregierung diametral entgegengesetzt.2 So wurde in der aus dem Redaktionsstreik und der Spaltung der Tageszeitungjunge Welthervorge-gangenen linksliberalen WochenzeitungJungle World1998/99 eine langanhaltende Debatte berdie Keynesianismusfrage gefhrt.

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    deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte wird im Ausblick, wenngleich verhaltener,eine andere Entwicklung antizipiert, als sie unter Rotgrn eintreten sollte: Mitteder neunziger Jahre wurden als Antwort auf die bisherige neoliberale und konser-vative Hegemonie in den meisten EU-Lndern Mitte-Links-Regierungen gewhlt.

    Sie stellen Deregulierung und Privatisierung nicht grundstzlich in Frage, treibensie teilweise sogar weiter voran, erheben aber den Anspruch, zugleich wieder mehrgesellschaftliche Gleichheit durchsetzen zu knnen. Ob beide Tendenzen mitein-ander vereinbar sind, ist derzeit noch offen. (Flberth 1999, 289)

    Es schien somit, als wrde auf die neoliberale Konterrevolution zumindesteine klassisch-institutionalistische sozialpolitische Nachbereinigung der (zuNaturgesetzen verklrten) gesellschaftlichen Prozesse folgen, d.h. staatlichesozialdemokratische Koordinierung der durch kapitalistische Konkurrenz undTechnologieentwicklung vorangetriebenen Modernisierung und eine Ausbgelung

    ihrer drastischsten Verwerfungen. Die folgenden 7 Jahre rotgrner Regierung inDeutschland verliefen jedoch, wie wir heute wissen, ganz anders. Angefangen miteiner unter konservativen Krften undenkbaren auenpolitischen Kurskorrektur (dieBeteiligung am vlkerrechtswidrigen Angriffskrieg im ehemaligen Jugoslawien),fr welche die rotgrne Koalition ihre individualbiographische antifaschistischeGlaubwrdigkeit instrumentalisierte und die Menschenrechtsdiskurse aus den NeuenSozialen Bewegungen in eine menschenrechtsbellizistische Richtung umleitete,dadurch deutsche Kriegsbeteiligungen im groen Stil (bis hin zur interpretativenDehnung des Grundgesetzes hin zur Landesverteidigung am Hindukusch) wieder

    denkbar machend, zeigte sich die Fhigkeit des Neoliberalismus zum trasformismo,wobei die aktiven Elemente, die aus den verbndeten und auch aus den feindlichenKlassen hervorgegangen sind, aufgesogen werden (Gramsci, Gefngnishefte 1,H. 1, 44, 101), auch und gerade in der rotgrnen Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- undSozialpolitik.

    Die von den grnen Brandbeschleunigern mageblich mitgeprgte neoliberaleTransformation der SPDbrskierte deren Whlerschaft und war nicht nur ein insti-tutionspolitischer Selbstmord, sondern auch vom moralischen Standpunkt herbetrachtet ein Skandal: Durch Nullrunden krzte die SPDihren Rentnern die

    inflationsbereinigten Realrenten; einem Groteil ihrer Arbeiterschaft droht seitder rotgrnen Hartz-IV-Gesetzgebung im Falle der Arbeitslosigkeit nach einemJahr der persnliche Ruin und das gesellschaftliche Aus; mit der Verschrfung derZumutbarkeitsregelung, der Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialhilfe und derentwrdigenden Offenlegung und Austrocknung ihrer Finanzverhltnisse schika-niert man die Arbeitslosen und individualisiert gesellschaftliche Schuld, ohne dabeiauch nur im Geringsten zu einer Milderung der Beschftigungsmisere beizutragen;die Gesundheitsreform inklusive der Praxisgebhr bedeutete fr die gesamte Bevl-kerung weniger Leistungen fr mehr Geld, und im selben Atemzug schanzte man der

    Wirtschaft in einem Ausma Milliardenbeitrge zu, dass schlielich auch ein ebenaufgrund jener SPD-Politik in der sozialdemokratischen Herzkammer Nordrhein-Westfalen ins Amt geschummelter konservativer Ministerprsident Jrgen Rttgers

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    ins Grbeln geriet und forderte, man solle sich doch von der Lebenslge verab-schieden, Steuervergnstigungen fr die Unternehmer wrden automatisch zu mehrBeschftigung fhren. Kurzum, der von der konservativ-liberalen Koalition nochweitgehend verteidigte soziale Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit wurde erst

    durch die SPD-Grne-Koalition politisch aufgekndigt. War Tony Blair, der sich aufden neoliberalen Gesellschaftsumbau seiner Vorgnger Thatcher und auch Majorsttzen konnte, laut Eric Hobsbawm ein Thatcher in Trousers, so war GerhardSchrder historisch gesehen derdeutsche Thatcher, der, weil er in seiner verngs-tigten Partei und gegenber den Gewerkschaften die Hosen anhatte, diese Rollebesser ausfllte, als jeder Konservative dies gekonnt htte.

    Der Verrat der SPDan ihrer Klientel resultierte in einem gewaltigen Aufl-sungsprozess der internen Parteistrukturen, whrend die (durch die von Schrderstets propagierte und von bastapolitischen Rcktrittserpressungen flankierte Alter-

    nativlosigkeit des eingeschlagenen Reform-Prozesses geknebelte) Partei tatenlosder Desintegration ihrer Strukturen zusah. Die SPDsah sich mit einer historischbeispiellosen Austrittswelle konfrontiert und verlor von Landtagswahl zu Landtags-wahl durch Stimmenthaltung oder Whlerwanderungen hin zur CDUihren Rckhaltin den Bundeslndern. Dies ging so weit, dass in den Feuilletons der brgerlichenZeitschriften in Deutschland das Wort von der Proletarisierung der CDU-Basis dieRunde machte, was einen Vertreter der Avantgarde der neoliberalen Konterrevolu-tion, den Historiker Paul Nolte, dazu veranlasste, die CDUvor einer Kurskorrektur inSachen Reform-Politik (sprich: neoliberalem Umbau der Gesellschaft) zu warnen.3

    Als schlielich im April 2005 nun also auch das Stammland der SozialdemokratieNRW(nach der verheerenden Niederlage bei den Kommunalwahlen vom Vorjahr)wie erwartet verloren ging und das innerparteiliche Protestpotenzial sich auf denSturz des angeschlagenen Kanzlers und eine innerparteiliche Auseinandersetzungum den politischen Kurs der SPDund die Ursachen der nicht enden wollenden Wahl-niederlagen vorbereitete, da unterband Schrder in einem parteipolitischen Coupdtat eine solche Debatte und rief in klandestiner Absprache mit seinem polterndenParteimachiavellisten Franz Mntefering Neuwahlen zum Jahresende 2005 aus.

    Dabei versetzte dieser Schachzug nicht nur die eigene Partei in den wahlkmpfe-

    rischen Ausnahmezustand (einer allerdings schon verloren gegebenen Wahl),sondern zielte zudem noch in eine andere Richtung. In Westdeutschland hattenmlich am linken Rande der SPDder gesellschaftliche Protest eine politische Form

    3 Nolte schreibt: So ist in letzter Zeit eher deutlich geworden, wie sich die Problemlagen der bei-den groen Parteien hneln. Beide sind an ihrer Spitze von einem Reformkurs berzeugt, den einGroteil ihrer Anhnger nicht mittrgt oder nur zhneknirschend hinnimmt. Beide kmpfen gegenden Verlust von Milieus, gegen Frustration, politischen Rckzug und populistische Verlockung inetwa einem Drittel unserer Gesellschaft. Der Union bleibt kaum anderes brig, als Schrder und

    Clement zu untersttzen. Alles andere wre tricht und verantwortungslos. Tricht wre es jedochauch, die in der Partei begonnenen Reformdebatten mit Rcksicht auf Wahlchancen fr beendet zuerklren und die Sicherheiten der Bonner Republik zu suchen, seien sie sozialpolitischer (Blm)oder gesellschafts- und innenpolitischer (Dregger) Art. (2004)

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    gefunden, die als nordwestdeutsche Wahlalternative 2006und als nordbayrischeInitiative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit(IASG)auftrat, sich bald zur WASGzusammenschloss, im Juni 2004 in Berlin zu ihrer ersten Bundeskonferenz zusam-menkam und dabei ein ungewhnliches Medienecho verursachte. So urteilte schon

    am 24. Juni 2004 der Spiegelin seiner Online-Ausgabe: Neue Partei knnte SPDgefhrlich werden, obwohl es seit dem Scheitern derDemokratischen Sozialisten(DS) Anfang der 1980er Jahre eigentlich als ungeschriebenes Gesetz galt, dass dieNachkriegsgeschichte unweigerlich gezeigt habe, dass Parteigrndungen linksder SPDniemals Aussicht auf Erfolg haben wrden. Zudem hatten sich schon aufdieser Bundeskonferenz die zentralen Schwchen der Wahlalternativemanifestiert,dass sie sich nmlich aus einem spezifischen und vergleichsweise homogenenSpektrum mit deutlich eingeschrnkter Reichweite speiste. So bestand der Kreisder Aktiven und Sympathisanten der WASGaus einer Mischung aus klassischen

    Linksgewerkschaftern und SPD-Enttuschten und durch Hartz IVsozial abstiegs-gefhrdeten, gewerkschaftlich orientierten fordistischen Arbeitnehmern aus der inden sozialreformerischen 1970er Jahren sozialisierten Alterskohorte 40+, mithinjenem Spektrum, dass vom brgerlichen Feuilleton gerne als besitzstandswahrendund in Verdrehung des ursprnglichen historischen Begriffs als sozialkonservativbezeichnet wird. Tatschlich schien es zunchst, als ob der WASGder Zugriff aufentscheidende gesellschaftliche Gruppen wie die Erwerbslosen, das Prekariat, weiteTeile der Beschftigten im Dienstleistungssektor und jngere Arbeitnehmer insge-samt verschlossen bleiben sollte. Und dennoch: Mit mehreren Grodemonstrationen

    der Gewerkschaften, den spontanen, jedoch strohfeuerartig erloschenen Montagsde-monstrationen gegen die Hartz-IV-Gesetze und den ersten ernsthaften Annherungenvon Vertretern der WASGund der aus den Landtagswahlen von Thringen, Sachsenund Brandenburg und den Europawahlen 2004 gestrkt hervorgegangenen und inUmfragen bundesweit fast durchweg wieder oberhalb der 5%-Hrde verorteten PDS,scheint es der SPD-Fhrung auch darum gegangen zu sein, die sich zu ihrer Linkenbildende Opposition durch eine nicht zu gewinnende Bundestagswahl, die mit derMachtbergabe an eine konservativ-liberale Koalition enden wrde, als kleineresbel vorzuziehen und wie in den frhen 1980er Jahren aus der Opposition heraus

    eine Erneuerung der Partei nach der Krise zu wagen und die Linkskraft damit in derWiege zu erdrosseln.Es ist an dieser Stelle sinnvoll, die Erinnerung an jene apokalyptische Situation

    aus der ersten Jahreshlfte 2005 ins Gedchtnis zu rufen, als die WASGsich zuneh-mend zum unfreiwilligen Todessto fr eine linke politische Kraft im Bundestagzu entwickeln schien. Denn es zeigte sich ungeachtet der kurzfristigen Umfragen,denen zufolge sich beinahe 20%der Deutschen vorstellen mochten, eine ParteiArbeit und Soziale Gerechtigkeit zu whlen, einigermaen deutlich, dass dieWASGnicht in der Lage sein wrde, aus eigener Kraft die Fnfprozenthrde zu

    berspringen. Schon in einem ihrer Stammlnder und noch vor dem Hintergrundder medialen Aufmerksamkeit scheiterte der Einzug der WASGin den Landtag vonNordrhein-Westfalen deutlich. Auch bedurfte es keiner besonderen Wahlarithmetik,

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    um sich ausmalen zu knnen, dass fr die PDSin den ostdeutschen Lndern, indenen ihr Stimmpotenzial auf etwa ein Viertel aller Whlerstimmen angewachsenwar, kaum Spielraum nach oben bestehen wrde und somit die WASGzwangslufigder PDSim Westen exakt diejenigen Stimmen entfremden msse, ohne die es fr

    die PDSkeinen Wiedereinzug in den Bundestag gbe (vgl. nher Weis 2004, 114f).Kritische Mahnungen von Frank Deppe an die im Grndungsprozess der WASGsehrengagierten Hamburger Kreise rund um die Zeitschrift Sozialismus und den VSA-Verlag deuteten auf den Ernst der Lage hin. Und doch verschrfte sich von Woche zuWoche der Ton zwischen der PDSund einer WASG, die wie ihr von Seiten der PDSvorgeworfen wurde schon in der Grndungsphase zumindest als nordbayrischerAbleger ungerechtfertigte Dominanzansprche (Weis 2004, 112) formulierte undsich auch auf ihrer Ersten Bundeskonferenz bemerkenswert aggressiv von der PDSals Teil des neoliberalen Problems abgrenzte (Solty 2004).

    Es ist schlielich dem nach seinem 1999er Rcktritt politisch zurckgekehrtenOskar Lafontaine, der bereits in seinem Anfang 2005 erschienenen BuchPolitik fralleber seine mglich Rolle in einer westdeutschen Linkspartei rsonierte (168- 72),Gregor Gysi und den um Annherung und einen Ausgleich bemhten Krften inbeiden Parteien sowie so will es die Ironie des Schicksals dem schrderschenErpressungsversuch zu verdanken, dass es in den wenigen Wochen und Monaten vorder anberaumten Bundestagswahl gelang, ein Wahlbndnis auf die Beine zu stellenund trotz der beschmend verleumderischen Medienkampagnen gegen Lafontaineund die Linkspartei mit einem Ergebnis von 8,7 Prozent der Whlerstimmen in den

    Bundestag einzuziehen, das zeigte, dass und wie in der Bevlkerung pltzlich einBedrfnis nach einer Partei links von der SPDentstanden war.

    2. Gesellschaftliche Transformation, soziale Deklassierung und moderner Rechts-populismus

    Nun lsst sich allein an politischen Wahlen bekanntlich keine Aussage ber die gesell-schaftlichen Krfteverhltnisse ablesen. Deshalb ist es unerlsslich, zur Beurteilungder Bundestagswahl 2005 und der Zeit danach die politischen Prozesse in den Kontext

    der gesellschaftlichen Transformationsprozesse der letzten 30 Jahre einzuordnen, dieman allgemein als Neoliberalismus bezeichnet. Es erscheint als eine historische Para-doxie, dass zumindest Teile der Neokeynesianismusdebatte aus den spten 1990erJahren und das Versprechen auf eine neosozialdemokratische Modernisierungssteue-rung jenseits von rechts und links heutigen Debatten nicht unhnlich sind. DieUnterschiede in den Debatten speisen sich aus dem Zusammenbruch des DrittenWegs und der Neuen Mitte Begriffsruinen vom Ende des letzten Jahrhunderts,die sich in der bis an die Ununterscheidbarkeit von SPDund CDUheranreichendenKonvergenz der beiden ehemaligen Volksparteien gebildet haben. Anders als von

    manchen erwartet, ist das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kein (wenigstens inKeimformen) postneoliberales Jahrzehnt gewesen, sondern vielmehr eines, in demsich ein betrchtlicher Teil der Widerstandskrfte und kulturellen Opposition aus dem

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    Geist von 1968 in die neoliberale Konterrevolution eingeschrieben haben. Die zweite,sozialdemokratischePhase des Neoliberalismus hat die sich nach dem Sieg desWirtschafts- ber den politischen Reformliberalismus in der FDPin der Oppositionerneuerten Krfte der Sozialdemokratie und die in den Grnen zur politischen Form

    verdichteten Neuen Sozialen Bewegungen kooptiert. Dies ist gleichbedeutend miteiner Verbreiterung der Herrschaftsbasis des Neoliberalismus bzw. dem, was MarioCandeias in seiner Periodisierung des Neoliberalismus als dessen hegemonialeVerallgemeinerung bezeichnet hat (2004, 333). Die Linke ist hierdurch nachhaltigund auf Jahre hinweg geschwcht worden. Darber kann auch der Erfolg der Linkenund die Niederlage der gerne als brgerliche Parteien bezeichneten schwarzgelbenFront nicht hinwegtuschen. Dieser Erfolg ist ein erster politischer Ausdruck desdringlichen politischen Widerstands, aber nicht schon die Antwort an sich. DieEntsozialdemokratisierung der SPDbedeutet schlielich, dass die neue Linkspartei

    mit ihren noch dazu momentan aussichtslosen bergangsforderungen (bspw. nachWiedereinfhrung des Verbots von Hedgefonds) zunchst einmal die Rolle der altenSPDbernimmt, sozialdemokratische Politik betreibt, in die Richtung einer Reregu-lierung und Wiedergewinnung sozialstaatlicher Steuerungsfhigkeit (z.B. durchRcknahme von Privatisierungen) drngt, welche die ntige Geschftsgrundlage frwirkliche vorwrtsdrngende sozialistische Politik ist. Schon allein deshalb ist, wieGregor Gysi herausstreicht, die Bezichtigung des Sozialkonservatismus falsch oderverleumderisch (2007, 24) und die Widerstandspolitik gegen den Neoliberalismusnicht nur Widerstand, sondern durchaus konstruktiv. Und doch hat Lafontaine recht,

    wenn er die neue Linke zunchst einmal als eine aufkommende Widerstandsbewe-gung gegen den Neoliberalismus (2006) bezeichnet.Die Republik ist somit auch 2005 nicht nach links gerckt, sondern vielmehr in

    den letzten 30 Jahren, mit der Aufkndigung des historischen Kompromisses insbe-sondere in den gesellschaftlichen Krfteverhltnissen weit nach rechts. Es bedarfschon eines gehrigen Maes an formalistischer Borniertheit, die knappe, reinrechnerische Mehrheit von Rot-Rot-Grn als mehr als blo eine Linksverschiebungim gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck zu verstehen, wenn die programmatischenUnterschiede zwischen allen etablierten Parteien weniger ins Gewicht fallen, als die

    Unterschiede aller Parteien zur Linkspartei.Halten wir also fest: Die Bedeutung der Kulturrevolte vom Ende der 1960erJahre fr die Entfaltung des Neuen wurde erst spt sichtbar. Es bedurfte des Zusam-menbruchs des realexistierenden Sozialismus und der Bewusstwerdung derGlobalisierung, d.h. der Ausbreitung kapitalistischer Sozialbeziehungen in jedenWinkel dieser Erde und jede Facette unseres Lebens (Panitch), um ein Verstndnisdafr zu erlangen, wie der Nachkriegskapitalismus in seiner Krise Momente deskulturellen Widerstands gegen seine spezifische Verfasstheit im Fordismus nutzte,um sich im Zuge des bergangs zur computerbasierten Produktionsweise und des

    entsprechenden Transnationalisierungsschubes mit gewaltig zugunsten des Kapi-tals verschobenen Krfteverhltnissen zu erneuern. So verschmolzen gerade unterRotgrn ehemalige Gegner zu einem neuen Projekt. Nach einer kurzen Atempause

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    und kapitalistischem Triumphalismus in den frhen 1990er Jahren verschrften sichin erstaunlicher Geschwindigkeit die Widersprche der ab den spten 1980er Jahrenschlielich zunehmend als Neoliberalismus gekennzeichneten Formation. Die Preis-gabe des politischen Ziels der Vollbeschftigung zugunsten der Inflationsbekmpfung

    und des ausgeglichenen Staatshaushaltes (mit dem Ergebnis der chronischen Massen-arbeitslosigkeit, die nach jedem Wirtschaftszyklus den vorigen Stand bertraf),wirkte zusammen mit den staatlichen Finanzausfllen durch Privatisierungen undden Niedergang der sozialversicherungspflichtigen Beschftigungsverhltnisse undfhrte zu Verteilungskmpfen und in den 1980er Jahren zur Entfaltung und Instru-mentalisierung von Widersprchen zwischen zugewanderten und nichtintegriertenArbeitskrften und einer von sozialen Abstiegsngsten gekennzeichneten asymmet-risch gespaltenen Mittel- und Unterschicht (Zweidrittelgesellschaft). Verschrftwurden diese ngste durch die (reale und befrchtete) Einwanderungswelle nach

    dem staatssozialistischen Kollaps und die Debatte, die 1993 auf die Einschrnkungdes Asylrechts zielte. Zwar kam es in Deutschland nicht wie in den meisten andereneuropischen Lndern zu einer dauerhaften Etablierung rechtspopulistischer Parteienauf Bundesebene, was auch an deren Zersplitterung sowie der historischen Schuld-hypothek des (rechten) Konservatismus in Deutschland lag. Dennoch zeigte sichdeutlich, dass ein wachsender Prozentsatz der deutschen Bevlkerung anfllig frrechtsextreme Weltbilder ist, weshalb es nur eine Frage der Zeit schien, wann sich auchin Deutschland eine rechtsextreme Partei dauerhaft als fnfte Partei und am rechtenRand des deutschen Parteiensystems wrde etablieren knnen. Im Umkehrschluss

    zu dieser Entwicklung stand die schwindende Integrationskraft der ehemaligenVolksparteien mit einem nominell klassenbergreifenden Anspruch, die vor demHintergrund des sprunghaften Anstiegs der Nichtwhlerpartei zusammen nichteinmal mehr die Hlfte der deutschen Bevlkerung hinter sich versammeln konnten,was auf die politische Krise der gesellschaftlichen Desintegration hindeutete.

    In der angeschlossenen ehemaligen DDRfhrten die spezifischen Bedingungender Ausdehnung marktwirtschaftlicher Verhltnisse zu einem konomischenKollaps. Nicht zuletzt, weil die groe Mehrheit der Betriebe im Osten nicht nurgegen die Westunternehmen nicht konkurrieren konnte, sondern auch aufgrund der

    Abfhrung ihrer Gewinne an den Staat nicht ber ausreichend Eigenkapital verfgte,brach in der ehemaligen DDRdie soziale Infrastruktur zusammen. Ostdeutschlandwurde weitgehend deindustrialisiert, musste den Abfluss der arbeitsfhigen jungenBevlkerung kompensieren und entwickelte sich allein aufgrund seines Standort-vorteils weitgehender Flchentariflosigkeit in einigen wenigen Regionen und mitHilfe von staatlichen Transferleistungen zu den in den Bundestagswahlen von 1990von Helmut Kohl versprochenen blhenden Landschaften.4

    4 Die soziokonomischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind eine der Ursa-

    chen des Dissenses zwischen WASGund PDSber sinnvolle anti-neoliberale Forderungen. DieArbeitsmarktlage im Osten lsst es mehr als logisch erscheinen, ein bedingungsloses Grundein-kommen zu fordern (und damit implizit die Krise der Arbeitsgesellschaft einzugestehen unddie Vollbeschftigungsorientierung preiszugeben), whrend in der WASGeinige Stimmen die

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    Die tiefe Reprsentationskrise als Resultat der neoliberalen Umstrukturierung undder besonderen ostdeutschen Situation fhrte so zu einem wachsenden Zulauf zur ausder SEDhervorgegangenen PDS, die sich hier zur Volkspartei mauserte. Allerdingsgelang schon frhzeitig immer wieder auch rechtsextremen Parteien der Einzug in

    Landesparlamente, woraus in einigen Ostbundeslndern schlielich auf Grundlagevon lokalen Verankerungen (bspw. in privat eingerichteten rechten Jugendzentren)stabile Strukturen entstanden.

    Im Westen konnten rechtsextreme Parteien zwar auch mitunter Wahlerfolgeverbuchen, in manchen Bundeslndern wie Baden-Wrttemberg entwickelten siesogar, wie die Republikaner, stabile Parteistrukturen auf landesparlamentarischerEbene; und doch spitzte sich die Reprsentationskrise hier so richtig erst im Laufeder ersten Jahre der rotgrnen Koalition zu. Teile der traditionellen Whlerschaft derSPD v.a. Arbeiter, Arbeitslose, Rentner kehrten ihr den Rcken, suchten Zuflucht

    bei der CDUoder bildeten das nun sozial wie politisch entkoppelte und damitumso leichter mobilisierbare Whlerreservoir des modernen Rechtspopulismus.Tatschlich schien es angesichts der frohlockenden und erfolgsversprechendenBemhungen der drei groen rechtsextremen Parteien (der finanzkrftigen Einmann-partei DVU, der zwischenzeitlich radikalisierten Republikaner und der verjngtenNPD), ein Wahlbndnis fr die Bundestagswahl 2006 auf die Beine zu stellen unddas Konkurrieren der einzelnen Parteien um die von der SPDverratene Beute zuvermeiden, als unabwendbar, dass sich nun und mit einiger Versptung auch inDeutschland eine rechtsextreme Partei auf Bundesebene und womglich dauerhaft

    wrde etablieren knnen. Eine hnliche Entwicklung hatte bspw. bereits Frankreichvorweggenommen, wo das Zusammenspiel aus historischem Niedergang undZersplitterung des kommunistisch-proletarischen Milieus und als brgerlich undTeil der entfremdeten Staatselite wahrgenommener Sozialdemokratie ein politischesVakuum hinterlie, das vom rechtsextremen Front National genutzt worden ist, derseither einen groen Teil des proletarischen Protestpotenzials bindet. De facto sindrechtspopulistische Parteien in nationalen Parlamenten in Mehrheitswahlsystemenseit den spten 1980er Jahren fast gesamteuropisch vorhanden (Italien, Frankreich,Belgien, Niederlande, sterreich, Schweiz, Dnemark, Norwegen). Wre nun 2005

    der erste Einzug einer geeinten rechtsextremen Partei mit den Whlerstimmenentfremdeter SPD-Traditionswhler gelungen, so wre der Verrat der SPDan ihrereigenen Whlerschaft neben der Hoffhigmachung deutscher Kriegsbeteiligungenfr den neuen Imperialismus (die Erosion des UNO-Friedenssystems Paech2006, 19) und dem nachhaltigen Ausstieg aus dem Rheinischen und Einstieg in denFinanzmarktkapitalismus noch um eine weitere Katastrophe bereichert worden.Die Verhinderung einer solchen Konstellation ist ausschlielich der Linkspartei zuverdanken.

    Einfhrung des bedingungslosen Grundeinkommens fr die stillschweigende Akzeptanz undFestschreibung sozialer Spaltung (in Arbeitsplatzbesitzer und Transferleistungsbezieher) haltenund sich weiterhin an Vollbeschftigung mit radikaler Arbeitszeitverkrzung und -umverteilungorientieren.

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    3. Westausdehnung der Linkspartei und Transformation des deutschen Parteien-systems

    Mit dem Sieg der Linkspartei ist daspolitischeGefge in Deutschland in Bewegung

    geraten. Zunchst einmal hat sich der politische Diskurs mit der Debatte um denMindestlohn, die Unterschicht und soziale Gerechtigkeit seither betrchtlich nachlinks verschoben. Was sich mit den Protesten gegen Hartz IV, dem Niederschlag derwahlpolitisch motivierten Heuschrecken-Debatte ber den Raubtierkapitalismus(Helmut Schmidt), den Volksentscheiden gegen die EU-Verfassung und beinahe diegesamte politische Klasse und ihre Intellektuellen in den Niederlanden und Frankreichangedeutet hat, hat in Deutschland einen erstaunl ichen politischen Ausdruck gewonnen,nmlich, dass selbst die Wahlsieger der Bundestagswahl 2005 wie die eigentlichenVerlierer erscheinen und von ihrem eigentlichen politischen Projekt der marktradikalen

    Durchkapitalisierung Deutschlands Abstand nehmen mussten. Es ist bemerkenswert,dass sich das Projekt der eigentlich schon im Vorfeld der Wahlen als unumgnglichgesehenen schwarz-gelben Koalition nicht erst nach Regierungsantritt in den folgendenLandtagswahlen, sondern schon davor als grundstzlich nicht mehrheitsfhig erwies.Der radikale Neoliberalismus, die Erhhung der Dosis des falschen Medikaments frden kranken Patienten, wie man sie auch aus der Endphase des keynesianischenWohlfahrtsstaates kennt (und was staatstheoretisch als Trial-and-Error-Praktik einerrelativ autonomen Staatselite zu begreifen ist), scheint fr Deutschland ein fr allemalvom Tisch zu sein, und der gesellschaftliche Diskurs ffnet sich fr das Nachdenken

    ber eine postneoliberale Konstellation. Ausgehend von dieser Diskursffnung kann eseiner Partei neuen Typs, welche die sozialen Bewegungen nicht blo als Durchlaufer-hitzer begreift, gelingen, das Parlament in die Bhne des gesellschaftlichen Protests zuverwandeln und sich so die sozialen Bewegungen, welche die Partei fr einen sozialis-tischen Kurs braucht, quasi im top-down-Ansatz erst zu schaffen.

    Dabei werden der Linkspartei von den meisten Parteienforschern, zumeist zhne-knirschend, beste Zukunftsaussichten prognostiziert. Die Zerfaserung der ehemaligenVolksparteien und die Transformation des deutschen Parteiensystems zunchst auf derBundesebene spiegelt den fr den Neoliberalismus kennzeichnenden europaweiten

    Trend zu (kleinen) Grokoalitionsregierungen wider. Der Eintritt der SPDalsJuniorpartner in einer CDU-gefhrten Koalition, die den rotgrnen Neoliberalismusfortsetzt, hat sich fr die SPDals erhebliche Belastungsprobe erwiesen. Hierzu zhltinsbesondere ein verschrfter Konflikt zwischen der fr die zivilgesellschaftlicheHegemoniefhigkeit zentralen Parteibasis und der Parteifhrung. Whrend die PDSihren demographisch bedingten Mitgliederschwund aufhalten und sich diesbezglichstabilisieren konnte und im Zusammenschluss mit der WASGzur Linkspartei nocheinmal etwa 12 000 Mitglieder hinzugewinnt, womit sie zur viertgrten bundesdeut-schen Partei (nach CDU, SPDund CSU) wird, setzt sich der Auflsungsprozess der

    SPDanscheinend unaufhaltsam fort. Die SPDhat in weniger als zehn Jahren seit ihremRegierungsantritt 1998 knapp 30%ihrer Mitglieder verloren. Waren zum Regie-rungsantritt noch 775 000 Personen Parteimitglied, sank deren Zahl bis Ende April

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    2007 auf 553 000, wobei der grte Mitgliederschwund 2004, d.h. im Hartz-IV-Jahr,stattfand. Dabei sind es vor allem die whrend der Regierungszeit geschrpften Bevl-kerungsschichten, die der Partei den Rcken kehrten. Seit dem Eintritt in die GroeKoalition und bis Februar 2007 sind ber 23 000 Menschen aus der SPDausgetreten,

    davon sind 44%Arbeiter, Facharbeiter und Angestellte (Die Welt Online, 26.2.2007).Hinzu kommt, dass die SPDzwar bis heute noch ber eine deutlich tieferreichendeVerankerung in den gewerkschaftlichen und sozialpolitischen Verbnden verfgt alsdie Linkspartei. Die WASGhat der ehemaligen PDSallerdings die Tr zu ihnen einenSpaltbreit geffnet, wozu die PDSkaum in der Lage gewesen wre. So entwickelt sichdie Linkspartei insbesondere seit ihrem ersten groen Schritt in Richtung Westaus-dehnung nach dem fulminanten Einzug in das erste westdeutsche Landesparlamentin Bremen (mit guten Aussichten auch in Hamburg, Niedersachsen, Hessen, demSaarland undNRW) zu einem dramatischen Problem fr die SPD. Aus einer im Mai

    2007 verffentlichten Forsa-Umfrage unter SPD-Mitgliedern geht hervor, dass 58%der Befragten fanden, dass die SPDihre Prinzipien verraten habe und 62%die Rentemit 67 und 67%die geplante Unternehmenssteuerreform ablehnten. Fast jedes dritteSPD-Mitglied (29%) spielt mit dem Gedanken an einen Parteiaustritt, vier Prozent derSPD-Mitglieder geben an, kurz davor zu stehen und 9%knnen sich vorstellen, zurLinkspartei zu wechseln (dies entspricht 50 000 Personen und kme einer Beinahe-Verdoppelung der Mitgliedszahlen gleich). Die Sogkraft, welche die in allen Umfragenkonstant zwischen 9-11%an Whlerzuspruch liegende Linkspartei mittlerweileentfaltet, zeigt sich schlielich auch daran, wie es diejenigen linken Krfte, die es trotz

    Kosovokrieg, Agenda 2010 und HartzIV noch in der SPDhielt, nach der gelungenenWestausdehnung nun doch in die Arme der Linkspartei treibt.5

    Die SPDreagiert mit einer Doppelstrategie auf den Aufstieg der Linkspartei:Einerseits hat sie sich insbesondere im Bremer Wahlkampf einige Forderungen undrhetorische Mittel der Linkspartei zueigen gemacht (Mindestlohn, Sozialticket usw.)sowie die Parteilinke durch die Krung linker Spitzenkandidatinnen in zwei zentralenwestlichen Bundeslndern einzubinden versucht. So vollzog die nordrhein-westf-lischeSPDeinen Bruch mit der Wolfgang Clementschen wirtschaftsliberalen Traditionund krte die SPD-Linke Hannelore Kraft zur Vorsitzenden (fr einen allerdings

    wenig aussichtsreichen Wahlkampf), whrend in dem traditionell eher linksste-henden Hessen die Parteilinke Andrea Ypsilanti den ebenfalls wenig aussichtsreichenLandtagswahlkampf 2008 anfhren wird. Insgesamt lsst sich konstatieren, dass derAufstieg der Linkspartei zu einer diskursiven ffnung und Linksverschiebung inner-halb der SPDund darber hinaus gefhrt hat. Das Tendenzgesetz von der belebendenWirkung der Konkurrenz auf Seiten der Linken, wo eine Rechtsverschiebung derSozialdemokratie zugunsten der Linkspartei (und nicht nach rechtsauen) ausschlgt,scheint sich zu bewahrheiten. Auch insgesamt ist die alldeutsche Reformpartei inBewegung geraten, und Alltagsverstandsgewissheiten ber den einzuschlagenden

    wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kurs kommen leisetreterischer daher.

    5 Vgl. die bertrittserklrung Time to Say Goodbye: http://www.linksnet.de/artikel.php?id=2074.

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    Andererseits versucht die SPDnoch, das Unvermeidbare, d.h. die Etablierung einerKraft zu ihrer Linken, durch peinliche und holprige Ausgrenzungsversuche rhetorischabzuwehren, indem der realpolitisch vertrauenswrdigen Ost-PDSein regierungs-unverantwortlicher Chaotenhaufen im Westen entgegengestellt wird. Im Kontext

    dieser Doppelstrategie steht nun auch die innerparteiliche Selbstverpflichtung zurAbgrenzung von der Linkspartei, die mit Ausnahme des Arbeitnehmerflgels derSPDum Ottmar Schreiner auch alle drei linken Fhrungspersonen Kraft, Ypsilantiund die in den geschrumpften Parteivorstand gewhlte Andrea Nahles konsequentbeibehalten. Dass diese Doppelstrategie aufgeht, ist sehr zu bezweifeln, da dieEntfremdung zwischen Wahlvolk und Parteielite mittlerweile sehr deutlich ausge-prgt und die Glaubwrdigkeit der SPDanhaltenden Schaden genommen hat.6Auchwenn die politischen Gemeinsamkeiten zwischen SPDund CDUheute (noch) grersind als zwischen SPDund Linkspartei, wird an der Basis der Druck steigen, sich der

    soziokonomisch nherstehenden Linkspartei nicht lnger zu verschlieen.Fr eine Linksverschiebung des politischen Diskurses und eine Legitimittskrisedes Neoliberalismus sprechen viele Anzeichen. Hierzu gehren auch die bezeich-nenden berlegungen ber eine Namensnderung des nicht zuletzt durch dieBestechungsaffre um Peter Hartz als Schimpfwort in gesamtgesellschaftlichen Verrufgeratenen Hartz-IV-Reformen. In dieselbe Richtung deuten der Dresdener Parteitagder CDUmit seiner partiellen Zurcknahme des marktradikalen Kurses sowie dieinnerparteiliche Auseinandersetzung in der CDU/CSUber die weitere Ausrichtungder Partei (eine Debatte, in der sogar ehemalige neoliberale Dampfwalzen wie Ole

    von Beust und Christian Wulff zur Sprache der sozialen Gerechtigkeit zurck-finden). Hinzu kommen die Auseinandersetzungen um die lange ignorierte neueArmut in Deutschland, das konservative Eingestndnis einer neuen sozialen Frageund der Klassengesellschaft, welches zum Teil in gegenoffensive Befrwortungenderselben mndet. Die Nervositt der Repressionsbehrden vor dem G8-Gipfelin Heiligendamm, die sich auch in der Identifizierung von Kapitalismuskritik mitTerrorismus zeigt (Bsp. die Hysterie der Debatte um die Begnadigung von ChristianKlar) und medienwirksamen Trotzreaktionen gegen den irrationalistischen Diskurs-verfall und die malose Kriminalisierung der globalisierungskritischen Bewegung

    durch das enfant terribleder CDU, Heiner Geiler, bei seinem Beitritt zuAttacimMai 2007, sind weitere Symptome.

    6 Ein Beispiel fr den Glaubwrdigkeitsverlust der SPDist eine von Infratest dimap durchgefhrteUmfrage zur Heuschrecken-Debatte: Zwei Drittel der Bundesbrger hielten MnteferingsKapitalismuskritik fr berechtigt. Lediglich 25 Prozent hielten sie fr falsch. Gleichzeitig glaubtenfast drei Viertel der 810 Befragten, dass es der SPDnicht darum gehe, eine Debatte ber Fehl-entwicklungen in der deutschen Wirtschaft anzustoen, sondern darum, die Wahlchancen bei derLandtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu verbessern. Spiegel-Online(22.4.2005) berichtete fer-

    ner, dass angesichts der Manahmen der Bundesregierung zum Umbau der Sozialsysteme in denletzten Jahren 56 Prozent der Deutschen die Kritik der SPDan der Wirtschaft fr unglaubwrdighielten.

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    Der Gesellschaftshumus, auf dem die neue Linke gedeihen kann, ist die durch keinglaubwrdiges informationsgesellschaftliches oder Globalisierungsversprechenmehr gezgelte epidemische Abstiegsangst und die zunehmende Sorge ber diebeschleunigten zivilgesellschaftlichen Desintegrationsprozesse. Nicht zuletzt die

    Wahlen in Bremen zeigen deutlich, welche Bedeutung sozialer Gerechtigkeit inDeutschland beigemessen wird, wenn man sieht, dass in dem herabgewirtschaftetenBremen die soziale Gerechtigkeit mit 31%noch vor Arbeitsmarktpolitik undWirtschaftspolitik die wahlentscheidende Frage darstellte. Auch in der im April2006 von Altbundesprsident Richard von Weizscker vorgestellten UmfragePerspektive Deutschland zeigen sich bemerkenswerte progressive Entwicklungen,wie man sie hnlich aus den Vereinigten Staaten kennt. Der Spiegel kommentiertediese mit den Worten: In der deutschen Gesellschaft wchst [] der Wunsch nachsozialer Ausgewogenheit: Eine deutliche Mehrheit von 76 Prozent der Deutschen

    wnscht sich geringere soziale Unterschiede in der Gesellschaft. Vor einem Jahrwaren dies nur 56 Prozent. 38 Prozent wollen auch wieder mehr staatliche Verant-wortung in der sozialen Sicherung, vor einem Jahr waren es noch 32 Prozent. Auchhier gibt es Opferbereitschaft: Der Umfrage zufolge ist eine Mehrheit bereit, hhereSteuern zu akzeptieren, wenn dadurch soziale Unterschiede in der Gesellschaftverringert wrden. (Spiegel-Online, 26.4.2006) Auf die Erosion neoliberalerHegemonie deutet auch hin, wie sehr mittlerweile ein Bewusstsein fr den Zusam-menhang zwischen dem Wohlstand der Nationen und dem Elend der Vlker (vgl.Marx, MEW23, 799) besteht: Wie sehr auch versucht werden mag, den derzei-

    tigen beachtlichen und durch die global gestiegene Nachfrage und die allgemeineKonjunkturentwicklung verursachten Wirtschaftsaufschwung und das symbolischbedeutende Sinken der Arbeitslosenzahlen auf unter 4 Mio als eine Folge der harten,aber ntigen Einschnitte und der neoliberalen Reformpolitik darzustellen, fhrtder Aufschwung keineswegs zu einer Konsolidierung der Groen Koalition. So fandeine Umfrage der ARDvom Jahresanfang heraus: Vom Jahr 2007 erwarten sichdie Deutschen einen Aufschwung, aber kaum persnlichen Profit. 56 Prozent derBundesbrger glauben, dass die Arbeitslosigkeit sinken wird, und sogar 70 Prozent,dass sich die Konjunktur weiter gut entwickeln wird. Trotzdem erwarten nur 23

    Prozent, dass sie von dem anhaltenden Wachstum persnlich profitieren werden.(Spiegel-Online, 4.1.2007) Kurzum, die Ausgangslage fr die seit Juni 2007 als erstegesamtdeutsche Linkspartei seit dem KPD-Verbot bestehende politische Formationist auerordentlich gnstig. Je besser sie dasteht, desto geringer ist zugleich dieGefahr eines deutschen Rechtspopulismus und desto grer werden die Spielrumefr die Erstarkung von sozialen Bewegungen, die Resozialdemokratisierung derSPDund die Entstehung eines gegenhegemonialen postneoliberalen Emanzipa-tionsprojektes.

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    4. Linkspartei und Postneoliberalismus

    Die Abwahl der rotgrnen Regierung war nicht nur der unmittelbar persnliche,weitgehende Abtritt der 68er-Generation von der politischen Bhne, sondern

    auch das unrhmliche Ende des Marsches durch die Institutionen als politischesProjekt mit all den daran geknpften sozialreformerischen Hoffnungen, angefangenbei der Arbeitswelt, der Bildung, der Erziehung usw. Die von der neoliberalenWende verkrperte passive Revolution in den einzelnen Bestandteilen dieserEmanzipationsbewegung hat zu einer passiv-revolutionren Vereinnahmung eman-zipatorischer Ziele gesorgt (flexible Erwerbsbiographien, Kulturliberalisierung,Ende der sexuellen Zwangsmoral, Ende des patriarchalen mnnlichen Brotver-dienermodells, widersprchliche kologische Teilerneuerung des Kapitalismus,Demokratieexport usw.). In diesem Prozess haben sich, um mit Jrgen Habermas

    Prognose vom Anfang der neoliberalen Konterrevolution zu sprechen (1985, 143),die utopischen Energien erschpft, die sich in den 1960er Jahren gegen das fordis-tische Disziplinarregime wandten.

    Mit diesem historischen Schlusspunkt eng verknpft ist eine grundstzliche Krisedes aufklrerischen Fortschrittsbegriffs (sowohl in seiner gradualistisch-sozialdemo-kratischen als auch kommunistisch-revolutionren Variante), die mit dem Beginn derDefensivkmpfe der sozialistischen Arbeiterbewegung in den 1970er Jahren einsetzte,der Linken den Begriff des Fortschritts entfremdet hat, Teile der undialektisch aufdie Destruktionspotenziale der Produktivkraftentwicklung konzentrierten Ex-Linken

    konservativ werden lie und es denkbar machte, die Linke insgesamt als konservativund rckwrtsgewandt erscheinen zu lassen.7Ein neuer offensiver Humanismusbzw. antikapitalistisch-utopischer Geist wird, wenn sich in der Krise des Neolibera-lismus Optionen fr einen progressiven postneoliberalen Pfad ergeben haben, zwarauf hnliche Referenztheoretiker zurckgreifen mgen wie es die 1968er mit denSchriften von Marcuse, Adorno usw. taten, denn diese sind gerade in ihrer logisch-abstrakten antikapitalistischen Befreiungsradikalitt zeitlose Flaschenpost, aber eswird sich dennoch um ein vollkommen neues und anderes Projekt handeln (mssen).Ein solches neues Projekt kann sich in der neuen Linkspartei sinnvoll begrnden,

    gerade weil sie nicht nur historische Altlast, sondern auch Produkt neuer Protestbe-wegungen ist. Die in Lateinamerika und auch hierzulande gefhrte Debatte um einezeitgeme sozialistische Strategie und Gesellschaft knnte in einer solchen Strukturgut gedeihen und von den in einer neuen Linkspartei sich sammelnden Akteuren derVernderung gefhrt werden. Dass die Linkspartei immerhin fr 7%aller jungen undErstwhler eine glaubwrdige Alternative darstellt, ist eines der positiven Verjn-gungszeichen fr eine lange unter Alterungsprozessen leidende Partei.

    Die Erholung der Linken von der Vereinnahmung der Auslufer der 68er-Bewe-gung mag sich hnlich und hnlich langatmig vollziehen, wie das, was auf die

    Kooptation der brgerlich-liberalen Opposition nach 1848 und die Marginalisierung

    7 Vgl. Den Fortschritt neu denken,Das Argument230/1999.

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    der brgerlich-revolutionren Demokraten folgte. Trotz deren symbolisch bedeut-samen bertritts zur sozialistisch-demokratischen Tradition der Arbeiterbewegungdauerte es in der Zeit der Restauration nach dem Scheitern der brgerlichen Revo-lution in Deutschland ein Vierteljahrhundert und bedurfte es der Entfaltung der

    Widersprche der kapitalistischen Gesellschaft, der negativen Integration dersich allmhlich zur Klasse konstitutierenden Arbeiterschaft und der mit der GroenDepression ab 1873 noch verschrften spezifisch-deutschen Klassensymbiosezwischen Junkertum und Bourgeoisie, bis es mit der Hilfe von Marx und Engelsgelang, eine eigene Sprache in Abgrenzung zum brgerlich-demokratischen Denkenzu entwickeln und somit erneut die Frage nach der gesellschaftlichen Emanzipationzu stellen. Eine solche Auseinandersetzung in diesem Fall ber das, was von 1968bleibt, wird auch fr den modernen Sozialismus notwendig sein.

    5. Fazit: Rechtspopulismus und die europische historische Verantwortung derLinkspartei

    Aus der historischen Distanz wird man den Aufstieg der Linkspartei in Deutsch-land als das historische Ereignis zu wrdigen wissen, das es darstellt. Die deutscheNachkriegsparteienlandschaft ist sptestens seit der Bremenwahl nicht mehr die alte.Dabei ist es wichtig, zwei klare Unterscheidungen vorzunehmen: Zum einen einehistorisch-geographische Unterscheidung und zum anderen eine historisch-soziale.

    Von auen und formal betrachtet mag die historische Transformation des deut-

    schen Parteiensystems zu einem Fnfparteiensystem mit zwei bzw., falls dieGrnen dazugezhlt werden, drei konkurrierenden Parteien auf der Linken wieeine westeuropische Normalisierung Deutschlands im Rahmen von (annherndproportionalen) Mehrheitswahlrechten erscheinen (Norwegen, Schweden, Finnland,Frankreich, Italien usw.). Die Vernichtung der KPDim westdeutschen Frontstaatdes Kalten Krieges hatte eine andere Entwicklung zur Folge als in den anderenverschiedenen Varianten kontinentaleuropischer Mehrheitswahlsysteme, in denenaus den antifaschistischen Widerstandsbewegungen des Zweiten Weltkriegs starkekommunistische Parteien entstanden und das Paradox, dass in den Lndern in

    denen die sozialistisch-revolutionren Bestrebungen am strksten waren, mehr oderweniger gewaltsam der Kapitalismus eingefhrt wurde, whrend den Lndern mitweniger sozialistisch geprgten Widerstandsbewegungen in Osteuropa im Kontextdes Kalten Krieges staatssozialistische/planwirtschaftliche Systeme bergestlptwurden.Die Linkspartei ist somit nicht ein geschwchtes berbleibsel aus vergan-genen Epochen mit einem gealterten Jungbrunnen aus den 1960er Jahren, sonderneine Parteineugrndung, die sich inmitten einer allmhlich Konturen annehmendenHegemoniekrise des Neoliberalismus vollzieht. Dies ist in Europa, mehr noch in allenfortgeschritten kapitalistischen Lndern bisher einzigartig, da sich hier anders als bspw.

    in der lateinamerikanischen Peripherie der wachsende gesellschaftliche Widerstandnoch keine erfolgreiche politische Form gegeben hat und wie die Frankreichwahlenzeigen politisch auf schwachen Beinen steht. Dass sich in Deutschland eine

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    politische Linkskraft bilden konnte, spricht nicht fr die vergleichsweise erfolg-reichere Hegemoniefhigkeit eines alternativen linken Projekts, sondern ist denBesonderheiten der jngeren deutschen Geschichte geschuldet. Die Behebung derMngel der WASGals politischer Formation mit zunchst deutlich eingeschrnktem

    Wirkungskreis ist dem Kollateralschaden der deutschen Einigung (Detje/Schmitt-henner 2006, 14) zu verdanken. Damit ist gemeint, dass die Ausgangslage der PDSfr eine postkommunistische Transformation singulr gewesen ist, da sie sich nicht,wie ihre Schwesterparteien in Osteuropa, zur sozialdemokratischen Partei nachwestlichem Modell transformieren konnte und auch nicht in die Lage versetzt war,den Transformationsprozess politisch zu gestalten, sondern sich in eine objektivePosition links von der SPDgedrngt sah. Die in Ostdeutschland bereits unmittelbarnach der Wende sprbaren Folgen von Privatisierung, Deindustrialisierung, Informa-lisierung, Prekarisierung und sozialer Diskriminierung sowie die Erinnerung an ein

    leidlich funktionierendes System der Vollbeschftigung und sozialen Absicherung aufniedrig-nivelliertem Niveau haben der PDSals demokratisch-sozialistischer Parteieinen bemerkenswerten und ununterbrochenen Wiederaufstieg ermglicht, den (mitder Ausnahme eines pltzlichen und gesondert zu analysierenden Wahlerfolgs derDVUin Sachsen-Anhalt 1999) einzig und allein Regierungsbeteiligungen (RB) oder-tolerierungen (RT) zurckgeworfen haben. Betrachtet man die Wahlergebnisse derostdeutschen Lnder seit der Wiedervereinigung, dann zeigt sich, dass die PDSvonLandtagswahl zu Landtagswahl ihr Ergebnis in etwa um jeweils 5%bis auf etwa einViertel der Whlerstimmen steigern konnte.

    Brandenburg: 13,4/18,7/23,3/28,0Mecklenburg-Vorpommern: 15,7/22,7/24,4/16,4 (nach RB)/16,8 (nach RB)Sachsen: 10,2/16,5/22,2/23,6Sachsen-Anhalt: 12,0/19,9/19,6(DVU: 12,9)/20,4 (nach RT

    deutlicher Rechtsruck)/24,1Thringen: 9,7/16,6/21,3/26,1Berlin: 9,2/14,6/17,7/22,6/13,4 (nach RB)

    Mit ihrer aus dieser Strke in Ostdeutschland resultierenden (Teil-)Reprsentation

    auf der Ebene des Bundestags (als Gruppe, Fraktion oder mit Direktmandaten einge-zogenen Einzelabgeordneten) ermglichte die PDS(nicht zuletzt finanziell berdie Rosa-Luxemburg-Stiftung) eine berwinterung sozialistischer Reprsentation,Politik und Projekte auch im Westen. Gleichzeitig zeigte sich eindeutig, dass dieWestausdehnung der PDShistorisch gescheitert war, denn dort lag sie trotz intensiverBemhungen bei allen Wahlen bis zuletzt deutlich unter 2%.

    Die historische Entwicklung von Parteien links von der SPDzeigt deutlich,welchen besonderen und historischen Charakter der Einzug in den Bundestag und diewohl mittelfristig nicht mehr aufzuhaltende Westausdehnung hat. Denn seit dem KPD-

    Verbot ist keine sozialistische Partei auch nur annhernd in die Lage versetzt worden,die Fnfprozenthrde nicht nur dauerhaft, sondern berhaupt einmal zu berspringen.Nicht einmal in der Hochphase der Linken zwischen 1965 und 1975 gelang dies.

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    Die 1968 gegrndete DKPvermochte es nicht einmal mit Schtzenhilfe der DDR,mehr als nur lokal oder maximal regional Einfluss zu gewinnen. Whrend die DKPin den 1970er Jahren noch sechs Wahlerfolge zwischen 0,9 und 3,1%in Nordwest-deutschland erzielen konnte (vier davon in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg),

    lagen die Wahlergebnisse der DKPseit 1978 mit der Ausnahme von Bremen undHamburg, wo man noch zweimal 0,6 und einmal 0,7%der Stimmen gewinnen konnte,deutlich unter 0,5%. Auch die SPD-Dissidenten derDemokratischen Sozialisten(DS)scheiterten in den frhen 1980er Jahren, allerdings dadurch mitverursacht, dass Teileder Linken sich den neugegrndeten Grnen zuwandten nicht zuletzt Schmidt-Gegner der Friedensbewegung gegen denNATO-Doppelbeschluss. Dass der Fusionvon WASGund PDSeine deutliche Katalysatorfunktion innewohnt, bei welcher derGesamterfolg weit mehr als nur die Summe der einzelnen Teile ist, zeigt sich u.a.auch an den ersten Wahlniederlagen der WASG, die in zwei ihrer StammlnderNRW

    und Baden-Wrttemberg deutlich unter der 5%-Hrde landete (2,2%bzw. 3,1%).Der Aufstieg der Linkspartei ist keineswegs das Ende einer historischen poli-tischen Linksverschiebung des deutschen Parteiensystems. Es bedarf, wie gesagt,schon eines bornierten institutionalistischen Verstndnisses von Parteien, dieneoliberale Transformation der SPDund die Einschreibung der Grnen in denNeoliberalismus zu ignorieren und eine rein rechnerische Mehrheit fr Rot-Rosa-Grn fr links zu halten. Im Kampf gegen das neoliberale Einheitsdenken stehtdie Linkspartei vorerst allein auf weiter Flur. Zudem ist es noch nicht ausgemacht,wie es ihr gelingen kann, in den kommenden Jahren im Falle von erneuten Regie-

    rungsbeteiligungen, die bei einem Whlerzuspruch von annhernd 30%kaum zuvermeiden sein werden, glaubwrdig zu bleiben, wobei es eben jene Glaubwrdig-keit ist, die mit Regierungsbeteiligungen in ostdeutschen Bundeslndern gefhrdetworden ist und den Aufstieg von rechtsextremen Parteien begnstigte, mit denenman zum Teil um die gleiche Whlerschaft konkurriert (vgl. nher Wiegel 2006,66ff). Regierungsbeteiligungen mssen also unter konkrete Magaben linker Politikgestellt werden, wie sie der zuknftige eine Parteivorsitzende Lafontaine formuliert.Zentraler allerdings noch als die Glaubwrdigkeitsfrage ist die damit verknpfteFrage nach den Mglichkeiten sozialistischer Realpolitik heute.

    Mit der Etablierung einer fnften Partei hat eine historische Transformation desdeutschen Parteiensystems stattgefunden. Vor dem Hintergrund der gegenwrtigenGemengelage und Krfteverhltnisse ist anzunehmen, dass Groe Koalitionen eherdie Regel als die Ausnahme sein werden. Es sei denn, die neue Linkspartei wrdeeinen hnlichen Weg wie zuvor die Partei der Grnen gehen. Eine solche Wiederho-lung der Geschichte als Farce kann aber aus historisch-sozialen Grnden weitgehendausgeschlossen werden. Erstens ist die Linkspartei Produkt des Abschwungs desNeoliberalismus und nicht, wie seinerzeit die Grnen, eine konstituierende Produk-tivkraft aus der Phase seines Aufstiegs und seiner Konsolidierung. Zweitens spricht

    hiergegen die grundstzlich und von Anfang an verschiedene Klassenbasis vonLinkspartei und Grnen. Whrend die Grnen sich aus den sogenannten post-materiellen aufgeklrten, kulturlinken Brgern in spe zusammensetzten und heute

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    konsequenterweise den hchsten Einkommensdurchschnitt aller Parteien haben undzur Hauptkonkurrentin der FDPgeworden sind, hat die ursprnglich stark white-collar-geprgte Linkspartei in den letzten Jahren von Jahr zu Jahr eine eindeutigereKlassenbasis erlangt. Die PDSerhlt zunehmend und berproportional Zuspruch

    von Arbeitern und Arbeitslosen. Diese Tendenz hat sich auch in Bremen besttigt,wo die prozentualen Anteile an Arbeiterstimmen (12%) und Arbeitslosen (21%)mit denjenigen der Bundestagswahl identisch waren. Die bewusste bernahme vonGewerkschaftsforderungen und konsequente Gegnerschaft zu Hartz IVzahlt sichaus.

    Die Glaubwrdigkeit ist dabei von entscheidender Bedeutung, um im Gegenzugzur schwindenden klassenbergreifenden Integrationsfhigkeit der ehemaligenVolksparteien gesellschaftliche Akzeptanz zu finden. Die europaweit feststellbareZerfaserung der groen Volksparteien, die sich in der historischen Zunahme von

    Grokoalitionsregierungen in Europa widerspiegelt, bedeutet auch das Entsteheneiner nichtreprsentierten und nichtwhlenden (Gelegenheits- und Protest-)Whler-schaft. Die Linkspartei wird sich auch daran messen lassen mssen, wie es ihr gelingt,Nichtwhler wieder zu einer Partizipation an der Gesellschaft und der Politik zubewegen. Momentan gelingt es ihr leidlich, Nichtwhler zu mobilisieren. Den Abflussvor allem ehemaliger SPD-Whler an die Nichtwhlerpartei fngt sie nur zum Teilab, und die Wahlbeteiligung in Deutschland sinkt. Dabei hat die Nichtwhlerparteieinen ausgesprochenen Klassencharakter. Dort, wo ehemals sozialreformerischeParteien die Reprsentanz der kleinen Leute aufgeben, so