Nachlese zur 100 ‘Jahr’ Feier in Edinburgh: Die Sterblichkeit in den letzten 100 Jahren

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Nachlese zur 100 ]ahr Feier in Edinburgh: Die Sterblichkeit in den letzten 100 ]ahren Von Wolfgang Sachs (Diisseldorf) Anl~if~lich der 100-Jahr-Feier der Faculty of Actuaries in Edinburgh ist auch tiber zwei Gegenst~inde wissenschaftlich diskutiert worden, n~imlich fiber die Sterblichkeit in den letzten 100 Jahren und tiber die Versicherung ohne Ge- winnanteil. Diese Er/Srterungen erhielten dutch die Anwesenheit yon Fach- kollegen aus 22 L~indern internationalen Rang. Die Lebensversicherung ohne Gewinnanteil besitzt ftir uns Deutsche kaum aktuelle Bedeutung, haben wir uns doch infolge der abnormen Zinsverh~ilt- nisse in Deutschland yon ihr fast v611ig abwenden mtissen. Der Mehrzahl der deutschen Kollegen wird deshalb das ganze kurze Resum~ genfigen, clas der Schreiber dieser Zeilen in Heft 1, Bd. III dieser Bl~.tter gab. Um so gr~5- f~ere Bedeutung hat ftir den deutschen Versicherungsmathematiker gerade jetzt das andere Thema: Die Sterblichkeit in den Ietzten lOOJahren, das unter dem Aspekt er~Srtert wurde, was denn nun auf diesem Gebiet in den n~.chsten Jahrzehnten zu erwarten set. Das ist derselbe Gegenstand, der auch bet den innerdeutschen Er~Srterungen fiber die Sozialreform eine erhebliche Rolle ge- spielt hat. Da sich die deutschen Versicherungsmathematiker in diesem Zu- sammenhang leider gegen politische Entstellungen zur Wehr setzen muf~ten, besteht einiger Anlat~, den yon unserer Gesellschaft in der Offentlichkeit vertretenen Standpunkt noch einmal durch die tibersichtliche und Mare Dar- stellung zu unterbauen, die die Tatsachen in Edinburgh gefunden haben. 1) Die der Diskussion zugrunde liegende Ver/Sffentlichung von Mr. R. L1. Gwilt ,Mortality in the past hundred years" er~Srtert die Sterblichkeitsentwi&lung in Europa im Zeitraum zwischen 1850 und 1950. An der Spitze steht eine kurze Beschreibung des politischen Zustandes Europas vor 100 Jahren. Es folgt eine Obersicht fiber die Entwicklung der Sterblichkeitss~itze in alien den L~indern, die bereits w~.hrend des ganzen Jahrhunderts Sterblichkeits- statistik betrieben haben und gleichzeitig keinen besonders erheblichen poli- tischen Erschtitterungen ausgesetzt waren. Es sind dies D~nemark, England und Wales, Frankreich, die Niederlande, Norwegen und Schweden. Unn~Stig zu sagen, daft in s~imtlichen L~indern w~ihrend der erw~ihnten 100 Jahre ein erheblicher Rtickgang der Sterblichkeit eingetreten ist, und zwar nahm nattirlich ffir M~inner und Frauen gleichermaBen die Sterblichkeit in den 1) Siehe Transactions of the Faculty of Actuaries, Band 24, 1956. 137

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Nachlese zur 100 ]ahr Feier in Edinburgh: Die Sterblichkeit in den letzten 100 ]ahren

Von Wolfgang Sachs (Diisseldorf)

Anl~if~lich der 100-Jahr-Feier der Faculty of Actuaries in Edinburgh ist auch tiber zwei Gegenst~inde wissenschaftlich diskutiert worden, n~imlich fiber die Sterblichkeit in den letzten 100 Jahren und tiber die Versicherung ohne Ge- winnanteil. Diese Er/Srterungen erhielten dutch die Anwesenheit yon Fach- kollegen aus 22 L~indern internationalen Rang. Die Lebensversicherung ohne Gewinnanteil besitzt ftir uns Deutsche kaum aktuelle Bedeutung, haben wir uns doch infolge der abnormen Zinsverh~ilt- nisse in Deutschland yon ihr fast v611ig abwenden mtissen. Der Mehrzahl der deutschen Kollegen wird deshalb das ganze kurze Resum~ genfigen, clas der Schreiber dieser Zeilen in Heft 1, Bd. III dieser Bl~.tter gab. Um so gr~5- f~ere Bedeutung hat ftir den deutschen Versicherungsmathematiker gerade jetzt das andere Thema: Die Sterblichkeit in den Ietzten lOO Jahren, das unter dem Aspekt er~Srtert wurde, was denn nun auf diesem Gebiet in den n~.chsten Jahrzehnten zu erwarten set. Das ist derselbe Gegenstand, der auch bet den innerdeutschen Er~Srterungen fiber die Sozialreform eine erhebliche Rolle ge- spielt hat. Da sich die deutschen Versicherungsmathematiker in diesem Zu- sammenhang leider gegen politische Entstellungen zur Wehr setzen muf~ten, besteht einiger Anlat~, den yon unserer Gesellschaft in der Offentlichkeit vertretenen Standpunkt noch einmal durch die tibersichtliche und Mare Dar- stellung zu unterbauen, die die Tatsachen in Edinburgh gefunden haben. 1) Die der Diskussion zugrunde liegende Ver/Sffentlichung von Mr. R. L1. Gwilt ,Mortality in the past hundred years" er~Srtert die Sterblichkeitsentwi&lung in Europa im Zeitraum zwischen 1850 und 1950. An der Spitze steht eine kurze Beschreibung des politischen Zustandes Europas vor 100 Jahren. Es folgt eine Obersicht fiber die Entwicklung der Sterblichkeitss~itze in alien den L~indern, die bereits w~.hrend des ganzen Jahrhunderts Sterblichkeits- statistik betrieben haben und gleichzeitig keinen besonders erheblichen poli- tischen Erschtitterungen ausgesetzt waren. Es sind dies D~nemark, England und Wales, Frankreich, die Niederlande, Norwegen und Schweden. Unn~Stig zu sagen, daft in s~imtlichen L~indern w~ihrend der erw~ihnten 100 Jahre ein erheblicher Rtickgang der Sterblichkeit eingetreten ist, und zwar nahm nattirlich ffir M~inner und Frauen gleichermaBen die Sterblichkeit in den

1) Siehe Transactions of the Faculty of Actuaries, Band 24, 1956.

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jungen Altersstufen in der Regel prozentual stark, dem absoluten Betrage nach aber weniger erheblich ab, w~ihrend wir in den h~Sheren und hohen Altersklassen zwar prozentual schw~ichere, dem absoluter~ Betrag nach aber sehr hohe Sterblichkeitsreduktionen finden. (l~berall in der westlichen Welt betrachtet man infolgedessen, wie das auch in der Diskussion wiederholt zum Ausdruck kam, die hier vorliegende Problematik im wesentlichen als eine solche der Rentenversicherung.) Natiirlich kann von einer viSllig paral- lelen Entwicklung in allen L~indern schon deshalb nicht die Rede sein, weil der Ausgangszustand starke Unterschiede aufwies. Der griSf~ere Tell dieser Unterschiede war aber bereits um die Jahrhundertwende verschwunden. 2) Zwar bestehen auch heute noch gewisse Abweichungen zwischen den Ver- h~ilmissen in den griSf~eren L~ndern einerseits und denen in den kleineren andererseits; im ganzen ist aber doch unverkennbar, wie sich die Verh~iltnisse immer st~irker aneinander ann~ihern. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Ursache dafiir in all den Erscheinungen sucht, die iiblicherweise in die Bemerkung zusammengefaf~t werden, daf~ unsere Welt yon Tag zu Tag kleiner wird. Das wird nut noch unterstrichen, wenn man die Betrachtung, wie es dann in der Diskussion geschehen ist, durch die Sterblichkeitserfahrun- gen anderer L~inder, auch aus Elbersee, erg~inzt. Von besonderem Interesse f~ir uns ist die l'lbersicht des 1950 erreichten Standes der Sterblichkeit in den verschiedenen L~indern, weil sich daraus ablesen l~it~t, daft die in Deutschland beobachtete Sterblichkeit noch l~ingst nicht an der unteren Grenze liegt. In der folgendert Tabelle sind die deut- schen Sterblichkeitss~itze der Jahre 1949--1951 mit den jeweils niedrigsten anderer L~inder zur gleichen Zeit verglichen:

Alle S~itze in %o Altersgruppe 25--29 30--34 35--39 40--44 45--49 50--54 55--59 60--64 65--69 70--74

Manner Land Deutschland 2,3 2,4 3,0 Niederlande 1,4 1,4 1,8 Norwegen

Deutschland 2,5 1,8 2,2 Niederlande 0,9 1,1 Norwegen 1,4

4,2 6,4 10,1 15,1 22,5 35,5 57,1 2,7 4,3

7,0 10,4 15,7 25,2 41,5

Frauen 2,9 4,3 6,4 9,7 16,1 28,2 49,8

2,1 3,2 4,9 7,4 12,1 20,2 35,8

Wenn man sich fragt, wie lange es nach den Rueffschen Untersuchungen dauern wird, bis die deutsche Sterblichkeit diese niedrigen S~itze erreicht haben wird, so ergibt sich, daf~ das bei den M~innern in der Zeit zwischen 1975 und 1990, bei den Frauen in der Zeit zwischen 1970 und 1985 zu er- warten ist. Anders ausgedriickt: der n~Stige Spielraum fiir diejenige Sterb-

2) Die in der Diskussion ge~iuBerte Vermutung, die grof~e HiShe dieser Unterschiede um 1850 sei in verschieden starker Auswanderung begriindet, wiirde wohl eine n~ihere Untersuchung verdienen.

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lichkeitsabnahme, mit der nach Ansicht der deutschen Versicherungsmathe- matiker gerechnet werden mug, ist also fiir die Zeit, die fiir die Gestaltung unserer sog. Sozialreform die wesentlichste ist, vorhanden, selbst wenn es nicht m/Sglich sein sollte, im Laufe der weiteren Zukunft die anderswo heute schon geltenden Sterblichkeitss~itze in Deutschland noch zu unter- schreiten. Eine weitere fiir die deutschen Versicherungsmathematiker interessante Untersuchung bezieht sich auf das Verh~iltnis zwischen der M~inner- und der Frauensterblichkeit. Sie zeigt, daf~ in den grot~en L~indern (anders als in den kleineren) in dieser Hinsicht dieselben Verh~iltnisse wie in Deutschland ob- walten, wo das erw~ihnte Verh~iltnis bekanntlich im sechsten und siebenten Lebensjahrzehnt immer ung~instiger wird. Die Untersuchung ist abgerundet durch l~bersichten iiber die Bedeutung der verschiedenen Todesursachen in den verschiedenen L~indern und eine grof~e Anzahl graphischer Dar- stellungen. Aus der Diskussion, in der Angeh~Srige der verschiedensten L~inder sprachen, ist vor allen Dingen bemerkenswert, dai~ man in England in die niedrigen Sterblichkeitss~itze der deutschen Bev~51kerungssterbetafel 1949--1951 Zwei- fel setzt. Der Schreiber dieser Zeilen h~ilt diese fiir unberechtigt, aber natiJr- lich ist eine Betrachtung der Sterblichkeit in dreij~ihrigen Zeitabschnitten angesichts der bekanntlich vierj~ihrigen Grippeperioden besonders wenig ge- eignet, um den langfristigen Trend der Entwicklung erkennen zu lassen, w~ihrend umgekehrt auf diese Weise kurzfristige Schwankungen besonders stark verdeutlicht werden. Ein Amerikaner machte n~ihere Angaben dariiber, mit welcher j~ihrlichen Sterblichkeitsabnahme man zur Zeit in USA glaubt rechnen zu m/.issen. Die yon ihm angegebenen Prozents~itze unterscheiden sich, wie eine Nachrechnung zeigt, nicht wesentlich von denen, die in der Rueffschen Untersuchung fiJr Deutschland ermittelt wurden. Wesentlicher als die Ziffern ist fiir uns die anschlief~end yon ihm getroffene Feststellung, man babe diese Untersuchungen auf der Einsicht basiert, daf~ far die Renten- versicherung ,,jede verniinflige Annahme iiber die kiinflige Sterblichkeits- abnahme besser ist als keine". Das haben also die Verslcherungsmathemati- ker der ganzen Welt auch zur Vorbereitung unserer Sozialreform durch die zust~indigen Beh/~rden zu sagen.

Eingegangen am15. Februar 1957.

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