Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich,...

40
Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT www.schlauer. wdr.de Arbeitspaket mit Unterrichtsmaterialien ab Klasse 9

Transcript of Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich,...

Page 1: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Netzwerk Medienkompetenz des wdr

Der Fernsehfilm WUT

www.schlauer.wdr.de

Arbeitspaket mit Unterrichtsmaterialien ab Klasse 9

Page 2: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Inhalt

3 Vorworte Prof. Gebhard Henke Dr. Michael Troesser

4 WUT im Unterricht Hinweise zum Umgang mit dem Medienpaket Nutzung der beiliegenden DVD

5 Anregungen für den Fachunterricht

6 WUT als Medienereignis Laborversuch in einem Land, das erwachsen wird

8 Der Inhalt: WUT in 22 Bildern

Die Figuren in WUT

12 Die Figur Can

13 Die Figur Felix

14 Die Figuren Simon und Christa Laub

15 ArbeiTSbLATT Steckbriefe

16 Hintergründe von WUT Von hilflosen eltern, machtlosen Opfern und bodenlosen Tätern – erfahrungen im Schulalltag

18 ArbeiTSbLATT bildungsperspektiven von jungen Migranten in Deutschland

19 »Abziehen« in WUT »Abziehen« – Ursache und Wirkung eines Phänomens

21 »Abziehen« – rechtliche Hintergründe

22 ArbeiTSbLATT »Abziehen«

23 ArbeiTSbLATT »Abziehen« (Cluster)

24 Wirkung von WUT ergebnisse einer qualitativen Studie mit deutschen und türkischen Jugendlichen

28 ArbeiTSbLATT rollenmodelle: Väter und Söhne

29 Die Wirkung von Sprache in WUT Seriöse Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen

30 ArbeiTSbLATT Wie wirken sich Sprache und Körpersprache aus?

31 Filmische Stilmittel von WUT Von den Fesselungskünsten eines Thrillers – mit welchen Stilmitteln WUT seine Geschichte erzählt

35 ArbeiTSbLATT Szenenanalyse

36 ArbeiTSbLATT Stilmittel: Die Sprache der Kamera

37 ArbeiTSbLATT einstellungsgrößen

38 Impressum

39 DVD

Page 3: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut ist ein Zustand, der uns im Ganzen ergreift – die Gründe sind vielfältig. Wütendes Verhalten erzeugt Angst. Auch wer wütet, hat Angst. Wer wütend ist, ist gegenüber dem Argument, dass Wut schließlich keine Probleme löse, nicht zugänglich. In Deutschland führen soziale Unterschiede, Aus-grenzung und Abschottung von Migranten, die Angst, etwas abgeben zu müssen, und die Angst, etwas nicht ab-zubekommen, zu gewalttätigen Verhaltensweisen. Gewalt ist für viele ein wichtiges und angstbesetztes Thema. Der öffentlich-rechtliche Fernsehfilm sieht es als seine Aufgabe an, politische und soziale Themen aufzu-greifen und Geschichten zu erzählen, die im Hier und Jetzt spielen. Diese Fernsehfilme müssen radikale Fragen stellen und radikale Antworten geben können. Nicht jeder Bei-trag kann und will probate Mittel bereithalten, um die dargestellten Konflikte zu lösen. Das Drama spitzt Situa-tionen zu und macht in der Eskalation Probleme deutlich und begreifbar. In der Geschichte des Fernsehfilms im Westdeut-schen Rundfunk gab und gibt es immer wieder hervor-ragende Beispiele, die etwas gewagt und Grenzen über-schritten haben. Es entstanden Zumutungen, die polari-sierten und Denkanstöße gegeben haben. Denken Sie an Filme wie Das Millionenspiel, Smog, Die Konsequenz oder Schande. Der Fernsehfilm WUT von Max Eipp (Buch) und Züli Aladag (Regie) – Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker, Pro-duzent: Christian Granderath – gehört in diese Reihe. WUT hat Diskussionen ausgelöst und nicht nur Zu-stimmung gefunden. Dennoch ist es ein Film, der nicht nur von einem großen (Familien-)Publikum gesehen werden sollte, sondern auch im Kreis von Schülerinnen und Schülern gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern. Ich freue mich über die exzellente Qualität dieses Filmes und die – auch durch diesen Film entbrannte – fruchtba-re Diskussion über das Miteinanderleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft in Deutschland.

prof. gebhard henke

© w

dr/b

etti

na F

ürst

-Fas

tré

© p

riva

t

Wann deckt sich schon mal mediale Wirklichkeit eines Fernsehfilms eins zu eins mit der harten Realität vor Ort? Und dann noch zum Thema Migration, Gewalt und Jugendliche! WUT hat mit seinem Stoff und dessen Umsetzung den Nerv getroffen, weil er nicht nur ein Spiegelbild von Jugendkultur darstellt, sondern von einer gesamten Wohlstandsgesellschaft mit hohem Migrantenanteil und all ihren Konflikten zwischen Dönerbude und Villenviertel. Ein aktueller Kohlhaas, der polarisiert, Ängste schafft und vor lauter Jugendschutz erst einmal in die späten Abendstunden verbannt wurde. Jugendschutz ist selten alltagstauglich, denn in ihrem Alltag erleben die jungen Menschen Wut in tausendfachen Facetten. Jetzt traut sich der wdr das, was sich die ard bei der Erstausstrahlung nicht getraut hatte, nämlich den Film um 20.15 Uhr zu zeigen. Jetzt kommt der Film endlich da an, wo er von Beginn an hingehört hätte, nämlich in die Köpfe der Jugendlichen, und zwar als geballtes Medienpaket für die Schule, wo die jungen Menschen fast ebenso viel Zeit zubringen wie vor dem Fernseher. Um dieses brisante Alltagsthema behutsam mit den Schülerinnen und Schülern aufzuarbeiten, bietet das Arbeitspaket WUT zahlreiche Möglichkeiten, ob als Szenenplan mit ausgewählten Filmfotos oder als Arbeitsblatt zu der Figur des Felix oder des Can. Derartige Anregungen für den Unterricht sind Me-dienbildung pur. Die Unterrichtseinheiten ab Klasse 9 sollen dazu beitragen, Schule lebensnah zu gestalten und durch eine vielschichtige Diskussion beider Seiten eine Brücke zu bauen zwischen den Cans und Felixen im Klassenzimmer und auf der Straße. Wenn das Medienpaket mit dem gesamten Film auf DVD auch nur in Ansätzen dazu beiträgt, Unterricht so spannend zu gestalten, dass sich dadurch das Verständ-nis zwischen den sozialen und ethnisch-kulturellen Lebenswelten der Jugendlichen verbessert, hätte der wdr mit dem Material schon viel erreicht!

dr. michael troesser

Prof. Gebhard Henke, Leiter des Programm-bereichs Film, Unter-haltung und Familie des wdr

Dr. Michael Troesser, Medienpädagoge, stellv. Leiter des Medien-zentrums rheinland

ar

bei

tspa

ket

wu

t

Page 4: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Hinweise zum Umgang mit dem Medienpaket

Das Medienpaket zum Fernsehfilm WUT eignet sich für alle Schulformen, vor allem in der Sekundarstufe I ab Klasse 9, aber auch für den Einsatz in der Sekundar-stufe II. Es ist fächerübergreifend aufgebaut und kann in den Fächern Deutsch und Kunst sowie in den gesell-schaftswissenschaftlichen Fächern Politik und Sozial-kunde bzw. Sozialwissenschaften eingesetzt werden. Das Medienpaket ist modular angelegt und berücksich-tigt vorhandene Differenzierungen der Schüler nach Alter, Erfahrung und Wissensstand. Einzelne Teile und Themen können auch dann, wenn nur wenig Zeit zur Verfügung steht oder wenn die Filmthematik in bereits feststehende Unterrichtsplanungen integriert werden muss, für sich genommen sinnvoll in den Unterricht einbezogen werden. Das Medienpaket geht von den Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern mit den Problemen des Zusammenlebens un-terschiedlicher Nationalitäten, Kulturen und unter-schiedlicher sozialer Herkunft aus. Viele kennen bereits aus der Grundschulzeit die Situation des »Abziehens« und »Abgezogenwerdens«. Wie kann man die Mauer des Schweigens durchbrechen, wie mit diesen Kon-flikten offen umgehen, wie können die verschiedenen Beteiligten zur Deeskalation von Gewalt beitragen? Die Materialien tragen den vorhandenen Richt-linien und Kernlehrplänen aller Schulformen Rech-nung. Besonders für die Klassen 9 und 10 wird erwartet, dass die Texte der Massenmedien verarbeitet werden können, dass die dafür notwendige Terminologie ver-mittelt wird und dass medial vermittelte Texte unter-sucht werden. Der Film WUT ist deshalb für diese Aufgaben besonders gut geeignet, weil er polarisiert, weil er span-nend erzählt wird und weil er die im Medienpaket zur Diskussion gestellten Themen hautnah vermittelt und zur Auseinandersetzung mit ihnen geradezu zwingt.

Ulrike Ries-Augustin Leiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des wdr

FLirT eNGLiSHFernsehen für die Schule: im Frühjahr 2007 startete der wdr ein englisch Programm speziell für Hauptschulen. in FLirT eNGLiSH geht es um die Liebes-geschichte eines jungen Kölners und einer Londonerin. Mit englisch und Deutsch als Verständigungssprachen, viel Witz und einer großen Spur roman-tik bietet die 12-teilige Serie einen leichteren Zugang zur Fremdsprache englisch. v. l.n.r. Julie Selgado (Julie), Manuel reimer (Alex), Shefali Verma (Nina) und Cem Tekin (Can).

© w

dr/D

irk

bor

m

WUT im Unterricht

WUT – auch ein Fall für den Jugendschutzbeauftragten

Der Film Wut hat mich persönlich berührt und beein-druckt. Wohl über kaum einen Fernsehfilm wurde in den letzten Jahren vor und nach seiner erstausstrahlung so ausführlich und intensiv in der Presse diskutiert. Von Anfang an war mir klar: dieser Film ist künst-lerisch außergewöhnlich, dieser Film provoziert, dieser Film zeigt einen Ausschnitt gesellschaftlicher realität, wie wir ihn nicht gerne sehen (wollen), dieser Film ist nichts für schwache Nerven! »ein Film der einfache Antworten verweigert«, schrieb später die Funkkor-respondenz. Der gesellschaftliche Anspruch des Films lag auf der Hand, ebenso der Wunsch der redaktion, ein solches Meisterstück einem möglichst großen Publikum in der Fernseh-Primetime, also um 20.15 Uhr, zu zeigen. War dies aber auch in einklang zu bringen mit unseren öffentlich-rechtlichen Programmrichtlinien und den Kriterien zur Sicherung des Jugendschutzes, in denen es heißt, dass die Fernsehprogramme der ard-Anstalten so zu gestalten sind, dass sie bis 22.00 Uhr von der gesamten Familie gesehen werden können? Lange und sorgfältig haben die Programmverant-wortlichen mit dem Jugendschutzbeauftragten, dem integrationsbeauftragten und dem Justiziariat des wdr auch über die Frage diskutiert, welche Wirkung dieser Film wohl auf junge Zuschauerinnen und Zuschauer haben würde. Sind 12-Jährige in der Lage diesen Film zu verkraften und zu verstehen? Oder darf er wegen seiner Spannungsdichte und brutalität erst ab 22.00 Uhr aus-gestrahlt werden? Am ende war man sich einig, dass der öffentlich-rechtliche rundfunk geradezu verpflichtet ist, qualitativ herausragende Filme, die von solcher gesellschaftlichen relevanz sind, zur besten Sendezeit anzubieten. Um aber auch den belangen des Jugend-schutzes rechnung zu tragen, wurde beschlossen, dem Film eine begleitende Ansage voranzustellen und im Anschluss eine einordnende Diskussionssendung zur Thematik folgen zu lassen.

Rainer AssionJugendschutzbeauftragter des wdr

Mehr zum Thema Jugendmedienschutz im wdr finden Sie unter: www.wdr.de/unternehmen/tv_radio/jugendmedienschutz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

Page 5: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

GUTeN MOrGeN, Herr GrOTHeUnterricht im Film: Der wdr-Fernsehfilm erzählt von dem Lehrer Michael Grothe (Sebastian blomberg), der Deutsch an einer berliner Haupt- und realschule unterrichtet. Grothe liebt seinen beruf sehr. Obwohl er letztendlich scheitert, bleibt die Hoffnung, etwas in den Schülern bewegt zu haben.

Anregungen in Stichworten

Stichworte notieren (Techniken: Cluster und Mindmap)

elemente der Filmsprache kennen lernen, zum beispiel: - Filmgattungen und spezifische Merkmale, Charakterisierung der Protagonisten, erzeugung emotionaler Wirkungen, Verhältnis Filmzeit/realzeit, erzählperspektive

Personenbeschreibung/Charakterisierung

Pro-und-Kontra-erörterung

Stellungnahme

Die eigene Meinung begründen

Textanalyse und interpretation von Filmtexten

elemente der Filmsprache kennen lernen, zum beispiel: - Filmgenres, Aufbau und Auflösung einer Sequenz, Kameraführung, bildgestaltung und bildaufbau, Montage, Wirkung von Farben, Licht und Schatten,

Jugendgewalt und Jugendkriminalität (Ursachen und Maßnahmen)

Gerechtigkeit und Selbstjustiz

Juristische einordnung von Straftatbeständen

Jugendstrafrecht/Jugendgerichtsgesetz

bildungsperspektiven von jungen Migranten (Probleme und Perspektiven)

rollennormen und rollenkonflikte in der erziehung

Aufgabe und Vorbildfunktion von Vätern in der erziehung von Jungen

erziehungsnormen in unterschiedlichen Kulturkreisen

Unterschiedliche Formen von Gewalt (körperliche/seelische Gewalt)

ethische Normen und Werte in verschiedenen Kulturkreisen

Stellenwert der Gerechtigkeit in der religion

Verschiedene Konzepte zum Umgang mit Gewalt und ihre bezüge zu religion und ethik

Wirkung von filmsprachlichen Mitteln kennen lernen und praktisch erproben, zum beispiel:- Nachstellen einzelner Szenen- experimentieren mit verschiedenen Kameraeinstellungen und -perspektiven- Veränderung von Szenenhintergrund und Unterlegung von O-Tönen und/oder Musik

bedeutung der Körpersprache erleben, zum beispiel:- Szenen ohne Ton analysieren und neu vertonen- Szenen mit vertauschter Körpersprache der Protagonisten nachspielen

recherchen zum Thema Jugendgewalt vor Ort, zum beispiel:- Durchführung und Auswertung einer Umfrage- Medienrecherche- Zusammenstellen von rechtlichen informationen und Präventionskonzepten- Veröffentlichung in der Schülerzeitung oder auf der Schulhomepage

Fach-unterricht

Deutsch

Kunst

PolitikSozialkundePädagogik

ReligionEthik

AGsProjekte zu Film, Schauspiel,Computer,Medien

© w

dr/D

irk

Plam

böck

Anregungen für den Fachunterricht

ar

bei

tspa

ket

wu

t

Page 6: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Laborversuch in einem Land, das erwachsen wird

Im Oktober 2005 erschien im Kölner »Express« eine Ge-sellschaftsnotiz: Corinna Harfouch und August Zirner stünden in Berlin für den neuen wdr-Thriller »CAN« vor der Kamera, der die Geschichte eines gewalttätigen Jugendlichen zeige, der brutal einer Kleinfamilie die Regeln diktiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Drehbuch von Max Eipp (Jg. 1955) bereits eine vierjährige Vorgeschichte. Nach dem Exposé im Jahr 2001 hatte sich Eipp, der in dem Drehbuch eigene Erlebnisse und die seines Sohnes verarbeitet und weiterspinnt, mit Produzent Christian Ganderath (Colonia Media) zusammengetan. Bis zum Frühsommer 2004 hatte sich jedoch trotz intensiver Su-che und positiver Resonanz kein Sender gefunden, der den Stoff produzieren wollte. Das Drehbuch sei gut, aber zu provokant, zu politisch unkorrekt, das sei für die Fernseh-Primetime nicht marktfähig, hieß es. Re-dakteur Wolf-Dietrich Brücker erkannte das Potenzial in Eipps Stoff, der wdr stieg ein, um den Film ein Jahr später auf dem Sendeplatz am Mittwochabend um 20.15 Uhr im Ersten zu zeigen. Die kleine Randnotiz im »Express« vom Oktober 2005 erwähnte nicht, dass es sich bei dem Gewalttäter um einen türkischen Jugendlichen handelt. Allein diese Prädisposition beförderte den zwischenzeitlich in WUT umbenannten Film von Züli Aladag vom Boulevard über die Fernseh- und Medienseiten auf die Politik- und Titelseiten der Republik.

– Bester Fernsehfilm der Saison

Im Mai 2006, als WUT bei einem Kölner Festival erst-mals gezeigt wurde, las sich das so: »Während türkische Jugendliche ihren Alltag wiedererkannten, beklagten anwesende Pädagogen, dass der Film ihre Arbeit in-frage stelle und nicht zur Integration türkischer Mit-bürger beitrage« (Gong). Der Ausstrahlungstermin am 27. September 2006 rückte näher, Zeitungen und Zeitschriften veröffent-

lichten erste, meist positive Kritiken. Aladags Film wurde in eine Reihe mit Genreklassikern wie »Straw Dogs« und »Kap der Angst« gestellt und als »mit Ab-stand bester Fernsehfilm der Saison« gelobt. Festge-stellt wurde aber auch: »Das Drehbuch von WUT wider-spricht allen Gepflogenheiten der Political Correctness: der Türke als Täter« (Süddeutsche Zeitung). Max Eipp kommentierte im »Express«: »Zwischen Multikulti-Kitsch und Ausländer-raus-Stimmung gibt es eine Realität, der wir uns stellen müssen.« Die »tages-zeitung« schrieb dazu: »Ja, WUT ist krass, abstoßend und geht sicherlich bis an die Grenze. Ohne Grenzüber-schreitung kann eine wirklich weiterführende Diskus-sion nicht stattfinden, sei es über Jugendgewalt an Schulen, Integration oder Islamisten. WUT ist von da-her bitter nötig.« Bis zu diesem Punkt der Auseinandersetzung war die Wirkung des Films einschätzbar, ein »Laborver-such« (Die Welt) mit dem Ziel einer kontrollierten »Ex-plosion«. Doch unversehens bildete WUT die Kadenz einer komplexen öffentlichen Diskussion im Span-nungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und der Verlet-zung religiöser Gefühle, um das Miteinander von Chris-ten und Moslems in Deutschland.

– Neue Runde im »Kulturkampf«

Im Oktober 2005, in Berlin wurde WUT gerade gedreht, erschienen in einer dänischen Zeitung Karikaturen über den Propheten Mohammed, die in den Folgemona-ten Moslems protestieren ließen. Die unerwartet heftige Reaktion der islamischen Welt auf die Satire hinterließ auch im deutschen Kulturbetrieb eine spürbare Verun-sicherung. Anders als nach der Ermordung des nieder-ländischen Filmemachers Theo von Gogh diskutierte jetzt auch die Politik mit, wie weit Kunst gehen darf und ob die Jugend nicht vor zu viel Meinungs- und Kunst-freiheit zu schützen sei. Die Fußball-Weltmeisterschaft, jener Kollektiv-rausch unter dem Motto »Die Welt zu Gast bei Freun-den«, lenkte kurzzeitig davon ab, dass Deutschland als Einwanderungsland einen Standpunkt zu bestimmen hatte. Mit dem Ausklingen des »Sommermärchens« war die Bühne für die Diskussion über einen »Clash of Cultures« bereitet, auf der nun Bundesinnenminister

Oper iDOMeNeODas umstrittene Schlussbild der idomeneo-inszenierung von Hans Neuenfels bei der Wiederaufführung der Mozart-Oper iDOMeNeO im September 2006 an der Deutschen Oper berlin. Die Szene mit den abgeschlagenen Köpfen von buddha, Jesus, Poseidon und des Propheten Mohammed hatte aus Furcht vor islamistischen bedrohungen zur Absetzung der Oper geführt.

© d

pa

WUT als Medienereignis

ar

bei

tspa

ket

wu

t

Page 7: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Wolfgang Schäuble erschien und einen »Islam-Gipfel« veranstaltete. »DIE ZEIT« kommentierte: »Jetzt, da die Bundesrepublik auch offiziell ein Einwanderungsland ist, beginnt sie sich zu fragen, was das eigentlich be-deutet.« Mitte September 2006 machte das Nachrichtenma-gazin »Der Spiegel« die »neue Runde im Kulturkampf zwischen Orient und Okzident« zur Titelgeschichte. Im selben Heft erschien – ungewöhnlich vorzeitig, zehn Tage vor der Ausstrahlung – ein Verriss über den Film WUT. Der Autor schrieb, der Film »spielt mit dem Feu-er« und mache »den Zuschauer zum Komplizen des Hasses auf einen Fremden«. Die türkische Zeitung »Hürryiet« (»Freiheit«) stell-te fest, der Film werde den Hass auf die Türken weiter verstärken. In der »B. Z.« kritisierte der Berliner Imam Zütfü Imamöglu WUT wie folgt: »Hier wird Rassismus geschürt. Ich bin sehr schockiert. Der Film sollte nicht gezeigt werden.« Wurde er auch nicht, denn fünf Tage vor der geplanten Ausstrahlung entschieden die ard-Intendanten, WUT nicht nach der Tagesschau um 20.15 Uhr zu zeigen, sondern aus Gründen des Jugend-schutzes erst ab 21.45 Uhr, und zwar zwei Tage später. wdr-Intendant Fritz Pleitgen stellte in einem Interview mit der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« fest, dass er »bekümmert« und »zornig« über den Mehrheitsbe-schluss der ard-Chefs sei: »Der Film zeigt eine Realität, wie sie vielen Kindern und Jugendlichen begegnet, aber die wir Erwachsenen nicht wahrhaben möchten.«

– Verschiebung des Sendetermins

Die Verschiebung des Ausstrahlungstermins geriet nun unversehens in den Sog der hektischen Debatte um Meinungsfreiheit. Denn eben erst hatte Papst Benedikt XVI. mit seiner Regensburger Rede den Zorn von Mos-lems in aller Welt auf sich gezogen (»Papst kontra Mo-hammed«, Der Spiegel). Eben erst hatte die Deutsche Oper in Berlin die Inszenierung von Mozarts »Idome-neo« aus dem Spielplan genommen, aus Furcht vor isla-mischem Terror. Auf dem Höhepunkt der Debatte ver-schob das öffentlich-rechtliche Fernsehen nun einen Film, der von einem straftätigen jungen Türken handelt – »aus Angst vor Moslem-Vertretern?«, wie »BILD« am 27. September fragte?

– Vergleich zum DDR-Fernsehen

In der Sendewoche erschienen deutschlandweit mehr als 500 Artikel zu WUT und seiner Absetzung aus dem ard-Abendprogramm. Die Beiträge lehnten die Verle-gung unisono ab (»Kein Mut zu WUT«), Vergleiche zum DDR-Fernsehen und zu der Verlegung des regimekri-tischen Fernsehspiels »Geschlossene Gesellschaft« im Jahr 1978 wurden gezogen. »BILD« fragte ernsthaft, ob nun auch das Karnevalslied »Die Karawane zieht wei-ter« aus Respekt vor Moslems verboten würde, wütende Leserbriefe wurden veröffentlicht, meist unter dem Motto: »Knicken wir jetzt alle vor den Islamisten ein?« Die Trennschärfe und das Augenmaß in der öffent-lichen Diskussion gingen verloren. Dass Can, die Haupt-figur in WUT, sein Gegenüber Simon Laub nicht als »christliches Arschloch« beschimpft, wie es der Autor des »Spiegel«-Artikels zunächst gehört haben wollte, sondern als »faschistisches Arschloch«, war nun un-wichtig. WUT war längst zum Bestandteil einer hitzi-gen Debatte geworden, die der »Stern« kühl betitelte: »Deutschland wird erwachsen.« 2,67 Mio. Menschen sahen am 29. September 2006 den Film WUT im Ersten. Nach 22 Uhr war das an die-sem Abend die meistgesehene Sendung in Deutschland. Die Empörung über die Terminverschiebung wich der Erkenntnis, dass das Verhältnis von Christen und Mos-lems im Film gar nicht thematisiert wird, wohl aber ei-ne Sprachlosigkeit zwischen Menschen unterschied-licher Herkunft mitten in Deutschland. Im Februar 2007 erhielt WUT die Goldene Kamera als bester Fernsehfilm des Jahres, im März fünf Grim-me-Preise und Auszeichnungen auf Festivals in Baden-Baden, San Francisco und New York. Als der Film auf DVD veröffentlicht werden sollte, flackerte die Jugend-schutz-Debatte noch einmal auf. Nach der Festlegung »ab 16 Jahren« durch die Freiwillige Selbstkontrolle (FSK), nach Einspruch des wdr und einer neuerlichen Prüfung stand fest: WUT ist ab 12 Jahren freigegeben. Am 14. Juni 2007 zeigte der wdr Züli Aladags Film im wdr Fernsehen. Um 20.15 Uhr, direkt nach der Tages-schau.

Carsten Schweckegeb. 1975, Fachkaufmann für Marketing, mehrjährige Tätigkeit im Medienbereich, seit 2004 Mitarbeiter in der Öffentlichkeitsarbeit des wdr.

WUTDer Fernsehfilm WUT wurde am 30. März 2007 mit dem Adolf-Grimme-Preis in der Kategorie »Fiktion« ausgezeichnet. wdr-Moderatorin Asli Sevindim (mi.) überreichte den Preis an Max eipp (buch, li.), Züli Aladag (regie, re.), Wolf-Dietrich brücker (redaktion) sowie stellvertretend für das Darstellerteam an Oktay Özdemir und August Zirner.

© w

dr/T

hom

as b

rill

ar

bei

tspa

ket

wu

t

Page 8: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Felix (Robert Höller) wächst in einer wohlhabenden Familie auf. Sein Vater Simon Laub (August Zirner) ist angehender Literaturprofessor, seine Mutter Christa Laub (Corinna Harfouch) eine erfolgreiche Immobi-lienmaklerin. Eines Tages kommt Felix ohne Schuhe nach Hause und muss seinen Eltern erklären, dass er schon längere Zeit von dem jungen Türken Can (Oktay Özdemir) und seiner Gang »abgezogen« wird. Simon Laub will die Sache vernünftig klären und mit Can »normal« reden. Als das scheitert, sucht Simon Cans

Vater auf. Der schlägt seinen Sohn vor Simons Augen. Cans Wut und Verachtung konzentrieren sich jetzt ganz auf Simon, der sich als liberalen, offenen Menschen sieht. Systematisch dringt Can in alle Lebensbereiche der Familie ein und demütigt Simon. Simon, der eigent-lich Gewalt verabscheut, fühlt sich so in die Enge getrie-ben, dass er seinen Freund Michael (Ralph Herforth) beauftragt, Can zu verprügeln. Eine Spirale von Provo-kation und Gewalt setzt ein, aus der keiner der Betei-ligten entkommen kann.

Can und seine Clique beim Breakdance. Sie machen

Wettspiele mit einem Messer. Felix wird dazuge-

holt.

1

Felix kommt ohne Schuhe nach Hause. Seine Eltern erfahren, dass er »abgezogen« wird. Christa fordert Simon auf, etwas zu unternehmen.

2

Simon will mit Can »normal« reden. Er geht mit Felix zu Cans Clique. Can macht sich lustig über Simon und demütigt ihn. Später sagt Felix, dass er keine Unterstützung von Simon wünscht.

Simon spricht mit Cans Vater. Als dieser von den

Vorwürfen hört, schlägt er Can und fordert ihn auf,

die Schuhe zurückzugeben.

4

Der Inhalt: WUT in 22 Bildern

ar

bei

tspa

ket

wu

t

Page 9: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Can drängt sich mit in Simons Haus. Er bringt die

gestohlenen Schuhe zurück, zerstört eine kostbare

Vase und entwendet ein Aktfoto von Christa. Die

Eltern kommen nach Hause. Can provoziert, Simon

reagiert überheblich.

Simon trifft sich mit einer Studentin in einer Bar. Can kommt dazu und bestellt Drinks für alle. Simon lässt Can aus dem Lokal werfen. Später entdeckt Simon, dass die Reifen seines Autos zer-stochen sind.

6

Simon und Christa vermuten jemanden in ihrem Garten. Sie sehen nach. Am nächsten Morgen findet Christa Frauenunter-wäsche in Simons Jacketttasche.

Can fordert Felix auf, bei Messerspielen mitzuma-

chen und Geld einzusetzen. Can berichtet Felix von

der Affäre seines Vaters mit einer Studentin. Felix

verletzt sich mit dem Messer.

8

Felix spielt am Computer. Wegen seiner Fingerver-

letzung kann er nicht Cello spielen. Er diskutiert

mit seinem Vater und wirft ihm seine liberale Er-

ziehung vor.

9

Can schleicht sich über den Balkon in Felix’ Zim-mer. Sie rauchen einen Joint, reden über Freund-schaft und Can singt »Warum hast du mich nicht geliebt?«. Felix erwähnt die Antrittsvorlesung von Simon. Felix’ Eltern sind unterdessen im Wohn-zimmer. Can lauscht.

10

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

9

Page 10: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Can stört die Antrittsvorlesung von Simon. Er

pöbelt die Anwesenden an, zeigt Christas Aktfoto

und posaunt Simons Affäre mit einer Studentin

aus. Simon beschimpft Can als »Türkenarsch« und

schmeißt ihn raus.

11

Simon filmt aus dem Auto, wie Can dealt. Als Felix von Can Drogen kauft, stürmt Simon dazu und greift Can an. Can und seine Clique halten Felix fest und schlagen Simon zusammen.

12

Simon drängt Felix, mit zur Polizei zu gehen, um Can anzuzeigen. Felix verweigert die Aussage.

1�

Razzia in der Wohnung von Cans Familie. Die Poli-

zei findet Drogen und verhaftet Can.

14

Cans Freunde machen Felix für die Verhaftung von

Can verantwortlich. Sie lauern Felix auf und ver-

prügeln ihn.

1�

Christa und Simon streiten und machen sich ge-genseitig Vorwürfe. Christa weiß von Simons Affä-ren und sagt, dass sie sich vor ihm ekelt.

16

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

10

Page 11: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Simon bittet seinen Freund Michael um eine Waffe.

Michael bietet ihm an, die Sache mit Can »zu re-

geln«.

1�

Simon hat für seine Familie gekocht. Während des Essens telefoniert er mit Michael, der Can gerade zusammengeschlagen hat. Simon vermittelt seiner Familie, er selbst habe Can »eine Lektion erteilt«.

18

Can bittet seinen Vater um Verzeihung. Der Vater verstößt ihn und wirft ihn aus der Wohnung. Can weint.

19

Simon will Michael danken. Zufällig erfährt er von

der Affäre zwischen Christa und Michael. Sie strei-

ten sich. Michael wirft Simon Gleichgültigkeit ge-

genüber Christa vor.

20

Can hat Simons Auto gestohlen. Felix erfährt, dass

nicht sein Vater, sondern Michael Can verprügelt

hat. Can kündigt Rache an. Er hat sich eine Waffe

besorgt. Can überredet Felix, mit dem Auto seines

Vaters allein nach Hause zu fahren. Felix’ Eltern

machen sich große Sorgen um ihren Sohn.

21

Can überfällt Christa und Simon. Er wirft Simon vor, sein Leben zerstört zu haben. Felix kommt da-zu. Auch er wird von Can gefesselt. Can fordert Si-mon auf, sich mit der Waffe selbst zu erschießen,

andernfalls werde er Felix töten. Simon drückt ab, die Waffe ist nicht geladen. Im Kampf fallen Simon und Can in den Pool. Simon schlägt Cans Kopf ge-gen die Poolwand. Can stirbt.

22a

rb

eits

pak

et w

ut

11

Page 12: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Ergänzende Fragen und Aufgabenstellungen:

> Welchen Stellenwert hat die Clique für Can? Wie werden die Strukturen der Gang in verschiedenen Filmszenen gekennzeichnet?

> Welche bedeutung hat die Familie für Can? Welches Verhältnis hat er zu seiner eigenen Familie?

> Wie reagiert er auf Felix’ Familie? Warum?

> Cans Verhältnis zu Felix ist gespalten. Skizzieren Sie, wie sich die einstellung von Can zu Felix im Verlauf der Handlung verändert.

> Worum beneidet Can Felix?

> Can wirft Simon Laub vor, keine ehre zu haben, eine »Schwuchtel« zu sein. Welche Vorstellung von ehre und Männlichkeit hat er für sich selbst? Wie äußert er das?

> Can wird von seinem Vater verstoßen, weil er die Familienehre beschmutzt hat. Welche Wirkung hat dies auf Can? Warum? recherchieren Sie, welche bedeutung die Verstoßung im islam hat.

Die Figur CanOktay Özdemir

Can, der offensichtlich die Schule geschmissen hat, ist der Sohn eines türkischen Gemüsehändlers. Während das Leben seines konservativen Vaters durch die Arbeit im Laden und die Ausrichtung nach muslimischen Le-bensregeln klar eingeteilt ist, hat Cans Alltag kaum Struktur. Die meiste Zeit hängt er mit seinen Freunden ab. Sie verbringen viel Zeit mit Breakdance, Basketball

und mit Mutproben, etwa Geschicklichkeitsspielen mit dem Messer. Can kifft und dealt. Er hängt sehr an sei-ner Familie und ist stolz auf sie. Doch die konservativen Regeln, nach denen seine Eltern leben, sind Can, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, zuneh-mend fremd geworden. Sie geben ihm nicht den nötigen Halt. Orientierungslos und ohne echte Perspektive fühlt er sich von den Deutschen verachtet und ausgegrenzt. In seiner Gang ist Can dagegen der Anführer, hier be-kommt er Anerkennung, sein Wort gilt etwas. Der unsichere und verklemmt wirkende Felix, der gelegentlich bei Can Marihuana kauft, bietet Can ein Ventil für seine Aggressionen. Felix hat das, was Can vermisst: Geld, Bildung, ein großes Haus. Doch Felix ist in Cans Augen ein Schwächling. Mit Unterstützung sei-ner Gang bedroht und demütigt Can Felix und »zieht ihn ab«. Als Felix’ Vater, Simon Laub, ihn deshalb vor seinen Freunden zur Rechenschaft ziehen will, reagiert Can aggressiv und erniedrigt Simon vor den Augen sei-nes Sohnes. Als der Vater sich weiter einmischt, kon-zentriert sich Cans Hass und Verachtung auf diesen Mann. Allmählich dringt er in dessen gesamte private Welt ein.

ar

bei

tspa

ket

wu

t

12

Page 13: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Ergänzende Fragen und Aufgabenstellungen:

> Wie geht Felix zu Hause damit um, dass er »abgezogen« wurde? Wie erklären Sie sich sein Verhalten? Wie reagieren seine eltern?

> Wie ist das Verhältnis von Felix zu seinem Vater zu beginn der Handlung, welche Veränderungen sind im Verlauf der Geschichte festzustellen?

> Wodurch werden diese Veränderungen ausgelöst?

> Welche erwartungen stellt Felix an seinen Vater? Gibt es darin Widersprüche?

> Wie geht es Felix zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte? Wann geht es ihm gut und wann schlecht? Was sind die Ursachen?

> Skizzieren Sie Felix’ Verhalten gegenüber Can! Was sind seine Motive? Welche Wirkung haben seine Mimik, Gestik und Körpersprache?

> in welchen Situationen nähern sich Felix und Can freundschaftlich an? Welche Formen der Freund- schaft gibt es im Film?

> Worum beneidet Felix Can?

> Vergleichen Sie das Verhältnis von Felix zu seinem Vater mit dem Verhältnis Cans zu seinem Vater.

> Welche Auswirkungen haben die beziehungs- konflikte der eltern auf das Verhalten von Felix?

Die Figur FelixRobert Höller

Felix Laub wächst in Berlin als behütetes Einzelkind in einem wohlhabenden Elternhaus auf. Seine Mutter Christa arbeitet erfolgreich als Immobilienmaklerin. Felix hat ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihr. Er be-kommt von ihr viel Liebe und Aufmerksamkeit, doch in ihrer Fürsorglichkeit bietet sie ihm wenig Unterstüt-zung, Selbstvertrauen zu entwickeln. Von seinem libe-ral gesinnten Vater Simon, einem angehenden Professor für Literatur, wird er zur Gewaltfreiheit und Toleranz erzogen. Gelegentlich unternimmt er mit seinem Vater Ausflüge zur Kartbahn, doch wirklich wichtig scheint dem Vater nur Felix’ Hobby, das Cellospielen, zu sein. Hier unterstützt er Felix sehr und vermittelt ihm väter-lichen Stolz. Felix ist ein Einzelgänger, Freunde hat er keine. Als er von Can, einem türkischen Jugendlichen, bei dem er gelegentlich Marihuana kauft, zunehmend ter-rorisiert wird, reagieren die Eltern hilflos. Seine Mutter weiß schon seit geraumer Zeit über seine Probleme Be-scheid. Doch außer teilnahmsvollem Mitleid bietet sie ihm keine Hilfe an. Zu sehr ist sie auch mit ihren eige-nen Beziehungsproblemen beschäftigt. Felix ahnt, dass sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann hat, und versucht, seinen Vater zu warnen. Doch der nimmt sei-ne Andeutungen überhaupt nicht wahr. Gedrängt von seiner Frau will Simon seinem Sohn helfen. Dabei erlebt Felix die ganze Hilflosigkeit seines Vaters in der Aus-einandersetzung mit einer Realität, die dieser bislang völlig verleugnet hat. Auf seine dringlichsten Fragen bekommt Felix keine brauchbaren Antworten von sei-nen Eltern. Doch Felix sehnt sich nach Orientierung, Halt und Freundschaft. Trotz der fortgesetzten Demü-tigungen durch Can und seine Gang sucht er immer wieder deren Nähe. Von seinen Eltern distanziert er sich mehr und mehr.

1�

ar

bei

tspa

ket

wu

t

Page 14: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Ergänzende Fragen und Aufgabenstellungen:

> Wie erzieht Simon Laub seinen Sohn Felix? Welche Szenen kennzeichnen die beziehung zwischen Vater und Sohn? Welche rolle spielt sein Sohn für ihn?

> Wie definiert Simon seine rolle als Mann? Wann macht er sich für Can besonders angreifbar?

> Wie ist seine einstellung zur Gewalt zu beginn der Handlung und wie ändert sie sich im Verlauf der Ge- schichte? Welche konkreten ereignisse lösen seinen Wandel aus? Was geht dabei in ihm vor?

> Skizzieren Sie Simons beziehung zu seiner Frau Christa. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der beziehungs- krise des ehepaares und der eskalation der Gewalt?

> Welche erwartungen stellt Christa Laub an ihren Mann?

> Wie wichtig ist Christa ihr äußeres erscheinungsbild und die einrichtung ihres Hauses?

> ist sie selbst bereit, Verantwortung zu übernehmen?

> in welchen Situationen wird sie aktiv, wo bleibt sie passiv? Wie ist ihr Verhalten zu erklären?

> Wie sind die Gefühle von Christa Laub im Verlauf der Handlung zu beschreiben?

> Was denkt sie am Schluss der Geschichte? entwickeln Sie einen inneren Monolog.

Die Figuren Simon und Christa LaubAugust Zirner und Corinna Harfouch

Simon Laub, ein angehender Literaturprofessor, hat bis-her vor allem sein Leben genossen und wenig beruf-lichen Ehrgeiz gezeigt. Gelegentlich trifft er sich mit Michael, einem Freund der Familie, auf einen Joint und philosophiert mit ihm über das Leben. In seiner Ehe mit Christa kriselt es schon seit einiger Zeit, doch Simon bemüht sich, seine Vorstellung einer von Toleranz geprägten »offenen« Beziehung aufrecht-zuerhalten. Er vermutet, dass Christa außereheliche Be-ziehungen unterhält, misst diesen jedoch wenig Bedeu-tung zu, da er seine Frau selbst regelmäßig betrügt. Auch zu Felix, seinem Sohn, unterhält er ganz im Geiste seiner liberalen Weltanschauung ein locker-freundschaftliches Verhältnis. Er fördert vor allem Felix’ musische Interes-sen und ist stolz auf dessen Cellospiel. Eines Abends kommt Felix barfuß nach Hause. Dadurch erfährt Simon, was seine Frau Christa schon länger weiß: Felix wird regelmäßig »abgezogen«. Simon will die Polizei einschalten, doch Felix reagiert ableh-nend, weil er Angst hat. Christa vermittelt Simon, dass er nun als Vater aktiv werden muss. Simon reagiert an-gesichts der brutalen Ereignisse, die in seine heile Welt einbrechen, hilflos. Er kommt mit seiner liberalen Welt-anschauung, seinem Wunsch nach einer multikultu-rellen, friedlichen Gesellschaft, nicht weiter. Simon be-merkt nicht, dass seine Haltung häufig arrogant wirkt. Dieses überhebliche Verhalten provoziert Can umso mehr. Plötzlich sieht sich Simon mit einer Situation konfrontiert, in der er sich fragen muss, ob er selbst Ge-walt anwenden kann.

Christa Laub ist eine erfolgreiche Immobilienmaklerin. Von ihrer Ehe mit Simon ist sie seit langem frustriert. Sie wirft ihm vor, dass er nie um etwas kämpft und lie-ber Probleme zerredet, statt zu handeln. Sie will, dass er mehr Ehrgeiz und Verantwortungsbewusstsein zeigt. Seine Vorstellungen von einer offen geführten Ehe, die er mit zahlreichen Seitensprüngen auslebt, ekeln sie an. Trost und Anerkennung sucht sie in einem Verhältnis mit dem gemeinsamen Freund Michael. Zupackend und praktisch begabt hat dieser Eigenschaften, die sie an ihrem Mann vermisst. Christa verhält sich Simon gegen-über zunehmend distanziert. Ihre Liebe und Zuwen-dung richtet sich hauptsächlich auf den gemeinsamen Sohn Felix. Als Felix »abgezogen« wird, erwartet sie von

Simon ein starkes Auftreten gegenüber Can. Doch Simon reagiert hilflos auf ihre Forderungen. Simons Unfähigkeit im Umgang mit einer ihm fremden Realität löst immer mehr Verachtung in ihr aus. Aber auch sie lässt ihren Sohn allein.

ar

bei

tspa

ket

wu

t

1�

Page 15: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A1�

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

Name: geschätztes Alter:

beziehungen zu anderen Figuren:

beruf:

Hobbys:

Äußere erscheinung:

Körpersprache:

Typische Verhaltensweisen:

Typische Sprache:

Wertvorstellungen:

besonderheiten:

cd cd-rom dvdSteckbriefe

Weitere Arbeitsaufträge

> Can schreibt einen Rap. Can hasst Simon Laub immer mehr. Simon wird für ihn zum Symbol für das, was er verachtet. Doch auch Can hat Sehnsüchte und Wünsche, seine Gefühle schwanken zwischen Trauer und Wut. Schließlich verarbeitet er seine erleb-nisse in einem Song.

> Felix chattet. Felix ist viel allein. Manchmal verachtet er sich selbst. besonders, seit Can und seine Gang ihn ständig terrorisieren. Seine eltern lieben ihn und wollen ihm helfen. Aber seine wirklichen Probleme können sie nicht verstehen. Und Freunde? Absolute Fehlanzeige! Deswegen chattet er und schreibt sich alles von der Seele.

Page 16: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Von hilflosen Eltern, machtlosen Opfern und bodenlosen Tätern – Erfahrungen im Schulalltag

Der Film WUT erzählt von der Auseinandersetzung zwischen Can und Felix, zwei Jugendlichen, von Opfern und von Tätern. Der Film spielt auf einem Bolzplatz und in den elterlichen Haushalten, auf der Straße und damit nicht dort, wo ähnliche Konflikte auflaufen: in deut-schen Schulen. Natürlich, WUT treibt filmisch auf die Spitze, was für Lehrerinnen und Lehrer alltäglich ist. Aber der Film markiert auch ein Spannungsfeld, in dem sich Pädagogen mit ihrer Arbeit jederzeit bewegen, dem zwischen hilflosen Eltern, machtlosen Opfern und bo-denlosen Tätern. Das verlangt Lehrerinnen und Leh-rern Feingefühl, klares Denken und schnelles Handeln ab, unter Rahmenbedingungen, die sich ständig verän-dern.

– Hilflose Eltern

Schülerinnen und Schüler sind Bedrohungen und nie-dermachenden Bemerkungen ausgesetzt, z. B. in zahl-reichen Internet-Chatrooms. Im weitgehend rechts-freien Raum des World Wide Web werden, meist unter Pseudonym, Erpressungen versucht, Beleidigungen getätigt und Prügel angedroht – alles unter den Augen der mitlesenden, anonymen Zeugengruppe. Die daraus resultierenden Ängste der Opfer und das Wissen dar-um, dass andere Zeuge wurden, wird auch in die Klas-senzimmer transportiert, und sei es dadurch, dass Hemmungen vor dem täglichen Schulbesuch aufgebaut werden. Eltern werden meist nur zufällig Zeuge solcher Chats. Sie wollen ihre Kinder beschützen, ihnen helfen, oft dadurch, dass sie eigene Umgangsformen und Ge-sprächsregeln in einem Umfeld anzuwenden versuchen, das ganz andere Kommunikationsformen und -inhalte aufweist. Doch es mangelt nicht nur an Verständnis für die neue, grenzenlose Medienwelt, oft fehlen auch die Zeit, die Möglichkeit, die Empathie. Die jugendliche Er-

fahrungswelt bleibt den Eltern verschlossen, sie sind hilflos und kommen damit in die Schule. Dort suchen sie nach einer Verantwortung außerhalb des Eltern-hauses, oft wütend in ihrer Hilflosigkeit. Dies als Lehrer zu kompensieren, auch bei verbalen Angriffen ruhig zu bleiben, ist nicht immer einfach.

– Machtlose Opfer

Die Opfer fühlen sich oft allein oder alleingelassen. Wohlgemeinte Ratschläge und Hilfsversuche in Form von Sozialtraining oder Selbstverteidigungskursen können helfen, mindern aber nicht unbedingt das emp-fundene Gefühl der Scham, des gebrochenen Stolzes, der Niederlage. Stärke bietet eigentlich nur die Gruppe von Menschen, die ähnlich aussieht, fühlt, denkt und spricht. Ohne diese Bezugskoordinaten im Elternhaus, im Wohnviertel, im Verein oder in der Kirchengemein-de ist das Opfer letztlich machtlos. Beleidigungen oder Attacken sind dann besonders schmerzhaft, weil keiner mitfühlen kann. Das Kernproblem kleinerer Gewalterfahrungen ist die mangelnde Fähigkeit zu kommunizieren. Selbst einfachste Methoden des »Miteinandersprechens« oder der Problemlösung sind oft unbekannt, nicht erlernt, nicht vermittelt worden. Je mehr Jugendliche ihre Frei-zeit vor dem Fernseher oder dem PC verbringen, desto weniger erfahren sie, dass kleinere Streitereien, auch körperlicher Natur, mithilfe von Kommunikation ge-klärt werden können. Klar ist: Viele der Beleidigungen und Prügeleien, die im Schulalltag stattfinden, sind nicht ernst gemein-te Anfragen des Gegenübers. Es sind Kurzschlusshand-lungen, mit denen Jugendliche auch auf die ungewohnte tatsächliche Kommunikation reagieren. Folgerichtig ändern sie die Parameter des Miteinanders schnell, wenn sich auch Opfer und Täter einmal in einer echten Kommunikationssituation erlebt haben.

GUTeN MOrGeN, Herr GrOTHewdr-Fernsehfilm von Lars Kraume.Lautstarker Alltag im Klassen-zimmer: Duc (Tu Pahm Ngoc, li) liest seine Hausaufgaben vor.

© w

dr/D

irk

Plam

böck

Hintergründe von WUT

ar

bei

tspa

ket

wu

t

1�

Page 17: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Klar ist aber auch: Opfer von massiver, grenzüber-schreitender Gewalt dürfen sich nicht alleingelassen fühlen. Sie dürfen nicht in eine passive Position gera-ten, weil ihnen die Anknüpfung an andere fehlt. Denn sonst ergibt sich eine Spirale von Gewalterfahrungen und gefühlten Niederlagen, die in Wut enden kann. Diese Frage beschäftigt Lehrer allzu oft: Wird genug getan, um den Wandel vom Opfer zum Täter zu verhin-dern?

– Bodenlose Täter

Der Schulalltag zeigt, dass Jugendliche sich selten ge-waltbereit zeigen, wenn sie nicht selbst zuvor Gewalt erfahren haben. Bodenlose Täter, Jungen wie Mädchen, reagieren in einer Umwelt, die viel von ihnen fordert, mit grenzenloser Gewalt gegenüber Schwächeren. Zu Tätern werden Jugendliche, die ohne einfache familiäre Prägungen auskommen müssen, und seien es nur gemeinsame Mahlzeiten oder in der Familie ver-brachte Freizeit. Im sozialen Stressalltag in der Schule stehen sie dann unbekannten Situationen gegenüber. Ebenso müssen sich Jugendliche mit Migrationshinter-grund in einer diffusen multikulturellen Gemengelage zurechtfinden, die konstante Anpassung erfordert und ihnen eine jeweils passende gesellschaftliche Haltung abverlangt. Dass Jugendliche, die im Vergleich dazu soziale und materielle Vorteile genießen, zu Opfern werden (müssen), ist nicht zu entschuldigen, aber leider leicht zu erklären. Auf dem schmalen Grat zwischen dem Ver-stehen und dem Nichttolerieren müssen Lehrer auch mit den Tätern einen Umgang finden, der in der Schule dauerhaft funktioniert.

Der selbstschützende Angriff hilfloser Eltern sprengt die Sprechstunde. Die unübersehbar erschre-ckende Situation der machtlosen Opfer belegt die Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden. Die Grenzenlosig-keit der bodenlosen Täter zwingt zur Sofortreaktion vor, während oder nach den Schulstunden. Schließlich muss der Balanceakt mit allen Beteiligten gleich ange-messen gelingen. Mag dieser Alltag von Lehrern, aber auch von Schü-lern und Eltern, wenig spektakulär sein, er ist kräfte-zehrend und benötigt mehr Aufmerksamkeit von Poli-tikern und Medien. Wünschenswert ist eine ehrliche, ideologiefreie und zielorientierte Diskussion über Er-ziehung, schulische Möglichkeiten und den Wert von Bildung in Deutschland.

Marcus KortmannJahrgang 1974, studierte in Münster Theologie und Germanistik. Seit 2003 unterrichtet er an einer Gesamtschule im ruhrgebiet.

WUTCan (Oktay Özdemir, 3.v.r.) und seine Gang beobachten, wie sich Felix Laub (robert Höller, 3.v. l.) bei der gefährlichen Mutprobe mit einem scharfen Messer anstellt.

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

1�

Page 18: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A1�

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

»Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund haben in Deutschland drastisch geringere Bildungschancen als andere Kinder und Jugendliche. Trotz kleiner Fortschritte in den letzten Jahrzehnten besuchen Schüler/-innen mit ausländischer Staatsangehörigkeit seltener weiterführende Schulen wie das Gymnasium, sie verlassen häufiger die allgemein bildende Schule ohne einen Schulabschluss und sind somit im Schnitt mit deutlich schlech-teren Ausgangschancen für das Berufsleben ausgestattet. Diese Situation ist nicht neu. Sie gewinnt aber an Brisanz, seit die Zweifel an einer kontinuierlichen Annäherung der zweiten Ausländergeneration an die Situation der Deutschen ohne Migrationshintergrund wachsen, seitdem die Arbeitsmarktchancen gering Qualifizierter sinken und Sorgen hinsichtlich möglicher aus sozialer Ausgrenzung gespeister Konflikte wachsen. [...]«

Arbeitsaufträge

Can wird durch Felix’ Wohlstand und behütetes elternhaus zu besonderem Hass aufgestachelt. er empfindet seine eigene Chancenlosigkeit und benachteiligung umso mehr:

> Welche Unterschiede zu deutschen Schülerinnen und Schülern sind signifikant?interpretieren Sie die Tabellen und recherchieren Sie selbst zur bildungs- und Ausbildungssituation von Migrantenkindern.

> Worin liegen ihrer Meinung nach mögliche Ursachen für geringere bildungschancen von Migrantenkindern?

> Welche sozialen und politischen Konsequenzen ergeben sich ihrer Meinung nach daraus?

> Welche Maßnahmen könnten ihrer Meinung nach zu einer Verbesserung der bildungschancen junger Migrantinnen und Migranten führen?

Bildungsperspektiven von jungenMigranten in Deutschland

Auswahl Insgesamt Hauptschule Realschule Gymnasium Gesamtschule Sek. I Sek. I Land NRW 1.194.095 267.156 337.697 395.407 193.835 22,4% 28,3% 33,1% 16,2% Schülerinnen und Schüler 141.438 59.002 31.058 18.347 33.031 mit Migrationshintergrund 41,7% 22,0% 13,0% 23,4%

BildungsbeteiligungNrW – Schuljahr 2005/06

Auszug aus: www.bildungsportal.nrw.deStand: 15.5.2007

Quelle: J. Söhn/V. Özcan: bildungsdaten und Migrationshintergrund; aus: Migrationshintergrund von Kindern und Jugendlichen: Wege zur Weiterentwicklung der amtlichen Statistik, bildungsreform band 14, bundesministerium für bildung und Forschung, bonn/berlin 2005

Page 19: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

»Abziehen« – Ursache und Wirkung eines Phänomens

– Ein Modewort und seine Bedeutung

Der Begriff »Abziehen« wird von Jugendlichen unter-schiedlich gebraucht. Das verbale »Abziehen« kann be-deuten, dass man jemandem schlagfertig antwortet, ihn so vielleicht blamiert oder mundtot macht. Die Bandbreite der Möglichkeiten geht dabei von freund-schaftlichem Frotzeln bis hin zur aggressiven verbalen Erniedrigung. In jedem Fall aber wird dem »Abge-zogenen« gegenüber die eigene Überlegenheit oder auch die einer Gruppe demonstriert. Dieses verbale »Ab-ziehen« findet häufig auch in Chatrooms für Jugend-liche statt. Auch beim »Abziehen« von Geld, Kleidungsstücken oder Wertgegenständen geht es um weit mehr als um das bloße »Wegnehmen«. Vielfach spielt ein gestörtes Selbstwertgefühl in Verbindung mit dem Neid der Täte-rinnen und Täter auf das ihrer Meinung nach ungerech-terweise privilegierte Opfer eine Rolle. Bei den Gegen-ständen, die »abgezogen« werden, handelt es sich oft um begehrte Statussymbole, etwa Markenbekleidung oder Handys. Darüber hinaus bedeutet aber das »Abzie-hen« vor allem eine bewusste Erniedrigung des Opfers, die den Tätern ein Gefühl der Stärke und Dominanz gibt. – Vorgehensweise der Täter

»Abziehen« ist ein Delikt, das selten von Einzelnen be-gangen wird. Häufig spielen Gruppenzwänge oder der Wunsch, sich vor der Gruppe zu beweisen, eine erheb-liche Rolle. Das Selbstwertgefühl der Täterinnen und Täter und ihre Stellung in der Gruppe ist vom kontinu-ierlichen Erfolg der Übergriffe abhängig; jeder Misser-folg schwächt die Täterinnen und Täter und macht sie in ihren eigenen Augen und denen der Gruppe zu Ver-sagern.

Die Übergriffe erfolgen häufig an solchen Plätzen, an denen die Täterinnen und Täter regelmäßig »abhän-gen« und die Erfahrung gemacht haben, dass sie kaum ernsthafte Einmischungen zu befürchten haben. Die potenziellen Opfer werden gezielt ausgesucht, unsicher und ängstlich wirkende Jugendliche bieten ein ideales Angriffsziel. Bei der Beurteilung der Opferpersönlich-keit spielen Körpersprache und Mimik eine erhebliche Rolle. Zu Beginn der Situation werden meist erst einmal die Reaktionen und die Verteidigungsbereitschaft der Opfers ausgetestet. So begegnen die Angreifer ihren Opfern zunächst mit geringeren Grenzüberschreitungen wie aggres-sivem »Schnorren« oder auch Provokationen, etwa Rempeleien oder aggressiven Fragen, die den Opfern eine angebliche Beleidigung unterstellen und sie in eine Verteidigungsposition bringen. Die Opfer werden in Widersprüche verstrickt, körperlich bedrängt und ge-zielt dazu gebracht, den Überblick über die Situation zu verlieren und Angst zu zeigen. Anschließend werden die Opfer meist verbal erniedrigt oder auch körperlich misshandelt, entweder um einer Erpressung Nachdruck zu verleihen, oft aber auch nur um ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass die Täterinnen und Täter sie völlig in der Hand haben. Gerade wenn Opfer und Täter sich kennen und sich regelmäßig begegnen, etwa in der Schule, spielt dieser Faktor eine wichtige Rolle und wird leicht zum Teufelskreis für die Opfer. – Folgen für die Opfer

Doch nicht nur die Angst vor Drohungen, beim Verrat erneut zum Opfer zu werden, lässt viele Jugendliche, die »abgezogen« wurden, schweigen. Besonders Jungen schämen und verachten sich selbst dafür, dass sie es nicht geschafft haben, sich zu verteidigen, obwohl sie unter Umständen gar keine Chance dazu hatten. Die Angst vor möglichen Vorwürfen und der Enttäuschung der Umgebung verstärkt diese Gefühle. Hinzu kommt, dass die gezielte Verwirrungstaktik der Angreifer oft dazu führt, dass die Opfer den genauen Handlungsab-lauf nicht mehr rekonstruieren können und befürchten müssen, dass man ihnen nicht glaubt. Viele unsichere Jugendliche haben ohnehin schon ein eher negatives Bild als Versager von sich selbst, dieses wird durch die

ar

bei

tspa

ket

wu

t

19

»Abziehen« in WUT

Page 20: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Erniedrigung des »Abziehens« und die Opferrolle wei-ter verstärkt, unter Umständen sogar verfestigt. Gerade wenn die Opfer den Angreifenden nicht aus dem Weg gehen können, wird die Situation für viele Jugendliche schnell aussichtslos. Je länger Opfer schweigen, umso erpressbarer werden sie. Manche Opfer versuchen, wie im Film die Figur des Felix, sich den Täterinnen und Tätern immer weiter anzunähern, um als Freundin oder Freund akzeptiert zu werden und so der Gewalt zu entkommen. Viele Jugendliche, die in sozialen Brenn-punkten leben, sehen für sich selbst oft keine andere Chance, der Opferrolle zu entkommen, als zur Mitläu-ferin oder zum Mitläufer zu werden. – Bestätigung der eigenen Überlegenheit

Die Provokateure hingegen erleben, dass ihr Verhalten und ihre Drohungen erfolgreich sind. Die zunehmende Schwäche der Opfer befriedigt ihr Bedürfnis nach Be-stätigung der eigenen Überlegenheit. Gleichzeitig hängt ihr Status in der eigenen Gruppe davon ab, dass die ver-teilten Rollen erhalten bleiben. Die Hoffnung auf eine mögliche Einsicht oder Mitleid mit dem Opfer ist also eher unrealistisch. Sie haben nur dann Grund, ihr Ver-halten zu ändern, wenn ihr Status bedroht ist, etwa wenn ihr Verhalten öffentlich gemacht wird und sie selbst unter Druck geraten oder mit unerwünschten Konsequenzen rechnen müssen. – Wie kann Öffentlichkeit hergestellt werden?

Über das »Abziehen« zu reden, ist für die Opfer pein-lich, vor allem wenn sie das Gefühl haben müssen, öf-fentlich zu Außenseitern und Versagern abgestempelt zu werden. Die Bearbeitung des Films WUT im Unter-richt bietet die Möglichkeit, diesen Themenkomplex mit Schülerinnen und Schülern zu erörtern, ohne Be-troffene zu zwingen, sich selbst als Opfer preiszugeben. Der Austausch über die unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen verdeutlicht ihnen möglicherweise, dass es sich bei ihren Erlebnissen nicht um Einzelfälle

handelt, und eröffnet ihnen damit neue Handlungs-perspektiven. Daher ist es wichtig, Möglichkeiten der Prävention und der Deeskalation zu erarbeiten. Auch die Zusammenarbeit mit Hilfe bringenden Stellen, z. B. von Beratungsdiensten der Kriminalpolizei, bietet sich an, weil so unter Umständen Schwellenängste in Bezug auf eine Kontaktaufnahme abgebaut werden können.

Stephanie Hölter-Sturmführt als Sonderschullehrerin in Solingen Projekte zur Gewaltprävention mit Schülerinnen und Schülern durch.

ar

bei

tspa

ket

wu

t

20

Page 21: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

»Abziehen« –Rechtliche Hintergründe

Strafrechtlich gesehen stellt das »Abziehen« entweder »Raub« dar, der nach § 249 StGB (Strafgesetzbuch) ver-folgt wird. Oder es handelt sich um »räuberische Er-pressung«, die unter die §§ 253, 255 StGB fiele. Um »Raub« handelt es sich, wenn durch Androhung eines »empfindlichen Übels« oder unter Anwendung von Ge-walt das Opfer gezwungen wird, die Wegnahme einer Sache zu dulden. Bei der »räuberischen Erpressung« wird das Opfer gezwungen, selbst die Sache herauszu-geben. Für das Strafmaß spielt die Abgrenzung aller-dings keine Rolle. Beide Taten werden als Verbrechen mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe (keine Geld-strafe möglich!) bestraft, und zwar im Grundsatz unab-hängig vom Wert der Sache. Nur in Ausnahmen liegt ein minder schwerer Fall vor, der eine geringere Bestra-fung ermöglicht. Wird die Tat mit einer Waffe oder einem sonstigen gefährlichen Werkzeug verübt, gilt so-gar als Mindeststrafe drei Jahre (im Vergleich dazu: Bei Totschlag ist eine Mindeststrafe von fünf Jahren vorge-sehen). Die o. g. Strafmaße gelten natürlich nur für Er-wachsene. Kinder unter 14 Jahren sind noch nicht straf-fähig. Bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren beste-hen besondere Sanktionsmöglichkeiten, und das Straf-maß ist reduziert. Bei ihnen prüft der/die Jugendrich-ter/Jugendrichterin, ob sie strafrechtlich verantwort-lich sind, sie also aufgrund ihrer geistigen und sittlichen Entwicklung in der Lage sind, das Unrecht der Tat ein-zusehen. Ist das der Fall, kann der Richter Erziehungs-maßregeln (z. B. Weisungen hinsichtlich des Aufent-haltsorts, eine Ausbildungsstelle anzunehmen, an sozi-alen Trainingskursen teilzunehmen) oder Zuchtmittel (Verwarnung, Auflagen und Jugendarrest) anordnen. Wenn das nicht ausreicht oder eine Strafe wegen der Schwere der Schuld erforderlich ist, kann er auch Frei-

heitsentzug in einer Jugendstrafanstalt verhängen. Für Raub oder räuberische Erpressung ist das Strafmaß auf eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und zehn Jahren reduziert. Die Mindeststrafen von einem bzw. drei Jahren Freiheitsstrafe gelten also nicht für Jugend-liche. Das Strafrecht berücksichtigt damit, dass Jugend-liche die Tragweite ihres Handelns nicht immer voll überblicken können, trotzdem müssen auch Jugend-liche mit harten Strafen rechnen, wenn sie Mitschüler »abziehen«.

Joachim EbhardtJahrgang 1974, hat an der Universität Mainz rechtswissenschaft studiert und in Mainz das referendariat absolviert. Seit 2002 arbeitet er im Justiziariat des Westdeutschen rundfunks Köln.

WUTChrista (Corinna Harfouch) tröstet ihren Sohn Felix (robert Höller), der regelmäßig »abgezogen« wird.

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

21

Page 22: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A22

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

Arbeitsaufträge

Sammeln Sie informationen zum Thema »Abziehen« in verschiedenen Medien, zum beispiel in Zeitungen, Zeitschriften und im internet! Versuchen Sie, informationen zu folgenden Fragestellungen zu finden:

> Wurden an ihrem Wohnort oder in der Nähe bislang konkrete Vorfälle von »Abziehen« oder ähnliche Gewaltdelikte unter Jugendlichen bekannt?

> Was weiß man über die Taten?

> Was weiß man über den/die Täter?

> Wie haben sich die Opfer verhalten?

> Gab es Zeugen? Wie haben sie reagiert?

> ist die Polizei eingeschritten?

> Was wurde »abgezogen«?

> Wie reagierte die »Öffentlichkeit«?

> Gibt es in ihrem Ort, Stadtteil oder an ihrer Schule Projekte oder Maßnahmen gegen Gewalt unter Jugendlichen?

> Welche Möglichkeiten der Gewaltprävention kennen Sie und welche halten Sie für sinnvoll?

Vorschläge zur Erweiterung

> Führen Sie Umfragen zum Thema »Abziehen« unter ihren Mitschülerinnen und Mitschülern durch, werten Sie die ergebnisse aus und präsentieren Sie sie, zum beispiel in der Schülerzeitung.

> Für weitere informationen zum Thema Gewaltprävention können Sie sich auch an die Jugendämter oder das für ihren bezirk zuständige »Kriminalkommissariat Vorbeugung« wenden.

»Abziehen«

Page 23: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A2�

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

»Abziehen« (Cluster)

Was wissen Sie über »Abziehen«?

Ordnen Sie Ihr Wissen nach der Cluster- Methode: Überlegen Sie gemeinsam und notieren Sie stichwortartig, was Ihnen zu den einzelnen Fragen einfällt! Ergänzen Sie weitere Fragefelder!

Arbeitsaufträge> Vergleichen Sie ihre ergebnisse mit denen anderer Gruppen!

> erstellen Sie mit Hilfe ihrer Arbeitsergebnisse gemeinsam ein großes Wandzeitungs-Cluster!

> erarbeiten Sie, wie die einzelnen Unterpunkte miteinander in Verbindung stehen!

Wen?

Wer?

Wie?

Wo?

Warum?

Was?

Abziehen

(grUppenArbeiT)

Page 24: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Ergebnisse einer qualitativen Studie mit türkischen und deutschen Jugendlichen

– Wie wirkt WUT?

Der Fernsehfilm WUT, eine wdr-Produktion unter Re-gie von Züli Aladag, ist ein Film über Jugendgewalt und Integration in Deutschland, ein Film über den Zusam-menprall zweier Kulturen. Als Teenager mit bildungsbürgerlichem Hinter-grund ist der Schüler Felix in WUT ein willkommenes Opfer für den jungen Berliner Türken Can. Hilflos er-trägt der 14-Jährige die Schikanen des Türken, bis sein Vater Simon eingreift. Die Situation spitzt sich zu: Can beginnt, die Professorenfamilie systematisch zu terro-risieren. Schließlich wendet Simon selbst Gewalt gegen Can an. Schon vor der Ausstrahlung erhitzte der Film die Gemüter und führte zu einer polarisierten Diskussion über seine Wirkungen. Ist das Werk jugendgefährdend oder gar fremdenfeindlich? Oder ist der Film ein »küh-ner Kontrapunkt« (epd medien, 23. September 2006) in der Integrationsdebatte, indem er schonungslos die Wirklichkeit thematisiert? Zeigt er doch sowohl die Kriminalität des Türken Can als auch die hilflose Libe-ralität einer deutschen Professorenfamilie, in deren Alltag eine fremde Kultur einbricht. Der Sendetermin für den Fernsehfilm WUT, dessen Ausstrahlung ursprünglich für den 27. September 2006 um 20.15 Uhr im Ersten geplant war, wurde aufgrund von Bedenken der Jugendschutzbeauftragten von den Intendanten der ard kurzfristig auf einen späteren Ter-min, und zwar auf Freitag, den 29. September, 21.45 Uhr, verschoben. Hier sahen rund 2,7 Mio. Zuschauerinnen und Zuschauer den Film (Marktanteil 12,5 Prozent); die im Anschluss gezeigte Diskussionsrunde zum Thema »Tatort Schule« schalteten 1,27 Mio. Zuschauerinnen und Zuschauer ein.

– »Focus groups«

Schon bevor die kontroverse öffentliche Diskussion um WUT begann, wurde von der wdr-Medienforschung eine qualitative Untersuchung zur Wirkung des Fern-sehfilms in Auftrag gegeben. Ausgangspunkt für diese Studie war die Frage, wie türkische und deutsche Ju-gendliche auf WUT reagieren, welche Emotionen ausge-löst und welche Diskussionen in Gang gesetzt werden. Das Institut result führte dazu jeweils zwei »focus groups« mit türkischen und deutschen Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 19 Jahren durch. Nach einer ein-führenden Gesprächsrunde wurde den Teilnehmern WUT gezeigt, anschließend wurde ausführlich über die Reaktionen auf den Fernsehfilm gesprochen. Die »focus groups«, die im September 2006 in Köln und Essen statt-fanden, wurden von der türkischstämmigen Psycho-login Deniz Baspinar moderiert. Im Ergebnis dieser Untersuchung zeigt sich, dass die türkischen und deutschen Jugendlichen WUT sehr differenziert beurteilen. So spielen z. B. die Gewalt und Brutalität des Films in der Diskussion der Jugendlichen nur am Rande eine Rolle, psychologisch wirksamer sind ganz andere Elemente der Geschichte.

– Wie sollen wir miteinander leben?

Während der Rezeption wird der Film WUT von den Jugendlichen hochkonzentriert verfolgt und löst als erste Reaktionen Betroffenheit, Traurigkeit und eine gewisse Leere und Ratlosigkeit aus. Aus diesem Grund sprechen sich die Jugendlichen ausdrücklich für eine anschließende Diskussion im Fernsehen aus. Auch in der Schule könne der Film gezeigt werden und eine längst überfällige Diskussion anstoßen. Kernfrage: Wie sollen wir (miteinander) leben? Die jugendlichen Diskussionsteilnehmer beschrei-ben im Anschluss an den Film eine »gemischte Gefühls-lage«. Man fühlt sich selber hilflos, verwirrt und be-drückt: »Ich fühle mich ganz komisch.« Der Film hin-terlässt offenbar eine »seltsame Leere«, man möchte das Gesehene »abschütteln«, gleichzeitig aber auch of-fene Fragen klären bzw. sich mit den Mitrezipienten austauschen, um eigene Gefühle bestätigen zu können. Viele Teilnehmer zeigen sich geradezu dankbar, den

WUTDer Hobby-Cellist Felix Laub (robert Höller) trifft unterwegs zufällig auf Cans Gang. An den Jungs kommt er einfach nicht vorbei …

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

Wirkung von WUT

ar

bei

tspa

ket

wu

t

2�

Page 25: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Film in einer Gruppe gesehen zu haben: »Es ist gut, dass wir jetzt darüber reden können, so werden einzelne As-pekte noch mal klarer.« Ein Grund, warum sich viele der Jugendlichen »seltsam« fühlen, mag darin liegen, dass es kaum ge-lingt, einen »Schuldigen« für die brutale und traurige Entwicklung der Geschichte ausfindig zu machen. Zwar sind sich die Probanden bewusst, dass die Figur Can mit »fiesen Mitteln« gearbeitet habe, um die Familie von Simon Laub (und insbesondere Simon Laub selber) in die Enge zu treiben. Gleichzeitig sieht man aber auch den als »schwächlich« erlebten Professor und seinen »orientierungslosen« Sohn als mitverantwortlich für die Ereignisse.

– Zwischen Tradition und Moderne

Die Jugendlichen nehmen keine eindeutige Täter- und Opferzuschreibung vor. Im Gegenteil, der Film bewirkt eine differenzierte Wahrnehmung der Figuren. Insbe-sondere der türkische Jugendliche Can wird gleicher-maßen als Täter und als Opfer erlebt. Die Jugendlichen sehen in Can zwei Seiten: Nach außen verkörpert er den »machohaften Boss«, der an-deren Befehle erteilt. Er ist der »Macher« in seiner Gang, die übrigen Gang-Mitglieder schauen bewundernd zu ihm auf, gehorchen seinen Regeln. Nach innen ist Can dagegen der unterwürfige Sohn, der seinem Vater Re-spekt zollt, sich der Familienkultur anpasst. Gerade diese Unterwürfigkeit machen die Jugendlichen für sei-ne Zerrissenheit verantwortlich: Er sehnt sich nach Lie-be und Anerkennung, die er bei seinem ebenso strengen wie strenggläubigen Vater nicht erhält. Genau diese Sehnsucht hat ihn »auf die schiefe Bahn« kommen las-sen: Er lebt sein Bedürfnis nach Anerkennung und Macht als Kleinkrimineller und Drogendealer aus. Um das Vertrauen seines Vaters dennoch nicht zu verlieren, baut er für diesen eine »Scheinwelt« als »guter Sohn« auf. Das kommt zumindest den türkischen Jugend-lichen bekannt vor: Im Spannungsfeld zwischen stren-gen türkischen Traditionen und einer modernen, eher kalten Außenwelt versuchen auch sie, einerseits ihren Eltern, andererseits ihren Freunden und Kameraden unterschiedliche (und kaum zueinander passende) Le-bensentwürfe zu vermitteln. Dem Film WUT gelingt es

an dieser Stelle offenbar, die Methoden der befragten türkischstämmigen Jugendlichen, mit dem eigenen Konflikt zwischen den beiden Kulturen umzugehen, transparent zu machen. Der Konflikt wird in einer Spal-tung beider Kulturen aufgelöst: Man führt eine Art Doppelleben, um weder den Kontakt zur Außenwelt noch den Kontakt zur eigenen Familie und zu den tür-kischen Wurzeln zu verlieren. Sowohl deutsche als auch türkische Jugendliche zeigen sich gegenüber der wahrgenommenen Zerris-senheit der Figur Cans empathisch: Ihnen erscheint Can in erster Linie hilflos. Da er nie gelernt hat, Gefühle zuzulassen, hat sich in ihm eine WUT angestaut, die er aus Neid auf Felix und dessen vermeintlich »verständi-ge und heile« Familie – gereizt durch den zunächst ver-mittelnden und im Verlauf immer aggressiver wer-denden Professor – an ebendieser Familie auslässt. Dabei gilt für die Befragten das Verstoßenwerden Cans durch seinen Vater als Auslöser, der »das Fass zum Überlaufen« bringt.

– »Mit einem Bein auf Terrorseite …«

Der Film wird in der Ausgangssituation mehrheitlich als realistisch eingeschätzt: Drogen, »Abziehen«, Ge-walt sowie Probleme zwischen deutschen und tür-kischen Jugendlichen gehören für viele zum Alltag. Fast alle Jugendlichen haben in der einen oder anderen Weise bereits Erfahrungen mit Vorurteilen/Konflikten zwischen deutschen und türkischen Jugendlichen ge-sammelt. Die türkischstämmigen Jugendlichen fühlen sich immer wieder abgewertet. Sie haben häufiger Situati-onen erlebt, in denen sie sich ihrer Herkunft wegen rechtfertigen mussten, und berichten von dem Gefühl, »oft schief angesehen« zu werden: »Uns wird oft unter-stellt, irgendetwas verbrochen zu haben.« In der deut-schen Gesellschaft herrsche (spätestens seit Ereignissen wie dem 11. September 2001, dem Ehrenmordprozess, den Diskussionen um die Rütli-Schule) das Vorurteil vor, (türkische) Ausländer seien latent religiös fana-tisch und »mit einem Bein auf Terrorseite«. Dieses durch Vorurteile hervorgerufene Misstrauen wird als »demoralisierend« erlebt. Man fühlt sich dabei oft ähn-lich hilflos wie der im Film dargestellte Can.

WUTSimon (August Zirner, re) will bei der Polizei Anzeige gegen Can erstatten. Felix (robert Höller, mi.), der als Zeuge dringend gebraucht wird, geht das zu weit.

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

2�

Page 26: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Auch die deutschen Jugendlichen berichten von ne-gativen Erfahrungen mit türkischen Jugendlichen. Bei ihnen setzt sich das Gefühl fest, Türken »unterstellten« ihnen Vorurteile und provozierten und bestätigten di-ese durch aggressives Verhalten: »Es gibt auch Türken, die sich ganz normal verhalten. Aber viele provozieren die Vorurteile«, »man braucht einen Türken nur anzu-gucken, schon gibt’s Ärger«. Zwar berichten einige der deutschen Jugendlichen, im Freundeskreis auch mit türkischstämmigen Jugendlichen Umgang zu haben, die Mehrheit »gettoisiere« sich aber absichtlich und baue so »Grenzen« auf, die wiederum zu Vorurteilen und Misstrauen führten. Allerdings lehnen es sowohl deutsche als auch tür-kische Jugendliche ab, den Film auf den Konflikt zwi-schen Deutschen und Türken sowie auf das Thema Ge-walt reduziert zu sehen. Das Hauptthema für die Ju-gendlichen sind die Familienbeziehungen: Der Vater-Sohn-Konflikt ist für sie der eigentliche Motor der Handlung. Im Mittelpunkt der Diskussion um die Frage »Wie konnte es so weit kommen?« stehen für die Jugend-lichen die beiden Figuren Can und Felix und ihr jewei-liger »Platz« innerhalb der Familie. Man fühlt sich den beiden Protagonisten aufgrund des ähnlichen Alters nahe, meint, Jugendliche mit ähnlichen Problemen aus dem eigenen Umfeld zu kennen (und lehnt gleichzeitig eine direkte Identifikation mit einer der beiden Figuren ab: »Meine Familie ist nicht so verkorkst« – »Es gibt auch moderne türkische Familien«). Entsprechend löst die Beziehung bzw. Nichtbezie-hung der beiden jugendlichen Protagonisten zu ihren Vätern große Betroffenheit aus. Die Spannung zwischen Migranten und Deutschen stehe nur vordergründig im Fokus der Geschichte, sie diene als Auslöser für die Er-eignisse. »Dieser Ausländerkonflikt ist eigentlich nur die Oberfläche, das hätte auch zwischen Deutschen pas-sieren können.«

– Fazit

Im Ergebnis dieser Untersuchung zeigt sich also, dass die türkischen und deutschen Jugendlichen den Film in erster Linie über die Vater-Sohn-Beziehung entschlüs-seln. Die Schattenseiten der jeweils eigenen Familien-

kultur werden freigelegt. Die deutschen Jugendlichen thematisieren die Unverbindlichkeit und Beliebigkeit in der deutschen Familie. Die türkischen Jugendlichen sehen sich im Spannungsfeld zwischen stark reglemen-tierten traditionellen Familienstrukturen und westli-cher Lebenswelt und sehnen sich in beiden Welten glei-chermaßen nach Wahrnehmung ihrer Person. Dabei wird deutlich, wie stark die in der öffent-lichen Diskussion antizipierte Wirkung von WUT und die tatsächliche Wahrnehmung der Zuschauerinnen und Zuschauer auseinanderklaffen. So spielen z. B. die Gewalt und Brutalität des Films in der Diskussion der Jugendlichen nur am Rande eine Rolle, psychologisch wirksamer sind andere Elemente der Geschichte, so z.B. die Vater-Sohn-Beziehungen auf deutscher wie auf türkischer Seite. Dennoch sind die alltäglichen Integra-tionskonflikte und die Frage »Wie können wir mitein-ander leben?« für die Jugendlichen von hoher Brisanz. Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten. In diesem Sinne soll WUT zunächst eine längst überfällige Diskussion anstoßen, wie wdr-Fernsehfilmchef Geb-hard Henke betont: »Die Debatte über Integration ist in Deutschland gerade erst richtig entbrannt. Ein Film soll ein Beitrag zu dieser Diskussion sein, auch wenn er kein ›gutes‹ En-de hat und keine Lösung aufzeigt. Wir stellen mit den Mitteln der Fiktion eine schwierige Realität dar, die ins-besondere von Erwachsenen nicht gern gesehen wird. Kinder und Jugendliche, die den Film kennen, reagie-ren ganz anders. Sie finden gut, dass wir zeigen, welche Form von Gewalt auf Schulhöfen und auf der Straße vorkommt und welche Sprache dort gesprochen wird. Sie knüpfen daran an und wollen wissen: ›Was macht man jetzt damit?‹«

Erk SimonJahrgang 1964, studierte an der Universität zu Köln Soziologie, Psychologie und Germanistik. Seit 2001 arbeitet er als Medienforscher beim Westdeutschen rundfunk (Hauptabteilung Kommunikation Forschung und Service). Hier ist erk Simon seit 2003 fachlich verantwortlich für den bereich Fernsehforschung.

Regine HammeranJahrgang 1963, hat in bonn Diplom-Psychologie studiert. Seit 1995 arbeitet sie als Studienleiterin bei result, einem in Köln ansässigen institut für Medien- und Marktforschung.

TÜrKiSCH FÜr ANFÄNGerintegration am Vorabend: Die ard-Serie TÜrKiSCH FÜr ANFÄNGer handelt von den ereignissen und Lebensumständen einer deutsch-türkischen Familiengemeinschaft. Die Serie wurde sowohl mit dem Deutschen Fernsehpreis 2006 wie auch mit dem Civis Medienpreis 2007 ausgezeichnet.

© a

rd/r

icha

rd H

übne

r

ar

bei

tspa

ket

wu

t

2�

Page 27: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Ergänzende Fragen und Aufgabenstellungen:

> Welche Aspekte prägten die kontroverse öffentliche Diskussion vor der Ausstrahlung des Fernsehfilms WUT?

> recherchieren Sie, wie der begriff »jugend- gefährdend« im Jugendschutzgesetz (JuSchG)

und im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) definiert wird und welche Schutzbestim-mungen vorgesehen sind. Wie beurteilen Sie selbst den Film WUT in diesem Kontext?

> in der beschriebenen Studie der wdr-Medien-forschung beurteilen die befragten Jugendlichen die Ausgangssituation des Filmes mehrheitlich als realistisch. Sowohl deutsche als auch türkische Jugendliche haben bereits erfahrungen mit Vorurteilen/Konflikten zwischen deutschen und türkischen Jugendlichen gesammelt. Skizzieren Sie, welche Aspekte dabei vorwie-gend genannt werden, und stellen Sie sie einander gegenüber. Vergleichen Sie die genann-ten Punkte mit ihren eigenen erfahrungen. Wo sehen Sie Ansätze zu einer Annäherung der beiden Kulturen?

> Welche Gesichtspunkte ziehen die Jugendlichen bei der Analyse der Figuren von Can und Felix heran?

> Weshalb halten die Jugendlichen mehrheitlich den Vater-Sohn-Konflikt für den eigentlichen Motor der Geschichte und wie stehen Sie selbst dazu?

WUTes gibt Spannungen zwischen Can (Oktay Özdemir, li) und seinem Vater (Demir Gögköl): dem konservativen Vater gefällt die Lebensform seines Sohnes ganz und gar nicht.

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

2�

Page 28: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A2�

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

Wie soll ein Vater sein? Welche Aufgaben hat er zu erfüllen? Welche Kompetenzen hat er? Und: Wie wichtig sind Väter für ihre Söhne? Die Vorstellungen von Vaterschaft hängen in erheblichem Maße von den Normen, Sitten und Gewohnheiten, aber auch den Umweltbedingungen bestimmter Kulturen ab. Damit sind sie einem ständigen Wandel unterworfen. In früheren Zeiten, vor allem vor der Industrialisie-rung, hatte der Vater nicht nur die Funktion, Frau und Kinder zu ernähren und zu beschützen; er hatte innerhalb der Familie weitreichende Kompetenzen als juristische und moralische Instanz und zu seinen Aufgaben gehörte auch die Erziehung und Sozialisation vor allem der Söhne, etwa bei der Einführung in das eigene Handwerk oder Gewerbe. Schon früh lernten Jungen durch tägliche praktische Anschauung, welche Rollenerwartungen an sie gestellt wurden und welche Normen und Werte mit dieser Rolle verknüpft waren. Heutzutage scheint es oft so, als wären Väter in unserer Gesellschaft nahezu funktionslos geworden. Erziehung und berufliche Bildung scheinen zunehmend Aufgabe öffentlicher Institutionen geworden zu sein. Werte und Normen werden überwiegend durch die Medien vermittelt. Nur noch selten arbeiten Väter zu Hause, die geschlechtsspezifischen Grenzen in der Arbeitswelt sind fließend geworden. Frauen übernehmen freiwillig oder gezwungener-maßen immer häufiger die alleinige Verantwortung für die Versorgung der Kinder. Gleich-zeitig alarmieren zunehmende Fallzahlen von frühen Verhaltensstörungen, zunehmender Kriminalität und Gewaltbereitschaft sowie Berichte über sinkende schulische Erfolge von Jungen und lassen Forderungen nach Maßnahmen gegen eine »vaterlose Gesellschaft« laut werden. Staatliche Maßnahmen wie das Elterngeld können Anreize für Väter bieten, sich aktiv mit der Erziehungsarbeit auseinanderzusetzen, doch die Auseinandersetzung über die Rolle von Vätern in unserer Gesellschaft sollte sicher weiter gehen.

Stephanie Hölter-Sturm

Arbeitsaufträge

> Welche rolle spielt die beziehung von Can und Felix zu ihren Vätern für die Geschichte?

> Welche Schlüsselszenen schildern ihrer Meinung nach besonders deutlich das jeweilige Verhältnis, das Felix und Can zu ihren Vätern haben? Woran wird das deutlich?

> Skizzieren Sie die zentralen Dialoge!

> Welche filmischen Mittel unterstreichen den Charakter der Szenen?

> Welche Vorstellungen von »Männlichkeit« haben die verschiedenen Protagonisten im Film?

> erarbeiten Sie eigene Positionen zur rolle von Vätern und führen Sie eine Podiumsdiskussion durch.

Rollenmodelle: Väter und Söhne

Väter und SöhneWenn mein Vater mit mir geht

Wenn mein Vater mit mir geht,dann hat alles einen Namen,Vogel, Falter, Baum und Blume.Wenn mein Vater mit mir geht,ist die Erde nicht mehr stumm. Kommt die Nachtund kommt das Dunkel,zeigt mein Vater mir die Sterne.Er weiß, wie die Menschen leben,weiß, was recht und unrecht ist,sagt mir, wie ich werden soll.

Josef Guggenmos

Page 29: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Seriöse Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen

»Der Film setzt sich auf seriöse Weise mit einem hoch-relevanten gesellschaftlichen Thema auseinander, näm-lich der teilweise gescheiterten Integration von Mig-ranten. (…) In ihm wird primär gescheiterte Kom-munikation als Grund für gescheiterte Integration ausgemacht, die WUT erzeugt und die Konfliktlösung durch Kommunikation erst recht unmöglich macht. Wenn die WUT erstmal angestachelt ist, dient Sprache nur noch der Demütigung und Denunziation. (…) Gleichzeitig vermeidet es der Film bewusst und deut-lich erkennbar, den ›bildungsfernen Schichten‹ allein die Schuld am Scheitern der Kommunikation zu geben. Er tut dies einerseits durch die Nebenhandlung, die die Ehekrise der Laubs als Scheitern von Kommunikation innerhalb einer gebildeten Schicht darstellt. Er tut dies zweitens durch die sehr genaue und differenzierte Be-obachtung des Scheiterns der Kommunikation zwi-schen den verschiedenen Schichten. Als Beispiel kann das erste Zusammentreffen zwischen den beiden Hauptkontrahenten Can und Simon Laub dienen (…). Simon Laub bezeichnet Can vor seiner Gang als »Schuhdieb« und macht sich in ironisch-gespreizter Sprechweise über den Diebstahl lustig. Can fühlt sich verpflichtet, sich vor seiner Gang aufzuspielen und fragt in seinem Slang, was Simon da »labere«. Simon Laub erwidert, er labere nicht, er rede, man könne doch ein-fach »normal miteinander reden«. Daraufhin äfft Can Simons Redeweise nach und provoziert Simon noch stärker in seinen Slang. Er und seine Gang beginnen schließlich zu rappen. Als Simons Verlangen nach einem normalen Gespräch ohne Erfolg bleibt und er weiter provoziert wird, fällt Simon nichts anderes ein, als Can »Arschloch« zu nennen und wegzugehen. Die Szene schildert gut, wie und warum Kommuni-kation zwischen den Schichten scheitern kann. Simon Laub will mit Can angeblich ›normal reden‹, demütigt ihn aber zuerst in einer Sprechweise, in der Can ihm nicht gewachsen ist. Can ist aber kommunikativ nicht so unterlegen, dass er das nicht sofort merkt. Er lässt

sich auf das ›normale Reden‹ nicht mehr ein, sondern macht es lächerlich und verwendet selbst eine Kommu-nikationsform, in der Simon ihm unterlegen ist: den Straßenslang und das Rappen als dessen extremste Form. Es zeigt sich, dass Simon bei der Konfrontation mit fremden Kommunikationsformen genauso hilflos ist wie Can, wenn er ›normal reden‹ soll. Am Ende bleibt Simon nichts anderes übrig, als sich auf Cans Kommu-nikationsebene ›herabzulassen‹ und dabei sein Ziel völ-lig zu verfehlen. In Simons Sprache kann man nur über Migranten reden, nicht mit ihnen. Solange jede Schicht nur die Kommunikation zulassen will, in der sie über-legen bleibt, kann kein Konflikt gelöst werden.«

Quelle: Dr. Martin Franz, M. A., berufungsschrift zum Jugendentscheid des Arbeitsausschusses der FSK, März 2007

WUT»Normal« miteinander reden funktioniert nicht. Can (Oktay Özdemir, mi.) wird handgreiflich.

Die Wirkung von Sprache in WUT

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

29

Page 30: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A30

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

Analysieren Sie mit Hilfe der folgenden Tabellen die Situation im Film!Sequenz: Felix’ Vater will mit Can »normal« reden (siehe Szenenauswahl DVD/Szene 3)

Wie wirken sich Sprache und Körpersprache aus?

Ablauf der Handlung:

Welche Ziele verfolgen die Hauptpersonen?

Can:

Simon:

Felix:

Welche Sprache setzen sie ein?

Can:

Simon:

Felix:

Wie wirkt ihre Körpersprache? Tipp: Schauen Sie sich die Szene ohne Ton an.

Can:

Simon:

Felix:

Ort der Handlung:

beteiligte Personen:

> Überlegen Sie, wer zu welchem Zeitpunkt die eskalation hätte verhindern können und entwickeln Sie die Szene neu.

> Schreiben Sie auf oder spielen vor, wie die Situation besser hätte ablaufen können.

Page 31: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Von den Fesselungskünsten eines Thrillers – mit welchen Stilmitteln WUT seine Geschichte erzählt

Ein guter Film rettet nicht die Welt, sondern einen Abend. Ein guter Film unterhält die Zuschauer zu-nächst einmal, er nimmt für sich ein, er nimmt gefan-gen, er fesselt. Ein guter Film ist keine »moralische An-stalt«, mit der man die Welt bevormundet, ein guter Film ist eine ganz eigene Welt. Ein guter Film gehorcht eigenen Regeln. Ein guter Film muss sein Handwerk be-herrschen, um seine Geschichte an die Zuschauer zu bringen. Wenn ein guter Film die Zuschauer nicht nur unterhält, sondern sie auch anregt, über die Geschichte des Films, seine Figuren und seine Formen nachzuden-ken, handelt es sich um einen sehr guten Film. Viel-leicht um Kunst. – Unzählige Genres

Alle Filme lassen sich einem Genre zuordnen. Filme, die sich selbst keinem Genre zuordnen lassen wollen, gehören dennoch immer zu einer Familie. Jeder Ausrei-ßer hat ein Zuhause, vor dem er flieht. Ein Genre ist eine bestimmte Filmgattung, eine Gruppe von Filmen, die sich durch Raum-, Zeit-, Orts- und Motivmerkmale gleichen. Es gibt unzählige Genres (ein jüngeres Film-lexikon spricht von 775 Filmgenre-Bezeichnungen), weil es immer neue Geschichten, neue Erzähler und stets ein neues, neugieriges und Unterhaltung suchen-des Publikum gibt. Es gibt, um nur die bekanntesten Genres zu nennen, Kriminalfilme, Westernfilme, Thril-ler, Action- und Liebesfilme, Familienfilme, Melo-dramen und Komödien. Jedes dieser Genres stellt be-stimmte Regeln und Gesetze auf. Ein Actionfilm wird kaum ohne Autoverfolgungsjagd und Helden auskom-men, ein Liebesfilm sollte uns einen romantischen Kuss anbieten, und eine Komödie hätte ihr Ziel verfehlt, wenn wir nur weinten. Gute Filme leben jedoch oft da-von, dass sie bestimmte Regeln infrage stellen, verlet-zen oder aber den Spielraum des Genres erweitern.

– WUT ist ein Thriller

WUT ist ein vielschichtiger Film. WUT ist erst einmal ein Spielfilm, keine dokumentarische Bestandsauf-nahme des deutsch-türkischen Dialogs, keine soziolo-gische Studie, kein politischer Kommentar, keine Be-schreibung der Integration von Ausländern. WUT ist ein Thriller, ein Film, der uns den Atem nehmen will, der uns in Hochspannung versetzt. WUT ist auch ein Film, der uns ein Familiendrama erzählt, ein Film über die Beziehung von Vätern und Söhnen und die Ge-schichte einer scheiternden Freundschaft. Ein Thriller will die Welt nicht abbilden, wie sie ist, ein Thriller will die Zuschauer aus der Alltagswelt entführen und sie in seine künstliche Welt hineinstoßen, aus der es kein Ent-rinnen gibt. Wenn die Zuschauer die Handschellen nicht fühlen, die ihnen der Thriller anlegt, dann ist es ein guter Film.

– Eine fundamentale Geschichte

Eine Familie muss sich gegen den Terror eines Ein-dringlings zur Wehr setzen. Das ist – im Kern – die Ge-schichte von WUT. Es ist eine alte, eine bekannte, eine fundamentale Geschichte. Der zentrale Konflikt in WUT besitzt deshalb eine Gültigkeit, die über den Tag und unsere Gesellschaft hinausreicht. Die Geschichte ist leicht zu verstehen. Wie wehrt man sich gegen einen Aggressor, ohne sich selbst aufzugeben? Wie wehrt man sich gegen Gewalt, ohne selbst zum Gewalttäter zu wer-den? Wie schützt man sich, ohne die eigenen Werte preiszugeben? Leichte Antworten auf diese Fragen sind nicht zu haben. Auch das zeichnet einen guten Film aus: Fragen aufzuwerfen, die uns quälen, die uns provozie-ren. – Variation bestimmter Erzählmuster

WUT ist ein Spielfilm, der in einer langen Reihe von Filmen steht, die ähnliche Geschichten erzählt haben. In »An einem Tag wie jeder andere« (USA 1955) muss sich ein Familienvater gegen drei Sträflinge zur Wehr setzen, die in sein Haus eindringen und seine Familie als Geiseln nehmen. In »Cape Fear« (dt. Titel: »Ein Kö-der für die Bestie«, USA 1962) terrorisiert ein entlas-sener Verbrecher die Familie des Anwalts, der ihn einst

WUTSimon Laub (August Zirner) ist von Cans Gang zusammen geschlagen worden.©

wdr

/Har

dy S

pitz

Filmische Stilmittel von WUT

ar

bei

tspa

ket

wu

t

�1

Page 32: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

hinter Gitter brachte. Diese Filme, diese Thriller hal-ten die Zuschauer in Atem, weil man mit den Opfern mitleidet, ihre Not spürt und fürchtet, dass es keinen Ausweg, kein gutes Ende für sie gibt. Täter und Opfer sind in diesen Filmen klar voneinander geschieden. WUT greift den Kern dieser Geschichte auf, aber der Film variiert bestimmte Erzählmuster und Figuren. Can ist nicht nur ein kleinkrimineller Dealer, der stiehlt und andere Jugendliche quält. Wir sehen ihn auch als verletzten, als gedemütigten Menschen, wir erleben ihn als Verlierer, der für seine Gefühle keine Sprache gefun-den hat, der sich Anerkennung und Respekt nur durch seine Kraft und Gewalt erzwingt. WUT ist also ein Thriller, der bestimmte Elemente seines Genres bedient und sich dabei die Freiheit nimmt, auf eine stereotype Figurenzeichnung zu verzichten. Alle haben Flecken auf der Seele. Helden? Fehlanzeige! – Eine Sequenz – verschiedene Funktionen

Die Sequenz, in der Can das erste Mal in das Haus von Felix eindringt, hat innerhalb des Films verschiedene Funktionen [siehe Szenenauswahl DVD, Szene 5]. Sie beginnt in der 13. Minute (13:20) und endet in der 19. Minute (19:25). Diese Sequenz, eine Abfolge von Szenen, verschärft den Konflikt, sie charakterisiert die Figuren in einer spannungsreichen Situation und sie verweist auf das Finale, in dem das Haus zum Schauplatz des tödlichen Duells wird. Das Haus und seine Wohnwelt stellen aber auch ein Statement dar, ei-nen Lebensentwurf, einen Statusbeweis, das Haus ist ein Raum, dessen Gestalt und Aussehen den Zuschau-ern etwas über die Wünsche und Sehnsüchte der Be-wohner erzählt. Ein guter Film sucht sich deshalb die Schauplätze seiner Geschichte sorgsam aus, weil er weiß, dass die Dinge eine eigene Sprache haben. – Bilder sprechen für sich

Das Zuhause von Felix und seinen Eltern erzählt eine Geschichte, die der Dialog nicht zu transportieren braucht. Die Bilder sprechen für sich. Die Szene beginnt so: Can fängt Felix vor dessen Haustür ab und nötigt ihn, sich zu ihrer Freundschaft zu bekennen. Dann überredet Can Felix mit massiver Zudringlichkeit, ihn

in das Haus eintreten zu lassen. Während Can auf Felix einredet, beobachtet die Kamera das Geschehen von innen, durch das Glas der Eingangstür. Allein diese Kameraposition schafft Spannung. Werden die beiden gleich eintreten? Ist etwa jemand im Haus, der Can und Felix beobachtet? Wie sieht es eigentlich drin-nen aus? Und wie wird Can auf diese ihm fremden Räu-me reagieren? Die Zuschauer sind angespannt und ge-spannt, weil sie gegenüber Felix einen Wissensvor-sprung besitzen. Sie wissen, dass Can etwas im Schilde führt, weil sein Vater ihn geschlagen hat. Diesen Wis-sensvorsprung der Zuschauer gegenüber der Figur nennt man Suspense, ein häufig benutztes Stilmittel im Genre des Thrillers. – Gut begründete Perspektiven

Als Can und Felix schließlich eintreten, steht die Ka-mera weit hinten im Raum und beobachtet die Figuren aus der Distanz. In der gesamten Sequenz bleibt die Ka-mera distanziert, sie rückt den Akteuren nicht zu dicht auf den Leib, es gibt keine Großaufnahmen, in de-nen nur das Gesicht gezeigt würde. Stattdessen bleibt die Kamera meistens in halbnaher oder halbtota-ler Distanz. Diese Perspektiven sind gut begründet. Es geht in dieser Sequenz darum, Can und Felix in einem Raum zu zeigen, wobei der Raum ein dritter Ak-teur ist. Das Haus ist die Welt, in die Can nicht gehört, und sie ist voller Zeichen und Symbole, die ihm fremd sind. Die Zuschauer sehen und lesen diese Wohn-welt auch als Gegenstück zu der Wohnung, in der Can aufgewachsen ist. Die Wohnung der türkischen Familie, die unmittelbar vor dieser Sequenz gezeigt wurde, ist ein Altbau, überall Teppiche, tiefe Sofas, üppige Vor-hänge, verspielter Zierrat, Kunstblumen, Tapeten mit wilden Mustern, Lampen, bunte Farben, gehäkelte Deckchen. Diese Wohnung strahlt Wärme, Behag-lichkeit aus. Sie hat keine Angst vor Kitsch, vor über-bordenden Details.

– Das Haus als Statussymbol

Die Wohnung der deutschen Familie will dagegen repräsentieren: Designermöbel, jedes Stück sorgsam ausgesucht und auf die Räumlichkeiten abgestimmt.

WUTSimon Laub (August Zirner) sammelt handfeste beweise für Cans kriminelles Treiben.©

wdr

/Har

dy S

pitz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

32

Page 33: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Kühle Flächen, Kunst an den Wänden, viel Glas, Stahl, Beton. Diese Wohnung soll Klarheit und Sachlichkeit darstellen. Can wirkt in diesem Umfeld deplatziert. Er spürt diese Fremdheit und Distanz sofort, er begreift das Haus mit seinem Garten und Swimmingpool als Statussymbole, die sich gegen sein Milieu und seine Herkunft abgrenzen. Instinktiv versteht Can, wie wich-tig dieser Raum und die Dinge in ihm für die Eltern von Felix sind. Er ist nicht nur gekommen, um, wie vom Va-ter befohlen, die Turnschuhe zurückzubringen, er ist gekommen, um sich zu rächen, zu revanchieren. Aller-dings wissen die Zuschauer nicht, wie weit Can gehen wird, welche Grenzen er verletzen wird. – Cans Körpersprache

Die Kamera weicht immer wieder zurück, um die In-teraktion zwischen Can und Felix zu beobachten. Can bewegt ständig die Schultern, sein Körper zuckt, er be-wegt sich schnell, er lässt sich nicht einordnen. Die Zu-schauer bekommen das Gefühl, dass Can gleich überall anstoßen wird. Felix dagegen ist in seiner Körper-sprache verhalten, er versucht, Cans Aktionsradius einzudämmen, ihn zu beschwichtigen, doch Can lässt sich weder beruhigen noch hinausdrängen. Während Can sein Gegenüber herausfordernd ansieht, schlägt Felix immer wieder die Augen nieder. Can droht, eine kostbare Vase fallen zu lassen. Die Gewalt, die von ihm ausgeht, hat zunächst noch einen spielerischen Charak-ter. Er wischt die Vase so beiläufig vom Schrank, als sei es ein Versehen. Er ahmt, äfft Sprechweisen nach, er heuchelt Mitgefühl, als Felix die Scherben der Vase auf-lesen will, er inszeniert sich selbst als Freund, verhält sich aber körpersprachlich wie ein Feind. Can greift sich ein Fotoalbum und entwendet eine Aktfotografie von Felix Mutter. Jeder seiner Schritte zielt darauf ab, die Intimsphäre zu verletzen. Die Zuschauer ahnen, dass die gestohlene Fotografie im weiteren Verlauf des Films noch eine Rolle spielen wird. Die Zuschauer werden in Atem gehalten, weil sie nicht wissen, wie sich diese Situation auflösen wird, und weil sie erwarten, dass gleich die Eltern von Felix nach Hause kommen. Wird die Situation dann eskalie-ren oder gelingt es den Erwachsenen, die Aggressionen abzubauen? Ein Thriller muss die Zuschauer stets aufs

Neue vor solche Fragen stellen, um sie zu binden. Die Neugier der Zuschauer wird angestachelt, gefüttert, aber nicht gestillt, ehe der Film vorbei ist.

– Um Leben und Tod

Als die Eltern von Felix eintreffen, sind alle Haupt-figuren versammelt, alle Figuren, die auch in der lang ausgespielten Schlusssequenz des Films eine Rolle spielen. In der abschließenden Szene, die mit dem Tod von Can endet, geht es von Anfang an um Leben und Tod, die Gewalt wird massiv ausgeübt und ist gegen die Körper gerichtet. Deshalb ist auch die Bildsprache in der Schlussszene eine andere: Die Kamera zeigt die Ge-sichter in Großaufnahmen, klebt an den Körpern, um die physische Gewalt spürbar zu machen. – Erwartung der Zuschauer

In dieser heranführenden, vorbereitenden Szene wird die Gewalt vor allem durch die Sprache ausge-übt. Die Körper halten sich noch an bestimmte Konven-tionen, die letzten Grenzen werden nicht überschritten. Diese Szene dient aber auch dazu, den Zuschauern deutlich zu machen, dass diese Grenzen brüchig sind, dass sie überschritten werden. Ja, der Film spielt einer-seits mit der Erwartungshaltung der Zuschauer, die die Grenzen überschritten sehen wollen, anderer-seits aber auch eine Sehnsucht nach Harmonie verspü-ren, den Wunsch, dass es zwischen Can und der Familie zu einer Einigung kommt. – Simons verbale Attacke

Man kann Cans Verhalten als Parodie auf bestimmte Seh- und Zuschauererwartungen deuten. Er ignoriert die Aufforderungen der Eltern, das Haus zu verlassen, und wirft sich selbst in die Rolle des Gastge-bers. Er gießt Whiskey ein und verkündet: »Bei uns in der Türkei stößt man an, wenn der Streit zu Ende ist.« Er spielt die Versöhnung nur. Alle wissen, dass der Streit nicht beigelegt ist, sondern durch Cans Verhalten forciert wird. Gegen seine massive Präsenz weiß sich die Familie nur mit sprachlicher Gewalt zu wehren. Simon Laub versucht sich zunächst mit bitterer Ironie

WUTCan (Oktay Özdemir,li) weiß als ungebetener Gast in Simon Laubs (August Zirner, re) Antritts- vorlesung genau, wie er den angehenden Professor aus der Fassung bringen und dessen guten Leumund zerstören kann.

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

��

Page 34: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Wichtige Fragestellungen, um eine Szene oder Sequenz zu analysieren:

> Aus welcher Perspektive und Distanz beobachtetdie Kamera das Geschehen?

> ist es eher eine kühl beobachtende Kamera oder mischt sie sich ein, rückt sie den Körpern dicht auf den Leib?

> Wie bewegen sich die Figuren im raum?

> Wie bewegen und verhalten sich die Figuren zueinander (szenische interaktion)? Sprechen die Körper? Gestik? Mimik?

> Wie ist der raum ausgestattet? Finden sich in ihm sprechende Dinge, Zeichen, Symbole?

> Welche Fragen werden aufgeworfen? Welche beantwortet?

> Welche informationen transportiert eine Sequenz?

> Wodurch werden die Figuren charakterisiert?

> Wie wird das Licht eingesetzt?

> Welchen Verlauf nimmt die Sequenz (einstieg, Pause, Höhepunkt, Ausstieg)?

> Sind die Figuren leicht einzuordnen, leicht zu durchschauen oder bleiben uns ihre Motive erst einmal fremd und dunkel?

und Hohn gegen Can zu wehren, doch diese Stilmittel verfangen nicht. Dann deklassiert Simon Laub den Jun-gen, indem er ihn, bildlich gesprochen, zum »Schuh-putzer« herabwürdigt. Damit trifft er einen wunden Punkt, er benutzt seinen sozialen Status, um Can zu demütigen, und schneidet ihm dadurch die Ehre ab: »Sagen wir doch einfach, Sie hatten sie zum Putzen. Sie haben gute Arbeit geleistet, gut geputzt, okay!« Diese verbale Attacke steigert Cans WUT, sie macht ihn erst einmal sprachlos. Er geht. Er umarmt noch ein-mal Felix. Wieder bleiben die Zuschauer im Unge-wissen. Umarmt Can Felix, weil er selbst Halt braucht? Kann es zwischen den beiden überhaupt noch Freund-schaft geben? Will Can signalisieren, dass das Spiel noch nicht vorbei ist? Die Sequenz schließt mit einem Dialog zwischen Can und Simon Laub, der versucht, wieder auf Can zuzugehen, weil er spürt, dass er den Jungen schwer beleidigt hat. Doch Can schlägt das Angebot aus, beleidigt nun seinerseits mit Kraft-ausdrücken und zieht, Drohungen ausstoßend, end- lich ab.

Dr. Torsten KörnerJahrgang 1965, lebt und arbeitet als freier Autor in berlin. er schrieb u. a. biographien über Heinz rühmann und Franz beckenbauer. er ist Juror des Adolf-Grimme-Preises und Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

WUTSimon Laub (August Zirner) nimmt – animiert von seinem Freund Michael (ralph Herforth) – für einen Probe-schluss zum ersten Mal in seinem Leben eine Waffe in die Hand.

© w

dr/H

ardy

Spi

tz

ar

bei

tspa

ket

wu

t

3�

Page 35: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A��

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

Se

quen

zO

rt u

nd Z

eit

der H

andl

ung/

Pers

onen

/Inh

alt

Tim

e-co

deK

amer

a(e

inst

ellu

ngsg

röß

e,

Pers

pekt

ive,

b

eweg

unge

n)

Bild

gest

altu

ng(L

icht

, Far

be,

Atm

osph

äre)

Ton/

Mus

ikAn

mer

kung

en/

Wir

kung

M

onta

geSzenenanalyseSequenzprotokoll

Page 36: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A3�

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

Ein Film erzählt niemals nur eine Geschichte, sondern er will auch eine bestimmte Wirkung erzeugen. Die Mittel, mit denen ein Film seine Geschichte erzählt, sind vielschichtig. Um nur einige zu nennen: Die Dramaturgie und die Montage, die Darsteller und ihr Spiel, die Geräusche und der Ton sowie die Auswahl und Ausgestaltung der Szenerie bestimmen wesentlich, wie der Film auf die Zuschauer wirkt. Ein weiterer und besonderer Faktor: die Kamera. Die Zuschauer eines Films sehen das Filmgeschehen immer durch das Auge der Kamera. Es besteht nicht – wie im realen Leben – die Möglichkeit, einen Standortwechsel vorzunehmen, eigenständig den Blick schweifen zu lassen, näher oder weiter heranzugehen. Was wir sehen können, bestimmt die Kamera. Sie wählt eine bestimmte Perspektive, also eine Sicht, aus der wir die Ereignisse verfolgen können. Durch die Kamerabewegungen bestimmt sie, welchen Teil der Handlung wir tatsächlich sehen können, wie nah oder fern wir dem Geschehen sind. Durch die Einstellungsgröße fokussiert sie unseren Blick auf einen kleinen oder größeren Teil des Geschehens. Je nachdem, wie viel wir von den Darstellern und ihrer Umgebung sehen können, wird unsere Aufmerksamkeit auf einen größeren oder kleineren Aktionsradius der Darsteller gelenkt. Die Kameraeinstellung beeinflusst damit, ob wir sehen können, was verschiedene Darsteller in diesem Moment tun, oder ob unsere Aufmerksamkeit nur auf die Körperbewegungen einer einzelnen Person, möglicherweise nur ihre Mimik, gerichtet wird. Durch diese Vorgaben bestimmt die Kameraführung unsere visuelle Wahrnehmung. Im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, etwa akustischen Eindrücken, die durch Musik oder Geräusche erzeugt werden, kann die Kamera so eine bestimmte Wirkung auf die Zuschauer erzeugen. Um zu verstehen, wie mit bestimmten filmischen Mitteln Wirkungen bei den Zuschauern erzeugt werden, lohnt es sich, genau hinzuschauen, wie welche Szenen aufgebaut (»aufgelöst«) worden sind. Das Zusammen-wirken der verschiedenen Faktoren ist sehr komplex; exemplarisch soll hier die Einstellungs-größe der Kamera untersucht werden.

Stephanie Hölter-Sturm

Arbeitsaufträge

> Überlegen Sie, in welchen Szenen ihnen die unten beschriebenen Kameraeinstellungen besonders aufgefallen sind. An welche visuellen eindrücke können Sie sich erinnern?

> Was war zu sehen, was nicht? Wie haben Sie dieses bild empfunden?

> Konnten Sie etwas hören, das sie nicht sehen konnten? Hätten Sie gerne mehr gesehen?

Stilmittel:Die Sprache der Kamera

Page 37: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A��

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

Totale: Verschafft den Zuschauern einen Überblick über die Örtlichkeit, enthält meist viele einzelinformationen.

Großaufnahme: Kopf erscheint bildfüllend.

Nahe: Zeigt die Person etwa zu einem Drittel ihrer Körpergröße.

Halbtotale: Zeigt die Person in voller Größe.

Einstellungsgrößen

Szene:

Darsteller:

Sichtbar:

Nicht sichtbar:

Wirkung auf Zuschauer:

Szene:

Darsteller:

Sichtbar:

Nicht sichtbar:

Wirkung auf Zuschauer:

Szene:

Darsteller:

Sichtbar:

Nicht sichtbar:

Wirkung auf Zuschauer:

Szene:

Darsteller:

Sichtbar:

Nicht sichtbar:

Wirkung auf Zuschauer:

Fertigen Sie Skizzen der Szenen im vorgesehenen Bildkasten an und beschreiben Sie kurz die Szene. Wo steht die Kamera? Welcher Aktionsradius des Darstellers/der Darsteller ist zu sehen? Was können die Zuschauer dadurch sehen? Was vermuten die Zuschauer? Welchen Charakter hat dieses Bild? Welche Absicht verfolgt der Regisseur mit dieser Darstellung?

Page 38: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Netzwerk Medienkompetenz des wdr

Der Fernsehfilm WUTArbeitspaket mit Unterrichts-materialien ab Klasse 9

Herausgegeben vom Westdeutschen rundfunk Kölnin Kooperation mit dem Medienzentrum rheinland

2. Auflage, Dezember 2007redaktionsschluss: 15. Mai 2007

GesamtleitungUlrike ries-Augustin (wdr)

redaktionAnnette busch-WiesenthalCarsten Schwecke Ute Teigler(alle wdr)

Gestaltung und SatzMohr Design, Köln

Umschlagfotos und Fotos Seiten 12 bis 14:© wdr/Hardy Spitz

Autorinnen und AutorenJoachim ebhardtDr. Martin Franzregine HammeranStephanie Hölter-SturmDr. Torsten KörnerMarcus KortmannCarsten Schweckeerk SimonDr. Michael Troesser

DVDMaking of WUTProduktion: Züli Aladag Kamera: Joachim DollhopfSchnitt: Christoph Herrmann

interview mit dem regisseurmit freundlicher Genehmigung der Mondo entertainment GmbH

realisationwdr mediagroup webservice GmbH

WUTeine Produktion der Colonia Media Filmproduktions GmbH im Auftrag des wdr

buch: Max eippregie: Züli AladagKamera: Wojciech SzepelMusik: Johannes KobilkeSzenenbild: Peter MenneSchnitt: Andreas WodraschkeProduzent: Christian Granderathredaktion: Wolf-Dietrich brücker

CastOktay ÖzdemirAugust ZirnerCorinna Harfouchrobert Höllerralph Herforth

Alle rechte vorbehalten.besonderer Dank an alle,die uns Materialien zur Verfügung gestellt haben.

© 2007, Westdeutscher rundfunk Köln

[email protected] im Handel erhältlich.

Impressum

ar

bei

tspa

ket

wu

t

3�

Page 39: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

A�9

ar

bei

tspa

ket

wu

t

cd cd-rom dvd

WUTArbeiTsblATT

Inhalt der DVD

WUT Der Film (88 Min.)

Szenenauswahl

Making of WUT (17 Min.)

interview mit dem regisseur Züli Aladag (37 Min.)

west.art am sonntagTrailer – Montage von Filmausschnitten (2:30 Min.)

cosmo tv (5:20 Min.)Premiere in berlin, reaktionen aus einer Duisburger Hauptschule

Aktuelle Stunde (4 Min.)reaktionen aus einer Wuppertaler Hauptschule

Page 40: Netzwerk Medienkompetenz des wdr Der Fernsehfilm WUT · Wer wütend ist, ist nicht bei sich, sondern außer sich. Wer wütend ist, kann nicht den Gesetzen der Vernunft folgen. Wut

Dieses Arbeitspaket ist kostenfrei. Finanziert aus Rundfunkgebühren.

[email protected]

Wir freuen uns auf ihre erfahrungsberichte und Anregungen: