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Kapitel J4 aus T. Brandt, H.C. Diener, C. Gerloff (Hrsg.) Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012 Kohlhammer O. Kastrup, A.-K. Uerschels, U. Sure Nervenkompressions- und Kompartment-Syndrome ISBN 978-3-17-024542-6

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Kapitel J4 ausT.Brandt, H.C.Diener, C.Gerloff (Hrsg.)

Therapie und Verlaufneurologischer Erkrankungen6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012

Kohlhammer

O.Kastrup, A.-K.Uerschels, U.Sure

Nervenkompressions- undKompartment-SyndromeISBN 978-3-17-024542-6

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J 4 Nervenkompressions- und Kompartment-Syndromevon O. Kastrup, A.-K. Uerschels und U. Sure*

Grundsätzlich ist das Ziel der Behandlung von Ner-venkompressionssyndromen die Beseitigung derSchädigungsursache. Dies lässt sich gelegentlichdurch konservative Maßnahmen, häufiger aberdurch chirurgische Eingriffe erreichen. Schwierig-keiten bereitet oft die Entscheidung, wann ein kon-servatives Vorgehen keinen Sinn mehr hat. Mit Aus-nahme der Studien zu den Operationsverfahren undder Steroidtherapie beim Karpaltunnelsyndrom gibtes zu den Therapien der Erkrankungen keine pros-pektiven oder placebokontrollierten Studien.Detailliertere Informationen über Nervenkompres-sionssyndrome finden sich in den Monographienvon Tackmann et al. (1989), Stöhr (1996), Dawson(1999) sowie Mumenthaler et al. (2007).

J 4.1 Obere Extremität

J 4.1.1 Kompressionssyndrome des Schultergürtels

Tab. J 4.1: Ursachen einer Kompression des Plexus bra-chialis

J 4.1.1.1 Thoracic-outlet-Syndrom (TOS)

Der Plexus brachialis entsteht aus den SpinalnervenC5 bis Th1. Durch die anatomische Umordnung derdrei Plexusstämme (Trunci) in die drei Nervenfaser-bündel (Fasciculi) innerhalb des Plexus entstehen diedrei Hauptnerven des Armes und mehrere kleinereNerven. Auf dem Weg zum Arm zieht der Plexus zwi-schen dem vorderen und mittleren M. scalenus (Ska-lenuslücke) hindurch, dann unter der Clavicula zurAxilla. Dabei liegt der proximale Teil des Truncus in-ferior direkt der apikalen Pleura auf. Die A. subclaviazieht gemeinsam mit dem Plexus durch die Skalenus-lücke und bleibt ihm im weiteren Verlauf eng benach-bart. Die mit dem Gefäßnervenstrang ausgefüllteanatomische Region rostral der oberen Thoraxaper-

tur und hinter der Clavicula wird mit dem englischenBegriff thoracic outlet bezeichnet.Der Plexus brachialis, die Arteria und Vena subcla-via durchziehen in ihrem Verlauf durch die obereThoraxapertur, als sogenanntes neurovaskuläresBündel, drei präformierte, natürliche Engpässe: dieSkalenuslücke, den kostoklavikulären Raum undden retropectoralen Raum.Besonders im Bereich Skalenuslücke, einem schma-len und dreieckigen Raum, der von vorn vom M.scalenus anterior, von hinten vom M. scalenus me-dius und von unten von der ersten Rippe begrenztwird, wurden zahlreiche Kompressionsursachen be-schrieben (Tab. J 4.1; Adson 1947, Roos 1966, Poite-vin 1988). Die zugrunde liegenden komprimieren-den Strukturen sind anatomische Variationen wiedie (oft partielle) Halsrippe bzw. ein verlängerterQuerfortsatz des 7. Halswirbelkörpers mit von dortzur 1. Rippe verlaufendem fibrösen Band, auch eineSehnenbrücke zwischen den Muskelansätzen oderein abnorm verbreiterter Ansatz des M. scalenus an-terior oder medius.Je nach klinischer Symptomatik unterscheidet mandas neurogene TOS (typisch/atypisch) vom vaskulä-ren TOS (arteriell/venös).

Diagnose

Die Diagnose eines TOS erfolgt aufgrund der kli-nischen Symptomatik. Das neurogene TOS ist eineprogrediente untere Plexusläsion, beginnend mitSchmerzen und Sensibilitätsstörungen zunächst ammedialen Unterarm (Dermatom Th1), später auf dieulnare Handpartie (Dermatom C8) übergreifend.Arbeiten über Kopf und das Tragen schwerer Lastenam herunterhängenden Arm können die Symptomeauslösen. Lähmungen und Muskelatrophien im mo-torischen Versorgungsareal des Truncus inferior be-ginnen meist in der lateralen Daumenballenmusku-latur, die einen erheblichen Anteil ihrer Innervationüber die Wurzel Th1 erhält. Beim arteriellen TOSkommt es zur Ischämie der Finger oder der Hand,manchmal zu arteriellen Embolisationen. Das ve-nöse TOS führt zur Schwellung und Armvenen-thrombose ohne neurologische Ausfälle. Es wurdenverschiedene Provokationstests (Adson-Test, Trak-tions-Test, Roos-Test) beschrieben. Die Wertigkeitdieser Tests ist umstritten. Als verlässlicher Test giltder Roos- oder AER-Test (Abduktion und externeRotation). Dabei werden die Arme des Probandenabduziert und im Ellenbogengelenk rechtwinklig ge-beugt. Die Handflächen werden nach außen rotiertund in dieser Haltung werden über drei MinutenFaustschlussbewegungen durchgeführt. Der Test gilt

* Autoren dieses Kapitels in der 5. Auflage: O. Kastrup und H. P. Richter.

Thoracic-outlet-Syndrom

Akuter Druck von außen• Rucksacklähmung• Koma

Hämatom, falsches Aneurysma der Gefäß-Nerven-scheide

Tumoren• Pancoast-Tumor• Lymphknoten, Mammakarzinom-Metastasen,

Neurinome, Neurofibrome

Lagerung bei Operationen

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Muskulatur und peripheres Nervensystem

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als positiv, wenn sich die typischen Beschwerden aus-lösen lassen. Bei über 90 % der TOS-Patienten ist einpositives Hoffman-Tinel-Zeichen supraklavikulärnachweisbar (König und Antoniadis 2009). Eine um-strittene Entität ist das fragliche oder atypische neu-rogene TOS mit Schmerzen und Parästhesien inSchulter und Arm ohne neurologische Ausfälle odervaskuläre Symptome und ohne Befund in derapparativen Diagnostik (Wilbourn 1990). Diese un-charakteristischen Syndrome mit chronischemSchulter-Arm-Schmerz werden vor allem von chir-urgischer Seite in großer Zahl als TOS angesehen undoperativ – meist durch transaxilläre Resektion derersten Rippe – behandelt (Roos 1999), was zu iatro-genen unteren Armplexusparesen, z. T. mit einerbegleitenden Kausalgie bzw. zu einem komplexen re-gionalen Schmerzsyndrom (CRPS) führen kann(Stöhr 1996, Wilbourn 1999).Das neurologische TOS ist selten und betrifft oftFrauen im jungen bis mittleren Alter (Gilliatt 1984).Die häufigsten Ursachen für diese Einklemmungs-neuropathien sind Fehlhaltungen wie eine vorge-schobene Kopfhaltung, eine Steifigkeit der Wirbel-säule, Muskelverkürzung und Tonuszunahme sowieeine Kraftminderung der Haltemuskulatur (Mu-menthaler 2007).Die elektrophysiologische Untersuchung sollte zu-nächst eine perphere Nervenläsion ausschließen.Beim TOS ist die motorische Leitgeschwindigkeithäufig unauffällig, das SNAP oft reduziert. Die ra-diologische Diagnostik mittels MRT der HWS unddes Plexus brachialis sollte kompressive andere Ur-sachen ausschließen. Die konventionelle Röntgen-untersuchung der oberen Thoraxapertur dient demNachweis knöcherner Anomalien. Bei Verdacht aufarterielle Kompression sind die Dopplersonogra-phie der A. subclavia und A. radialis und die digitaleSubtraktionsangiographie, eventuell in Provokati-onsstellung, notwendig. Zum Nachweis eines neuro-genen TOS ist diese Untersuchung aber wenig hilf-reich, da eine Einengung oder sogar ein Verschlussder A. subclavia unter Provokation ebenso oft beiGesunden vorkommt (Rainer et al. 1975). Inwiefernein Provokations-MRA in Zukunft hilfreich seinwird, ist nicht geklärt (Estilaei et al. 2006).Eine Kompression des Plexus brachialis kann auchdurch akute äußere Einflüsse zustande kommen.Durch das Tragen von schweren Lasten auf derSchulter kann der Plexus von oben komprimiertwerden. Die Trageriemen von schweren Rucksäckenkönnen dazu führen, dass die Clavicula den Plexusgegen die erste Rippe drückt. Klinisch kommt es beidiesen Störungen zu einer oberen Plexusläsion, beider Rucksacklähmung auch bilateral, mit auffallen-der Betroffenheit des M. serratus ant. Auch im Komaoder infolge operationsbedingter Lagerung mitHyperabduktion des Armes kann es zu Plexus-druckläsionen kommen. Der Plexus brachialis kanndurch Tumoren (Bronchialkarzinom, Lymphome,Lymphknotenmetastasen, Neurinome) kompri-miert werden, beim Pancoast-Syndrom auch alsErstmanifestation der Tumorerkrankung.Nach Trauma oder arterieller Punktion können Hä-matome oder falsche Aneurysmen zu einem Druckauf die Plexusteile führen, indem sich Blut in der Ge-fäßnervenscheide sammelt. Klinisch führt dies jenach Stärke der Blutung zu akuten oder langsamprogredienten neurologischen Ausfällen.

Therapie

Ein TOS mit belastungsabhängigen Beschwerdenohne neurologische Ausfälle sollte konservativ be-handelt werden. Anfangs ist oftmals der Einsatz vonAnalgetika und Muskelrelaxantien notwendig. DieTherapie besteht aus Schonung und Ruhigstellungdes Armes (Mitella), Vermeiden von provozieren-den Belastungen und Krankengymnastik zur Kräf-tigung der Schulterheber und Haltungsverbesse-rung von Schulter und Wirbelsäule (Übungen beiMumenthaler 1980 und Dawson et al. 1990). DieBehandlung muss bei fehlenden neurologischenAusfällen 3 Monate lang durchgeführt werden. Beieintretender Besserung sollten die Übungen noch-mals 12–18 Monate fortgesetzt werden (Mumentha-ler et al. 2003). Durch eine konservative Therapiemit bewegungstherapeutischem Schwerpunkt kannin bis zu 70 % der Fälle eine Beschwerdefreiheit er-reicht werden (Lindgren 1997). Weitere Behand-lungsansätze sind die Akupunktur, neurale Mobili-sationstechniken und die Botulinumtoxin-Therapieder Mm. Scaleni (Mumenthaler 2007, Jordan et al.2000).Beim Vorliegen neurologischer Ausfälle, Durchblu-tungsstörungen oder nicht mehr zu beherrschendenSchmerzen ist eine operative Dekompression durchDurchtrennung des komprimierenden fibrösenBandes und, falls nötig, durch Resektion der erstenRippe angezeigt. Drei operative Techniken stehenzur Verfügung: der supraklavikuläre Zugang zuroberen Thoraxapertur, die transaxilläre Resektionder 1. Rippe und der posteriore subscapuläre Zu-gang. Während früher der transaxilläre Zugang be-vorzugt wurde, ist heute aufgrund der niedrigenKomplikationsrate der supraklavikuläre Zugang alsStandardzugang zu betrachten (Assums et al. 2009).Bei Patienten ohne eindeutige neurologische Aus-fälle ist die Indikationsstellung schwierig. NachKönig et al. (2005) und Dongen (1985) sind, bei kri-tischer Indikationsstellung, zwei Jahre nach derOperation 62 % der Patienten beschwerdefrei undbei 80 % kam es zu einer Besserung. Die Atrophienund Paresen bilden sich in der Regel nicht wesent-lich zurück, allerdings schreiten sie auch nicht wei-ter fort (Bonney 1965, Tackmann et al. 1989, Mu-menthaler et al. 2003) (B).Druckläsionen durch äußere Einwirkung erholensich in der Regel spontan.

J 4.1.1.2 N. suprascapularis (Incisura-scapulae-Syndrom)

Fasern aus den Segmenten C5-C6 bilden den N. su-prascapularis. Er ist ein überwiegend motorischerNerv. Der N. suprascapularis verlässt den Truncussuperior supraclaviculär etwa 3 cm oberhalb derClavicula und verläuft dann hinter der Clavicula la-teral des N. thoracicus longus. Unter dem Ansatz desM. trapezius zieht er zur Incisura scapulae. DieIncisura scapulae liegt am Oberrand der Scapula,direkt medial der Basis des Processus coracoideus.Der Nerv teilt sich in der Fossa supraspinata in zweiÄste, die jeweils den M. supra- und infraspinatus in-nervieren.In der Incisura scapulae ist der N. suprasapularisrelativ fest fixiert. Infolge einer Schulterblattfrakturoder durch Ganglien, die von benachbarten Ge-

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