New S Der Sommer der Befreiung - Tagebucharchiv · 2020. 5. 13. · Souvenirs.« In der Bibliothek...

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Zeitges c hi c hte Vor 75 Jahren begann in Europa der Frieden. Für die Deutschen wurden die Monate nach dem 8. Mai 1945 zur Zeit der Zigarettenwährung, des Hamsterns und der Selbstbefragung – Täter und Opfer irrten betäubt und verstört durch ein Land, das es so nicht mehr gab. G eorg Stefan Troller sitzt in seiner Wohnung, über den Dächern von Paris, vor sich ein Stück Kuchen, er hat sich bereit erklärt zu einer Reise in die Vergangenheit. Draußen liegt das 7. Arrondissement, Hagel schlägt an die Scheiben, Troller erzählt vom Krieg: wie er, der Jude aus Wien, als Soldat der U. S. Army zurückkehrte ins zerstörte Europa; wie er in München einzog, in die »Hauptstadt der Bewegung«; wie er an einem Tag in Hitlers Münchner Wohnung stand und wenig später durch das gerade befreite Konzentrationslager Dachau ging. Die Er- schütterung von damals ist noch heute zu spüren, 75 Jahre danach. Troller ist 1921 geboren, im Dezember wird er 99 Jahre alt. Der SPIEGEL hat ihn und andere Zeitzeugen besucht – in Paris und Hamburg, in Moskau, Bonn und Berlin. Wo die Pandemie ei- nen Besuch unmöglich machte, haben die Redakteure Telefongespräche geführt. Ergänzt wer- den die Erinnerungen durch Tagebucheinträge, veröffentlicht (wie bei Thomas Mann) oder ab- gelegt im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen (wie bei Annemarie und Johann von Duhn, Hans Diester, Insa Radomski und dem siebenjährigen Theodor Gruschka). Die Fragen waren immer dieselben: Was hat die Deutschen im Sommer 1945 beschäftigt? Was hat ihren Alltag bestimmt? Waren sie niedergeschlagen? Erschöpft? Beschämt? Nicht alle Erinnerungen lassen sich auf den Tag genau datieren, mitunter hat die Berichterstat- tung über die Nachkriegszeit die persönlichen Eindrücke überlagert. Sicher ist: In der kollekti- ven Erinnerung begann der Sommer gleich am 8. Mai, nach der bedingungslosen Kapitulation. Er markiert einen Neuanfang und zugleich einen Übergang; 1945 war ein Epochenjahr. Mehr als sechs Millionen Tote allein in Deutschland (und mehr als 60 Millionen weltweit); sechs Mil- lionen ermordete europäische Juden; mehr als eine Milliarde Tonnen Trümmer in deutschen Städten – das war die Gegenwart. Die Aufteilung Europas, der Zerfall der Welt in Blöcke, das heraufziehende Atomzeitalter – das war die Zukunft. Was deutlich wird: Das Ende des Krieges ist nicht das Ende des Leids. Die Gewalt wirkt fort, über den Sommer, über die Jahre des Wiederaufbaus, über Generationen hinweg. Auffällig ist, wie groß die Sehnsucht nach dem Privaten war, nach Jahren der Massenmobilisierung und ver- ordneten Volksgemeinschaft. Und alle lernen in kurzer Zeit, was Freiheit bedeutet. Hans-Jochen Vogel, der spätere SPD-Vor- sitzende, probiert das erste Kaugummi seines Lebens; der Journalist Wolf Schneider entwickelt eine Angst vor Brücken; Friedrich Nowottny, der spätere WDR-Intendant, tauscht bei US-Sol- daten Totenkopfringe gegen Zigaretten. Die Eheleute Annemarie und Johann von Duhn nähen aus Lappen und einer Hakenkreuzfahne die Flaggen der vier Siegermächte; Helmut Schmidt probiert aus, was man mit Ersatzkaffee alles machen kann; ein Gaststättenbetreiber aus Ham- burg erkennt, dass »Hitler« ein schwieriger Nachname ist; Hans Modrow, viele Jahre später der letzte Vorsitzende des Ministerrats der DDR, begegnet einem Rotarmisten, der Heine zitiert. Marianne von Kretschmann, die spätere Marianne von Weizcker, sehnt sich nach dem Schul- beginn; Klaus von Dohnanyi fährt mit einem Damenrad durch Deutschland und genießt das un- vergesslichste Frühstück seines Lebens; der kleine Theodor Gruschka beobachtet, dass bei ei- ner Razzia mitunter auch »nackerte Weiber« zum Vorschein kommen. Im Pazifik wird noch ge- kämpft. Und Martin Walser lernt in diesem Sommer die Frau seines Lebens kennen. 9. Mai Einen Tag nach seinem Ende meldet sich das »Dritte Reich« ein letztes Mal. Der Panzerspähfunker Klaus Kahlenberg verliest um 20.03 Uhr auf dem Reichssender Flensburg eine Meldung: »Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt.« Weder Oberkommando noch Wehrmacht sind zu diesem Zeitpunkt noch existent. Beide haben am Tag zuvor bedingungslos kapituliert. »Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen. Wir brachten den Wortlaut des letzten Wehr- machtsberichts dieses Krieges. Es tritt eine Funkstille von drei Minu- ten ein.« Die Stunde null dauert drei Minuten. Hans-Jochen Vogel pinnt seine Übersetzung einer Meldung aus der Armeezeitschrift »The Stars and Stripes« ans schwarze Brett. Das war seine Aufgabe im Gefangenenlager Coltano in der Nähe von Pisa: »Dinge, die ich für wichtig hielt, in deutscher Übersetzung an ein schwarzes Brett zu hef- ten.« Der Russe Nikolai Pudow, Hauptmann der Roten Armee und damit Besatzungssoldat, erlebt den ersten Tag des Friedens in einem Dorf an der Elbe, bei Wittenberg. In den Gasthäusern, sagt er, habe es nur so von verkleideten Militärs gewimmelt. Alle schön in Zivil, aber die Kör- perhaltung verriet sie als Ofziere. Seine Erinnerung: »Die Deutschen waren sehr eingeschüch- tert. In den Ortschaften waren überall Plakate: ein Riesenohr, Feind hört mit, Rotarmisten mit blutigen Krallen statt Händen. Die meisten deutschen Wörter, die ich mal konnte, habe ich ver- gessen. ›Untermensch‹ nicht.« Bei Greifswald gerät ein junger Volkssturmmann in russische Gefangenschaft: Hans Modrow, 17 Jahre alt, wollte auf dem Bahndamm nach Hause laufen, nach Jasenitz. Was er nicht bedacht hatte: dass die Rote Armee gerade die Bahnlinien besonders scharf kontrolliert, aus Furcht vor Sabotageakten der Werwölfe. Weit entfernt, in Los Alamos, tagt an diesem Tag erstmals das Interim Committee on Atomic Energy. Anwesend sind die Physiker Robert Oppenheimer und Enrico Fermi, General George Marshall und der spätere amerikanische Außenminister James F. Byrnes. Seit 1942 arbeiten Physiker in der Wüste von New Mexico an der Entwicklung der Atombombe. Ein paar Tage zu- vor ist das Target Committee zusammengekommen. Thema dort: das Wetter – in Japan. Der spätere Fernsehjournalist Georg Stefan Troller steht in Hitlers ehemaliger Wohnung am Münchner Prinzregentenplatz: »Sie war voll von amerikanischen Soldaten. Auch die Münchner wussten, dass es Hitlers Wohnung war, aber das hatte für sie keine Bedeutung mehr. Die Leute hungerten und waren in einem Zombie-Zustand. Aber wir Soldaten suchten natürlich nach Souvenirs.« In der Bibliothek des Führers stehen nur Karl-May-Bände. In Potsdam-Babelsberg sitzen Annemarie und Johann von Duhn nachmittags auf der Terrasse ihres Hauses. Er ist Physiker, sie Musikerin; bis bessere Zeiten kommen, schreibt sie Tagebuch. »Es setzt gutes Wetter ein, warmes Sommerwetter, was unsere Laune merklich hebt. In Sach- senbergs Haus haben 20 Russen alles geplündert und demoliert ... Die Russen feiern ihren Sieg drei Tage lang mit viel Schießen und Saufen. Dauernd schießen sie mit der Flak, der Himmel ist voller krepierender Granaten.« Auch der spätere Journalist Wolf Schneider feiert: Vor zwei Tagen ist er 20 geworden. Sein ein- ziges Geschenk hat er sich selbst gemacht: »Weltkrieg überlebt – Zukunft möglich.« Er hatte sich freiwillig zur Luftwaffe gemeldet und den Krieg dadurch als Funker hinter den Linien ver- bracht. Jetzt sitzt er in Holland in einem Lager der Kanadier und fürchtet vor allem eines: »Müssen wir zur Zwangsarbeit in Holland bleiben – zur Entwässerung jener riesigen Areale, die deutsche Pioniere unter Wasser gesetzt hatten?« 10. Mai In Mürwik verleiht Hitlers Nachfolger Karl Dönitz das Ritterkreuz mit Eichenlaub an Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes. Die 14 Quadratkilometer bei Flensburg, am Ostufer der Förde, sind der letzte Rest des Deutschen Reiches. Das Reich ist nicht eingezäunt und nicht demarkiert. Es ist ein Phantomstaat, bevölkert von SS-Führer Heinrich Himmler, den Genelen Jodl und Wilhelm Keitel und vom NS-Chefideologen Alfred Rosenberg, der in der Ofziersmesse sitzt und trinkt. Die Marine vollstreckt noch drei Todesurteile wegen »schwerer Fahnenflucht«. Esther Bejarano, bis vor wenigen Tagen im KZ Ravensbrück inhaf- tiert, hat sich umgezogen. Weg mit den Häftlingsklamotten. »Häftlin- ge hatten im Lager ein Radio organisiert. Sie konnten hören, wo die Rote Armee steht. Im Radio haben wir erfahren, dass wir Zivilklei- der unter der Häftlingskleidung tragen sollten. Wir würden in ein paar Stunden evakuiert. In Auschwitz hatte ich mir einen Pullover gekauft für einen Laib Brot. Eine Woche habe ich gehungert, um die- sen Pullover zu bekommen, weil ich so schrecklich gefroren habe.« Hans-Jochen Vogel lernt das Leben unter der Besatzung kennen: »Die Amerikaner sind mit uns vom ersten Moment an freundlich umgegangen. Das waren zum Teil Farbige. Uns war ja von der NS- Propaganda eingetrichtert worden, dass das Bestien seien. Aber die waren besonders freundlich. Von ihnen habe ich mein erstes Kau- gummi bekommen.« Um 23 Uhr schlafen die Kinder, und die 31-jährige Insa Radomski aus Fischbach am Bodensee hat endlich Zeit, an ihren vermissten Mann zu schreiben. Er war Ingenieur bei Dornier in Friedrichshafen. Sie wird die Briefe nicht abschicken, es gibt keine Adresse. Aber manch- mal hilft es schon, wenn man nur aufschreiben kann, was einen beschäftigt. »Eben hörte ich die alliierten und fransischen Sender, und da bin ich wirklich ganz mutlos geworden. Was hat man mit uns vor? Peterle, ich kann es noch nicht glauben, dass alles Lug und Trug war. Aber das Verhalten unseres Führers bestätigt es immer wieder. Wenn du nur bei mir wärest!« 12. Mai Der Physiker Johann von Duhn besucht eine Bekannte. »Hierzu zieht man sich mög- lichst unauffällig und proletenhaft an und nimmt selbstverständlich keine Uhr und keinen Ring mit, denn darauf sind die Russen besonders scharf.« 13. Mai Georg Stefan Troller läuft durch München. Ein paar Tage zuvor ist er in Dachau gewe- sen, im befreiten Konzentrationslager. Er sollte fotografieren, für »The Stars and Stripes«. Beim ersten Foto hat seine Hand so gezittert, dass es verwackelt ist. Es sind die ersten Bilder von Lei- chenbergen, abgemagerten Kadavern mit aufgerissenen Augen, aufeinandergeworfen wie Holz- scheite. Er sagt: »In diesem Moment habe ich gewusst, weshalb ich in diesem Krieg gekämpft habe.« Jetzt beobachtet er: »Die Deutschen standen da um die Litfaßsäulen herum, an denen die ersten Anordnungen der Militärregierung klebten. Sie wussten eigentlich nicht, wie ihnen war. Der Moment, in dem du aus einem Traum erwachst und noch nicht ganz da bist. Sie hatten es nicht wirklich begriffen. Die zwölf Jahre Nazitum hatten das Volk umgekrempelt. Die waren nicht mehr zur vernünftigen Selbstbetrachtung fähig.« 14. Mai Annemarie von Duhn notiert, dass es in Potsdam wieder Strom gibt. »Die Straßen sind voll von abenteuerlichen Kolonnen. Alle sollen in ihre Heimat zurückkehren, Ausländer und deutsche Flüchtlinge. Die meisten haben sich aus alten Fahrradteilen, Blockwagendern und Ähnlichem wildromantische Fuhrwerke zusammengebastelt, die sie, mit allem möglichen Kram bepackt, die Landstraßen entlangschieben. Nur selten sieht man ein Fahrzeug, an dem alle Rä- der gleich sind.« Der Gebirgsger Martin Walser hat sich umgezogen und seine Uniformjacke gegen einen Berg- bauernkittel eingetauscht. Er hält sich mit drei Kameraden in den bayerischen Bergen versteckt: »Manchmal sind wir von der Höhe etwas hinuntergestiegen, haben am Waldesrand gekauert und gesehen, dass sich in den Orten deutsche Soldaten ansammelten. Daraus schlossen wir, dass im Tal der Krieg vorbei war, dass die deutschen Soldaten sich ergeben hatten und nun amerikanische Gefangene waren. In den Tälern saßen auf den Terrassen die amerikanischen Soldaten und rauchten und qualmten und hörten tolle amerikanische Musik. Da haben wir ge- staunt, waren aber auch froh, dass wir nicht da drunten waren, wir wären ja gleich ins Gefange- nenlager gekommen.« In Mürwik, wo Großadmiral Dönitz mit seiner Geisterregierung residiert, werden die Hitler- Bilder in den Amtsstuben abgehängt. Das öffentliche Singen von Naziliedern wird untersagt. Pfeifen bleibt erlaubt. Wolf Schneider ist aus dem Lager entlassen worden. Sein 21. Lebensjahr beginnt so, wie das vo- rige geendet hat, mit Marschieren: »Die Waffen hatten wir abgelegt, friedlich und korrekt lenk- ten uns die Sieger in ein Ruinenfeld am Rand der Stadt, verpflegten uns erstaunlich gut – und rüsteten uns für den großen Treck nach Norden. Bis zu 40 Kilometer am Tag mussten wir mar- schieren, eine Kolonne von 10 000 Mann – nachts mit dem Schlaf kämpfend auf sumpger Wiese. Und unter allen Brücken, die die Straße überquerten, die Panik: Johlende Holländer entleerten über unseren Köpfen ihre Nachtgeschirre.« 15. Mai Die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich besucht eine Be- kannte, sie hockt zusammengekauert auf der Couch: »Man sollte sich umbringen. Man kann doch so nicht leben.« – »War es wirklich so arg?«, frage ich. Kläglich blickt sie mich an. »Sieben«, sagt sie und schüttelt sich, »sieben hintereinander. Wie Tiere.« Allein die Berliner Krankenhäuser werden die Zahl der vergewaltig- ten Frauen in diesem Sommer auf 95 000 bis 130 000 schätzen. Ei- nes der Mädchen, das mit zwölf Jahren von russischen Soldaten missbraucht und dann »wie ein Sack Zement« aus dem Fenster ge- worfen wurde, war Hannelore Renner, die spätere Frau des Bundes- kanzlers Helmut Kohl. 16. Mai Auf einem Flensburger Friedhof findet das letzte Staatsbe- gräbnis des »Dritten Reiches« statt, für Kapitän zur See Wolfgang Lüth. Zwei Tage zuvor war er kurz nach Mitternacht von einem Pos- ten erschossen worden, weil er sich volltrunken nicht mehr an die Pa- role erinnern konnte, die er selbst ausgegeben hatte. In München fällt Georg Stefan Troller auf, wie liebedienerisch die Verlierer gegenüber den Sie- gern sind: »Alle Leute, die sich mit Elektrizität auskannten, waren alte Nazis gewesen. Wir ha- ben die natürlich angeheuert. Das machte denen überhaupt nichts aus. Die waren ebenso begie- rig, den Amis zu dienen wie vorher Hitler. Deutsche haben Sieger immer verehrt. ›Herr Of- zier‹ haben sie zu mir gesagt, dabei war ich nur Korporal.« 17. Mai In Flensburg-Mürwik trifft sich die Reichsregierung noch zu täglichen Kabinettssitzun- gen. Von Beschlüssen ist nichts überliefert. Auch Esther Bejarano, die Auschwitz überlebt hat, kämpft weiter. »Ich bin mit meiner Freundin Mirjam Edel von Bergen-Belsen nach Frankfurt gelaufen, weil es dort eine Auskunftsstelle der amerikanischen Armee gab, wo man sich nach Vermissten erkundigen konnte. Mein Bruder war ja in Amerika Soldat geworden. Die Amerikaner gaben mir seine Feldadresse. So bin ich wieder in Kontakt mit ihm gekommen.« Nachmittags, die Kinder sind im Strandbad, schreibt Insa Radomski an ihren vermissten Mann: »Im Radio hört man täglich die Gräuelgeschichten aus den KZs. Peter, das kann man doch nicht glauben! Waren denn die Nazis, vor allem die SS, lauter Bestien? Peter, ist denn alles auf den Kopf gestellt? Vorgestern und gestern Abend war ich wieder im Garten.« 19. Mai Alle sind in diesen Tagen unterwegs, auf der Suche nach einer Wohnung, nach Nahrung, nach Nachrichten, nach Angerigen. Armin Mueller-Stahl vermisst seinen Vater und macht sich zu Fuß auf den Weg nach Prenzlau: »Wir aßen, was am Wegesrand wuchs, Brennnesseln zum Beispiel, daraus machte meine Tante eine Suppe. Wir haben in Scheunen übernachtet, in Ruinen zwischen den Trümmern. Rotarmisten kamen nachts dorthin und suchten die Frauen. Meine Mutter war Baltendeutsche und sprach fließend Russisch. Abends schminkte sie sich mit Ruß und sah dann aus wie eine alte Frau. Sie sprach die russischen Soldaten an: Stalin habe ge- sagt, jeder Soldat, der eine deutsche Frau vergewaltigt, wird erschossen.« 21. Mai Martin Walser ist mittlerweile in Richtung Füssen unterwegs. »Plötzlich stand ich vor ei- nem amerikanischen Jeep. Die haben mich genommen, in den Jeep gesetzt und mit einer wahn- sinnigen Geschwindigkeit zurück nach Garmisch gebracht. Das Gefangenenlager dort war im Eisstadion untergebracht. Wir kampierten auf den Bänken. Die anderen Gefangenen meldeten sich zum Arbeitsdienst, dort war man besser verpflegt. Ich habe mich aber nicht gemeldet, weil ich sah, dass sich unten im Stadion die Bibliothek des Reichssenders München einquartiert hat- te. Ich habe mich da zum Bibliothekar gemacht und Bücher an die Kameraden ausgeliehen, die lesen wollten. Ich habe immer auch Bücher mit hinaufgenommen auf mein Lager, zu meiner Bank.« Insa Radomski schreibt an ihren Mann: »Gestern waren bei Boppen- maiers Sträflinge aus Dachau, die zu essen wollten. Die Gräuel, die uns jetzt immer wieder erzählt werden, können nicht stimmen: Gar nicht verhungert und heruntergekommen sahen sie aus.« 22. Mai Oberleutnant Helmut Schmidt schnitzt sich im britischen Kriegsgefangenenlager Jabbeke in Westflandern ein Steckschach- spiel. Die schwarzen Figuren färbt er mit Ersatzkaffee. 23. Mai Die Briten haben nun auch Flensburg-Mürwik besetzt. Mor- gens mussten Dönitz, Jodl und Hans-Georg von Friedeburg, Dönitz' Nachfolger als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, in der Bar des ehemaligen Hapag-Schiffs »Patria« antreten. Dort wurde ihnen das Ende der »Geschäftsführenden Reichsregierung« und ihre Festnahme mitgeteilt. Jede deutsche Zentralgewalt ist damit beendet. Dönitz hat sich für diesen Tag eine neue Uniform zugelegt und mit den Alliierten gestritten, wie viele Kof- fer er würde mitnehmen dürfen und ob er seine Orden würde anlegen können. Friedeburg beißt noch am selben Tag auf eine Zyankali-Kapsel. 26. Mai Burkhard Hirsch ist bei seinen Eltern, in Halle an der Saale. »Eines Tages kam ein aus der Gefangenschaft entlassener Ofzier, der uns ein Lebenszeichen unseres Vaters brachte. Er erzählte uns von seinen eigenen Erlebnissen in Russland, von Massenerschießungen von Juden, die in Viehtransporten angeliefert worden waren, übereinandergeschichtet, sodass die Soldaten lauter Füße sahen, wenn sie die Schiebetür öffneten. Die untersten waren erstickt, die anderen wurden erschossen. Ich sah die Größen des ›Dritten Reiches‹ vor mir, das pomse Auftreten, ihre weihevollen Reden, die Appelle an Treue und Ehre, und konnte Wirklichkeit und Wirklich- keit nicht übereinbringen. Ich kam mir verachtet vor, beschämt und beschmutzt von Leuten, denen ich hatte dienen sollen.« Hirsch wird später FDP-Innenminister in Nordrhein-Westfalen und eine der liberalen Stimmen der Bundesrepublik. Thomas Mann, der die Exiljahre in Kalifornien verbringt, ist in Chicago zu einem Champagner- Souper eingeladen: »Die Russen sollen sich in Berlin sehr beliebt machen, Lebensmittel be- schaffen, mit den Mädchen ausgehen. Werden noch die Beliebtesten sein.« 28. Mai Der Physiker Johann von Duhn läuft zu Fuß nach Berlin, seine Frau notiert in ihr Tage- buch: »Das Physikalische Institut sieht trostlos aus. Im Keller steht das Wasser meterhoch. In den oberen Stockwerken ist von den Russen alles durchwühlt und geplündert. Die ganzen Gän- ge liegen voll Papier und Russenscheiße.« Unglück und Glück liegen in diesem Sommer quer durcheinander. In Mecklenburg tauscht Klaus von Dohnanyi ein Pferd gegen ein Damenfahrrad und lässt sich von einem Fischer über die Elbe setzen: »Ich hatte keinen Kontakt mehr zur Familie, hoffte aber, vielleicht in Fried- richsbrunn, wo meine Großeltern ein Ferienhaus hatten, jemanden mit Nachrichten aus Berlin zu treffen. Eine Straßenkarte von Deutschland in der Tasche, radelte ich auf Autobahnen, Landstraßen und auf Waldwegen in den Harz. Wo immer es ging, klammerte ich mich an Last- wagen, die von kesselartigen Holzvergasern auf der Ladefläche angetrieben wurden; stinkend, qualmend, bebig – aber sie fuhren.« Dohnanyi hofft, seinen Vater zu finden, der aktiv am Widerstand gegen Hitler beteiligt war. Später wird er erfahren, dass Hans von Dohnanyi noch vor Kriegsende von den Nazis gehängt worden war. 5. Juni Die Regierungen der vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frank- reich übernehmen die »Oberste Regierungsgewalt in Deutschland«. Sie teilen das Land in vier Besatzungszonen auf, Berlin wird in vier Sektoren geteilt und einer Militärkommandantur un- terstellt. Burkhard Hirsch erlebt den Einmarsch in Halle an der Saale: »Später kamen dann die Russen tatsächlich, mit Panjewagen und uralten Las- tern. Sie plünderten die Läden, klauten Fahrder und Uhren. Man sah Soldaten mit fünf oder sechs Uhren am Arm, man hörte von Morden und Vergewaltigungen. Mir schlug einer auf der Geiststraße ohne jeden Grund so ins Gesicht, dass ich zu Boden ging.« 11. Juni Irgendwann in diesen Tagen erreicht Klaus von Dohnanyi Wiesbaden, er sucht noch immer nach seiner Familie, nach Nachrich- ten von seinem Vater. »Wieder ging es mit dem Fahrrad weiter. In Frankfurt machte ich Station, schlief auf dem Bahnhof in einem dre- ckigen kleinen Kabuff, in dem damals noch die Fahrkarten geknipst und entwertet wurden. Am Morgen dann nach Wiesbaden, ich fand die Villa der Amerikaner, wies mich aus und wurde schnell hereinge- beten; die Leute an der Spitze kannten offenbar meine Familie. Man schickte mich zunächst mal in die Kantine zum Frühstück: Was für ein Luxus! Weißbrot, Erdnussbutter, Orangenmarmelade. Das unver- gesslichste Frühstück meines Lebens.« In Potsdam wird die »Konferenz der Großen Drei« vorbereitet. Die Duhns sind immer noch empört über die Zumutungen. Die Berliner sollen in kürzester Frist für jedes Haus eine russi- sche, amerikanische, englische und fransische Flagge nähen. »... müssen auch wir 4 Flaggen hen. Es bleibt uns, um uns Unannehmlichkeiten mit der russischen Kommandantur zu erspa- ren, tatsächlich nichts anderes übrig, als den Feinden in dieser Weise in den Arsch zu kriechen. Wo bleibt eigentlich die demokratische Freiheit? Aber bei den Russen haben sich die demokra- tischen Prinzipien wohl noch nicht herumgesprochen. Wir setzen uns also hin und fabrizieren aus alten Lappen sowie der noch vorhandenen Hakenkreuzfahne in wenigen Stunden 4 Flag- gen, die wir dann zum Bodenfenster hinaushängen.« 14. Juni In Rybnik in Oberschlesien war Friedrich Nowottny, der spätere Intendant des WDR, gemeinsam mit seinem Vater zum Volkssturm eingezogen worden. Der Vater starb, Nowottny verschlug es nach Braunau am Inn, dem Geburtsort Hitlers. Er lernt einen Juwelier kennen, ei- nen Österreicher. »Der sagte: Ich habe hier einen Karton mit Totenkopfringen. Wenn die Ame- rikaner die bei mir finden, bringen die mich um – das sind doch SS-Ringe. Ich bat ihn, mir ein paar zu geben. Und da habe ich einen schwunghaften Handel mit angeblichen SS-Ringen ange- fangen. Der Schuster nebenan hatte Polierscheiben. Da habe ich die drangehalten, dann waren die hochglanzpoliert; das sah toll aus. Die Amerikaner waren verrückt nach Nazisouvenirs. Der Kurs war ein Ring für eine Stange Zigaretten.« In Danzig haust Brigitte Wetzel, die Mutter des Künstlers Jonathan Meese, seit Wochen im Kel- ler eines Krankenhauses. »Wir hatten keinerlei Nachrichten, wir wussten nicht einmal, dass der Krieg vorbei war. Irgendwann wurde es uns gerüchteßig erzählt, aber es machte keinen Un- terschied für uns, wir kamen nicht raus aus der Stadt. Meine Mutter war darüber verzweifelt, wenig später starb sie. Jemand nähte ihre Leiche in einen Sack ein, meine Tante organisierte eine Schubkarre und eine Schaufel. Wir fuhren dann zu unserem Familiengrab, schaufelten eine Grube, legten meine Mutter hinein und schaufelten das Grab wieder zu.« 18. Juni Köln ist eine ziemlich leere Stadt. Kaum mehr als 175 000 Menschen leben hier noch, von vorher einer Dreiviertelmillion. Der 49-jährige Hans Diester wird seine Geburtsstadt noch lange nicht wiedersehen. Er rückt ins Kriegsgefangenenlager Moosburg ein. Als zeitweiliger Hilfsrichter am Volksgerichtshof und Parteimitglied befürchtet er Schlimmes. »Ein trauriger Anblick, diese endlosen Reihen zu entlassender deutscher Soldaten, mochten die meisten von ihnen auch erfreulicherweise sich noch so sehr behen, auf diesem letzten unwürdigen und schweren Gang wenigstens äußerlich gute Haltung zu zeigen.« Georg Stefan Troller, als Jude aus Wien nach Amerika emigriert und als US-Soldat zurück nach Deutschland gekommen, fällt ein Satz auf, der typisch werden wird für diese Zeit: dass jetzt »auch mal Schluss sein muss mit dem Reden über die Nazizeit«. »Dieser Satz war sofort da. Ebenso wie die Haltung: Durch die Luftangriffe und den Mangel an Lebensmitteln hat man be- reits abgebüßt für solche Dinge wie Auschwitz. Wir unter den Bombennächten und die Vertrie- benen unter dem Iwan – wir haben ja schon alles abgebüßt, was wollt ihr eigentlich noch von uns?« 19. Juni Es wird nicht besser im Kriegsgefangenenlager Moosburg. Der Jurist Hans Diester ist aufrichtig empört: »Was zerbrach in diesen Männern nicht alles auf jenem traurig-elenden Zug ins Lager Moosburg! Sie waren nicht nur der Freiheit beraubt. Auch sie waren, wie unsere gan- ze Nation, aus stolzer Höhe niedergeschmettert in ein Nichts, wie nie zuvor ein Volk in der Ge- schichte.« Während Klaus von Dohnanyi durch das befreite Deutschland radelt, marschieren die Russen bei seiner Familie ein. »Meine Schwester versteckt in oberen Wandschränken, mein Bruder un- ter vorgehaltener Pistole gezwungen, vergeblich ein stillgelegtes Auto in Gang zu setzen, aber eben auch russische Ofziere, die voller Respekt vor dem Widerstand meines Vaters befahlen, unser Haus zu schützen.« Später wird Dohnanyi sagen: »Für mich war 1945 wohl das wichtigs- te Jahr meines langen Lebens: Ich hatte den Tod gesehen, gelernt, Verantwortung zu übernehmen, und Selbstvertrauen gewonnen, ohne mein Gottvertrauen zu verlieren. Kurz, ich war in wenigen Mo- naten erwachsen geworden.« 21. Juni Marianne von Kretschmann, die später Richard von Weiz- cker heiraten wird, ist im Sommer 1945 ein 13-jähriges Mädchen: »Nach dem Kriegsende waren wir nach Essen zurückgekehrt, zwar nicht in das Haus, in das wir gehörten, das war besetzt, wie die meis- ten Häuser auch. Wir wohnten in einer anderen Wohnung. Schließ- lich öffneten die Schulen wieder. Da wurde unbeschriebenes Papier zu einer Kostbarkeit. Meistens beschrieben wir die Ränder des Zei- tungspapiers.« In Braunau am Inn sehen die Menschen einen Film im Kino, die Amerikaner wollen das so. Auch Friedrich Nowottny ist dabei. »Das war der erste Film über die KZs. Als ich das dann meiner Mutter und meiner Schwester erzählte, hat das Unglauben und tiefe Betroffenheit ausgelöst. Aber man war auch gern bereit, in sich reinzuhorchen – um herauszufinden: Betrifft dich das überhaupt? Es ist eine gewisse Zeit vergangen, ehe man begriffen hat: Es betrifft jeden von uns.« 24. Juni Auf Burg Wildenstein, am Rand der Schwäbischen Alb, wird im Burghof getanzt und Theater gespielt. Das philosophische Seminar hat bei der Heuernte geholfen und in den Pausen Kants »Kritik der reinen Vernunft« studiert. Der Philosoph Martin Heidegger, NSDAP-Mitglied bis zum Kriegsende, interpretiert Hölderlin: »Alles ist Schickung«.« Im Lager Moosburg leidet Hans Diester weiter, die Ofziere vom US-Abwehrdienst kommen und stellen Fragen: »Eine außerordentliche Machtbefugnis war hier in die Hände einzelner Männer gelegt worden, die nicht nur zumeist außerordentlich jung, sondern größtenteils jüdi- scher Abstammung, nicht selten sogar emigrierte Deutsche waren, die sich nun häufig an ihrer Macht berauschen und ihren Hass- und Rachegefühlen nicht nur gegen den Nationalsozialis- mus, sondern gegen alles Deutsche schlechthin und besonders gegen die deutsche Wehrmacht freien Lauf ließen.« Dass viele Deutsche ein reines Gewissen haben, fällt auch Georg Stefan Troller auf, bei seinen Fahrten durch Bayern: »Überall weiße Fahnen. Die Leute hatten sich ergeben und damit für un- schuldig erklärt. Man hatte sich weiß geschminkt.« 27. Juni Mit ihrer Freundin, die sie in Auschwitz kennengelernt hat, ist Esther Bejarano von Frankfurt nach Fulda gelaufen: »Weil man uns in Bergen-Belsen gesagt hatte, es gibt ein Vorbe- reitungslager zwecks Auswanderung nach Palästina. Dort wollten wir hin, wir wollten nicht mehr in Deutschland bleiben. Wir haben die Information bekommen, dass von Frankreich aus ein Schiff fahren würde. ›Mataroa‹ hieß das Schiff. In Palästina kamen wir wieder in ein Lager. Das war für uns eine riesige Enttäuschung.« Der Sommer der Befreiung Passanten in der Potsdamer Straße in Berlin im Juli 1945 (im Hintergrund das zerstörte Kaufhaus Wert- heim) Ni kolai Pudow, Jahrgang 1921 • Als Hauptmann der Roten Armee gehört er zu den Besatzern. Ein deutsches Wort hat er nicht vergessen: »Untermensch«. f Hans Modrow, Jahrgang 1928 • Als Volkssturmmann gerät er 17-jährig in so- wjeti sche Gefangenschaft. In Moskau wird er später zum Kommunisten. f Georg Stefan Trol ler, Jahrgang 1921 • Als Jude floh er vor den Nazis in die USA, mit der U. S. Army kehrt er nach Europa zu- rück – und steht in Hitlers Münchner Wohnung. f Friedrich Nowottny, Jahrgang 1929 • Als 16-Jähri ger schlägt er sich nach Braunau am Inn durch. Und handelt mit US-Sol da- ten: Totenkopfringe gegen Zi garetten. f Mari anne von Weizcker, Jahrgang 1932 • Weil Papier knapp ist, schreibt das 13-jähri ge Mädchen ersatzwei se auf die Ränder von Zei tungspapier. f Esther Bejarano, Jahrgang 1924 • Die junge Frau hat Auschwitz überlebt, weil sie Akkordeon spiel te. Sie will nach Paläs- ti na auswandern. f S

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  • Zeitgeschichte Vor 75 Jahren begann in Europa der Frieden. Für die Deutschen wurden die Monatenach dem 8. Mai 1945 zur Zeit der Zigarettenwährung, des Hamsterns und der Selbstbefragung –

    Täter und Opfer irrten betäubt und verstört durch ein Land, das es so nicht mehr gab.

    G eorg Ste fan Trol ler sitzt in sei ner Woh nung, über den Dä chern von Pa ris, vor sich einStück Ku chen, er hat sich be reit er klärt zu ei ner Rei se in die Ver gan gen heit. Drau ßen liegtdas 7. Ar ron dis se ment, Ha gel schlägt an die Schei ben, Trol ler er zählt vom Krieg: wie er, derJude aus Wien, als Sol dat der U. S. Army zu rück kehr te ins zer stör te Eu ro pa; wie er in Mün chenein zog, in die »Haupt stadt der Be we gung«; wie er an ei nem Tag in Hit lers Münch ner Woh nungstand und we nig spä ter durch das ge ra de be frei te Kon zen tra ti ons la ger Dach au ging. Die Er -schüt te rung von da mals ist noch heu te zu spü ren, 75 Jah re da nach.

    Trol ler ist 1921 ge bo ren, im De zem ber wird er 99 Jah re alt. Der SPIEGEL hat ihn und an de reZeit zeu gen be sucht – in Pa ris und Ham burg, in Mos kau, Bonn und Ber lin. Wo die Pan de mie ei -nen Be such un mög lich mach te, ha ben die Re dak teu re Te le fon ge sprä che ge führt. Er gänzt wer -den die Er in ne run gen durch Ta ge buch ein trä ge, ver öf fent licht (wie bei Tho mas Mann) oder ab -ge legt im Deut schen Ta ge buch ar chiv in Em men din gen (wie bei An ne ma rie und Jo hann vonDuhn, Hans Dies ter, Insa Ra dom ski und dem sie ben jäh ri gen Theo dor Grusch ka). Die Fra genwa ren im mer die sel ben: Was hat die Deut schen im Som mer 1945 be schäf tigt? Was hat ih renAll tag be stimmt? Wa ren sie nie der ge schla gen? Er schöpft? Be schämt?

    Nicht alle Er in ne run gen las sen sich auf den Tag ge nau da tie ren, mit un ter hat die Be richt er stat -tung über die Nach kriegs zeit die per sön li chen Ein drü cke über la gert. Si cher ist: In der kol lek ti -ven Er in ne rung be gann der Som mer gleich am 8. Mai, nach der be din gungs lo sen Ka pi tu la ti on.Er mar kiert ei nen Neu an fang und zu gleich ei nen Über gang; 1945 war ein Epo chen jahr. Mehrals sechs Mil lio nen Tote al lein in Deutsch land (und mehr als 60 Mil lio nen welt weit); sechs Mil -lio nen er mor de te eu ro päi sche Ju den; mehr als eine Mil li ar de Ton nen Trüm mer in deut schenStäd ten – das war die Ge gen wart. Die Auf tei lung Eu ro pas, der Zer fall der Welt in Blö cke, dasher auf zie hen de Atom zeit al ter – das war die Zu kunft.

    Was deut lich wird: Das Ende des Krie ges ist nicht das Ende des Leids. Die Ge walt wirkt fort,über den Som mer, über die Jah re des Wie der auf baus, über Ge ne ra tio nen hin weg. Auf fäl lig ist,wie groß die Sehn sucht nach dem Pri va ten war, nach Jah ren der Mas sen mo bi li sie rung und ver -ord ne ten Volks ge mein schaft.

    Und alle ler nen in kur zer Zeit, was Frei heit be deu tet. Hans-Jo chen Vo gel, der spä te re SPD-Vor -sit zen de, pro biert das ers te Kau gum mi sei nes Le bens; der Jour na list Wolf Schnei der ent wi ckelteine Angst vor Brü cken; Fried rich No wott ny, der spä te re WDR-In ten dant, tauscht bei US-Sol -da ten To ten kopf rin ge ge gen Zi ga ret ten. Die Ehe leu te An ne ma rie und Jo hann von Duhn nä henaus Lap pen und ei ner Ha ken kreuz fah ne die Flag gen der vier Sie ger mäch te; Hel mut Schmidtpro biert aus, was man mit Er satz kaf fee al les ma chen kann; ein Gast stät ten be trei ber aus Ham -burg er kennt, dass »Hit ler« ein schwie ri ger Nach na me ist; Hans Modrow, vie le Jah re spä ter derletz te Vor sit zen de des Mi nis ter rats der DDR, be geg net ei nem Rot ar mis ten, der Hei ne zi tiert.Ma ri an ne von Kret sch mann, die spä te re Ma ri an ne von Weiz sä cker, sehnt sich nach dem Schul -be ginn; Klaus von Dohn anyi fährt mit ei nem Da men rad durch Deutsch land und ge nießt das un -ver gess lichs te Früh stück sei nes Le bens; der klei ne Theo dor Grusch ka be ob ach tet, dass bei ei -ner Raz zia mit un ter auch »na cker te Wei ber« zum Vor schein kom men. Im Pa zi fik wird noch ge -kämpft. Und Mar tin Wal ser lernt in die sem Som mer die Frau sei nes Le bens ken nen.

    9. Mai Ei nen Tag nach sei nem Ende mel det sich das »Drit te Reich«ein letz tes Mal. Der Pan zer späh fun ker Klaus Kah len berg ver liest um20.03 Uhr auf dem Reichs sen der Flens burg eine Mel dung: »DasOber kom man do der Wehr macht gibt be kannt.«

    We der Ober kom man do noch Wehr macht sind zu die sem Zeit punktnoch exis tent. Bei de ha ben am Tag zu vor be din gungs los ka pi tu liert.»Die deut sche Wehr macht ist am Ende ei ner ge wal ti gen Über machteh ren voll un ter le gen. Wir brach ten den Wort laut des letz ten Wehr -machts be richts die ses Krie ges. Es tritt eine Funk stil le von drei Mi nu -ten ein.«

    Die Stun de null dau ert drei Mi nu ten.

    Hans-Jo chen Vo gel pinnt sei ne Über set zung ei ner Mel dung aus derAr mee zeit schrift »The Stars and Stri pes« ans schwar ze Brett. Daswar sei ne Auf ga be im Ge fan ge nen la ger Col ta no in der Nähe von

    Pisa: »Din ge, die ich für wich tig hielt, in deut scher Über set zung an ein schwar zes Brett zu hef -ten.«

    Der Rus se Ni ko lai Pu dow, Haupt mann der Ro ten Ar mee und da mit Be sat zungs sol dat, er lebtden ers ten Tag des Frie dens in ei nem Dorf an der Elbe, bei Wit ten berg. In den Gast häu sern,sagt er, habe es nur so von ver klei de ten Mi li tärs ge wim melt. Alle schön in Zi vil, aber die Kör -per hal tung ver riet sie als Of fi zie re. Sei ne Er in ne rung: »Die Deut schen wa ren sehr ein ge schüch -tert. In den Ort schaf ten wa ren über all Pla ka te: ein Rie sen ohr, Feind hört mit, Rot ar mis ten mitblu ti gen Kral len statt Hän den. Die meis ten deut schen Wör ter, die ich mal konn te, habe ich ver -ges sen. ›Un ter mensch‹ nicht.«

    Bei Greifs wald ge rät ein jun ger Volks sturm mann in rus si sche Ge fan gen schaft: Hans Modrow, 17Jah re alt, woll te auf dem Bahn damm nach Hau se lau fen, nach Ja se nitz. Was er nicht be dachthat te: dass die Rote Ar mee ge ra de die Bahn li ni en be son ders scharf kon trol liert, aus Furcht vorSa bo ta ge ak ten der Wer wöl fe.

    Weit ent fernt, in Los Al a mos, tagt an die sem Tag erst mals das In te rim Com mit tee on Ato micEn er gy. An we send sind die Phy si ker Ro bert Op pen hei mer und En ri co Fer mi, Ge ne ral Ge or geMar shall und der spä te re ame ri ka ni sche Au ßen mi nis ter Ja mes F. Byr nes. Seit 1942 ar bei tenPhy si ker in der Wüs te von New Me xi co an der Ent wick lung der Atom bom be. Ein paar Tage zu -vor ist das Tar get Com mit tee zu sam men ge kom men. The ma dort: das Wet ter – in Ja pan.

    Der spä te re Fern seh jour na list Ge org Ste fan Trol ler steht in Hit lers ehe ma li ger Woh nung amMünch ner Prinz re gen ten platz: »Sie war voll von ame ri ka ni schen Sol da ten. Auch die Münch nerwuss ten, dass es Hit lers Woh nung war, aber das hat te für sie kei ne Be deu tung mehr. Die Leu tehun ger ten und wa ren in ei nem Zom bie-Zu stand. Aber wir Sol da ten such ten na tür lich nachSou ve nirs.« In der Bi blio thek des Füh rers ste hen nur Karl-May-Bän de.

    In Pots dam-Ba bels berg sit zen An ne ma rie und Jo hann von Duhn nach mit tags auf der Ter ras seih res Hau ses. Er ist Phy si ker, sie Mu si ke rin; bis bes se re Zei ten kom men, schreibt sie Ta ge buch.»Es setzt gu tes Wet ter ein, war mes Som mer wet ter, was un se re Lau ne merk lich hebt. In Sach -sen bergs Haus ha ben 20 Rus sen al les ge plün dert und de mo liert ... Die Rus sen fei ern ih ren Siegdrei Tage lang mit viel Schie ßen und Sau fen. Dau ernd schie ßen sie mit der Flak, der Him mel istvol ler kre pie ren der Gra na ten.«

    Auch der spä te re Jour na list Wolf Schnei der fei ert: Vor zwei Ta gen ist er 20 ge wor den. Sein ein -zi ges Ge schenk hat er sich selbst ge macht: »Welt krieg über lebt – Zu kunft mög lich.« Er hat tesich frei wil lig zur Luft waf fe ge mel det und den Krieg da durch als Fun ker hin ter den Li ni en ver -bracht. Jetzt sitzt er in Hol land in ei nem La ger der Ka na di er und fürch tet vor al lem ei nes:»Müs sen wir zur Zwangs ar beit in Hol land blei ben – zur Ent wäs se rung je ner rie si gen Area le,die deut sche Pio nie re un ter Was ser ge setzt hat ten?«

    10. Mai In Mür wik ver leiht Hit lers Nach fol ger Karl Dö nitz das Rit ter kreuz mit Ei chen laub anAl fred Jodl, Chef des Wehr macht füh rungs sta bes. Die 14 Qua drat ki lo me ter bei Flens burg, amOst ufer der För de, sind der letz te Rest des Deut schen Rei ches. Das Reich ist nicht ein ge zäuntund nicht de mar kiert. Es ist ein Phan tom staat, be völ kert von SS-Füh rer Hein rich Himm ler, denGe ne rä len Jodl und Wil helm Kei tel und vom NS-Chef ideo lo gen Al fred Ro sen berg, der in derOf fi ziers mes se sitzt und trinkt. Die Ma ri ne voll streckt noch drei To des ur tei le we gen »schwe rerFah nen flucht«.

    Es ther Be ja ra no, bis vor we ni gen Ta gen im KZ Ra vens brück in haf -tiert, hat sich um ge zo gen. Weg mit den Häft lings kla mot ten. »Häft lin -ge hat ten im La ger ein Ra dio or ga ni siert. Sie konn ten hö ren, wo dieRote Ar mee steht. Im Ra dio ha ben wir er fah ren, dass wir Zi vil klei -der un ter der Häft lings klei dung tra gen soll ten. Wir wür den in einpaar Stun den eva ku iert. In Ausch witz hat te ich mir ei nen Pull overge kauft für ei nen Laib Brot. Eine Wo che habe ich ge hun gert, um die -sen Pull over zu be kom men, weil ich so schreck lich ge fro ren habe.«

    Hans-Jo chen Vo gel lernt das Le ben un ter der Be sat zung ken nen:»Die Ame ri ka ner sind mit uns vom ers ten Mo ment an freund lichum ge gan gen. Das wa ren zum Teil Far bi ge. Uns war ja von der NS-Pro pa gan da ein ge trich tert wor den, dass das Bes ti en sei en. Aber diewa ren be son ders freund lich. Von ih nen habe ich mein ers tes Kau -gum mi be kom men.«

    Um 23 Uhr schla fen die Kin der, und die 31-jäh ri ge Insa Ra dom ski ausFisch bach am Bo den see hat end lich Zeit, an ih ren ver miss ten Mannzu schrei ben. Er war In ge nieur bei Dor nier in Fried richs ha fen. Siewird die Brie fe nicht ab schi cken, es gibt kei ne Adres se. Aber manch -

    mal hilft es schon, wenn man nur auf schrei ben kann, was ei nen be schäf tigt. »Eben hör te ich dieal li ier ten und fran zö si schen Sen der, und da bin ich wirk lich ganz mut los ge wor den. Was hatman mit uns vor? Pe ter le, ich kann es noch nicht glau ben, dass al les Lug und Trug war. Aberdas Ver hal ten un se res Füh rers be stä tigt es im mer wie der. Wenn du nur bei mir wä rest!«

    12. Mai Der Phy si ker Jo hann von Duhn be sucht eine Be kann te. »Hier zu zieht man sich mög -lichst un auf fäl lig und pro le ten haft an und nimmt selbst ver ständ lich kei ne Uhr und kei nen Ringmit, denn dar auf sind die Rus sen be son ders scharf.«

    13. Mai Ge org Ste fan Trol ler läuft durch Mün chen. Ein paar Tage zu vor ist er in Dach au ge we -sen, im be frei ten Kon zen tra ti ons la ger. Er soll te fo to gra fie ren, für »The Stars and Stri pes«. Beimers ten Foto hat sei ne Hand so ge zit tert, dass es ver wa ckelt ist. Es sind die ers ten Bil der von Lei -chen ber gen, ab ge ma ger ten Ka da vern mit auf ge ris se nen Au gen, auf ein an der ge wor fen wie Holz -schei te. Er sagt: »In die sem Mo ment habe ich ge wusst, wes halb ich in die sem Krieg ge kämpfthabe.« Jetzt be ob ach tet er: »Die Deut schen stan den da um die Lit faß säu len her um, an de nendie ers ten An ord nun gen der Mi li tär re gie rung kleb ten. Sie wuss ten ei gent lich nicht, wie ih nenwar. Der Mo ment, in dem du aus ei nem Traum er wachst und noch nicht ganz da bist. Sie hat tenes nicht wirk lich be grif fen. Die zwölf Jah re Na zitum hat ten das Volk um ge krem pelt. Die wa rennicht mehr zur ver nünf ti gen Selbst be trach tung fä hig.«

    14. Mai An ne ma rie von Duhn no tiert, dass es in Pots dam wie der Strom gibt. »Die Stra ßen sindvoll von aben teu er li chen Ko lon nen. Alle sol len in ihre Hei mat zu rück keh ren, Aus län der unddeut sche Flücht lin ge. Die meis ten ha ben sich aus al ten Fahr rad t ei len, Block wa gen rä dern undÄhn li chem wild ro man ti sche Fuhr wer ke zu sam men ge bas telt, die sie, mit al lem mög li chen Krambe packt, die Land stra ßen ent lang schie ben. Nur sel ten sieht man ein Fahr zeug, an dem alle Rä -der gleich sind.«

    Der Ge birgs jä ger Mar tin Wal ser hat sich um ge zo gen und sei ne Uni form ja cke ge gen ei nen Berg -bau ern kit tel ein ge tauscht. Er hält sich mit drei Ka me ra den in den baye ri schen Ber gen ver steckt:»Manch mal sind wir von der Höhe et was hin un ter ge stie gen, ha ben am Wal des rand ge kau ertund ge se hen, dass sich in den Or ten deut sche Sol da ten an sam mel ten. Dar aus schlos sen wir,dass im Tal der Krieg vor bei war, dass die deut schen Sol da ten sich er ge ben hat ten und nuname ri ka ni sche Ge fan ge ne wa ren. In den Tä lern sa ßen auf den Ter ras sen die ame ri ka ni schenSol da ten und rauch ten und qualm ten und hör ten tol le ame ri ka ni sche Mu sik. Da ha ben wir ge -staunt, wa ren aber auch froh, dass wir nicht da drun ten wa ren, wir wä ren ja gleich ins Ge fan ge -nen la ger ge kom men.«

    In Mür wik, wo Groß ad mi ral Dö nitz mit sei ner Geis ter re gie rung re si diert, wer den die Hit ler-Bil der in den Amts stu ben ab ge hängt. Das öf fent li che Sin gen von Na zi lie dern wird un ter sagt.Pfei fen bleibt er laubt.

    Wolf Schnei der ist aus dem La ger ent las sen wor den. Sein 21. Le bens jahr be ginnt so, wie das vo -ri ge ge en det hat, mit Mar schie ren: »Die Waf fen hat ten wir ab ge legt, fried lich und kor rekt lenk -ten uns die Sie ger in ein Rui nen feld am Rand der Stadt, ver pfleg ten uns er staun lich gut – undrüs te ten uns für den gro ßen Treck nach Nor den. Bis zu 40 Ki lo me ter am Tag muss ten wir mar -schie ren, eine Ko lon ne von 10 000 Mann – nachts mit dem Schlaf kämp fend auf sump fi gerWie se. Und un ter al len Brü cken, die die Stra ße über quer ten, die Pa nik: Joh len de Hol län derent leer ten über un se ren Köp fen ihre Nacht ge schir re.«

    15. Mai Die Jour na lis tin Ruth An dre as-Fried rich be sucht eine Be -kann te, sie hockt zu sam men ge kau ert auf der Couch: »Man soll tesich um brin gen. Man kann doch so nicht le ben.« – »War es wirk lichso arg?«, fra ge ich. Kläg lich blickt sie mich an. »Sie ben«, sagt sie undschüt telt sich, »sie ben hin ter ein an der. Wie Tie re.«

    Al lein die Ber li ner Kran ken häu ser wer den die Zahl der ver ge wal tig -ten Frau en in die sem Som mer auf 95 000 bis 130 000 schät zen. Ei -nes der Mäd chen, das mit zwölf Jah ren von rus si schen Sol da tenmiss braucht und dann »wie ein Sack Ze ment« aus dem Fens ter ge -wor fen wur de, war Han ne lo re Ren ner, die spä te re Frau des Bun des -kanz lers Hel mut Kohl.

    16. Mai Auf ei nem Flens bur ger Fried hof fin det das letz te Staats be -gräb nis des »Drit ten Rei ches« statt, für Ka pi tän zur See Wolf gangLüth. Zwei Tage zu vor war er kurz nach Mit ter nacht von ei nem Pos -ten er schos sen wor den, weil er sich voll trun ken nicht mehr an die Pa -ro le er in nern konn te, die er selbst aus ge ge ben hat te.

    In Mün chen fällt Ge org Ste fan Trol ler auf, wie lie be die ne risch die Ver lie rer ge gen über den Sie -gern sind: »Alle Leu te, die sich mit Elek tri zi tät aus kann ten, wa ren alte Na zis ge we sen. Wir ha -ben die na tür lich an ge heu ert. Das mach te de nen über haupt nichts aus. Die wa ren eben so be gie -rig, den Amis zu die nen wie vor her Hit ler. Deut sche ha ben Sie ger im mer ver ehrt. ›Herr Of fi -zier‹ ha ben sie zu mir ge sagt, da bei war ich nur Kor po ral.«

    17. Mai In Flens burg-Mür wik trifft sich die Reichs re gie rung noch zu täg li chen Ka bi netts sit zun -gen. Von Be schlüs sen ist nichts über lie fert.

    Auch Es ther Be ja ra no, die Ausch witz über lebt hat, kämpft wei ter. »Ich bin mit mei ner Freun dinMir jam Edel von Ber gen-Bel sen nach Frank furt ge lau fen, weil es dort eine Aus kunfts stel le derame ri ka ni schen Ar mee gab, wo man sich nach Ver miss ten er kun di gen konn te. Mein Bru derwar ja in Ame ri ka Sol dat ge wor den. Die Ame ri ka ner ga ben mir sei ne Feld adres se. So bin ichwie der in Kon takt mit ihm ge kom men.«

    Nach mit tags, die Kin der sind im Strand bad, schreibt Insa Ra dom ski an ih ren ver miss ten Mann:»Im Ra dio hört man täg lich die Gräu el ge schich ten aus den KZs. Pe ter, das kann man doch nichtglau ben! Wa ren denn die Na zis, vor al lem die SS, lau ter Bes ti en? Pe ter, ist denn al les auf denKopf ge stellt? Vor ges tern und ges tern Abend war ich wie der im Gar ten.«

    19. Mai Alle sind in die sen Ta gen un ter wegs, auf der Su che nach ei ner Woh nung, nach Nah rung,nach Nach rich ten, nach An ge hö ri gen. Ar min Mu el ler-Stahl ver misst sei nen Va ter und machtsich zu Fuß auf den Weg nach Prenz lau: »Wir aßen, was am We ges rand wuchs, Brenn nes selnzum Bei spiel, dar aus mach te mei ne Tan te eine Sup pe. Wir ha ben in Scheu nen über nach tet, inRui nen zwi schen den Trüm mern. Rot ar mis ten ka men nachts dort hin und such ten die Frau en.Mei ne Mut ter war Bal ten deut sche und sprach flie ßend Rus sisch. Abends schmink te sie sich mitRuß und sah dann aus wie eine alte Frau. Sie sprach die rus si schen Sol da ten an: Sta lin habe ge -sagt, je der Sol dat, der eine deut sche Frau ver ge wal tigt, wird er schos sen.«

    21. Mai Mar tin Wal ser ist mitt ler wei le in Rich tung Füs sen un ter wegs. »Plötz lich stand ich vor ei -nem ame ri ka ni schen Jeep. Die ha ben mich ge nom men, in den Jeep ge setzt und mit ei ner wahn -sin ni gen Ge schwin dig keit zu rück nach Gar misch ge bracht. Das Ge fan ge nen la ger dort war imEis sta di on un ter ge bracht. Wir kam pier ten auf den Bän ken. Die an de ren Ge fan ge nen mel de tensich zum Ar beits dienst, dort war man bes ser ver pflegt. Ich habe mich aber nicht ge mel det, weilich sah, dass sich un ten im Sta di on die Bi blio thek des Reichs sen ders Mün chen ein quar tiert hat -te. Ich habe mich da zum Bi blio the kar ge macht und Bü cher an die Ka me ra den aus ge lie hen, diele sen woll ten. Ich habe im mer auch Bü cher mit hin auf ge nom men auf mein La ger, zu mei nerBank.«

    Insa Ra dom ski schreibt an ih ren Mann: »Ges tern wa ren bei Bop pen -mai ers Sträf lin ge aus Dach au, die zu es sen woll ten. Die Gräu el, dieuns jetzt im mer wie der er zählt wer den, kön nen nicht stim men: Garnicht ver hun gert und her un ter ge kom men sa hen sie aus.«

    22. Mai Ober leut nant Hel mut Schmidt schnitzt sich im bri ti schenKriegs ge fan ge nen la ger Jab be ke in West flan dern ein Steck schach -spiel. Die schwar zen Fi gu ren färbt er mit Er satz kaf fee.

    23. Mai Die Bri ten ha ben nun auch Flens burg-Mür wik be setzt. Mor -gens muss ten Dö nitz, Jodl und Hans-Ge org von Frie de burg, Dö nit z'Nach fol ger als Ober be fehls ha ber der Kriegs ma ri ne, in der Bar desehe ma li gen Ha pag-Schiffs »Pa tria« an tre ten. Dort wur de ih nen dasEnde der »Ge schäfts füh ren den Reichs re gie rung« und ihre Fest nah memit ge teilt. Jede deut sche Zen tral ge walt ist da mit be en det. Dö nitz hat

    sich für die sen Tag eine neue Uni form zu ge legt und mit den Al li ier ten ge strit ten, wie vie le Kof -fer er wür de mit neh men dür fen und ob er sei ne Or den wür de an le gen kön nen. Frie de burg beißtnoch am sel ben Tag auf eine Zy an ka li-Kap sel.

    26. Mai Burk hard Hirsch ist bei sei nen El tern, in Hal le an der Saa le. »Ei nes Ta ges kam ein ausder Ge fan gen schaft ent las se ner Of fi zier, der uns ein Le bens zei chen un se res Va ters brach te. Erer zähl te uns von sei nen ei ge nen Er leb nis sen in Russ land, von Mas sen er schie ßun gen von Ju den,die in Vieh trans por ten an ge lie fert wor den wa ren, über ein an der ge schich tet, so dass die Sol da tenlau ter Füße sa hen, wenn sie die Schie be tür öff ne ten. Die un ters ten wa ren er stickt, die an de renwur den er schos sen. Ich sah die Grö ßen des ›Drit ten Rei ches‹ vor mir, das pom pö se Auf tre ten,ihre wei he vol len Re den, die Ap pel le an Treue und Ehre, und konn te Wirk lich keit und Wirk lich -keit nicht über ein brin gen. Ich kam mir ver ach tet vor, be schämt und be schmutzt von Leu ten,de nen ich hat te die nen sol len.« Hirsch wird spä ter FDP-In nen mi nis ter in Nord rhein-West fa lenund eine der li be ra len Stim men der Bun des re pu blik.

    Tho mas Mann, der die Exil jah re in Ka li for ni en ver bringt, ist in Chi ca go zu ei nem Cham pa gner-Sou per ein ge la den: »Die Rus sen sol len sich in Ber lin sehr be liebt ma chen, Le bens mit tel be -schaf fen, mit den Mäd chen aus ge hen. Wer den noch die Be lieb tes ten sein.«

    28. Mai Der Phy si ker Jo hann von Duhn läuft zu Fuß nach Ber lin, sei ne Frau no tiert in ihr Ta ge -buch: »Das Phy si ka li sche In sti tut sieht trost los aus. Im Kel ler steht das Was ser me ter hoch. Inden obe ren Stock wer ken ist von den Rus sen al les durch wühlt und ge plün dert. Die gan zen Gän -ge lie gen voll Pa pier und Rus sen schei ße.«

    Un glück und Glück lie gen in die sem Som mer quer durch ein an der. In Meck len burg tauschtKlaus von Dohn anyi ein Pferd ge gen ein Da men fahr rad und lässt sich von ei nem Fi scher überdie Elbe set zen: »Ich hat te kei nen Kon takt mehr zur Fa mi lie, hoff te aber, viel leicht in Fried -richs brunn, wo mei ne Groß el tern ein Fe ri en haus hat ten, je man den mit Nach rich ten aus Ber linzu tref fen. Eine Stra ßen kar te von Deutsch land in der Ta sche, ra del te ich auf Au to bah nen,Land stra ßen und auf Wald we gen in den Harz. Wo im mer es ging, klam mer te ich mich an Last -wa gen, die von kes sel ar ti gen Holz ver ga sern auf der La de flä che an ge trie ben wur den; stin kend,qual mend, be hä big – aber sie fuh ren.«

    Dohn anyi hofft, sei nen Va ter zu fin den, der ak tiv am Wi der stand ge gen Hit ler be tei ligt war.Spä ter wird er er fah ren, dass Hans von Dohn anyi noch vor Kriegs en de von den Na zis ge hängtwor den war.

    5. Juni Die Re gie run gen der vier Sie ger mäch te USA, So wjet uni on, Groß bri tan ni en und Frank -reich über neh men die »Obers te Re gie rungs ge walt in Deutsch land«. Sie tei len das Land in vierBe sat zungs zo nen auf, Ber lin wird in vier Sek to ren ge teilt und ei ner Mi li tär kom man dan tur un -ter stellt.

    Burk hard Hirsch er lebt den Ein marsch in Hal le an der Saa le: »Spä terka men dann die Rus sen tat säch lich, mit Pan je wa gen und ur al ten Las -tern. Sie plün der ten die Lä den, klau ten Fahr rä der und Uh ren. Mansah Sol da ten mit fünf oder sechs Uh ren am Arm, man hör te vonMor den und Ver ge wal ti gun gen. Mir schlug ei ner auf der Geist stra ßeohne je den Grund so ins Ge sicht, dass ich zu Bo den ging.«

    11. Juni Ir gend wann in die sen Ta gen er reicht Klaus von Dohn anyiWies ba den, er sucht noch im mer nach sei ner Fa mi lie, nach Nach rich -ten von sei nem Va ter. »Wie der ging es mit dem Fahr rad wei ter. InFrank furt mach te ich Sta ti on, schlief auf dem Bahn hof in ei nem dre -cki gen klei nen Ka buff, in dem da mals noch die Fahr kar ten ge knipstund ent wer tet wur den. Am Mor gen dann nach Wies ba den, ich fanddie Vil la der Ame ri ka ner, wies mich aus und wur de schnell her ein ge -be ten; die Leu te an der Spit ze kann ten of fen bar mei ne Fa mi lie. Manschick te mich zu nächst mal in die Kan ti ne zum Früh stück: Was fürein Lu xus! Weiß brot, Erd nuss but ter, Oran gen mar me la de. Das un ver -gess lichs te Früh stück mei nes Le bens.«

    In Pots dam wird die »Kon fe renz der Gro ßen Drei« vor be rei tet. Die Duhns sind im mer nochem pört über die Zu mu tun gen. Die Ber li ner sol len in kür zes ter Frist für je des Haus eine rus si -sche, ame ri ka ni sche, eng li sche und fran zö si sche Flag ge nä hen. »... müs sen auch wir 4 Flag gennä hen. Es bleibt uns, um uns Un an nehm lich kei ten mit der rus si schen Kom man dan tur zu er spa -ren, tat säch lich nichts an de res üb rig, als den Fein den in die ser Wei se in den Arsch zu krie chen.Wo bleibt ei gent lich die de mo kra ti sche Frei heit? Aber bei den Rus sen ha ben sich die de mo kra -ti schen Prin zi pi en wohl noch nicht her um ge spro chen. Wir set zen uns also hin und fa bri zie renaus al ten Lap pen so wie der noch vor han de nen Ha ken kreuz fah ne in we ni gen Stun den 4 Flag -gen, die wir dann zum Bo den fens ter hin aus hän gen.«

    14. Juni In Ryb nik in Ober schle si en war Fried rich No wott ny, der spä te re In ten dant des WDR,ge mein sam mit sei nem Va ter zum Volks sturm ein ge zo gen wor den. Der Va ter starb, No wott nyver schlug es nach Brau nau am Inn, dem Ge burts ort Hit lers. Er lernt ei nen Ju we lier ken nen, ei -nen Öster rei cher. »Der sag te: Ich habe hier ei nen Kar ton mit To ten kopf rin gen. Wenn die Ame -ri ka ner die bei mir fin den, brin gen die mich um – das sind doch SS-Rin ge. Ich bat ihn, mir einpaar zu ge ben. Und da habe ich ei nen schwung haf ten Han del mit an geb li chen SS-Rin gen an ge -fan gen. Der Schus ter ne ben an hat te Po lier schei ben. Da habe ich die dran ge hal ten, dann wa rendie hoch glanz po liert; das sah toll aus. Die Ame ri ka ner wa ren ver rückt nach Na zi sou ve nirs. DerKurs war ein Ring für eine Stan ge Zi ga ret ten.«

    In Dan zig haust Bri git te Wet zel, die Mut ter des Künst lers Jo na than Mee se, seit Wo chen im Kel -ler ei nes Kran ken hau ses. »Wir hat ten kei ner lei Nach rich ten, wir wuss ten nicht ein mal, dass derKrieg vor bei war. Ir gend wann wur de es uns ge rüch te mä ßig er zählt, aber es mach te kei nen Un -ter schied für uns, wir ka men nicht raus aus der Stadt. Mei ne Mut ter war dar über ver zwei felt,we nig spä ter starb sie. Je mand näh te ihre Lei che in ei nen Sack ein, mei ne Tan te or ga ni sier teeine Schub kar re und eine Schau fel. Wir fuh ren dann zu un se rem Fa mi li en grab, schau fel ten eineGru be, leg ten mei ne Mut ter hin ein und schau fel ten das Grab wie der zu.«

    18. Juni Köln ist eine ziem lich lee re Stadt. Kaum mehr als 175 000 Men schen le ben hier noch,von vor her ei ner Drei vier tel mil li on. Der 49-jäh ri ge Hans Dies ter wird sei ne Ge burts stadt nochlan ge nicht wie der se hen. Er rückt ins Kriegs ge fan ge nen la ger Moos burg ein. Als zeit wei li gerHilfs rich ter am Volks ge richts hof und Par tei mit glied be fürch tet er Schlim mes. »Ein trau ri gerAn blick, die se end lo sen Rei hen zu ent las sen der deut scher Sol da ten, moch ten die meis ten vonih nen auch er freu li cher wei se sich noch so sehr be mü hen, auf die sem letz ten un wür di gen undschwe ren Gang we nigs tens äu ßer lich gute Hal tung zu zei gen.«

    Ge org Ste fan Trol ler, als Jude aus Wien nach Ame ri ka emi griert und als US-Sol dat zu rück nachDeutsch land ge kom men, fällt ein Satz auf, der ty pisch wer den wird für die se Zeit: dass jetzt»auch mal Schluss sein muss mit dem Re den über die Na zi zeit«. »Die ser Satz war so fort da.Eben so wie die Hal tung: Durch die Luft an grif fe und den Man gel an Le bens mit teln hat man be -reits ab ge büßt für sol che Din ge wie Ausch witz. Wir un ter den Bom ben näch ten und die Ver trie -be nen un ter dem Iwan – wir ha ben ja schon al les ab ge büßt, was wollt ihr ei gent lich noch vonuns?«

    19. Juni Es wird nicht bes ser im Kriegs ge fan ge nen la ger Moos burg. Der Ju rist Hans Dies ter istauf rich tig em pört: »Was zer brach in die sen Män nern nicht al les auf je nem trau rig-elen den Zugins La ger Moos burg! Sie wa ren nicht nur der Frei heit be raubt. Auch sie wa ren, wie un se re gan -ze Na ti on, aus stol zer Höhe nie der ge schmet tert in ein Nichts, wie nie zu vor ein Volk in der Ge -schich te.«

    Wäh rend Klaus von Dohn anyi durch das be frei te Deutsch land ra delt, mar schie ren die Rus senbei sei ner Fa mi lie ein. »Mei ne Schwes ter ver steckt in obe ren Wand schrän ken, mein Bru der un -ter vor ge hal te ner Pis to le ge zwun gen, ver geb lich ein still ge leg tes Auto in Gang zu set zen, abereben auch rus si sche Of fi zie re, die vol ler Re spekt vor dem Wi der stand mei nes Va ters be fah len,un ser Haus zu schüt zen.«

    Spä ter wird Dohn anyi sa gen: »Für mich war 1945 wohl das wich tigs -te Jahr mei nes lan gen Le bens: Ich hat te den Tod ge se hen, ge lernt,Ver ant wor tung zu über neh men, und Selbst ver trau en ge won nen,ohne mein Gott ver trau en zu ver lie ren. Kurz, ich war in we ni gen Mo -na ten er wach sen ge wor den.«

    21. Juni Ma ri an ne von Kret sch mann, die spä ter Ri chard von Weiz sä -cker hei ra ten wird, ist im Som mer 1945 ein 13-jäh ri ges Mäd chen:»Nach dem Kriegs en de wa ren wir nach Es sen zu rück ge kehrt, zwarnicht in das Haus, in das wir ge hör ten, das war be setzt, wie die meis -ten Häu ser auch. Wir wohn ten in ei ner an de ren Woh nung. Schließ -lich öff ne ten die Schu len wie der. Da wur de un be schrie be nes Pa pierzu ei ner Kost bar keit. Meis tens be schrie ben wir die Rän der des Zei -tungs pa piers.«

    In Brau nau am Inn se hen die Men schen ei nen Film im Kino, dieAme ri ka ner wol len das so. Auch Fried rich No wott ny ist da bei. »Daswar der ers te Film über die KZs. Als ich das dann mei ner Mut ter und

    mei ner Schwes ter er zähl te, hat das Un glau ben und tie fe Be trof fen heit aus ge löst. Aber man warauch gern be reit, in sich rein zu hor chen – um her aus zu fin den: Be trifft dich das über haupt? Es isteine ge wis se Zeit ver gan gen, ehe man be grif fen hat: Es be trifft je den von uns.«

    24. Juni Auf Burg Wil den stein, am Rand der Schwä bi schen Alb, wird im Burg hof ge tanzt undThea ter ge spielt. Das phi lo so phi sche Se mi nar hat bei der Heu ern te ge hol fen und in den Pau senKants »Kri tik der rei nen Ver nunft« stu diert. Der Phi lo soph Mar tin Hei deg ger, NS DAP-Mit gliedbis zum Kriegs en de, in ter pre tiert Höl der lin: »Al les ist Schi ckung«.«

    Im La ger Moos burg lei det Hans Dies ter wei ter, die Of fi zie re vom US-Ab wehr dienst kom menund stel len Fra gen: »Eine au ßer or dent li che Macht be fug nis war hier in die Hän de ein zel nerMän ner ge legt wor den, die nicht nur zu meist au ßer or dent lich jung, son dern größ ten teils jü di -scher Ab stam mung, nicht sel ten so gar emi grier te Deut sche wa ren, die sich nun häu fig an ih rerMacht be rau schen und ih ren Hass- und Ra che ge füh len nicht nur ge gen den Na tio nal so zia lis -mus, son dern ge gen al les Deut sche schlecht hin und be son ders ge gen die deut sche Wehr machtfrei en Lauf lie ßen.«

    Dass vie le Deut sche ein rei nes Ge wis sen ha ben, fällt auch Ge org Ste fan Trol ler auf, bei sei nenFahr ten durch Bay ern: »Übe r all wei ße Fah nen. Die Leu te hat ten sich er ge ben und da mit für un -schul dig er klärt. Man hat te sich weiß ge schminkt.«

    27. Juni Mit ih rer Freun din, die sie in Ausch witz ken nen ge lernt hat, ist Es ther Be ja ra no vonFrank furt nach Ful da ge lau fen: »Weil man uns in Ber gen-Bel sen ge sagt hat te, es gibt ein Vor be -rei tungs la ger zwecks Aus wan de rung nach Pa läs ti na. Dort woll ten wir hin, wir woll ten nichtmehr in Deutsch land blei ben. Wir ha ben die In for ma ti on be kom men, dass von Frank reich ausein Schiff fah ren wür de. ›Mata roa‹ hieß das Schiff. In Pa läs ti na ka men wir wie der in ein La ger.Das war für uns eine rie si ge Ent täu schung.«

    Der Sommer der Befreiung

    Pas san ten in der Pots da mer Stra ße in Ber lin im Juli 1945 (im Hin ter grund das zer stör te Kauf haus Wert -heim)

    Ni ko lai Pu dow, Jahr gang 1921  •  AlsHaupt mann der Ro ten Ar mee ge hört er zuden Be sat zern. Ein deut sches Wort hat ernicht ver ges sen: »Un ter mensch«.

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    Hans Modrow, Jahr gang 1928  •  AlsVolks sturm mann ge rät er 17-jäh rig in so -wje ti sche Ge fan gen schaft. In Mos kauwird er spä ter zum Kom mu nis ten.

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    Ge org Ste fan Trol ler, Jahr gang 1921  •  AlsJude floh er vor den Na zis in die USA, mitder U. S. Army kehrt er nach Eu ro pa zu -rück – und steht in Hit lers Münch nerWoh nung.

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    Fried rich No wott ny, Jahr gang 1929  •  Als16-Jäh ri ger schlägt er sich nach Brau nauam Inn durch. Und han delt mit US-Sol da -ten: To ten kopf rin ge ge gen Zi ga ret ten.

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    Ma ri an ne von Weiz sä cker, Jahr gang1932  •  Weil Pa pier knapp ist, schreibtdas 13-jäh ri ge Mäd chen er satz wei se aufdie Rän der von Zei tungs pa pier.

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    Es ther Be ja ra no, Jahr gang 1924  •  Diejun ge Frau hat Ausch witz über lebt, weilsie Ak kor de on spiel te. Sie will nach Pa läs -ti na aus wan dern.

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  • FOTOS: BETTMANN / GETTY IMAGES; Jakob Schnetz und Janek Stroisch / DER SPIEGEL

    DER SPIEGEL 19/2020

    Das war für uns eine rie si ge Ent täu schung.«

    Die Deut schen ler nen in die sem Som mer vie le neue Wör ter: »Wo mi ko« (Wohn klo mit Koch ni -sche), »Koch he xe« (eine Blech do se mit klei nem Rost, in der mit Holz spä nen ein Feu er ge machtwer den konn te), »Kar tof fel stop peln« (Ab gra sen der Kar tof fe lä cker nach der Ern te), »Hams ter -fahrt«. Sie sam meln Buch eckern und pres sen sie, um ein we nig Öl zu ha ben.

    Der sie ben jäh ri ge Theo dor Grusch ka schreibt in Am berg in ein Schul heft, was er so er lebt:»Frü her ha ben alle ›Heil Hit ler!‹ ge ru fen und die Hand ge ho ben, und jetzt darf man Hit ler nichtlaut sa gen.« Und wei ter: »Als die deut schen Sol da ten weg wa ren, wa ren wir sehr trau rig, weildie bes ser wa ren als die Fein de. Viel leicht ist Hit ler gar nicht tot, sa gen vie le Leu te. Um Got teswil len, sagt mei ne Mut ter. Ich habe ihn ein mal in Ber lin ge se hen. Das hat mir ge fal len. Werjetzt Hit ler sagt, flüs tert da bei.«

    4. Juli Der Phy si ker Jo hann von Duhn sor tiert in Pots dam sei ne La -bor un ter la gen. Sei ne Frau schreibt: »Auch ent wirft und be rech net erneue Neu tro nen mess ge rä te für die kom men de Frie dens zeit. Hof fent -lich kommt sie auch wirk lich bald. Er be sucht Pro fes sor Vol mer vonder T. H. (Tech ni schen Hoch schu le), der nach der Zer stö rung undAus räu mung sei nes In sti tuts nichts mehr tun kann und mit dem Ge -dan ken um geht, ei ner ›Ein la dung‹ der Rus sen nach Mos kau zu fol -gen. Ei ni ge Ber li ner Wis sen schaft ler, wie (Gus tav) Hertz, (Pe terAdolf) Thies sen und (Man fred von) Ar den ne sol len schon dort sein.«

    In Sochu mi an der Schwarz meer küs te wer den sie an der Ent wick lungder so wje ti schen Atom bom be mit wir ken.

    12. Juli Der Ex-Ge birgs jä ger Mar tin Wal ser ist wie der zu Hau se, inWas ser burg am Bo den see. »Es be gann ein fa bel haf ter Som mer. DieFran zo sen wa ren eine Be sat zungs macht, mit der man aus kom menkonn te. Sie er lie ßen ei nen Be fehl, die männ li chen Was ser bur ger soll -te alle Zäu ne strei chen, und zwar mit den fran zö si schen Far ben Blau-Weiß-Rot, weil am 14. Juli, dem fran zö si schen Na tio nal fei er tag, der

    Ge ne ral de Latt re de Tas si gny in Was ser burg lan den wür de. Das ha ben wir na tür lich ger ne ge -macht, und der Latt re ist an dem 14. ein ge zo gen wie ein Fürst. Ich war froh, dass wir mehr nichtma chen muss ten, als die se Zäu ne zu strei chen. Ich war ge ret tet, und es war ein Som mer, wieseit her kein an de rer.«

    14. Juli Im nie der schle si schen Bad Salz brunn hän gen Pla ka te in deut scher Spra che: »Son der be -fehl. Die deut sche Be völ ke rung wird in das Ge biet west lich des Flus ses Nei ße um ge sie delt. Je -der Deut sche darf höchs tens 20 kg Rei se ge päck mit neh men. Alle Woh nun gen müs sen of fenblei ben, die Woh nungs- und Haus schlüs sel müs sen nach au ßen ge steckt wer den.«

    Für vie le Er wach se ne ist die neue Zeit eine Tra gö die. Kin der er le ben sie oft als Aben teu er.SPIEGEL-Le ser Pe ter Wä gner: »Ge wehr mu ni ti on klopf ten wir vor sich tig an ei nem Stein auf,bis das Ge schoss her aus fiel und wir das Pul ver hat ten. Noch kost ba rer war die Leucht spur mu ni -ti on, die far bi gen Kap seln. Was wir da mit mach ten? Klei ne Feu er wer ke. Spu ren aus Schwarz -pul ver le gen, da zwi schen die Leucht spur kap seln plat zie ren und das Gan ze an zün den. Das warein Spaß – bis uns ei nes Ta ges ein Ami-Of fi zier er wisch te und uns ge hö rig die Le vi ten las.Schließ lich schweb te ja noch der Wer wolf my thos in der Luft, und je der Knall lös te Auf re gungaus.«

    16. Juli Je län ger Ge org Ste fan Trol ler in Deutsch land ist, des to we ni ger ver steht er die Deut -schen: »Wir hat ten er war tet, dass sie in Sack und Asche auf den Kir chen stu fen be ten wür den.Aber nein, nicht im Ge rings ten. Wir ha ben es ja schon ab ge büßt, das war die Hal tung.«

    Bei Al a mogordo, in der Wüs te von New Me xi co, wird an die sem Tag zum ers ten Mal eineAtom bom be ge zün det. Ihre Spreng kraft ent spricht 21 Ki lo ton nen TNT.

    17. Juli Im Schloss Ce ci li en hof in Pots dam wird die Kon fe renz er öff net, auf der Pre mier mi nis terWins ton Chur chill, der so wje ti sche Dik ta tor Jo sef Sta lin und US-Prä si dent Har ry Trum an Eu ro -pas Tei lung be sie geln wer den. Ei gent lich war Ber lin als Ta gungs ort vor ge se hen, aber die Stadtwar zu zer stört. »Alle Stra ßen sind ge sperrt, der gan ze Ver kehr er gießt sich an un se rem Hau sevor bei«, schreibt An ne ma rie von Duhn. Am nächs ten Tag ant wor tet Trum an auf die Fra geChur chills, was »Deutsch land« noch be deu te: »Es hat 1945 al les ein ge büßt. Deutsch land exis -tiert jetzt fak tisch nicht.«

    21. Juli Die Gro ßen Drei kon fe rie ren wei ter. Es ist al les sehr läs tig für die Duhns: »Am 21. Juli inWann see, zwei mal Ver kehrs sper re, Chur chill fährt durch. An ne ma rie fühlt sich schlapp undmüde, ha ben wir doch seit 3 Mo na ten kein Fleisch und, ab ge se hen von den 250 g But ter, auchkein Fett er hal ten.«

    US-Prä si dent Trum an ord net, fünf Tage nach dem er folg rei chen Test bei Al a mogordo, den Ein -satz von Atom waf fen im Krieg ge gen Ja pan an.

    Hans Modrow, seit Mai in rus si scher Kriegs ge fan gen schaft, muss in Hin ter pom mern bei derErn te hel fen, zur Ver sor gung der so wje ti schen Ar mee. Weil er sich mit Pfer den aus kennt, fun -giert er eine Wei le als Fah rer für ei nen so wje ti schen Of fi zier. Rus sen, das hat er in der Hit ler ju -gend ge lernt, sind kei ne Geg ner, son dern Fein de. Der Rus se, den er mit dem Pfer de ge spannkut schiert, zi tiert Hei ne. »Erst da habe ich be grif fen«, sagt Modrow, »dass die Rus sen kei ne Un -ter men schen wa ren.«

    22. Juli Insa Ra dom ski, die im mer erst Ruhe hat, wenn die Kin der im Bett sind, schreibt an ih renMann, von dem sie je doch erst am 30. De zem ber ein Le bens zei chen er hal ten wird: »So lan geich die Hoff nung habe, dass du ei nes Ta ges wie der kommst, lass ich den Mut nicht sin ken. Wassol len denn die sa gen, de ren Mann ge fal len ist? Der Herr gott bür det uns nicht mehr auf, als wirtra gen kön nen. Sol len wir es da nicht wil lig tra gen? All mäh lich, wo man zur Ruhe kommt, seheich auch die Din ge, die den Zu sam men bruch brach ten, an ders: Ich kann nicht an ein Ver bre -chen glau ben. Si cher, es sind vie le Feh ler ge macht wor den, dazu kam gro ßes Un glück. Aberdass der Na tio nal so zia lis mus im Kern gut war und dass der Füh rer das Bes te ge wollt hat, glau beich nach wie vor. Viel leicht wird eine spä te re Zeit den Füh rer doch als Vor kämp fer ge gen denBol sche wis mus wür di gen. Hof fent lich wer den die West mäch te mit die sem fer tig!«

    23. Juli In Ham burg-Fuhls büt tel denkt der Gast stät ten be trei ber Alois H. dar über nach, sei nenNa men än dern zu las sen. We nig spä ter wird er sich an die Po li zei wen den: »Mit die sem Schrei -ben bit te ich den Herrn Oberst und Kom man deur der Po li zei Ham burg, mei nen Fa mi li en na -men Hit ler in Hil ler um än dern zu wol len.« Ge gen eine Ge bühr von 50 Reichs mark gibt die Po -li zei dem Ge such statt.

    Mar tin Wal ser trifft in die sem Som mer sei ne spä te re Frau Kä the. »Wir wa ren froh, dass wir zues sen und zu trin ken hat ten, und ich war froh, dass es Kä the gab, und Kä the war froh, dass esmich gab. Mein spä te rer Schwie ger va ter ist da mals mit dem Rad ins Ober land ge fah ren und hatEs sen ge holt für sich und die Fa mi lie, da ha ben mei ne Mut ter und ich auch im mer ein biss chenet was ab be kom men. Auch Klei dung hat ten wir ge nug. Ich hat te ja noch, auch wenn das trau rigwar, die Klei dung von mei nem ge fal le nen Bru der. Ich war ver liebt in Kä the, al les an de re warse kun där.«

    2. Au gust An ne ma rie von Duhn no tiert in Pots dam: »Am 2. Au gust ist die Drei er kon fe renz be -en det. Die Fein de fas sen ihre Be schlüs se über un se re Köp fe hin weg. Man denkt bes ser jetztnicht dar an, dass man mal ein Bür ger ei nes frei en Staa tes war.«

    Das Pots da mer Ab kom men sieht un ter an de rem die »ge ord ne te und hu ma ne Über füh rung« derDeut schen aus Po len, der Tsche cho slo wa kei und Un garn vor. In den vier Be sat zungs zo nen le -ben bald über zehn Mil lio nen Flücht lin ge. Es ist eine bis da hin bei spiel lo se Völ ker ver schie bung.

    Fried rich No wott ny hat ei nen Job als Dol met scher beim Stadt kom man dan ten von Brau nau ge -fun den. Er er in nert sich: »Ich krieg te ›The Stars and Stri pes‹ in die Hän de und sah das Er geb nisvon Pots dam. Eine Fe der zeich nung, wo die Zo nen ein ge tra gen wa ren. Und mei ne Hei mat –Pom mern, Ost preu ßen – war nicht mehr auf die ser Kar te. Das war schon die Ent schei dung zurTei lung des Groß deut schen Rei ches. Da war mir be wusst: Die Hei mat siehst du nie wie der.«

    Wäh rend des sen hat Hans-Jo chen Vo gel in Gie ßen sei ne El tern wie der ge fun den. Zu letzt hat te ersie beim Fron t ur laub Weih nach ten 1944 ge se hen: »Da mals hat te mei ne Mut ter schwar ze glän -zen de Haa re. Nun wa ren sie weiß.«

    Und der klei ne Theo dor Grusch ka no tiert: »Jetzt är gert sich die Frau Lie ret, dass wir alle sil ber -nen und gol de nen Pa pier ha cken kreu ze ver nich tet ha ben be vor die Ame ri ka ner ka men, dennjetzt könn te man ein gu tes Ge schäft ma chen, hat sie ge sagt. Weil die Amis so was als An denkenmit neh men. Sie sa gen, sie er schie ßen ei nen, wenn sie was fin den, weil man dann ein Nazi ist.Ich habe aber wel che heim lich weg ge nom men und ver steckt.«

    In Deutsch land gibt es in die sem Som mer über ra schend we ni ge Par tei ge nos sen und er staun lichvie le Wi der ständ ler. Plötz lich ha ben alle Vet tern oder On kel in Ame ri ka, und ir gend ei ne jü di -sche Groß mut ter. Ge org Ste fan Trol ler: »So vie le jü di sche Groß müt ter ha ben nicht ein mal wirge habt. Auch der Hel mut Schmidt hat te zu mei ner Über ra schung ei nen jü di schen Groß va ter.Ich habe das nicht ge wusst, auch nie mand sonst hat es ge wusst.«

    Ta ge buch des klei nen Theo dor Grusch ka: »Im mer fort ma chen die Amis Raz zia. Ich ren ne hin,weil das span nend ist. Manch mal kom men sie mit na cker ten Wei bern raus. Die ha ben eine De -cke um hän gen. Oder Män ner mit ge klau ten Zi ga ret ten. Manch mal klau en die Amis auch was.Mei ne Mut ter sagt, die dür fen das, weil sie die Sie ger sind. Wenn ich zu nah bei der Raz zia ste -he, schreit ei ner: Hau ab you fa cken boy. Mei ne Mut ter sagt, das ist was un an stän di ges.«

    5. Au gust An die sem Sonn tag fährt der Phy si ker Jo hann von Duhn zu ei nem Kol le gen nach Zeh -len dorf. Er könn te dort die Ent wick lung von Elek tro nen röh ren über neh men. Das ist nicht seinSpe zi al ge biet, aber er ist ge neigt an zu neh men: »Es ist im mer hin ein pro duk ti ves War ten. Undmit der Atom phy sik ist ja vor läu fig doch nichts zu ma chen.«

    Kurz vor Mit ter nacht eu ro päi scher Zeit ent deckt das ja pa ni sche Früh warn sys tem das Ra da r -echo des US-ame ri ka ni schen Bom bers »Eno la Gay«. Das Flug zeug hat eine Uran-Bom be anBord, »Litt le Boy« ge nannt.

    Das Flug zeug fliegt wei ter, mit Kurs auf Hi ro shi ma.Susanne Beyer, Martin Doerry, Hauke Goos, Ulrike Knöfel, Timofey Neshitov, Alexander Smoltczyk

    Ar min Mu el ler-Stahl, Jahr gang 1930  • Auf dem Weg nach Prenz lau isst erBrenn nes sel sup pe. Und sieht, wie sichsei ne Mut ter je den Abend mit Rußschminkt.

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